2014 Book PraktikumInWerkstoffkunde
2014 Book PraktikumInWerkstoffkunde
2014 Book PraktikumInWerkstoffkunde
Hans-Werner Zoch
Praktikum in
Werkstoffkunde
95 ausführliche Versuche aus wichtigen
Gebieten der Werkstofftechnik
12. Auflage
Praktikum in Werkstoffkunde
Eckard Macherauch ⋅ Hans-Werner Zoch
Praktikum in
Werkstoffkunde
95 ausführliche Versuche aus wichtigen
Gebieten der Werkstofftechnik
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Aus dem Vorwort zur 3. Auflage
Das „Praktikum in Werkstoffkunde“ war längere Zeit vergriffen. Meine starke berufliche
Belastung verzögerte leider eine frühere Fertigstellung der hiermit vorgelegten 3. Aufla-
ge. Aus vielen Gründen erschien mir eine einfache Überarbeitung und Ergänzung des
ursprünglichen Textes nicht mehr vertretbar. Vor allem die mehrfach geäußerten Wün-
sche, das Buch frei von der in Karlsruhe für Praktikumszwecke zur Verfügung stehenden
Sachausrüstung zu gestalten und weitere Versuche aufzunehmen, legten eine vollständige
Neukonzipierung und Neubearbeitung nahe.
Für die getroffene Auswahl der Versuche waren fachliche und didaktische Gesichts-
punkte maßgebend. Angestrebt wurde eine Versuchsfolge, die fortschreitend ein vertief-
tes Eindringen in grundlegende werkstoffkundliche Methoden und Zusammenhänge er-
möglicht. Dabei wurden viele Erfahrungen berücksichtigt, die sich bei dem Karlsruher
werkstoffkundlichen Ausbildungskonzept für Ingenieure ergaben. Ein besonderes Anlie-
gen war es, den Lernenden durch einfache Versuche die faszinierende Welt des Werkstoff-
aufbaus und des Werkstoffverhaltens unter den verschiedenartigsten Randbedingungen
nahezubringen, wie sie Werkstoffherstellung, Werkstoffver- und -bearbeitung sowie Werk-
stoffprüfung und -verwendung bieten. Daneben sollten aber auch die physikalischen, die
chemischen, die makromechanischen sowie die strukturmechanischen Grundlagen aufge-
zeigt werden, die die unerlässliche Basis jedes Werkstoffverständnisses sind. So entstand ein
„Praktikum in Werkstoffkunde“, das – wie ich hoffe – die einführenden und vertiefenden
werkstoffkundlichen Vorlesungen in ausgewogener Weise ergänzen kann.
Ich hoffe, dass das hinsichtlich Form, Inhalt und Umfang veränderte Buch nicht nur den
Studenten bei der Beschäftigung mit der Werkstoffkunde, sondern darüber hinaus auch
überall dort von Nutzen sein wird, wo in Lehre und Praxis werkstoffkundliche Probleme
behandelt werden.
V
Vorwort zur 12. Auflage
Die zahlreiche und sehr positive Resonanz auf die nach langer Wartezeit in 2011 erschiene-
ne Neuauflage des „Praktikum in Werkstoffkunde“ hat uns sehr gefreut. Die große Nach-
frage hat Verlag und Autoren bewogen, die Ihnen nun vorliegende erweiterte 12. Auflage
in Angriff zu nehmen.
Das Gebiet der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik entwickelt sich ständig wei-
ter. Viele Innovationsforscher gehen seit langem von einer Schlüsselstellung der modernen
Werkstoffe für eine anhaltende technisch-wirtschaftliche Entwicklung der Industrienatio-
nen aus. Eine zielgerichtete Anwendung dieser Werkstoffe setzt jedoch voraus, dass ih-
re Eigenschaften und physikalische und chemische Grundlagen hierzu richtig verstanden
werden. Die Charakterisierung dieser Materialien und Werkstoffe erfolgt zumeist in klassi-
schen, oft genormten Versuchen, die das „Praktikum in Werkstoffkunde“ in übersichtlicher
Form vorstellt und erläutert. Der Aufbau der Versuchsbeschreibungen eignet sich dabei so-
wohl für das an Universitäten obligatorische Praktikum als auch als Nachschlagewerk für
spätere Anwender in der täglichen Praxis.
Dieser ursprünglichen Zielsetzung des Werkes, die von dem Kollegen Macherauch über
11 Auflagen konsequent verfolgt wurde, ist auch diese Neuauflage verpflichtet. Über etli-
che Rückmeldungen aus dem Kreis der früheren Mitarbeiter von Herrn Macherauch und
Wegbegleitern der ersten Auflagen haben wir uns sehr gefreut und setzen die Tradition des
Buches gerne fort.
In diese 12. Auflage haben wir neue Versuchsbeschreibungen aufgenommen, die dem
allgemeinen Trend Rechnung tragen, dass moderne Konstruktionen sehr häufig ein „multi
material design“ beinhalten, d.h. den passenden Werkstoff am richtigen Ort einzuset-
zen. Hierdurch entstehen oft Verbundwerkstoffe oder Werkstoffverbunde, die ebenfalls
grundlegend mit klassischen Werkstoffkundeversuchen charakterisiert werden können.
