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Didaktik der Tragwerke

Am Anfang jedes konstruktiven Entwurfsprozesses stehen strukturell logische und nach-


vollziehbare Überlegungen zu Tragwerken, die nicht einfach nur als Mittel zum Erreichen
bestimmter Formvorstellungen verstanden werden. Vielmehr basieren sie auf klar definierten
konstruktiven Grundprinzipien.
Das Verfolgen dieser Prinzipien ermöglicht einerseits den von den Ingenieuren seit jeher
propagierten materialsparenden Leichtbau, andererseits aber auch eine enorme Vielfalt und
einen großen Formenreichtum. Resultat sind – weit entfernt vom bloßen Wiederholen eines
bestimmten Repertoires – Variationen bewährter Lösungen ebenso wie völlig neuartige
Konstruktionen.
Didaktik der Tragwerke

Konstruktive Grundprinzipien
1
Roland Pawlitschko ist Autor Bei schlaich bergermann und partner entste- alles Unnötige weggelassen, bei der Biegung
und Architekturkritiker. hen Tragwerke zwar immer aus dem Kontext sind nur die Randfasern voll beansprucht,
heraus, bloßes Mittel zum Erreichen bestimm- während in der Mitte untätiges Material
ter Geometrien oder Formen sind sie dage- mitgeschleppt‹ werden muss.« Tatsächlich
gen äußerst selten. Im Vordergrund stehen können zugbeanspruchte Querschnitte
vielmehr strukturale Prinzipien. So versuchen fast vollständig zur Lastabtragung genutzt
die Ingenieure vor allem rein zug- und druck- werden. Außerdem sind sie effizienter als
beanspruchte Tragwerkskomponenten zu ver- druckbeanspruchte, weil sie erst beim Ver-
wenden, was damit zu tun hat, dass sich die sagen des Werkstoffs ausfallen. Druck-
Kraftflüsse und Lastpfade in solchen Bautei- beanspruchte Bauteile dagegen werden
len besonders klar ablesen lassen – eines viel früher instabil, etwa durch Knicken oder
ihrer wesentlichen Grundprinzipien. Eine Rolle Beulen.
spielt dabei aber auch, dass solche Bauteile
die Querschnitte ideal ausnutzen. Und das Ordnung der Tragwerke
hat wiederum mit dem von Jörg Schlaich Bei der Vielzahl der Entwurfsmöglichkeiten
schon vor Jahrzehnten propagierten Leicht- verschafft eine grafische »Ordnung der Trag-
bau zu tun: »Bei Stäben wird die gesamte werke« Orientierung und Überblick (Abb. 2).
Querschnittsfläche gleichmäßig genutzt und Die auch bei Vorlesungen zum Entwerfen und

Rotation

Translation

Linear

Druck

Biegung

1 Baumstütze, Steg Cité


Baden-Baden (D), 2006, Zug
schlaich bergermann und
partner
2 Ordnung der Tragwerke,
schlaich bergermann und
partner
3 zentraler Granitknotenpunkt,
Fußgängerbrücke über den
Hessenring, Bad Homburg
v. d. Höhe (D) 2002, schlaich
bergermann und partner
4 Schnittansicht Fußgänger-
brücke über den Hessenring
5 Fußgängerbrücke über den
Hessenring
2

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Konstruktive Grundprinzipien

