Tec21 30.08.13

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WETTBEWERBE: IM GLANZ DER SONNE

MAGAZIN: SIMÓN VELÉZ INS BILD GESETZT | LESERBEFRAGUNG | LESERBRIEFE | BÜCHER

INSPIRATION GRANDHOTEL
DICHTE 4: DICHTE UND LEBENSQUALITÄT | WALDHAUS SILS | RUNDGANG MIT DEM DIREKTOR

SIA: NEUE ORDNUNG FÜR LEISTUNGSOFFERTEN | WAHLEN IN KOMMISSIONEN 1/2013

MIT SIA-FORM
FORT- UND
WEITERBILDUNG

NR. 36 30. AUGUST 2013


TEC21 36 / 2013 Editorial | Inhalt | 3

Sitzecke mit Aussicht im


Treppenhaus des Hotel 5 wettbewerbe
Waldhaus Sils. (Foto: rw) Im Glanz der Sonne

8 Persönlich
Leserbriefe

10 magazin
Inspiration grandhotel Simón Vélez ins Bild gesetzt |
­Leserbefragung TEC21: die Ergebnisse |
In der Architektur ist es gang und gäbe, nach Referenzen und Anregungen für die Bücher | Energieeffiziente Klimakälte
Weiterentwicklung eines Bautyps zu suchen. Ein berühmtes Beispiel ist Le Corbusiers
Verweis auf den Passagierdampfer als Inspirationsquelle für moderne Mehrfamilien­ 16 GRANDHOTEL – DICHTE
häuser. Auch im Städtebau werden oft Analogien aus anderen Disziplinen herangezo­ UND LEBENSQUALITÄT
gen. Lange hielt sich im 20. Jahrhundert etwa das biologistische Bild von der Stadt Andreas Hofer, Ruedi Weidmann Bleibt die
als Körper mit Organen und Arterien. Nutzung monofunktional, bringt verdichtetes
In diesem Heft kehren wir dies für einmal um: Statt eine Maschine oder einen Organis­ Bauen weder urbane Qualitäten, noch trägt
mus heranzuziehen, um ein Gebäude zu entwickeln, untersuchen wir ein bestehen­ es zu nachhaltigen Lebensweisen bei. Kann
des Haus daraufhin, ob es als Inspirationsquelle für die Entwicklung von nachhaltigen das Grandhotel Inspiration liefern?
Siedlungen, Quartieren und Ortschaften dienen kann. Denn das Grandhotel kom­
biniert Eigenschaften, die in neuen nachhaltigen Überbauungen hochwillkommen 18 HOTEL WALDHAUS SILS:
­wären: Es ist gross, kompakt gebaut und dicht belegt, es vereint die Funktionen RÄUME, SERVICE UND STIL
­Wohnen, Arbeiten und Erholung, es ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit Ruedi Weidmann Karl Kollers Bau von 1908
seinen Räumen und Dienstleistungen höchste Lebensqualität herzustellen. Diese wird von der Hotelierfamilie mit den Archi­
Kombination macht es unserer Meinung nach zu einem Bautyp, der ein genaueres tekturbüros Miller & Maranta und Armando
Hinsehen verdient. Ruinelli sorgfältig weiterentwickelt. Der
Wir haben dafür das Hotel Waldhaus in Sils-Maria ausgewählt, weil hier das Grand­ ­Gedanke der Pflege steht im Mittelpunkt.
hotel quasi noch in Reinform vorliegt: Der imposante «Hotelkasten» über dem Silser­
see ist seit seinem Bau 1908 zwar immer wieder neuen Bedürfnissen angepasst, in 21 RUNDGANG MIT DEM
seinem Wesen jedoch nie verändert worden. Als Familienbetrieb wird das Fünf­ HOTELDIREKTOR
sternehaus noch ganz im guten alten Stil geführt: mit grossen Gesellschaftsräumen, Andreas Hofer, Ruedi Weidmann Beim Gang
Bibliothek, Hausorchester, Konzerten und Dichterlesungen und mit treuen Stamm­ durch das Hotel Waldhaus Sils mit dem
gästen aus dem europäischen Bildungsbürgertum. Wer meint, eine hohe Bewohner­ ­Hotelier Urs Kienberger wird deutlich, wie
dichte und hohe Lebensqualität würden nicht zusammengehen, den wird ein Aufent­ aus Dichte Lebensqualität entsteht.
halt hier eines Besseren belehren: Der Erholungswert ist ungemein gross. Warum das
so ist, erfahren Sie in unserem Themenschwerpunkt. Nach einigen Bemerkungen zu 27 sia
den Problemen im heutigen Siedlungsbau folgen eine Beschreibung des Hotel Wald­ SIA.Form Fort- und Weiterbildung | Neue
haus und das Protokoll eines Rundgangs mit Hotelier Urs Kienberger. Ordnung für Leistungsofferten | Wahlen in
Wir hoffen – das wäre der Zweck der Übung –, dass das im Grandhotel gespeicherte Kommissionen 1/2013
Wissen über die Produktion von Lebensqualität in der Dichte zur Reflexion darüber
anregt, ob wir heute in Wettbewerben und bei der Planung von Überbauungen wirk­ 32 Firmen
lich die richtigen Prioritäten setzen. Vigier Beton | CRH | Pöyry
Ruedi Weidmann, [email protected]
37 impressum

38 veranstaltungen
INSPIRATION GRANDHOTEL
16 GRANDHOTEL – DICHTE UND LEBENSQUALITÄT Andreas Hofer, Ruedi Weidmann

18 DAS WALDHAUS SILS: RÄUME, SERVICE UND STIL Ruedi Weidmann

21 RUNDGANG MIT DEM HOTELDIREKTOR Andreas Hofer, Ruedi Weidmann

NR. 36 30. AUGUST 2013


16 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013

Grandhotel –
dichte und Lebensqualität
Viele Qualitäten, die heute Ziel von nachhaltigen Überbauungen sein müssen,
finden sich im Grandhotel: Es ist kompakt, dicht, vereint Wohnen und Ar-
beiten, ist sozial durchmischt und darauf getrimmt, mit seinen ­Räumen und
Dienstleistungen hohe Lebensqualität zu schaffen. Kann das Grandhotel
der Siedlungsplanung als Inspirationsquelle dienen? Die Artikel in diesem
Heft gehen dieser Frage am Beispiel des Hotels Waldhaus Sils nach. Die
­v ielleicht wichtigste Antwort: Nicht immer führt ­Sparsamkeit zu mehr
Nachhaltigkeit, denn die Schönheit von gemeinsam genutzten Räumen ist
vermutlich Voraussetzung für eine nachhaltige Lebensweise.