Drei neue Versuche zu Faserverbundwerkstoffen bilden diese neue Werkstoffgruppe ab.
Selbstverständlich wurden Hinweise auf Korrekturen zur vorangehenden Auflage gern
aufgegriffen und umgesetzt.
Neben der tatkräftigen Unterstützung durch viele Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler des IWT im Rahmen der Überarbeitung zur letzten Auflage sind wir weiteren
Personen zu Dank für ihre Mitwirkung an der 12. Auflage verpflichtet.
VII
VIII Vorwort zur 12. Auflage
2 V2 Gitterstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
4 V4 Optische Metallspektroskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
4.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
5 V5 Röntgenfluoreszenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
IX
X Inhaltsverzeichnis
6 V6 Thermische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
6.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
6.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
8 V8 Härteprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
8.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
8.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
8.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
8.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
10 V10 Werkstofftexturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
10.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
10.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
10.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
10.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
11 V11 Korngrößenermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
11.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
11.2 Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
11.3 Versuchsdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
11.4 Symbole, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Inhaltsverzeichnis XI
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Bildquellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
V1 Strukturelle Beschreibung reiner Metalle
1
1.1 Grundlagen
Ordnet man alle natürlichen und alle künstlich erzeugten Elemente aufsteigend nach re-
lativer Atommasse Ar so an, dass chemisch verwandte Elemente untereinander stehen,
so ergibt sich das in Abb. 1.1 wiedergegebene so genannte Kurzperiodensystem der Ele-
mente mit der Gruppenbezeichnung nach CAS (Chemical Abstract Services). Man erhält
sieben waagerechte Zeilen (Perioden) und acht senkrechte mit römischen Ziffern bezeich-
nete Spalten (Gruppen), die ihrerseits die Hauptgruppenelemente (A) und die Nebengrup-
penelemente (B) umfassen. Während in Europa die Bezeichnung der Gruppen mit rö-
mischen Ziffern noch weit verbreitet ist, werden die Gruppen z. T. auch mit arabischen
Zahlen durchnummeriert (IUPAC-Konvention). Die Reihenfolge der Elemente wird durch
die Ordnungszahl Z festgelegt. Sie ist identisch mit der Kernladung, d. h. Zahl der Protonen
und Zahl der Elektronen der Elementatome. Das periodische System der Elemente spiegelt
die Periodizität im Aufbau der Elektronenhülle der Elementatome wieder. Man gelangt zu
dieser Ordnung jedoch nur, wenn die eingangs erwähnte Reihenfolge der relativen Atom-
massen zwischen den Elementen Ar (Z = 18) und K (Z = 19), Co (Z = 27) und Ni (Z = 28)
und zwischen Te (Z = 52) und I (Z = 53) unterbrochen wird. Ferner ist nach La (Z = 57) den
14 Elementen der Lanthanreihe (Lanthanoide) und nach Ac (Z = 89) den 14 Elementen der
sogenannten Actiniumreihe (Aktinoide) jeweils ein einziger Platz zugewiesen.
In der Werkstoffkunde wird bevorzugt das sogenannte Langperiodensystem der Ele-
mente benutzt. Man erhält es aus Abb. 1.1 durch Herausschieben der Elementgruppen IB
und IIB sowie IIIA bis VIIIA nach rechts und Anfügen an die Elementgruppe VIIIB. Wie
Abb. 1.2 zeigt, gibt diese Art der Darstellung unmittelbar den Aufbau der den einzelnen
Elementen zugehörigen Elektronenhüllen wieder. Aus den angegebenen Bezeichnungen
der Elektronenzustände ersieht man, dass die Auffüllung der Elektronenniveaus bis Ar in
der Sequenz 1s, 2s, 2p, 3s und 3p erfolgt. Dann werden bei K und Ca die 4s-Niveaus be-
setzt und erst danach erfolgt ab Sc bis Zn der Einbau von 3d-Elektronen. Daran schließt
sich von Ga bis Kr die Aufnahme von 4p-Elektronen an. Nach dem Einbau von 5s-Elek-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 1
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
2 1 V1 Strukturelle Beschreibung reiner Metalle
Abb. 1.1 Kurzperiodensystem der Elemente mit Ordnungszahl, Elementsymbol und relativer Atom-
masse
tronen bei Rb und Sr folgt ab Y bis Cd die Besetzung der 4d-Niveaus und anschließend
von In bis Xe die der 5p-Niveaus. Nach La werden erst die 4 f -Elektronenzustände, nach
dem Element Ac die 5 f -Elektronenzustände voll besetzt, bevor dann mit den Elementen
Hf bzw. Ku die Aufnahme weiterer d-Elektronen erfolgt. Eisen hat beispielsweise die Elek-
tronenkonfiguration 1s2 , 2s2 , 2p6 , 3s2 , 3p6 , 4s2 , 3d6 . Dabei werden die vor den Buchstaben
stehenden Zahlen durch die Hauptquantenzahl (n = 1; 2; 3; 4 . . . ), die Buchstaben s, p, d
durch die Nebenquantenzahl (l = n − 1 = 1; 2; 3; 4 . . . ) bestimmt. Die Hochzahl bei den
Buchstaben gibt die Zahl der jeweiligen Elektronen des gleichen Typs an. Sie ist begrenzt
durch 2 (2 l + 1). Die Elemente, die bei ihrer größten Hauptquantenzahl nur über besetzte
äußere s- bzw. s- und p-Elektronenzustände verfügen, heißen Hauptgruppenelemente (A-
Elemente). Beispielsweise wird die 2. Hauptgruppe IIA von den Erdalkalimetallen Be, Mg,
Ca, Sr, Ba und Ra gebildet. Die s- bzw. p-Elektronen bestimmen die chemischen Eigen-
schaften und heißen daher Valenzelektronen. Die Elemente der Nebengruppen besitzen
neben den Elektronen in den s-Niveaus der jeweils größten Hauptquantenzahl stets noch
Elektronen in den d- bzw. f -Niveaus mit kleinerer (zweit- bzw. drittgrößter) Hauptquan-
tenzahl. Dabei sind Elektronenplatzwechsel zwischen dem s- und dem jeweils letzten d-
Niveau möglich. Beispiele dafür sind die VIB -Metalle Cr, Mo und W sowie die IB-Metalle
Cu, Ag und Au.
