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INSPIRATION GRANDHOTEL
DICHTE 4: DICHTE UND LEBENSQUALITÄT | WALDHAUS SILS | RUNDGANG MIT DEM DIREKTOR
MIT SIA-FORM
FORT- UND
WEITERBILDUNG
8 Persönlich
Leserbriefe
10 magazin
Inspiration grandhotel Simón Vélez ins Bild gesetzt |
Leserbefragung TEC21: die Ergebnisse |
In der Architektur ist es gang und gäbe, nach Referenzen und Anregungen für die Bücher | Energieeffiziente Klimakälte
Weiterentwicklung eines Bautyps zu suchen. Ein berühmtes Beispiel ist Le Corbusiers
Verweis auf den Passagierdampfer als Inspirationsquelle für moderne Mehrfamilien 16 GRANDHOTEL – DICHTE
häuser. Auch im Städtebau werden oft Analogien aus anderen Disziplinen herangezo UND LEBENSQUALITÄT
gen. Lange hielt sich im 20. Jahrhundert etwa das biologistische Bild von der Stadt Andreas Hofer, Ruedi Weidmann Bleibt die
als Körper mit Organen und Arterien. Nutzung monofunktional, bringt verdichtetes
In diesem Heft kehren wir dies für einmal um: Statt eine Maschine oder einen Organis Bauen weder urbane Qualitäten, noch trägt
mus heranzuziehen, um ein Gebäude zu entwickeln, untersuchen wir ein bestehen es zu nachhaltigen Lebensweisen bei. Kann
des Haus daraufhin, ob es als Inspirationsquelle für die Entwicklung von nachhaltigen das Grandhotel Inspiration liefern?
Siedlungen, Quartieren und Ortschaften dienen kann. Denn das Grandhotel kom
biniert Eigenschaften, die in neuen nachhaltigen Überbauungen hochwillkommen 18 HOTEL WALDHAUS SILS:
wären: Es ist gross, kompakt gebaut und dicht belegt, es vereint die Funktionen RÄUME, SERVICE UND STIL
Wohnen, Arbeiten und Erholung, es ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit Ruedi Weidmann Karl Kollers Bau von 1908
seinen Räumen und Dienstleistungen höchste Lebensqualität herzustellen. Diese wird von der Hotelierfamilie mit den Archi
Kombination macht es unserer Meinung nach zu einem Bautyp, der ein genaueres tekturbüros Miller & Maranta und Armando
Hinsehen verdient. Ruinelli sorgfältig weiterentwickelt. Der
Wir haben dafür das Hotel Waldhaus in Sils-Maria ausgewählt, weil hier das Grand Gedanke der Pflege steht im Mittelpunkt.
hotel quasi noch in Reinform vorliegt: Der imposante «Hotelkasten» über dem Silser
see ist seit seinem Bau 1908 zwar immer wieder neuen Bedürfnissen angepasst, in 21 RUNDGANG MIT DEM
seinem Wesen jedoch nie verändert worden. Als Familienbetrieb wird das Fünf HOTELDIREKTOR
sternehaus noch ganz im guten alten Stil geführt: mit grossen Gesellschaftsräumen, Andreas Hofer, Ruedi Weidmann Beim Gang
Bibliothek, Hausorchester, Konzerten und Dichterlesungen und mit treuen Stamm durch das Hotel Waldhaus Sils mit dem
gästen aus dem europäischen Bildungsbürgertum. Wer meint, eine hohe Bewohner Hotelier Urs Kienberger wird deutlich, wie
dichte und hohe Lebensqualität würden nicht zusammengehen, den wird ein Aufent aus Dichte Lebensqualität entsteht.