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Konstruieren an der TU Berlin verwendete Prinzipien durch verhältnismäßig geringfügige Länge: 76 m
Grafik zeigt, dass Tragwerke fast immer auf Entwicklungsschritte zu völlig eigenständigen Spannweite: 46 m
Breite: 6,90 m
drei Grundtypen basieren − hauptsächlich Tragwerkstypen führen. Besonders deutlich Höhe des Masts: 15 m
zugbeanspruchte Seile bzw. druckbean- wird dies an den drei im Folgenden vorge- Material Mast: Nero Assoluto,
spruchte Bögen sowie Biegebalken. Während stellten Bauwerken, die aufzeigen, welches ein Gestein vulkanischen
diesen Typen jeweils eigene Quadranten Innovationspotenzial in der Variation des Prin- Ursprungs, Simbabwe
zugeordnet sind, befinden sich im vierten zips »Baumstütze« liegt. Ein relativ einfaches
Quadranten hybride Tragwerke, für die Beispiel ist der 2006 in Baden-Baden fertig-
gemischte Arten des Lastabtrags typisch gestellte Steg Cité, eine fugenlose (integrale)
sind. Die Tatsache, dass alle zugbeanspruch- Fußgängerbrücke, deren flacher Betonbogen
ten Konstruktionen stets über Auflager etwa in der Mitte von einer Y-förmigen scheiben-
in Form von Wänden oder Masten verfügen artigen Konstruktion unterstützt wird, um die
müssen, um in der Höhe gehalten zu werden, Spannweiten zu verringern (Abb. 1).
sei hier vernachlässigt. So ist ein Speichenrad
eigentlich ein hybrides Tragwerk, das ohne Baumstütze aus Granitblöcken
Druckringe nicht funktionieren würde. Umge- Die ideale Lage der Auflagerpunkte stand
kehrt treten auch bei typischen druckbean- auch bei einer Fußgängerbrücke in Bad Hom-
spruchten Tragwerken wie Schalen oder Kup- burg im Mittelpunkt (Abb. 3−5). Aus der Idee,
peln immer auch Zugbeanspruchungen auf.
Diese gibt es nur dann nicht, wenn reine Zug-
konstruktionen – wie bei Heinz Islers Beton-
schalen – auf den Kopf gestellt werden.
Grundsätzlich sind all diese Tragwerkssys-
teme linear (z. B. Bogen als Brücke), durch
Translation gereiht (etwa Bogen als Hallen-
dach) oder rotiert (z. B. Bogen als Kuppel)
möglich, was sich im Diagramm an den kon-
zentrischen Ringen ablesen lässt. Interessant
dabei ist, dass sich aus der Anordnung der
vier Viertel eine horizontale Spiegelachse
ergibt, an der sich phänotypisch ähnliche
Konstruktionen einmal als zug- und einmal als
druckbeanspruchtes Tragwerk abbilden. Die
Vielfalt der hier dargestellten Tragwerke lässt
erahnen, wie groß der Variantenreichtum
dieser Prinzipien ist – aus jedem der Beispiele
lassen sich unzählige Möglichkeiten ableiten
und weiterentwickeln, die jedoch nach wie vor
dem jeweiligen Grundprinzip entsprechen.

Variationen von Stützen


Stützen, Balken und Platten zählen zu den am
häufigten eingesetzten Baumaterialien, mit
denen sich selbstverständlich auch die Trag-
werksplaner von schlaich bergermann und
partner beschäftigen. Auch in diesem Bereich
zeigen die Ingenieure, wie relativ einfache
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Didaktik der Tragwerke Konstruktive Grundprinzipien

6 7
6 Anschlussbereich des eine Schrägseilbrücke in Innenstadtlage zu Flächenübergänge erforderte ein dreidimen-
Flügels mit Profilierung bauen, resultierte eine Brücke, deren 16 Zug- sional formbares Material. Eine Betonkonstruk-
(Zahnleiste), Mitarbeiter-
restaurant Boehringer
stäbe an einem baumartigen Mast in Brü- tion wäre zu wuchtig geworden und bei Stahl
Ingelheim (D) 2007, BM+P ckenmitte befestigt wurden – die Aufstellung hätte man Stahlguss einsetzen müssen – das
Architekten zweier Masten hätte aufgrund der relativ erschien den Planern nicht angemessen. Also
7 Einbau und Justierung kurzen Spannweite zu massiv gewirkt. Durch entschieden sich die Ingenieure für die Ver-
der Baumstützenflügel, die gleichmäßige Spreizung der Baumstütze, wendung von massiven Granitblöcken, die
Mitarbeiterrestaurant
Boehringer Ingelheim deren Kopfenden exakt über den Rändern geradezu symbolhaft belegen, dass im Mast
8 Mitarbeiterrestaurant der Lauffläche, also in den für Schrägseil- keine Zugkräfte wirken. Dass dort trotz gele-
Boehringer Ingelheim brücken üblichen vertikalen Tragwerksebe- gentlich auftretender Horizontalkräfte aus
nen, liegen, wirken hier innerhalb des Masts Wind oder einseitigen Verkehrslasten tatsäch-
ausschließlich Druckkräfte. Das Besondere ist lich keine Zugkräfte auftreten, dafür sorgen
aber nicht nur die Gestalt des Masts, sondern Zugelemente, die die vier Arme an ihren
auch sein Material. Die geometrische Ausbil- Kopfenden miteinander verbinden, sowie vor-
dung des komplexen Knotenpunkts und der gespannte Stäbe im Inneren der Natursteine,