Titelbild Die Schweiz wächst, und dieses Wachstum findet heute auch wieder in den Städten statt.
Reparieren als Kulturtechnik der Nachhaltig- Es entstehen Grosssiedlungen, eigentliche Stadterweiterungen, die in ihrer Dimension
keit: die Werkstatt des Hausmechanikers im
mit den Projekten der 1960er- und 1970er-Jahre vergleichbar sind. Waren diese Höhe- und
Hotel Waldhaus Sils. (Foto: A. Hofer)
Endpunkt der funktionalistischen Konzepte aus den 1920er-Jahren, so ist man sich heute
­einig in der Kritik am monofunktionalen Siedlungsbau, an den im Abstandsgrün stehenden,
infrastrukturell unterversorgten Wohnblocks, die oft schlecht an die öffentlichen Verkehrs-
netze angebunden sind. Heute geht es um Verdichtung, urbane Qualitäten und Vielfalt.

Was ist eine nachhaltige Siedlung?


An guten Lagen versuchen Investoren Zentralität neu zu schaffen, indem sie Stadtteile mit
einer eigenen Nachfrage und hoher Attraktivität für die weitere Nachbarschaft entwickeln.
Diese urbanen Implantate bedienen sich häufig bei Bildern aus dem 19. Jahrhundert,
und ihre Vermarktung spielt mit Assoziationen der dichten europäischen Stadt. Beispiele
sind die an S-Bahnstationen im Grossraum Zürich liegenden Quartiere im Limmatfeld in
Dietikon, das im Rahmen eines Gestaltungsplans von Hans Kollhoff mit dem Slogan
­ Unsere kleine Stadt» wirbt, und das Richti-Areal in Wallisellen, dem Vittorio Magnago
«
­Lampugnani ein gründerzeitliches Gepräge mit Blockrandbebauung, Innenhöfen, Plätzen
und Arkaden verliehen hat.
Als Vorbilder für eine weitere nachhaltige Entwicklung sind diese Grossüberbauungen aber
nicht geeignet. Denn eine Massstabsebene kleiner und an weniger prominenten Standorten
fehlen dieser Strategie Masse und Überzeugungskraft. Die Einkaufs- und Freizeitlandschaften
an den Autobahnkreuzen saugen die Kaufkraft aus Quartieren und Ortschaften, und die
Produktion ist – bestenfalls – in Gewerbegebiete ausgelagert. Für eine urbane Vielfalt in den
neuen Bebauungen fehlen deshalb die Nutzungen; es entstehen Siedlungen mit Wohnungen
bis ins Erdgeschoss, deren private Vorzonen an Freiräume grenzen, die keine wirklichen
Plätze sind. Der Versuch, mit guter Architektur und hochwertiger Materialisierung Identität
heftreihe dichte zu schaffen, bleibt an der Oberfläche. Die mittlerweile hohen Dichten in diesen behaupteten
Der Beitrag «Vierfach verdichten» von Ruedi «Zentrumsgebieten» und «Stadtentwicklungsschwerpunkten» führen nicht zu urbaner
Weidmann in TEC21 9/2013 hat aufzuzeigen
versucht, was zu beachten ist, wenn bauliche ­Lebendigkeit, sondern einzig zu Beengtheit.
Verdichtung die Lebensqualität fördern und
nicht schmälern soll. Er bildete den Auftakt zu anreicherung durch soziale funktionen
einer Heftreihe zum Thema Dichte. Bisher er-
schienen sind die Heftnummern 9, 19 und Wenn die Siedlung als Ort für nachhaltige Lebensstile mit hoher Lebensqualität tauglich
22/2013. Die Beiträge der Heftreihe finden werden soll, muss sie neu erfunden und angereichert werden. Material dafür bieten
sich im Dossier «Nachhaltigkeit planen» auf der demografische Wandel und die komplexeren Lebensentwürfe. Kollektive Organisation
.
der Kinderbetreuung, neue Formen von Heim- und Teilzeitarbeit, Unterstützung bei Krank-
TEC21 36 / 2013 inspiration grandhotel | 17

heit und Pflegebedürftigkeit, Wellness, Sport und Erholung, Geselligkeit und Mitbestim-
mung, Mitarbeit bei der lokalen Nahrungsproduktion und -versorgung: All diese Bedürfnisse
brauchen Räume und können Erdgeschosse zu verschiedenen Tageszeiten beleben.
Die damit verbundene Kultur der Nähe und gegenseitigen Hilfe kann die Gemeinschaft
­gegenüber einer immer prekäreren Lohn- und Geldwirtschaft robuster machen. Vielleicht
gelänge mit dieser Relokalisierung sozialer Funktionen im Wohnkontext auch eine Trend-
wende bei der Mobilität.