Etwa 75 % aller Elemente des periodischen Systems sind Metalle. Diese liegen bei
Raumtemperatur alle – mit Ausnahme von Quecksilber – als kristalline Festkörper mit
einer räumlich periodischen Anordnung der Atome vor und zeichnen sich durch mehr
oder weniger gute elektrische und thermische Leitfähigkeit, plastische Verformbarkeit und
1.1 Grundlagen 3
Abb. 1.2 Langperiodensystem der Elemente mit Angaben zur Struktur der Elektronenhülle
Abb. 1.3 Kubisch-raumzentrierte (a), kubisch-flächenzentrierte (b) und hexagonale (c) Elementar-
zellen. Spalte 1: Schwerpunktmodell; Spalte 2: Realmodell; Spalte 3: Oktaederplätze; Spalte 4: Tetra-
ederplätze
• Eisen (bis 911 °C krz α-Fe, bis 1392 °C kfz γ-Fe, bis 1536 °C krz δ-Fe),
• Kobalt (bis 450 °C hex α-Co, bis 1495 °C kfz β-Co),
• Titan (bis 882 °C hex α-Ti, bis 1720 °C krz β-Ti) und
• Zinn (bis 13,2 °C tetrg .α-Sn, bis 232 °C rhomb. β-Sn).
Zur Kennzeichnung von Ebenen und Richtungen in Raumgittern hat sich eine einheit-
liche Kurzschrift entwickelt. Gitterebenen werden durch die so genannten Miller’sche Indi-
zes h, k, l angegeben. Dies sind die teilerfremden Reziprokwerte der Achsenabschnitte, die
von den Ebenen auf einem mit der Symmetrie des Gitters kompatiblen Koordinatensystem
abgeschnitten werden. Die Achsenabschnitte werden in Vielfachen der Atomabstände in
den Achsenrichtungen gemessen. Ebenen, die parallel zu einer Achse des Raumgitters lie-
gen, werden parallel zu sich selbst solange verschoben, bis sie durch die ursprungsnächsten
Atome auf den anderen Achsen verlaufen. Negative Achsenabschnitte führen auf negative
Miller’sche Indizes und werden durch einen Querstrich über der entsprechenden Ziffer ver-
merkt. Beispiele für die Ebenenindizierung in einem kubischen Raumgitter zeigt Abb. 1.4.
Den angegebenen Würfelflächen kommen z. B. die Indizes (100), (010) und (001) zu.
Will man, die Gesamtheit aller Würfelflächen ansprechen, so schreibt man in geschweiften
1.2 Aufgabe 5
z z z z
(001) (110) (111)
(110) (210)
(010)
y y y
y
(111)
(100) (123)
x x x x
z z z z
[221]
[001]
[111]
y y y y
[010] [110]
[100] [110] [111] [210]
x x x x
Klammern {100} und meint damit die Ebenen (100), (010), (001), (), () und ().
Die Richtung von Gittergeraden wird durch die teilerfremden Koordinaten u, v, w eines
beliebigen Punktes auf dieser Geraden festgelegt, die in Vielfachen der auf den Koordina-
tenachsen vorliegenden Atomabstände gemessen werden. Dazu wird die Gerade parallel zu
sich selbst in den Ursprung des Koordinatensystems verschoben. Beispiele für Richtungs-
indizierungen sind ebenfalls in Abb. 1.4 enthalten. Den Würfelkanten kommen z. B. die
Richtungen [100], [010] und [001] zu. Die Gesamtheit der Würfelkantenrichtungen setzt
man in spitze Klammern und schreibt ⟨100⟩. In kubischen Raumgittern fallen die Richtun-
gen [u v w] stets mit den Normalen auf den Ebenen (h k l) zusammen, wenn u = h, v = k
und w = l ist.
1.2 Aufgabe
Für krz, kfz und hex kristallisierende Metalle sind unter Zugrundelegung des Realmodells
die Zahl der nächsten Atome (Koordinationszahl), die Zahl der Atome pro Elementarzel-
le, die Atomradien, die Raumerfüllung pro Elementarzelle, die Radien der Oktaeder- und
Tetraederlücken sowie die Zahl der Oktaeder- und Tetraederlücken pro Elementarzelle an-
zugeben.