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Konstruktive Grundprinzipien

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die die Zugspannungen einfach »überdrü- mengefügt und vergossen (Abb. 6 und 7).
cken«. Resultat ist eine überaus feingliedrige Die drei Beispiele machen deutlich, dass die
Brückenskulptur – eine räumliche Schräg- Anwendung des vor allem aus dem Stahlbau
seilbrücke, die nicht nur Kraftflüsse nachvoll- bekannten Konstruktionsprinzips der Baum-
ziehbar macht, sondern zugleich auch als stütze – Überführung von Lasten von vielen
unverwechselbarer Stadteingang fungiert. auf wenige Punkte – auch im Hinblick auf die
Materialwahl zahlreiche unterschiedliche
Baumstütze ohne Äste Lösungen ermöglicht.
Die skulpturale Wirkung stand bei der Form-
findung der Stahlbetonstützen des 2008 Fachwerkträger und Seilnetzkonstruktion
fertiggestellten Mitarbeiterrestaurants von Welche Vielfalt selbst aus dem einfachen Prin-
Boehringer Ingelheim zwar keineswegs im zip »Träger« erwachsen kann, zeigen weitere
Vordergrund (Abb. 8). Dennoch ist es gerade Projekte, deren Tragwerke aus linear oder
die Form der Baumstützen, die dieses Projekt räumlich gereihten Trägern bestehen – Lö-
so unverwechselbar macht. Aufgabe war es, sungen, die am Ende gedanklich nicht mehr
eine großflächige Stahlbetonflachdecke, bei weit von Flächentragwerken wie Seilnetzkon- 11
der es keine Unterzüge geben sollte, mit struktionen entfernt sind. Als relativ einfaches, 9 A380-Wartungshangar,
möglichst wenigen Stützen zu tragen – viele aufgrund seiner enormen Spannweiten aber Frankfurt /M. (D) 2007, gmp
Architekten von Gerkan,
Einzelstützen hätten den Restaurantbetrieb dennoch sehr anspruchsvolles Beispiel gilt Marg und Partner,
zu sehr gestört. Ähnlich wie beim Steg Cité der 2007 fertiggestellte Lufthansa A380- Schnitt, Maßstab 1: 2500
in Baden-Baden ging es letztlich auch hier Wartungshangar in Frankfurt /M. Zusammen 10 Convention & Exhibition
darum, Spannweiten zu reduzieren – in diesem mit gmp Architekten entstand ein Tragwerk Center, Shenzhen (CN)
Fall aber räumlich. Also schlugen die Inge- aus überaus filigranen Haupt- und Neben- 2005, gmp Architekten von
Gerkan, Marg und Partner,
nieure Baumstützen vor, die in einem ring- fachwerkträgern aus Stahl mit beachtlichen Schnitt, Maßstab 1: 2500
förmigen Deckenausschnitt in die Decke Spannweiten von bis zu 180 m (Abb. 9). Eben- 11 Tragwerk Convention & Exhi-
übergehen sollten. Im Zentrum der Überle- falls mit gmp Architekten konzipierten schlaich bition Center
gungen stand dabei schnell die Frage, wie bergermann und partner für das Convention
der Übergang der punktförmigen Stütze zum & Exhibition Center im chinesischen Shenzhen
ringförmigen Deckenausschnitt ausgebildet 2005 ein Dachtragwerk aus unterspannten
sein könnte. Wesentlich logischer als die Ver- Doppelträgern. Diese grundsätzlich für große
wendung verzweigter »Äste« erschien es – Lasten und Ausdehnungen geeignete Trä-
auch im Sinne eines homogenen Gesamttrag- gervariante mit 125 m Spannweite besteht
werks aus Beton – schaufelförmige Baum- aus einem kräftigen Obergurt mit senkrech-
stützen zu entwickeln, die die vertikalen Kräfte ten Druckstäben und unteren Spannseilen
optimal und gleichsam fließend von der Dach- (Abb. 10 und 11). In Frankfurt wie auch
fläche in die punktförmigen Stützen überfüh- Shenzhen sind die Träger linear unmittelbar
ren. Die Form der Schaufelflächen weicht in nebeneinander angeordnet (Translation), um
ihrer Geometrie leicht von einem regelmäßi- die Grundfläche großer orthogonaler Hallen
gen Kegelausschnitt ab und spiegelt dabei zu überdecken. Komplexe räumliche Trag-
exakt den Kraftfluss wider. Ihr Aussehen werke entstehen hingegen erst dann, wenn
ermittelten die Ingenieure – in enger Abstim- lineare Tragwerke rotiert oder zu Trägerrosten
mung mit Thomas Beucker von BM+P Archi- zusammengefügt werden.
tekten aus Düsseldorf – mithilfe einer Mem-
bran-Formfindung. Die vier Flügel und der Trapezstegträger
Schaft wurden als Fertigteile mit selbstverdich- Im Fall der Überdachung des für 2012
tendem Beton getrennt gefertigt und auf der geplanten Fluggastterminals des neuen Willy-
Baustelle zu einer homogenen Einheit zusam- Brandt-Flughafens in Berlin von gmp Archi-