«Man muss die Leute verteilen, keine historischen vorbilder


­damit sie genug Platz haben, Für diese neuen planerischen Aufgaben taugen als Referenz weder Rückgriffe auf dörfliche
aber auch konzentrieren, damit Strukturen noch der Fundus der Wohnutopien frühsozialistischer Gemeinschaften. So ein-
sie sich nicht verloren fühlen. drücklich etwa die soeben als nationales Monument renovierte Familistère in Guise1 einen
Es darf keine toten Ecken geben.» verantwortungsvollen Kapitalismus als Alternative im 19. Jahrhundert dokumentiert – solche
historischen Beispiele leiten das Wohnen von ökonomischen Zwangsgemeinschaften ab.
Ihnen fehlt die luftige Freiwilligkeit einer reichen, postindustriellen Gesellschaft. Eine Reihe
«Wenn ein Ort dicht genutzt ist, von genossenschaftlichen Projekten im Grossraum Zürich erprobt zurzeit das Potenzial
braucht es darin Freiräume ohne ­dieser sozialen Funktionen für den Siedlungsbau. Diese Pionierprojekte sind äusserst ambi-
definierte Funktion, damit nicht das tioniert und stellen sich breit den gesellschaftlichen Herausforderungen, sie können aber
Gefühl von Unentrinnbarkeit ent- leicht als Einzelfälle und «gated communities» für Gutmenschen kritisiert werden. Deshalb
steht. Diese undefinierten Räume ­haben wir in der Baugeschichte nach Beispielen für die Kraft von dichten, integrierten,
müssen schön sein und sorgfältig ­hybriden Gebäuden gesucht. Fündig geworden sind wir bei bei der Luxushotellerie, die sich
gepflegt werden, sonst wirken sie am Ende des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen entwickelte.
unwirtlich und bleiben leer.»
das grandhotel als inspiration
Gerade in ihrer Künstlichkeit, ihrem Exotismus sind die Grandhotels umfassende Organismen.
«Wir versuchen, laufend zu Hier leistete sich zum ersten Mal eine erfolg­reiche bürgerliche Gesellschaft einen voll aus-
­erneuern, aber dabei möglichst gestatteten Raum jenseits der alltäglichen ­Arbeits- und Familienzwänge und ausserhalb der
die Tradition zu wahren.» Stadt. Das Grandhotel ist kompakt gebaut, dicht belegt, vereint Wohnen und Arbeiten unter
einem Dach, ist sozial durchmischt (Gäste und Angestellte) und darauf getrimmt, durch
hoch verdichtete Dienstleistungen Lebensqualität zu produzieren – Charaktereigenschaften,
«Keine Gruppe soll überhand die in ihrer Kombination in dichten, nachhaltigen Siedlungen und Quartieren hochwill­
­nehmen und die Räume dominieren.» kommen sind (TEC21 9/2013, S. 18). Viele der in diesem Kontext entwickelten Qualitäten,
­Infrastrukturen und Dienstleistungen, nicht zuletzt das damit verbundene Wissen über
Zitate: Urs Kienberger (vgl. S. 21) die «Herstellung» von Lebensqualität, scheinen uns aufschlussreich und anregend für die
aktuelle Debatte um Stadt- und Raumentwicklung, Nachhaltigkeit und Suffizienz.
Wohl wissend, dass das ökonomische Modell eines Hotels nicht dem einer Wohnsiedlung
entspricht, wollten wir herausfinden, ob und in welcher Hinsicht das Grandhotel als
­Inspira­tionsquelle für die Siedlungsplanung dienen kann. Deshalb haben wir die Leitung
des Hotels Waldhaus in Sils angefragt, ob sie bereit wäre, mit uns zusammen ihr Haus
­daraufhin zu durchleuchten und diese Frage zu erörtern. Das Resultat dieser Recherche
umfasst auf den folgenden Seiten eine Beschreibung der Räume und der Dienstleistungen
dieses Fünfsternehauses im Oberengadin und das Protokoll eines Rundgangs und eines
langen Gesprächs mit dem Hoteldirektor.

Andreas Hofer, dipl. Arch. ETH, [email protected]


Ruedi Weidmann, [email protected]

Anmerkung
1 www.familistere.com
18 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013

Hotel Waldhaus Sils:


räume, service und stil
Im Gegensatz zu vielen anderen Grandhotels wurde das Waldhaus Sils nie
durch grobe Umbauten verändert. Noch immer führt die Gründerfamilie
das 1908 eröffnete Haus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Prinzip der
Pflege – von Gästen und Personal, von Architektur und Mobiliar, von
Dienstleistungen und Räumen, von Tradition und sanfter Erneuerung.

Josef und Amalie Giger-Nigg hatten in Bad Ragaz, St. Moritz und im Ausland erfolgreich
grosse Hotels geleitet, als sie sich entschlossen, ein eigenes Haus zu eröffnen. Der Auf-
schwung des Oberengadins zur Feriendestination für die Reichen Europas war seit Mitte
des 19. Jahrhunderts im Gang und beschleunigte sich mit der Erschliessung durch Strasse
und Bahn. Das Paar wählte den Ort sorgfältig: Sein Waldhaus steht über dem Dorf Sils-­
Maria auf einem Felssporn, der am Ausgang des Fextals in die Ebene zwischen Silser- und
Silvaplanersee vorstösst und Aussicht nach allen Richtungen bietet.