6 1 V1 Strukturelle Beschreibung reiner Metalle
1.3 Versuchsdurchführung
Es stehen Modelle für krz, kfz und hex Kristallgitter zur Verfügung. Die Gitterparame-
ter sind im kubischen Fall die Gitterkonstante a0 und die Achsenwinkel α = β = δ = 90°,
im hexagonalen Fall a0 , c0 mit c0 /a0 = 1,63 sowie α = β = 90° und δ = 120°. An Hand der
Modelle und nach Entwicklung geeigneter Skizzen erfolgt die Beantwortung der Fragen.
Die Ergebnisse der Überlegungen und Berechnungen werden in die nachfolgende Tabelle
eingetragen, miteinander verglichen und diskutiert.
Weiterführende Literatur
[Böh68] Böhm, H.: Einführung in die Metallkunde. Bibliographisches Institut, Mannheim (1968)
[Dom01] Domke, W.: Werkstoffkunde und Werkstoffprüfung, 10. Aufl. Cornelsen Verlag, Berlin
(2001)
[Fin76] Finkelnburg, W.: Atomphysik, 12. Aufl. Springer Verlag, Berlin (1976)
[Guv83] Guv, A.G.: Metallkunde für Ingenieure, 4. Aufl. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt
(1983)
Weiterführende Literatur 7
[Sch03] Schatt, W., Worch, H.: Werkstoffwissenschaft, 9. Aufl. Verlag Wiley-VCH, Weinheim (2003)
[Sch04] Schwister, K.: Taschenbuch der Chemie, 3. Aufl. Fachbuchverlag, Leipzig (2004)
[Har74] Hardt, H.-D.: Die periodischen Eigenschaften der chemischen Elemente. Thieme Verlag,
Stuttgart (1974)
V2 Gitterstörungen
2
2.1 Grundlagen
Die Metalle und Metall-Legierungen, die in der Technik als Konstruktionswerkstoffe be-
nutzt werden, sind aus relativ kleinen, gegeneinander unterschiedlich orientierten Körnern
oder Kristalliten aufgebaut. Man spricht von Vielkristallen. Jedes ihrer Körner umfasst für
sich eine dreidimensionale periodische Anordnung von Atomen, stellt also ein Raumgit-
ter dar. Homogene Vielkristalle besitzen nur eine Kornart, heterogene dagegen mehre-
re. Gleichartige Körner sind durch sog. Korngrenzen, ungleichartige durch sog. Phasen-
grenzen voneinander getrennt. Die mittleren Linearabmessungen der Körner können von
Bruchteilen eines μm bis zu mehr als 104 μm reichen. Selbst bei reinen Metallen sind die
Körner, wie viele Untersuchungen gezeigt haben, nicht vollkommen regelmäßig und stö-
rungsfrei aufgebaut. Sie besitzen zwar (vgl. V1) über mikroskopische Bereiche hinweg eine
kristallographisch regelmäßige Struktur, haben also im Mittel z. B. eine kubisch flächenzen-
trierte (kfz), kubisch raumzentrierte (krz) oder hexagonale (hex) Anordnung der Atome,
können jedoch in submikroskopischen Bereichen mehr oder weniger starke Abweichungen
(Fehlordnungen) von einem idealen Atomgitteraufbau zeigen. Man spricht von Gitterstö-
rungen, deren Art und Häufigkeit durch Herstellung, Behandlung und Beanspruchung der
Werkstoffe bestimmt werden. Auf der Beherrschung und gezielten Ausnutzung der Eigen-
schaften bestimmter Gitterstörungen beruhen viele Erfolge der modernen Werkstofftech-
nologie. Die auftretenden Abweichungen von der strengen dreidimensionalen Periodizität
der Atomanordnung in einem Raumgitter lassen sich unter rein geometrischen Gesichts-
punkten in
unterteilen. Als Dimensionen sind dabei jeweils diejenigen Ausdehnungen der Gitterstö-
rungen zu verstehen, die atomare Abmessungen überschreiten. Linienförmige Gitterstö-
rungen besitzen beispielsweise in einer Richtung große, in den beiden dazu senkrechten
Richtungen dagegen nur atomare Abmessungen. Man weiß heute, dass es nur eine be-
grenzte Zahl von Gitterstörungstypen gibt. Die für werkstoffkundliche Belange wichtigsten
werden nachfolgend kurz angesprochen.
Abbildung 2.1 zeigt eine {100}-Ebene eines primitiv kubischen Gitters. Die Kreise sym-
bolisieren die Atomlagen der aus einer einheitlichen Atomart aufgebauten Struktur. Vier
verschiedene Typen punktförmiger Gitterstörungen können unterschieden werden. An
der Stelle 1 fehlt im Gitterverband ein Atom. Eine solche Gitterstörung heißt Leerstelle.