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Didaktik der Tragwerke Konstruktive Grundprinzipien

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12 Isometrie Trägerrost mit tekten und JSK Architekten entwickelten Zweilagiges Biegetragwerk
Trapezblechträgern, Flug- schlaich bergermann und partner einen Vom regelmäßigen Trägerrost als druck-
gastterminal Willy-Brandt-
Flughafen, Berlin (D) 2012,
gekanteten Trapezstegträger als Variante und biegebeanspruchte Konstruktion ist es
gmp Architekten von des klassischen Stahl-Doppel-T-Trägers gedanklich nicht mehr weit zu Tragwerken
Gerkan, Marg und Partner; (Abb. 12, 13 und Abb. 1−5, S. 32f.). Hierbei wie der Seilnetzkonstruktion des im Grundriss
JSK Architekten handelt es sich im Prinzip um rund 4 m hohe ovalen, ebenfalls mit gmp Architekten geplan-
13 Trapezblechträger, Flug- Vollwandträger mit dünnen Trapezblechste- ten SPM-Schwimmstadions in Neu-Delhi
gastterminal Willy-Brandt-
Flughafen gen, die sich nach Untersuchungen der Inge- (Abb. 14−16). Diese im Querschnitt linsenför-
14, 15 SPM-Schwimmstadion, nieure hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit als mige Konstruktion besteht aus einem vorge-
Neu-Delhi (IND) 2010, gmp wesentlich günstiger herausgestellt haben spannten zweilagigen und über Luftstützen
Architekten von Gerkan, als Fachwerk- oder Vollwandträger mit unge- miteinander verbundenen Seilnetz, das in
Marg und Partner; Consul-
kanteten Stegen. So hätten beispielsweise einen massiven, von breiten Betonwandschei-
ting Engineering Services
Ltd. die Stege gewöhnlicher Vollwandträger bei ben getragenen Betonring gespannt wurde.
16 SPM-Schwimmstadion, gleicher Stabilität aufwendig mit zahlreichen Bei Lasteinwirkung von oben wird das obere
Schnitte, Maßstab 1:1250 aussteifenden Beulstreifen verschweißt Seilnetz entlastet und das untere belastet –
werden müssen, was nicht zuletzt aufgrund bei Windsog entsprechend umgekehrt.
des relativ engen Terminrahmens problema- Dadurch, dass die Seilbündel des oberen
tisch gewesen wäre. und unteren Netzes parallel verlaufen, ergibt
Die Trapezstegträger wurden letztlich nicht sich in der Feldmitte eine im Grundriss recht-
einfach aneinandergereiht, sondern zu einer winklige Tragstruktur, die in ihrem Erschei-
Art Trägerrost zusammengesetzt, der aller- nungsbild an Trägerroste erinnert und sich
dings nicht frei im Raum spannt, sondern im ebenso wie diese ideal zur Aufnahme von
Raster von 43,75 m von Pendelstützen getra- aneinandergereihten Beleuchtungselementen
gen wird. oder anderen technischen Ausrüstungen

Länge: 147 m
Spannweite: 150 m
Höhe: 34 m
Dachfläche: 16 500 m2
Bruttogrundfläche: 11 500 m²
Sitzplätze: 5200