Ein Stück Stadt im Bergwald


Der mächtige Bau entstand 1906–1908 nach Plänen des jungen, aber bereits erfolgreichen
Architekten Karl Koller. Das kompakte Volumen wächst mit mehreren Untergeschossen aus
dem steilen Fels. Auf dem Eingangsniveau, Saaletage genannt, reihen sich die Empfangs-
und Gasträume in schönen Enfiladen aneinander; mehrere Sichtachsen eröffnen Blicke
quer durch die Säle in die baumbestandene Landschaft hinaus und lassen Sonnenlicht bis
tief in die Räume dringen. Ein grosses Treppenhaus steigt aus der Eingangshalle in die vier
Obergeschosse, auf denen an breiten Gängen 140 Zimmer liegen.
Die Implantation eines mondänen Wohnkomplexes in ein alpines Bergdorf samt allen An-
nehmlichkeiten, die sonst nur die Stadt bot, verlangte eine umfangreiche Infrastruktur: Ein
kleines Kraftwerk mit Dieselmotoren erzeugte eigenen Strom, eine Grossküche mit diversen
Lagerräumen versorgte die Gäste, ebenso Bäckerei und Wäscherei. Dazu gab es eine
­Kapelle, ein Hausorchester, einen Coiffeursalon, eine Floristin usw. Die vielen Angestellten
wohnten unter dem Dach und in den Halbgeschossen unter und über der Saaletage.
Den Gästen standen zahlreiche Gemeinschaftsräume zur Verfügung, allen voran die grosse
Hotelhalle, dazu zwei Speisesäle, ein Restaurant, eine Bar, eine Bibliothek und weitere Auf-
enthaltsräume, eine Gartenterrasse im Wald und ein eigenes Schiff samt Kapitän, mit dem
die Gäste Ausflüge auf dem Silsersee unternehmen konnten. In der Hochsaison lebten in
diesem Stück Stadt mitten im Bergwald über 400 Gäste und Angestellte – damals doppelt
so viele Menschen wie in Sils-Maria und im nahen Sils-Baselgia zusammen.
Das Hotel erlebte nach seiner Eröffnung einige erfolgreiche Jahre, durchlitt dann mit dem
Zusammenbruch des Tourismus im Ersten Weltkrieg seine erste schwere Krise und folgte in
den folgenden Jahrzehnten dem Auf und Ab des Luxustourismus im Engadin und den
­wirtschaftlichen Konjunkturen und sozialen Moden des 20. Jahrhunderts. Es blieb immer in
Familienbesitz. Seit 2010 wird es von Claudio und Patrick Dietrich in fünfter und ihrem Onkel
Urs Kienberger in vierter Generation geführt. In der Hochsaison hat es 290 Gäste, etwa
70 davon sind Kinder, und über 150 Angestellte.
Die starke Bindung an die Betreiber- und Besitzerfamilie prägt Charakter, Ökonomie und
Entwicklungsstrategie. Das Waldhaus versteht sich als temporäre Heimat, Gasthaus und
dauerhaftes Projekt. Überschüsse in guten Jahren werden in die Werterhaltung, die Anpas-
sung an neue Bedürfnisse und die zurückhaltende Erweiterung der Infrastruktur investiert.
01
02

03

01 Hotel Waldhaus Sils, Exot im Bergwald.


(Foto: A. Hofer)
02 Zimmergeschoss. (Pläne: Miller & Maranta)
03 Saaletage
1 Eingangshalle
2 Hotelhalle
3 Empire-Salon
4 Speisesaal
5 Hochzeitssaal
6 Bar
7 À-la-carte-Restaurant «Arvenstube»
8 Fumoir
9 Foyer
10 Bibliothek
11 Vortragssaal
12 Büro
13 Küche
04 Parterre
14 Vier Konferenzräume
15 Kinderbetreuung
16 Kapelle
17 Personalzimmer
18 Fumoir Personal
0 5 10 25 m
19 Speisesaal Personal
04
20 Personalküche
20 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013

tradition, erneuerung und räumliche vielfalt


angestellte im waldhaus sils
(Stand Januar 2013) In den letzten Jahren hat das Architekturbüro Miller & Maranta den Eingang und einen Teil
der Aufenthaltsräume neu organisiert und gestaltet (TEC21 13/2009, S. 22). Dabei wurden
Total 154
dem Dolomit unter dem Haus drei Konferenzzimmer abgerungen. Das Haus ist äusserst
Davon 20 Lernende und Praktikantinnen/
Praktikanten sowie einige Teilzeitstellen kompakt gebaut und soll auch kompakt bleiben. Beim jüngsten Eingriff 2012 schufen die
­Architekten durch Demontage, Drehung um 90 Grad und Wiedereinbau des kleinen
Gastronomie: 78
­À-la-carte-Restaurants Platz für ein ovales Fumoir mit Cheminée. Grosser Respekt vor dem
33 S ervice (Chef de Service, Sommelier,
Kellnerinnen und Kellner) Bestand und viel Gespür für ein Weiterbauen im Geist des Hauses leitet diese Umbauten.
25 Küche 2005 wurde es als historisches Hotel des Jahres ausgezeichnet.
14 Economat, Reinigung Küche
Der Architekt Armando Ruinelli aus Soglio erneuert fast jährlich einige Zimmer. Der hohe
6 Bar
­Installationsgrad eines Hotels führt zu einer «vertikalen Baustrategie»: Über alle Geschosse
Zimmerservice: 33 hinweg werden jeweils einige nebeneinander liegende Zimmer erneuert. Somit wechseln
22 Etage
sich die Epochen horizontal ab; neu gestaltete Zimmer liegen neben solchen aus den
11 Lingerie/Wäscherei
1920er-Jahren mit historischem Mobiliar. Alle haben mittlerweile ein eigenes Bad. Dafür
Verwaltung und Unterhalt: 32 mussten einige kleine Zimmer zusammengelegt werden. Dank Ausbauten im Dach und der
5 Geschäftsleitung
Auslagerung von Personalzimmern in Neubauten mit 29 Wohnungen blieb aber das
12 Büro
10 Reception ­Raumangebot für Gäste und Personal erhalten. Im Hotelgebäude sind 48 Personalzimmer
5 Handwerker (Haustechnik, Sicherheit, verblieben.
Elektriker, Schreiner, Gärtner) Die Betreiber wirtschaften mit unterschiedlichsten Raumgrössen, Bettformaten und Ausstat-
Gästeprogramm und Wellness: 11 tungen und nehmen es auf sich, dem Gast, der «das gleiche Zimmer wie letztes Jahr»
3 Musik wünscht, Varianten zu erklären, falls sein Lieblingszimmer schon belegt ist. Der Anspruch,
8 Hallenbad, Masseur, Kinderbetreuung, jeden Gast persönlich zu begrüssen und zu betreuen, begrenzt die Grösse des Betriebs
Floristin, Tennis- und Skilehrer
auf sein heutiges Mass. Die Besitzerfamilie empfindet den behutsamen Umgang mit dem
denkmalgeschützten Bestand nicht als lästige Pflicht, sondern als permanente Pflege und
Ergänzung einer reichen Geschichte, durch die der Charakter des Hotels erhalten bleibt.