halt hier eines Besseren belehren: Der Erholungswert ist ungemein gross. Warum das
so ist, erfahren Sie in unserem Themenschwerpunkt. Nach einigen Bemerkungen zu 27 sia
den Problemen im heutigen Siedlungsbau folgen eine Beschreibung des Hotel Wald SIA.Form Fort- und Weiterbildung | Neue
haus und das Protokoll eines Rundgangs mit Hotelier Urs Kienberger. Ordnung für Leistungsofferten | Wahlen in
Wir hoffen – das wäre der Zweck der Übung –, dass das im Grandhotel gespeicherte Kommissionen 1/2013
Wissen über die Produktion von Lebensqualität in der Dichte zur Reflexion darüber
anregt, ob wir heute in Wettbewerben und bei der Planung von Überbauungen wirk 32 Firmen
lich die richtigen Prioritäten setzen. Vigier Beton | CRH | Pöyry
Ruedi Weidmann, [email protected]
37 impressum
38 veranstaltungen
INSPIRATION GRANDHOTEL
16 GRANDHOTEL – DICHTE UND LEBENSQUALITÄT Andreas Hofer, Ruedi Weidmann
Grandhotel –
dichte und Lebensqualität
Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen,
finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Ar-
beiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen Räumen und
Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel
der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem
Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die
v ielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt Sparsamkeit zu mehr
Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist
vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.
Titelbild Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt.
Reparieren als Kulturtechnik der Nachhaltig- Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension
keit: die Werkstatt des Hausmechanikers im
mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und
Hotel Waldhaus Sils. (Foto: A. Hofer)
Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute
einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden,
infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrs-
netze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.
heit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestim-
mung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse
brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben.
Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft
gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht
gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trend-
wende bei der Mobilität.
Anmerkung
1 www.familistere.com
18 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013
Josef und Amalie Giger-Nigg hatten in Bad Ragaz, St. Moritz und im Ausland erfolgreich
grosse Hotels geleitet, als sie sich entschlossen, ein eigenes Haus zu eröffnen. Der Auf-
schwung des Oberengadins zur Feriendestination für die Reichen Europas war seit Mitte
des 19. Jahrhunderts im Gang und beschleunigte sich mit der Erschliessung durch Strasse
und Bahn. Das Paar wählte den Ort sorgfältig: Sein Waldhaus steht über dem Dorf Sils-
Maria auf einem Felssporn, der am Ausgang des Fextals in die Ebene zwischen Silser- und
Silvaplanersee vorstösst und Aussicht nach allen Richtungen bietet.
03
Rundgang mit
dem hotelDirektor
Ein Rundgang durch das Hotel Waldhaus Sils mit dem erfahrenen Hotelier
Urs Kienberger zeigt auf, wie aus Dichte Lebensqualität entsteht. Bis zu
450 Menschen wohnen und arbeiten im kompakten Gebäude. Die hohe
Aufenthaltsqualität entsteht durch gute Architektur, achtsam erbrachte
Dienstleistungen und die tägliche Regie der Nutzungen in den sorgfältig
gepflegten Gemeinschaftsräumen.
Urs Kienberger begrüsst uns mit einem Bonmot, als wir uns zu einem Rundgang durch das
Hotel treffen: «Willkommen im Waldhaus – dem Ort der Dichte und der Denker!» Die Frage
nach dem Zusammenhang von Dichte und Lebensqualität hat ihn beschäftigt, seit wir
angefragt haben, ob wir ihr am Beispiel des Waldhauses nachgehen dürften. Er nimmt sich
Zeit, obwohl er offensichtlich viel beschäftigt ist: Alle paar Augenblicke entschuldigt er
sich, um Gäste zu begrüssen, sich bei Angestellten nach ihrem Befinden oder dem Fortgang
einer Arbeit zu erkundigen und dringende Fragen zu beantworten.
01 Raumkontinuum und Sichtachsen im Hotel Vorbei an Grüppchen von Gästen durchqueren wir erneut die prunkvolle Halle und gelan-
Waldhaus Sils: Blick vom Treppenhaus durch gen in die dunkel getäferte Bar, wo Kienberger sich – alte Gewohnheit – ein vormittägliches
die Eingangs- in die Hotelhalle.