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Konstruktive Grundprinzipien

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eignet. Neben dem Trägerrost ist in dieser und aufgrund des auf und ab geführten 17 vorgespannte Seilnetzkons-
Seilnetzkonstruktion mit äußerem Druckring Dachrands entweder bogenförmig nach oben truktion, Velodrom, London
(GB) 2011, Hopkins
zugleich aber auch die Typologie des Spei- oder nach unten spannen. Die Vorspannung Architects
chenrads angelegt – mit parallelen Speichen ist dabei insgesamt so groß bemessen, dass 18 Velodrom, Schnitte,
und damit ohne Nabe in der Mitte. keine der beiden Lagen unter Last oder durch Maßstab 1:1250
Windsog erschlaffen kann und somit die 19 Velodrom
Auf Druck belastetes Seilnetz Spannung der nach oben gewölbten Lage
Dass sich Seilnetzkonstruktionen nicht nur für (etwa bei Schneelast) nicht negativ wird, son-
»trägerartige« Tragwerke, sondern insbeson- dern sich lediglich die Vorspannung reduziert
dere auch für filigrane doppelt gekrümmte – die Ingenieure sprechen davon, dass die
Dachkonstruktionen eignen, zeigt das einla- Seilkonstruktion in diesem Fall auf Druck
gige vorgespannte Seilnetzdach des im März belastbar sei. Letztlich werden die Lasten von
2011 als erste neue Sportstätte für die Olym- beiden Seillagen zu gleichen Teilen abgetra-
pischen Sommerspiele 2012 in London eröff- gen. Dieses Konstruktionsprinzip funktioniert
neten Velodroms (Abb. 17−19). Anders als hier auch deshalb so gut, da die Seillagen in
beim Schwimmstadion in Neu-Delhi handelt beiden Richtungen zu einem flächigen Seil-
es sich hierbei nicht um ein zweilagiges netztragwerk mit einer Maschenweite von ca.
Tragwerk. Das Besondere des von Hopkins 2,50 ≈ 2,50 m verknüpft sind, dessen Ränder
Architects aus London geplanten Gebäudes sich nicht verformen können – die auftreten-
mit seinen stark ondulierenden Rändern ist den Kräfte werden hier allerdings nicht in
vielmehr das Konzept einer »hängenden« einen eigenen Druckring (Felge), sondern in
und einer »stehenden« vorgespannten Seil- die massiv ausgeführten Zuschauerränge
lage – also jeweils parallel geführte Doppel- eingeleitet. Resultat ist eine überaus filigrane
seile, die sich in nur einer Seilebene kreuzen Dachkonstruktion, bei der sich manche Besu-

Länge: 140 m
Spannweite: 130 m
Höhe: 17 m
Dachfläche: 12 000 m2
Bruttogrundfläche: 12 000 m²
Sitzplätze: 6000

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Didaktik der Tragwerke Konstruktive Grundprinzipien

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20 Dachaufsicht Bao’an- cher fragen werden, wo sich denn eigentlich Zweilagig vorgespanntes Speichenrad
Stadion, Shenzhen (CN) das Tragwerk befindet – die in Reihen ange- Das Bao’an-Stadion in Shenzhen von gmp
2011, gmp Architekten von
Gerkan, Marg und Partner
brachten Beleuchtungskörper wirken jeden- Architekten ist eines der zahlreichen von
21 Dachaufsicht Moses-Mab- falls dominanter als die Konstruktion. schlaich bergermann und partner nach dem
hida-Stadion, Durban (ZA) Speichenradprinzip – kennzeichnend sind
2009, gmp Architekten von Variationen des Speichenrads ein äußerer Druckring und zwei innere Zug-
Gerkan, Marg und Partner Ähnlich wie bei einer Fahrradfelge beruht das ringe – realisierten Projekte. Für den beson-
22 Bao’an-Stadion
Prinzip des Speichenrads auf der Kombina- deren architektonischen Eindruck sorgen
tion einer dünnen Felge mit einer Vielzahl von hier die den leicht wellenförmigen Druckring
Speichen und einer mittigen Nabe. Für sich tragenden Stützen, die mit grünen Farbtönen
betrachtet würde die »weiche« Felge schon einen Bambuswald symbolisieren sollen
unter geringer Belastung ausweichen und (Abb. 22). Grundlage bildet ein korbbogen-
ausknicken. Durch die Verspannung mit förmiger Grundriss, bei dem sich Zug- und
dünnen Speichen wird sie in ihrer Ebene Druckringe jeweils auf denselben Mittelpunkt
gehalten und dabei überraschend steif. Die beziehen. Kennzeichnend für diese klassi-
Vorspannung sorgt hier dafür, dass die Spei- sche Speichenraddach ist daher, dass der
chen zu keinem Zeitpunkt erschlaffen – die Abstand zwischen äußeren und inneren
Felge wird zum Druckring und die Stabilität Ringen, also die Dachtiefe, an jeder Stelle
insgesamt erhöht. gleich groß ist (Abb. 20).