Die durch 2 gekennzeichnete Erscheinung, bei der ein Atom einen Platz zwischen den
regulären Gitterplätzen einnimmt, wird Zwischengitteratom genannt. Von diesen punkt-
förmigen Gitterstörungen, die durch Atome der gleichen Art verursacht werden, sind die
durch Fremdatome hervorgerufenen zu unterscheiden. Fremdatome, die von dem Raum-
gitter eines Metalls aufgenommen werden, bilden mit diesem eine „feste Lösung“ und
werden deshalb als gelöste Atome bezeichnet. Ein solcher Einbau von Fremdatomen in den
Gitterverband kann in zweifacher Weise erfolgen. An der Stelle 3 hat z. B. ein Fremdatom
mit größerem Atomdurchmesser als die Atome, die das Gitter aufbauen (Matrixatome),
einen regulären Gitterplatz eingenommen. Das Fremdatom ist gegen ein Gitteratom ausge-
tauscht und damit in das Gitter substituiert worden. Man spricht von einem Substitutions-
oder Austauschatom (Beispiel: Zn-Atome in Kupfer). An der Stelle 4 ist dagegen ein Fremd-
atom mit einem erheblich kleineren Atomvolumen als die Matrixatome auf einem nicht
regulär besetzten Gitterplatz (Zwischengitterplatz) interstitiell gelöst worden. Man spricht
von einem Interstitions- oder Einlagerungsatom (Beispiel: C-Atome in Eisen).
In Abb. 2.2 sind die mit 5 und 6 bezeichneten Gebilde als linienförmige Gitterstörun-
gen anzusprechen. Bei 5 endet eine einzelne Atomreihe im Innern der aufgezeichneten
Atomebene. Stellt man sich Abb. 2.2 als Schnitt durch einen senkrecht zur Zeichenebene
ausgedehnten Kristall vor, so ist die bei 5 auftretende Atomanordnung die Folge einer in die
obere Kristallhälfte eingeschobenen und im Kristallinnern endenden Atomhalbebene. In
der Zeichenebene treten dadurch zwei horizontal übereinander liegende Gittergeraden auf,
2.1 Grundlagen 11
von denen die eine n, die andere n + 1 Atome besitzt. Die Grenzlinie der eingeschobenen
Atomebene, die sich senkrecht zur Zeichenebene über größere Gitterbereiche erstreckt, ist
eine linienförmige Gitterstörung und wird als Versetzung bezeichnet. Im Gegensatz dazu
ist die Gitterstörung 6 dadurch charakterisiert, dass n + 1 linienhaft angeordnete Atome
parallel zu ihrer Längsausdehnung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft auf der gleichen
Strecke jeweils nur n Atome vorfinden. Man spricht in Ermangelung eines charakteristi-
schen deutschen Wortes von einem crowdion.
Die Gitterstörungen 7 und 8 sind flächenhafter Natur. Bei 7 treten Versetzungen in
gesetzmäßiger Weise untereinander angeordnet auf. Bei den schwarz ausgezeichneten Ato-
men enden jeweils eingeschobene Gitterhalbebenen. Der schraffiert gezeichnete Gitterbe-
reich stellt einen Schnitt durch eine sog. Kleinwinkelkorngrenze dar, die zwischen benach-
barten, gegeneinander um kleine Winkelbeträge geneigten Kristallbereichen vermittelt.
Auch die Gitterstörung 8 führt zu einem Orientierungsunterschied zwischen benachbar-
ten Gitterteilen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Atome beiderseits zu einer sich
senkrecht zur Zeichenebene erstreckenden Gitterebene völlig symmetrisch liegen. Die ge-
strichelte Linie (8 . . . 8) gibt die Spur dieser Spiegelebene mit der Zeichenebene an. Da die
benachbarten Kristallteile sich völlig gleichen, wird die Spiegelebene als Zwillingsgrenze
oder Zwillingskorngrenze bezeichnet.
Als weitere flächenförmige Störung ist in Abb. 2.3 an der Stelle 9 das Fehlen einiger Ato-
me in einer Gitterebene angedeutet. Man kann sich die Öffnung durch Ansammlung von
Leerstellen entstanden und scheibenförmig senkrecht zur Zeichenebene ausgedehnt vor-
stellen. Man spricht von einer Leerstellenzone. Die flächenförmige Gitterstörung 10 stellt
dagegen einen Schnitt durch eine zweidimensional ausgedehnte Anhäufung von Fremd-
atomen auf einer Gitterebene dar. Eine solche Gitterstörung wird als Fremdatomzone be-
zeichnet. Die Störung 11 schließlich umfasst in atomaren Dimensionen mehr oder weniger
stark gestörte Gitterbereiche, die zwischen benachbarten Kristalliten mit zueinander grö-
ßeren Orientierungsunterschieden vermitteln. Sie stellt einen Schnitt durch eine Grenz-
fläche zwischen relativ ungestörten Gitterbereichen dar und unterbricht die Kontinuität
des Gitters. Eine solche Gitterstörung wird Großwinkelkorngrenze oder einfach Korngren-
ze genannt. Die Grenzflächen zwischen Körnern unterschiedlicher Art und Gitterstruktur
12 2 V2 Gitterstörungen
räumliche Störung 16 vor, die einen kugelförmigen Hohlraum innerhalb des Matrixgitters
darstellen soll. Derartige Poren können als Leerstellen- oder als Gasansammlungen unter
bestimmten Bedingungen entstehen. Glücklicherweise gibt es nur eine endlich begrenz-
te Zahl von Gitterstörungen, die sich der eingangs erwähnten Systematik unterordnen.