Orangina genehmigt. Dann zeigt er uns das gemütliche Foyer und das elegante Fumoir, die
(Fotos 01, 03 und 04: rw)
02 In der Hotelbar. (Foto: A. Hofer) 2000 und 2012 neu geschaffen wurden, und daneben die Bibliothek von 1920. Hier sitzen
03 Die Halle: Treffpunkt und Herz des Hauses. einzelne Gäste und lesen, es ist still. «Ein dicht bewohntes Haus sollte niemandem allein
04 Blick vom Empire-Saal durch die Halle in gehören. Keine Gruppe soll überhand nehmen, das Hotel vereinnahmen und die Räume do-
die Bar.
minieren. Deshalb achten wir darauf, keine zu grossen Tagungen oder Veranstaltungen ins
Haus zu holen.» Dichte als soziale Qualität also, jedoch laufend sorgfältig gesteuert, als An-
gebot, nicht als Zwang.
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denn für alles andere gibt es kollektive Räume. «Die Zahl der Gästezimmer und die der
öffentlichen Räume müssen im Gleichgewicht sein. Weil sich die Bedürfnisse ändern, müssen
wir laufend umbauen. Mehr Komfort und neue Dienstleistungen kommen hinzu, gewisse
Nutzungen kommen dafür aus der Mode.»
Wir durchqueren die imposante Küche – die Crew ist am Rüsten – und dringen an den Vor-
ratskellern vorbei tiefer in den Bauch des Waldhauses vor. Der Weg führt vorbei an Kantine,
Küche und Aufenthaltsräumen des Personals, an den Zimmern der Lehrlinge. Das Interieur
ist hier etwas schlichter als auf der Beletage. Nach einem Besuch in der Lingerie geht es
schliesslich ins «Maschinendeck» hinab. Es wird heiss und laut, wir nähern uns einer
Kraft-Wärme-Maschine von imposanten Ausmassen und beträchtlicher Lautstärke, die das
Haus mit Wärme und Strom versorgt. Ist die Halle das Herz des Hauses, so sind wir hier
wohl in seiner Lunge angelangt – und ausserdem in seinem Gedächtnis: Im vierten
Untergeschoss hat der Künstler Giuseppe Reichmuth in der einstigen Bäckerei das skurrile
Hotelmuseum eingerichtet. Nie entsorgte Gegenstände aus Grossmutter Kienbergers
Rumpelkammer, ausgediente Küchenapparate und Spielsachen führen hier unscheinbare
Tänzchen auf, Skifahrer ziehen ihre Spur durch eine Badewanne mit Löwenfüsschen,
und Sportwagen fahren durch das Backrohr. In einem Raum lagern Holzskis und Koffer von
Gästen, die nach 1945 nie mehr ins Waldhaus zurückgekehrt sind.
«Wir versuchen, das Haus laufend zu erneuern, aber dabei immer möglichst die Tradition zu
wahren.» Die Pflege der Geschichte geht bis ins Detail. Deshalb gibt es im Waldhauskeller
nebst dem Museum noch ein zweites Gedächtnis: die Werkstatt des Hausmechanikers
Guido Schmidt. Seine Aufgaben sind so vielfältig wie der Maschinen- und Apparatepark im
Haus. Er hat die neun im ganzen Haus verteilten Wanduhren von 1908, die von der Mutter-
uhr im Büro über einen elektrischen Impuls gesteuert werden, ebenso repariert wie das
automatische Welte-Mignon-Klavier, das längst vergessene, auf Papierstreifen gestanzte
Melodien spielt. Heute beugt er sich mit seinem Mitarbeiter über eine Kaffeemaschine aus
den 1950er-Jahren und steuert beiläufig seine Wahrheit bei: «Ersetzen kann jeder, Flicken
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ist Kunst.» Reparieren als Kulturtechnik der Nachhaltigkeit, die liebevolle Pflege des eigenen
Publikationen und FilmE zum
waldhaus Sils Charakters als Identität. – Und wie bedeutend ist die Rolle des Kulturprogramms für das
Waldhaus? «Es würde wohl auch ohne funktionieren», räumt Kienberger ein, «aber ich
Marion Kollbach: Sils-Maria und das Wald- glaube, dann wäre ich schon längst nicht mehr hier. Nachhaltigkeit bedeutet doch auch,
haus. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009.