Wohnen und Arbeiten


Diese respektvolle, aber nie erstarrte Haltung zeigt sich auch in der Gestaltung des Hotel­
alltags. Der Stil des Hauses ist traditionsbewusst, nicht nur was die bauliche Substanz,
­sondern auch was die angebotenen Dienstleistungen betrifft. Das feine, öffentlich zugäng­
liche Kulturprogramm mit Schwerpunkten in Musik, Literatur und Theater ist das Marken­
zeichen des Waldhauses und zieht ein internationales kultur­interessiertes Publikum an.
Ein grosser Teil davon sind Stammgäste. Unter ihnen wie unter den Angestellten gibt es
­etliche, die schon in zweiter und dritter Generation hier Ferien machen oder arbeiten.
Die Stimmung im Haus ist entspannt, der Umgang unter den Gästen und mit dem Personal
ausgesprochen herzlich. Man kommt ungezwungen ins Gespräch, es ist ein Ort, wo man
Bekanntschaften macht.
Das Waldhaus Sils bietet die üblichen Dienstleistungen eines Fünfsternehotels: eine ge-
pflegte Küche mit grossem Weinkeller, warmes Essen und Zimmerservice rund um die Uhr,
tagsüber Bedienung in allen Gasträumen, Limousinenservice zum Bahnhof St. Moritz
und zum Flugplatz Samedan usw. Die ursprünglichen Gemeinschaftsräume existieren im
Waldhaus alle noch, während sie in Grandhotels, die heute im Besitz von Investitionsgesell-
schaften sind, Labelshops Platz gemacht haben. Vergleichsweise bescheiden ist das
Wellness­angebot. Das von Otto Glaus und R ­ obert Obrist 1970 in den felsigen Lärchenwald
eingepasste Hallenbad hat heute bereits Denkmalwert und wird auch in diesem Sinne
­gepflegt. Dafür spielt im Waldhaus nach wie vor täglich das Hausorchester – nachmittags
klassisch in der Halle oder im Garten, abends Jazz in der Bar.

Ruedi Weidmann, [email protected]


TEC21 36 / 2013 inspiration grandhotel | 21

Rundgang mit
dem hotelDirektor
Ein Rundgang durch das Hotel Waldhaus Sils mit dem erfahrenen Hotelier
Urs Kienberger zeigt auf, wie aus Dichte Lebensqualität entsteht. Bis zu
450 Menschen wohnen und arbeiten im kompakten Gebäude. Die hohe
­Aufenthaltsqualität entsteht durch gute Architektur, achtsam erbrachte
Dienstleistungen und die tägliche Regie der Nutzungen in den sorgfältig
gepflegten Gemeinschaftsräumen.

Urs Kienberger begrüsst uns mit einem Bonmot, als wir uns zu einem Rundgang durch das
Hotel treffen: «Willkommen im Waldhaus – dem Ort der Dichte und der Denker!» Die Frage
nach dem Zusammenhang von Dichte und Lebensqualität hat ihn beschäftigt, seit wir
­angefragt haben, ob wir ihr am Beispiel des Waldhauses nachgehen dürften. Er nimmt sich
Zeit, obwohl er offensichtlich viel beschäftigt ist: Alle paar Augenblicke entschuldigt er
sich, um Gäste zu begrüssen, sich bei Angestellten nach ihrem Befinden oder dem Fortgang
einer Arbeit zu erkundigen und dringende Fragen zu beantworten.

Ein gefühl für Menschen und räume


Als Erstes erläutert er uns die räumliche Organisation der Saaletage. «Die Halle ist das Herz
des Hauses», erklärt er. Um sie herum gruppieren sich alle Gemeinschaftsräume; hier
­kommen alle vorbei auf dem Weg vom Speisesaal ins Fumoir, von der Bibliothek in die Bar,
von den Konferenzzimmern ins Treppenhaus. Hier kreuzen sich auch vier Sichtachsen:
Eine führt vom Haupteingang durch die Eingangshalle und die Hotelhalle bis in deren halb-
runden Abschluss mit den hohen Fenstern. Quer dazu liegen drei Längsachsen. «Diese
Sichtachsen wurden teilweise durch Einbauten unterbrochen. Schon als Bub wünschte ich
mir, dass sie wieder geöffnet werden könnten. Mit den Fenstern im Foyer und in der
­Arvenstube ist uns das nun an zwei Stellen gelungen. Wir versuchen, die Räume visuell
zu verbinden, ein Raumkontinuum zu erhalten oder neu zu schaffen. Das ist zwar nicht
­immer praktisch, aber nötig für das Raumgefühl.»
Das Raumgefühl wird Kienberger auf unserem Gang durch Säle, Korridore und Zimmer wie-
derholt ansprechen. Neben optimierten Betriebsabläufen ist es für ihn das zentrale Kriterium
für die bauliche Weiterentwicklung – aber auch für die tägliche Pflege der Räume: Immer
wieder rückt er ein Möbel zurecht, öffnet eine Flügeltüre ganz, zieht einen Vorhang vor oder
richtet ein Blumenbouquet etwas schöner aus. Der Teufel – die angestrebte ­Raumwirkung –
steckt im Detail. Dieses muss je nach Tageszeit, Lichteinfall und Frequen­tierung der Räume
angepasst werden. Sind nur wenige Gäste hier, bleibt etwa der Hochzeitssaal geschlossen:
«Man muss die Gäste verteilen, damit sie genug Platz haben, aber auch k­ onzentrieren, da-
mit sie sich nicht verloren fühlen. Es darf keine toten Ecken geben.»