Das ist deshalb von großer praktischer Bedeutung, weil die Gitterstörungen einerseits viele
Werkstoffeigenschaften beeinflussen und bestimmen, andererseits aber auch viele für die
Werkstofftechnologie wichtige Prozesse überhaupt erst ermöglichen. Als Beispiele seien
hier nur die Leerstellen und die Versetzungen näher betrachtet. Leerstellen entstehen auf
Grund allgemeiner thermodynamischer Gesetze in jedem Kristallgitter mit einer durch die
jeweilige absolute Temperatur T bestimmten Konzentration cL . Quantitativ gilt:
n −QB
cL = = c exp [ ]. (2.1)
N k⋅T
Dabei ist n die Zahl der Leerstellen, N die Zahl der Gitteratome, co eine Konstante, k
die Boltzmannkonstante und QB die Bildungsenergie einer Leerstelle. Typische Zahlen-
werte für QB liegen bei reinen Metallen in der Größenordnung von ~ 1 eV/Leerstelle =
96.600 J/mol. Mit wachsender Temperatur steigt die Leerstellenkonzentration an. Die bei
Raumtemperatur in Metallen bzw. Legierungen vorliegenden cL -Werte sind von deren
Schmelztemperaturen bzw. Schmelztemperaturbereichen abhängig. Bei reinen Metallen
ist ein guter Richtwert cL ≈ 10−12 . In der Nähe des Schmelzpunktes wird in vielen Fällen
cL ≈ 10−4 beobachtet. Als wichtige Konsequenz des Auftretens dieser atomaren Fehlord-
nungserscheinung folgt unmittelbar aus Abb. 2.1, dass die den Leerstellen benachbarten
Atome mit diesen den Gitterplatz tauschen können. Leerstellen ermöglichen also atomare
Platzwechsel von Matrix- und Substitutionsatomen und damit Diffusionsvorgänge. Man
macht sich aber andererseits an Hand von Abb. 2.1 auch klar, dass für die Diffusion von
Interstitionsatomen, die auf Sprüngen von einem Gitterlückenplatz zu benachbarten (vgl.
V1, Abb. 1.3) beruhen, die Existenz von Leerstellen nicht benötigt wird.
Die Versetzungen schließlich sind eine für die plastische Verformbarkeit metallischer
Werkstoffe unerlässliche Voraussetzung. Ohne Versetzungen gäbe es z. B. keine Umform-
technik. Man unterscheidet als Grundtypen der Versetzungen die Stufen- und die Schrau-
benversetzungen. Ihre formale Erzeugung in einem primitiv kubischen Gitter geht aus
Abb. 2.5 und 2.6 hervor.
Man denke sich das betrachtete primitiv kubische Kristallgitter jeweils zur Hälfte auf-
geschnitten, das oberhalb der Schnittfläche gelegene Kristallviertel unter der Wirkung der
angedeuteten Schubkräfte soweit (um den sog. Burgersvektor ⃗ b) nach rechts verschoben,
⃗
bis eine Oberflächenstufe vom Betrage ∣b∣ entstanden ist und danach wieder verschweißt.
Dann hat sich im Gitter ein Zwangszustand gebildet, bei dem in einem bestimmten Git-
terbereich die obere Kristallhälfte eine Gitterhalbebene mehr enthält als die untere. Die
zusätzliche Gitterhalbebene endet in Höhe der ursprünglichen Schnittebene. Es ist eine
den Kristall schlauchförmig durchsetzende Gitterstörung entstanden, die man Stufenver-
setzung nennt. Abstrahierend von den atomaren Details kann man diese durch eine gerade
Linie darstellen und ihr einen Linienvektor ⃗s zuordnen.
14 2 V2 Gitterstörungen
Abb. 2.5 Formale Erzeugung einer Stufenversetzung in einem kubisch primitiven Kristallgitter
Eine Stufenversetzung ist dann dadurch charakterisiert, dass sie sich senkrecht zu ihrer
Verschiebungsrichtung erstreckt und dass ihr Linienvektor ⃗s senkrecht auf dem Burgers-
vektor ⃗
b steht. Das Gitter um eine Stufenversetzung ist innerlich verspannt. Das Atomgitter
ist oberhalb der Schnittebene zusammengedrückt, unterhalb dagegen gedehnt. Man spricht
von einem Eigenspannungsfeld (vgl. V75). Es fällt mit wachsender Entfernung von der
Störung proportional zu 1/r ab. Die auf die Länge der Versetzungslinie bezogene elastisch
gespeicherte Energie ist proportional zu b2 und durch
UL = α ⋅ G ⋅ b (2.2)
gegeben. Dabei ist α eine konstante und G der sog. Schubmodul (vgl. V49).
Bei der Verschiebung des oberen Kristallviertels in Abb. 2.6 um b entsteht keine zusätzli-
che Gitterhalbebene. Dagegen tritt, wie man sich leicht klar macht, eine schraubenförmige
Aufspaltung der senkrecht zur entstandenen linienförmigen Störung liegenden Gitterebe-
nen auf. Wiederum kann man von den atomaren Details abstrahieren und die Versetzungs-
linie durch eine Gerade beschreiben, bei der der Linienvektor ⃗s und Burgersvektor ⃗ b par-
allel zueinander liegen. Die Verschiebung der Gitteratome erfolgt bei der Bewegung einer
Schraubenversetzung senkrecht zu ihrer Bewegungsrichtung. Das mit der Schraubenver-
2.1 Grundlagen 15
U○L = α○ ⋅ G ⋅ b (2.3)
2.2 Aufgabe
2.3 Versuchsdurchführung
Es stehen zwei ebene Stahlkugelmodelle zur Verfügung. Beim ersten Modell (vgl. Abb. 2.8)
sind gleich große Kugeln zwischen zwei Plexiglasplatten so gesammelt, dass sie sich beim
Schütteln in einer Ebene relativ zueinander bewegen und durchmischen können. Die je-
weilig erzeugten Anordnungen liefern ebene Schnitte durch eine dichteste Kugelpackung
und zeigen bei Betrachtung auf einem Lichtkasten die verschiedensten Störungen. Bei dem
zweiten Stahlkugelmodell sind den großen Kugeln anteilmäßig 5 % kleinere zugemischt.