22

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Konstruktive Grundprinzipien

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Bogen und nicht affine Dachtiefe Ausführung als Schwergewichts-Hängedach 23 Dachaufsicht Estádio Naci-
Ausgangspunkt des von gmp Architekten und geht auch diese Konstruktion auf das Prinzip onal de Brasília, Brasília
(BR) 2014, gmp Architek-
dem südafrikanischen Team von BKS geplan- des klassischen Speichenrads zurück, da es ten von Gerkan, Marg und
ten Moses-Mabhida-Stadions in Durban war nur mit Ausbildung des Druckrings gelingt, Partner
ursprünglich das klassische Speichenradprin- die großen dort auftretenden Kräfte in sich 24, 25 Visualisierungen
zip, das im Planungsverlauf allerdings durch kurzzuschließen, ohne sie im Boden veran- des Estádio Nacional
das y-förmige gespreizte Bogentragwerk auf- kern zu müssen. de Brasília
gebrochen wurde (Abb. 21 sowie Abb. 1 und Der Vergleich dieser drei Stadionbauten, aber
2, S. 23). auch der Variationen der zuvor genannten
Auf diese Weise ergab sich hier die Möglich- Projekte macht deutlich, dass die von den
keit, Zug- und Druckring nicht einfach gleich- Ingenieuren von schlaich bergermann und
mäßig umlaufen zu lassen, sondern stattdes- partner seit einigen Jahrzehnten entwickel-
sen spiegelbildlich aufzuteilen und beide ten Konstruktionsprinzipien keineswegs zu
Hälften direkt am Bogen zu befestigen – radi- Gleichförmigkeit oder Monotonie führen,
ale Stahlseile spannen dabei vom horizon- sondern durch die kreative Weiterentwicklung
talen Druckring im Wechsel zum vertikalen innerhalb der eingangs vorgestellten »Ord-
Bogen und zum inneren Zugring. Gerade weil nung der Tragwerke« immer wieder neue
diese Dachkonstruktion nicht mehr als klassi- konstruktive und gestalterische Spielräume
sche Speichenradkonstruktion bezeichnet eröffnen.
werden kann, bot sich hier erstmals auch die
Gelegenheit zu variierenden Abständen zwi-
schen innerem Zug- und äußerem Druckring –
so entspricht der Zuschnitt der beiden Dach-
hälften nahezu exakt der Grundrissfläche der
unmittelbar darunterliegenden Zuschauertri-
bünen.

Schwergewichts-Hängedach
Das für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in
Brasilien umgebaute und erweiterte Estádio
Nacional de Brasília von gmp Architekten
erinnert im Grundriss zunächst an eine kon-
ventionelle zweilagige Speichenradkonstruk-
tion, bildet in Wirklichkeit aber einen weiteren
Sonderfall (Abb. 23−25). Für dieses Projekt
kennzeichnend ist ein radiales Ringseildach,
bestehend aus einem horizontalen äußeren
Betondruckring, mit dem an die großar-
tige Betonbautradition Brasílias angeknüpft
werden soll, sowie einen inneren Zugring.
Im Gegensatz zum Bao’an-Stadion in Shenz-
hen ist hier keine zweite obere Seillage mit
Luftstützen vorgesehen. Um trotzdem die not-
wendige Vorspannung zu erzielen, wird das
Dach mit einer gewichtigen Eindeckung ver-
sehen, sodass es insgesamt schwerer ist als
die zu erwartenden Windsogkräfte. Trotz der
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