soziale dichte als angebot


Wir gehen durch den eleganten Empire-Salon, durchqueren den Speisesaal, wo für das
­Mittagessen gedeckt wird, und gelangen in den Hochzeitssaal. «Das Hotel ist ein Ort des
Kollektiven; die Gäste sollen und wollen sich sehen. Es sollen sich nicht isolierte Gruppen
bilden, die voneinander keine Notiz nehmen.» Bald fällt auf, dass Kienbergers Wissens-
schatz über Menschen und Räume, den er sich mit den Jahren erworben hat, nicht nur ­für
sein Hotel gilt. Seine Sätze könnten ebensogut als Maximen für eine Stadtentwicklung
mit hoher sozialer Qualität dienen.
22 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013

01 Raumkontinuum und Sichtachsen im Hotel Vorbei an Grüppchen von Gästen durchqueren wir erneut die prunkvolle Halle und gelan-
Waldhaus Sils: Blick vom Treppenhaus durch gen in die dunkel getäferte Bar, wo Kienberger sich – alte Gewohnheit – ein vormittägliches
die Eingangs- in die Hotelhalle.
Orangina genehmigt. Dann zeigt er uns das gemütliche Foyer und das elegante Fumoir, die
(Fotos 01, 03 und 04: rw)
02 In der Hotelbar. (Foto: A. Hofer) 2000 und 2012 neu geschaffen wurden, und daneben die Bibliothek von 1920. Hier sitzen
03 Die Halle: Treffpunkt und Herz des Hauses. einzelne Gäste und lesen, es ist still. «Ein dicht bewohntes Haus sollte niemandem allein
04 Blick vom Empire-Saal durch die Halle in gehören. Keine Gruppe soll überhand nehmen, das Hotel vereinnahmen und die Räume do-
die Bar.
minieren. Deshalb achten wir darauf, keine zu grossen Tagungen oder Veranstaltungen ins
Haus zu holen.» Dichte als soziale Qualität also, jedoch laufend sorgfältig gesteuert, als An-
gebot, nicht als Zwang.

undefinierte räume und wechselnde nutzungen


Dazu gehört, dass es im Waldhaus trotz regem Kulturprogramm viele ruhige Ecken gibt, in
die man sich mit einem Buch oder auf ein Gespräch zurückziehen kann: die Bibliothek,
ein Sofa am Cheminée in der Halle – sogar im Treppenhaus und auf den breiten Fluren gibt
es Leseecken an Fenstern mit wunderschöner Aussicht. «Wenn ein Ort dicht genutzt ist,
braucht es darin Freiräume ohne definierte Funktion, wie zum Beispiel unser Foyer, damit
nicht das Gefühl von Unentrinnbarkeit entsteht. Sie sind eine Art Puffer, im akustischen wie
im sozialen Sinn. Hier kann jeder Gast selber entscheiden, was er tun will. Diese bewusst
undefinierten Räume müssen jedoch schön sein, einen starken Charakter haben und
sorgfältig gepflegt werden, sonst wirken sie unwirtlich und bleiben leer», erklärt Kienberger.
Für die Hotelleitung bedeuten dieses Moderieren der sozialen Dichte und das Optimieren
der Räume eine stete diskrete Präsenz, genaues Beobachten, rasches Reagieren auf
­wechselnde Tageszeiten und Bedürfnisse. In den Räumen überlagern sich Nutzungen; oft
werden die Möbel umgestellt: Der Empire-Salon dient einmal für eine Musikvorführung, dann
wieder für ein Käsebuffet; die Halle als Lounge, zum Tanz oder für eine szenische Lesung.
­«Qualität ist unsichtbar. Möbel, Licht, Akustik, Belüftung, Service – alles braucht dauernde
Qualitätskontrolle. Nur so bleibt der Charakter des Hauses erhalten. Manchmal ist es eine
Gratwanderung zwischen dem Erhalten des Charakters und optimalen Betriebsabläufen.»

Geschichte als Kapital und identität


Kienberger zeigt uns Gästezimmer aus verschiedenen Epochen: einen Art-déco-Salon mit
Möbeln und Bad von 1908, eine Suite mit modernem Bad und ein Dachkämmerchen, in
dem nur ein kurzes Bett Platz hat. Jedes Zimmer hat seinen eigenen Charme und jedes
seine Stammgäste. Die Grösse der Zimmer variiert beträchtlich. Insgesamt sind die privaten
Räume pro Gast aber eher knapp bemessen. Ein kleiner Rückzugsort genügt hier auch,