NDR. dass man sich die Arbeit so einrichtet, dass man sie lang machen mag.»
Am Ende des Rundgangs angelangt sind wir – wo sonst? – wieder in der Halle gelandet.
Christoph Marthaler, Sarah Derendinger:
Familientreffen – Marthaler Theater im Grand Wir sinken in die Polster und fragen den Hoteldirektor nach der Quintessenz der Waldhaus-
Hotel. Dokumentarfilm, Schweiz, 2009. Philosophie. «Ich glaube, im Kern unseres Unternehmens steht nicht die Frage ‹Was
Freihändler Filmproduktion GmbH / SRF / ZDF.
rentiert?›, sondern vielmehr: ‹Was können wir uns leisten?› Was mag es leiden an Räumen,
Zora Del Buono, Stefan Pielow: Waldhaus Sils: Service- und Kulturangeboten, die wir gern anbieten möchten, weil sie die Aufenthalts
A Family Affair since 1908, Sils-Maria 2008.
qualität der Gäste und unsere Lebensqualität verbessern? – Interessant ist übrigens auch
Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus
die komplementäre Frage: ‹Worauf können wir verzichten?› Es ist manchmal erstaunlich,
Sils-Maria. Kunstführer GSK. Bern, 2005.
was man alles nicht braucht.» Mit dieser letzten Anregung lässt uns Kienberger in der Halle
Welte-Mignon Piano im Hotel Waldhaus Sils.
zurück und setzt den Rundgang fort, der für ihn nie endet.
Tudor Recording, 2001. Compact Disc mit K la-
vierwerken von Delibes, Mozart, Chopin usw.
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Am weitesten geht wohl die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich mit etwa 350 Wohnenden
und Arbeitenden, die im Frühling 2014 bezogen wird. Der komplexe Hybrid ist in einem
mehrjährigen partizipativen Prozess entstanden und bietet eine Fülle von Dienstleistungen.
Zum gastronomischen, kommerziellen und kulturellen Angebot, das an diesem zentralen,
städtischen Ort selbsttragend funktionieren kann, kommen eine Gästepension, zumietbare
Zimmer und Arbeitsräume, eine Eingangshalle mit Reception, Caféteria, Kindertagesstätte,
Waschsalon und ein Dachgarten mit angrenzender Sauna. Selbst das Wohnen hat in vielen
Bereichen hotelähnlichen Charakter: Kleine Studios sind mit einem Gemeinschaftsraum
zu Wohnclustern gruppiert, und ein Grosshaushalt verfügt über einen Speisesaal und eine
Gastroküche.
Für die Umsetzung von Hotelqualitäten in der Siedlungsplanung sehen wir drei Möglichkeiten,
die sich auch kombinieren lassen: Funktionen wie Restaurants, Bars usw. können als
kommerzielle Privatbetriebe ins Bauprogramm aufgenommen werden. Wenn die Nachfrage
für kommerzielle Betriebe zu klein ist, bieten sich die vielfältigen Formen von Selbstorgani-
sation, Sharing, Freiwilligenarbeit, Freizeitengagement und Integrationsprojekten, die heute
07 weit über die alternative Szene hinaus einen Aufschwung erleben, als gemeinschaftliche
Nutzungen im Erdgeschoss an. Schliesslich sind gemischte Organisationsformen denkbar,
zum Beispiel unter Beteiligung der Gemeinde, die gemeinnützige Aufgaben mit kommer
ziellen Angeboten kombinieren können. Damit wird eine Planung nach dem Waldhaus-
Prinzip «Was können wir uns leisten?» möglich.