Dieses Modell erlaubt die Beobachtung der Auswirkung einer zweiten Atomart auf die Aus-
bildung von Störungen.
Ferner liegen Realmodelle von der Atomanordnung in den {111}-und {110}-Ebenen ei-
nes kfz- und von den {110}-und {111}-Ebenen eines krz-Gitters vor. Zunächst wird gezeigt,
dass beide Gitterstrukturen auch durch Stapelung bestimmter Gitterebenen entstehen kön-
nen. Dann wird nachgewiesen, dass die Struktur von Stufenversetzungen bei kfz- und krz-
Gittern aus geometrischen Gründen nicht durch eine einzige eingeschobene Halbebene
charakterisiert werden kann. Die mögliche Aufspaltung der Burgersvektoren a/2⟨110⟩ und
s/2⟨111⟩ in Teilvektoren wird begründet. Die in Abb. 2.9 dargestellten Versetzungen wer-
den diskutiert Bei den Abb. 2.9b und 2.9c sind mit dem Auftreten der Teilversetzungen
Veränderungen in der Stapelfolge der zu den Gleitebenen parallelen Gitterebenen ver-
bunden. Man spricht vom Auftreten von Stapelfehlern. Am einfachsten macht man sich
den mit der Teilversetzungsbildung verbundenen Stapelfehler im kfz-Gitter klar. Aus git-
tergeometrischen Gründen umfasst dort eine Stufenversetzung zwei benachbarte {110}-
Halbebenen, die senkrecht auf der {111}-Ebene stehen. Dieser Zustand ist energetisch un-
günstig. Deshalb separieren sich die beiden Halbebenen voneinander und nehmen z. B. die
in Abb. 2.9b gezeigten Positionen ein. Dabei verändern die Atome unmittelbar oberhalb der
Gleitebene zwischen den Teilversetzungen ihre Positionen gegenüber dem versetzungsfrei-
en Zustand. Schreitet man außerhalb der Teilversetzungen im Gitter senkrecht zur {111}-
Ebene in ⟨111⟩-Richtung fort, so findet man eine Dreischichtenfolge von {111}-Ebenen.
Geht man dabei von einer Bezugsebene aus, so ist mit dieser jede folgende dritte {111}-Ebe-
ne lagemäßig identisch. Man spricht von einer Stapelfolge . . . ABCABCABC. . . Zwischen
den Teilversetzungen liegt dagegen z. B. eine Stapelfolge . . . ABCBCABC. . . mit dem Stapel-
fehler im doppelt schraffierten Bereich vor. Damit ist eine Erhöhung der inneren Energie
verbunden. Der auf die Flächeneinheit bezogene Energiebetrag wird Stapelfehlerenergie
18 2 V2 Gitterstörungen
genannt. Sie bestimmt die Aufspaltungsweite der Teilversetzungen und damit den Abstand
der eingeschobenen {110}-Halbebenen im Gitter. An Hand räumlicher Modelle von Ver-
setzungen im kfz- und krz-Gitter werden die vorliegenden Verhältnisse diskutiert.
Schließlich wird an Hand von Abb. 2.10 die Zwillingsbildung im kfz-Gitter besprochen
und der Vorgang der Zwillingsbildung im krz-Gitter entwickelt. Dazu wird eine (110)-
Ebene aufgezeichnet. Spiegel- und damit Zwillingsebene ist eine {112}-Ebene, die die Zei-
chenebene längs einer ⟨111⟩-Richtung schneidet. Durch geeignete Atomverschiebungen,
die mit der Entfernung von der Zwillingsebene anwachsen, wird ein Kristallteil bezüglich
des Ausgangszustandes in eine spiegelbildliche Lage gebracht. Der relative Verschiebungs-
betrag, um benachbarte {112}-Ebenen in Zwillingsposition zu bringen, wird berechnet.