01 02
TEC21 36 / 2013 inspiration grandhotel | 23

03

denn für alles andere gibt es kollektive Räume. «Die Zahl der Gästezimmer und die der
öffent­lichen Räume müssen im Gleichgewicht sein. Weil sich die Bedürfnisse ändern, müssen
wir laufend umbauen. Mehr Komfort und neue Dienstleistungen kommen hinzu, gewisse
Nutzungen kommen dafür aus der Mode.»
Wir durchqueren die imposante Küche – die Crew ist am Rüsten – und dringen an den Vor-
ratskellern vorbei tiefer in den Bauch des Waldhauses vor. Der Weg führt vorbei an Kantine,
Küche und Aufenthaltsräumen des Personals, an den Zimmern der Lehrlinge. Das Interieur
ist hier etwas schlichter als auf der Beletage. Nach einem Besuch in der Lingerie geht es
schliesslich ins «Maschinendeck» hinab. Es wird heiss und laut, wir nähern uns einer
­Kraft-Wärme-­Maschine von imposanten Ausmassen und beträchtlicher Lautstärke, die das
Haus mit ­Wärme und Strom versorgt. Ist die Halle das Herz des Hauses, so sind wir hier
wohl in seiner Lunge angelangt – und ausserdem in seinem Gedächtnis: Im vierten
­Untergeschoss hat der Künstler Giuseppe Reichmuth in der einstigen Bäckerei das skurrile
Hotelmuseum eingerichtet. Nie entsorgte Gegenstände aus Grossmutter Kienbergers
­Rumpelkammer, ausgediente Küchenapparate und Spielsachen führen hier unscheinbare
Tänzchen auf, ­Skifahrer ziehen ihre Spur durch eine Badewanne mit Löwenfüsschen,
und Sportwagen fahren durch das Backrohr. In einem Raum lagern Holzskis und Koffer von
Gästen, die nach 1945 nie mehr ins Waldhaus zurückgekehrt sind.
«Wir versuchen, das Haus laufend zu erneuern, aber dabei immer möglichst die Tradition zu
wahren.» Die Pflege der Geschichte geht bis ins Detail. Deshalb gibt es im Waldhauskeller
nebst dem Museum noch ein zweites Gedächtnis: die Werkstatt des Hausmechanikers
­Guido Schmidt. Seine Aufgaben sind so vielfältig wie der Maschinen- und Apparatepark im
Haus. Er hat die neun im ganzen Haus verteilten Wanduhren von 1908, die von der Mutter-
uhr im Büro über einen elektrischen Impuls gesteuert werden, ebenso repariert wie das
­automatische Welte-Mignon-Klavier, das längst vergessene, auf Papierstreifen gestanzte
Melodien spielt. Heute beugt er sich mit seinem Mitarbeiter über eine Kaffeemaschine aus
den 1950er-Jahren und steuert beiläufig seine Wahrheit bei: «Ersetzen kann jeder, Flicken
04
24 | inspiration grandhotel TEC21 36 / 2013

ist Kunst.» Reparieren als Kulturtechnik der Nachhaltigkeit, die liebevolle Pflege des eigenen
Publikationen und FilmE zum
waldhaus Sils Charakters als Identität. – Und wie bedeutend ist die Rolle des Kulturprogramms für das
Waldhaus? «Es würde wohl auch ohne funktionieren», räumt Kienberger ein, «aber ich
Marion Kollbach: Sils-Maria und das Wald- ­glaube, dann wäre ich schon längst nicht mehr hier. Nachhaltigkeit bedeutet doch auch,
haus. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009.
NDR. dass man sich die Arbeit so einrichtet, dass man sie lang machen mag.»
Am Ende des Rundgangs angelangt sind wir – wo sonst? – wieder in der Halle gelandet.
Christoph Marthaler, Sarah Derendinger:
Familientreffen – Marthaler Theater im Grand Wir sinken in die Polster und fragen den Hoteldirektor nach der Quintessenz der ­Waldhaus-
Hotel. Dokumentarfilm, Schweiz, 2009. Philosophie. «Ich glaube, im Kern unseres Unternehmens steht nicht die Frage ‹Was
Freihändler Filmproduktion GmbH / SRF / ZDF.
­rentiert?›, sondern vielmehr: ‹Was können wir uns leisten?› Was mag es leiden an Räumen,
Zora Del Buono, Stefan Pielow: Waldhaus Sils: Service- und Kulturangeboten, die wir gern anbieten möchten, weil sie die Aufenthalts­
A Family Affair since 1908, Sils-Maria 2008.
qualität der Gäste und unsere Lebensqualität verbessern? – Interessant ist ­übrigens auch
Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus
die komplementäre Frage: ‹Worauf können wir verzichten?› Es ist manchmal erstaunlich,
Sils-Maria. Kunstführer GSK. Bern, 2005.
was man alles nicht braucht.» Mit dieser letzten Anregung lässt uns Kienberger in der Halle
Welte-Mignon Piano im Hotel Waldhaus Sils.
zurück und setzt den Rundgang fort, der für ihn nie endet.
Tudor Recording, 2001. Compact Disc mit K la-
vierwerken von Delibes, Mozart, Chopin usw.

A. T. Schaefer: Das Waldhaus Sils-Maria.


wohnen wie im hotel?
Insel mit Brücken. Mönchengladbach 1998. Das Grandhotel ist als Privatbetrieb auf den steten Zustrom von viel Geld von den Gästen
Rolf und Urs Kienberger: Streiflichter aus der angewiesen. Diese bezahlen pro Person und Monat einen Preis in der Grössenordnung von
Waldhausgeschichte 1908–1983. Sils-Maria 10 000 Franken; das Geld fliesst zum grossen Teil in Löhne für Dienstleistungen. Die Be­
1983.
wohnerschaft ist in betuchte Gäste und Angestellte mit zum Teil niedrigen Löhnen gespalten.
Die Eigentümerfamilie moderiert die ungefähr gleich grossen Gruppen. Im Grandhotel
herrscht gewissermassen Kostenwahrheit: Die sonst unbezahlte Hausarbeit ist zu 100 %
monetarisiert: Putzen, Kochen, Bettenmachen usw. ist im Zimmerpreis inbegriffen.1
Im Grandhotel leisten sich die Gäste Annehmlichkeiten, die sie im Alltag nicht dauernd
brauchen: täglich ein bis zwei Fünfgangmenüs, frische Handtücher und Livemusik usw.
Wenn wir diese Frivolitäten einmal abziehen und einen Teil der Hausarbeit (nicht die ganze!)
wieder selber übernehmen, bleiben Servicedienstleistungen, wie sie verschiedene Wohn-
projekte bereits erproben. Die Genossenschaft Karthago in Zürich leistet sich seit 16 Jahren
einen Speisesaal mit Koch, und in der Überbauung James hat die Investorin eine Firma mit
dem Betrieb einer Reception beauftragt (TEC21 46/2007, S. 22). Im Mehrgenerationenpro-
jekt Giesserei in Winterthur (TEC21 9/2013, S. 12) sind die Kosten der gemeinschaftlichen
Infrastruktur akribisch aufgeschlüsselt; die Wohnenden haben ein Paket aus alltäglichen
Pflichten und gemeinschaftlichen Aktivitäten definiert – von der Wartung der Gebäude­
05 Arbeit in der Küche. (Foto: rw)
06 In der Lingerie. (Fotos 06 und 07: A. Hofer) technik bis zur Moderation von Arbeitsgruppen – und errechnet, dass für diese Leistungen
07 Haupteingang. 36 Stunden Mitarbeit pro Jahr von allen nötig sind.

05 06
TEC21 36 / 2013 inspiration grandhotel | 25

Am weitesten geht wohl die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich mit etwa 350 Wohnenden
und Arbeitenden, die im Frühling 2014 bezogen wird. Der komplexe Hybrid ist in einem
mehrjährigen partizipativen Prozess entstanden und bietet eine Fülle von Dienstleistungen.
Zum gastronomischen, kommerziellen und kulturellen Angebot, das an diesem zentralen,
städtischen Ort selbsttragend funktionieren kann, kommen eine Gästepension, zumietbare
Zimmer und Arbeitsräume, eine Eingangshalle mit Reception, Caféteria, Kindertagesstätte,
Waschsalon und ein Dachgarten mit angrenzender Sauna. Selbst das Wohnen hat in vielen
Bereichen hotelähnlichen Charakter: Kleine Studios sind mit einem Gemeinschaftsraum
zu Wohnclustern gruppiert, und ein Grosshaushalt verfügt über einen Speisesaal und eine
Gastroküche.
Für die Umsetzung von Hotelqualitäten in der Siedlungsplanung sehen wir drei Möglichkeiten,
die sich auch kombinieren lassen: Funktionen wie Restaurants, Bars usw. können als
­kommerzielle Privatbetriebe ins Bauprogramm aufgenommen werden. Wenn die Nachfrage
für kommerzielle Betriebe zu klein ist, bieten sich die vielfältigen Formen von Selbstorgani-
sation, Sharing, Freiwilligenarbeit, Freizeitengagement und Integrationsprojekten, die heute
07 weit über die alternative Szene hinaus einen Aufschwung erleben, als gemeinschaftliche
Nutzungen im Erdgeschoss an. Schliesslich sind gemischte Organisationsformen denkbar,
zum Beispiel unter Beteiligung der Gemeinde, die gemeinnützige Aufgaben mit kommer­
ziellen Angeboten kombinieren können. Damit wird eine Planung nach dem Waldhaus-­
Prinzip «Was können wir uns leisten?» möglich.

lernen vom grandhotel


Das Luxushotel Waldhaus Sils lehrt uns sparen und am richtigen Ort grosszügig zu sein:
Die individuellen Räume können knapp sein, wenn eine kompetente Verwaltung genügend
gemeinschaftliche Räume sorgfältig pflegt. Das Grandhotel lehrt uns, dass ein sozialer
Ort, wo jegliche Form von Austausch möglich wird, ein schöner Ort sein muss. Doch in
­Planungen und Wettbewerben minimieren wir in einer funktionalistischen Blindheit Eingänge,
Treppenhäuser und Flure und den Aufwand zu ihrer Pflege, statt sie zu schönen Lebens­
räumen auszuweiten – immer grössere Individualflächen kompensieren dann die so
­entstandene Unwirtlichkeit.2 Der Grund dafür ist vermutlich weniger Profitstreben als ­Skepsis
gegenüber funktional unbestimmter Kollektivität. In jüngster Zeit jedoch manifestiert sich
ein wachsendes Bedürfnis nach gemeinschatlicher Organisation des Alltags, sei es
bei der Kinderbetreuung, in der Freizeitgestaltung oder im Alter. Mehr Gemeinschaft – in
neuer Form, mit weniger Konformitätsdruck als früher – ist nötig, nicht nur, weil wir emotional
darauf angewiesen sind, sondern weil in ihr das grösste Potenzial für nachhaltige Lebens-
weisen steckt. Nur durch sie kann es gelingen, die verhängnisvolle Verknüpfung von
­Wohlstandszuwachs, Individualisierung und Ressourcenverschleiss zu durchbrechen.
Für die Planung von lebendigen Siedlungen und Quartieren sind gemeinschaftliche Nutzun-
gen eine grosse Chance. Gemeinschaft entsteht an schönen Orten. Die Frage, die zu
einer nachhaltigen Siedlungsweise führt, ist deshalb nicht: «Wie bauen wir energiesparend,
kostengünstig und unterhaltsarm?», sondern: «Welche schönen Räume, welche Service-
dienstleistungen und welche Sorgfalt bei der täglichen Pflege der Räume wollen wir uns
leisten?» Dies stellt die gängigen planerischen Strategien infrage und öffnet ihnen ein neues
Feld: Wer kümmert sich um wirkliche Gemeinschaftsflächen (nicht Gemeinschaftsräume,
die nach dem Kindergeburtstag sauber geputzt an die Verwaltung zurückgegeben werden
Anmerkungen müssen)? Wer betreibt alltägliche Räume, gibt ihnen einen Charakter, reagiert auf wechselnde
1 Die Kostenwahrheit gilt hier auch in globaler
Bedürfnisse und gestaltet sie permanent neu und attraktiv? Eines scheint uns nach der
Perspektive: Die Löhne fallen in Schweizerfranken
an, die Angestellten sind fair bezahlt, die Gäste ­Analyse des Hotels Waldhaus klarer denn je: Solange Stadtentwicklung und Siedlungs­
«profitieren» nicht wie bei Pauschalbadeferien in planung nicht breite Diskussionen über Lebensqualität und gesellschaftliche Organisation
Billiglohnländern von der Ausbeutung der beinhalten, bleiben sie blutleer und tragen nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung bei.
Arbeitskräfte.
2 Zu diesem Zusammenhang vgl. Alexander
Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Andreas Hofer, dipl. Arch. ETH, [email protected]
Frankfurt 1965. Ruedi Weidmann, [email protected]

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