Weiterführende Literatur
[Hul01] Hull, D., Bacon, D.J.: Introduction to Dislocations, 4. Aufl. Butterworth-Heinemann, Oxford
(2001)
[Mac80] Macherauch, E.: Einführung in die Versetzungslehre, 6. Aufl. (1980)
[Nab79] Nabarro, F.R.N.: Dislocations in Solids, 4. Aufl. North-Holland Publishing Company, Ams-
terdam, New York, Oxford (1979)
V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen
und Legierungen 3
3.1 Grundlagen
Die meisten Metalle sind im flüssigen Zustand vollständig miteinander mischbar, was qua-
litativ dadurch zu erklären ist, dass die im festen Zustand durch Kristallstruktur und Atom-
radien gegebene Begrenzung der Mischbarkeit im flüssigen Zustand wegfällt. Aufgrund
der guten Löslichkeit im flüssigen Zustand, werden Metalllegierungen praktisch immer
im Schmelzzustand hergestellt, da nur dann eine ausreichend schnelle und gleichmäßige
Verteilung der Legierungszusätze gewährleistet ist. Aus verschiedenen Gründen – näm-
lich Schmelzpunkt, Oxidationsempfindlichkeit, Herstellbarkeit, Wirtschaftlichkeit – wer-
den meist keine Reinmetalle sondern so genannte Vorlegierungen verwendet, bei denen
der Legierungszusatz bereits an das Basismetall gebunden ist. Für das Legieren von Stahl
werden beispielsweise Ferrolegierungen wie Ferromangan, Ferrochrom und Ferrotitan ein-
gesetzt, die aus eisenreichen Erzen gewonnen werden.
Bei der Legierungsherstellung wird stets eine gute Durchmischung der Schmelze an-
gestrebt. Dies wird durch geeignete Bewegung der Schmelze bei Temperaturen oberhalb
des Schmelzbereichs der Legierung erreicht. Das Aufschmelzen erfolgt in Tiegeln, die mit
den Schmelzen nicht reagieren. Je nach Höhe der erforderlichen Temperatur werden ver-
schiedene Tiegelmaterialien benutzt. Im Labormaßstab können Glastiegel bis etwa 800 °C,
Tonerdesilikattiegel bis etwa 1400 °C, Oxidkeramiktiegel bis etwa 2800 °C und Kohlen-
stofftiegel bis zu höchsten Temperaturen verwendet werden. Die Aufheizung dieser Tiegel
erfolgt in Öfen. Dabei kann es sich um elektrisch widerstands- oder induktionsbeheiz-
te Öfen handeln. Um während des Schmelzens eine Reaktion des Tiegelinhaltes mit der
umgebenden Atmosphäre zu vermeiden, sind verschiedene Abhilfemaßnahmen möglich.
Bei Metallen mit geringem Dampfdruck kann z. B. die Schmelzbehandlung unter Vaku-
um durchgeführt werden. Bei Metallen, die keine Nitride und Carbide bilden, kann die
Schmelzoberfläche mit Kohlegrieß abgedeckt werden. Ferner kann die Schmelzoberfläche
mit neutralen Gasen von der Umgebungsatmosphäre isolieren oder mit Salzschmelzen be-
deckt werden.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 21
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
22 3 V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen und Legierungen
Im einfachsten Falle binärer Legierungen, die aus den Komponenten (Elementen) A und
B zusammengeschmolzen werden, wird die Legierungskonzentration entweder in Masse-
% cA bzw. cB oder in Atom-% cA′ bzw. cB′ angegeben. Liegen die Elemente A und B mit den
Massen mA und mB in der Legierung vor, dann ist die Massenkonzentration von A durch
mA
cA = ⋅ 100 Masse-% (3.1)
mA + mB
Mit Hilfe dieser Beziehungen lassen sich binäre Legierungen auf Grund abgewogener
Massen mA und mB der Komponenten erschmelzen. Ist dagegen eine Vorlegierung mit
cA,V Masse-% der Komponente A und cB,V Masse-% der Komponente B vorhanden und
sollen m Gramm einer A-reichen Legierung erzeugt werden, die cA Masse-% an A- und cB
Masse-% an B-Atomen enthalten, so muss, wenn cB < (>) cB,V ist, die Vorlegierung B-ärmer
(B-reicher) gemacht werden. Für den Fall cB < cB,V ist dann der Masse der Vorlegierung
cB
mV = m (3.13)
cB,V
die Masse
cB,V − cB
mA = m (3.14)
cB,V
der Komponente A hinzuzufügen. Soll beispielsweise aus CuNi30 durch Nickelzugabe
die Masse m = 1000 g der Legierung CuNi10 erzeugt werden, so ist der Vorlegierung mit
mv = (10/30) 1000 g = 333 g eine Nickelmenge von mA = (20/30) 1000 g = 666 g zuzusetzen.
Nach ihrer Herstellung werden die Metall- oder Legierungsschmelzen in die jeweiligen
Gussformen abgegossen. Die Sandgussform wird aus feuchtem Sand um ein Modell des
Gusskörpers gestampft. Der nach der Entnahme des Modells entstehende Hohlraum wird
mit der flüssigen Metallschmelze gefüllt. Ein Speiser dient zum Nachsaugen erstarrender
Schmelze (vgl. Abb. 3.1a). Beim Blockguss (Abb. 3.1b) wird das flüssige Metall in eine Me-
tallform, die so genannte Kokille gegossen. Die hohe Wärmeleitfähigkeit der Kokille führt
zu einer hohen Abkühlungsgeschwindigkeit im Gegensatz zum Sandguss, wo die Erstar-
rung relativ langsam erfolgt. Wird das flüssige Metall unter Druck in eine Kokille gepresst,
wird von Druckguss (Abb. 3.1c) gesprochen. Beim Strangguss (Abb. 3.1d) wird die Metall-
schmelze in eine Wasser gekühlte, nach oben und unten offene Kupferkokille gegossen, an
der das Metall kontinuierlich erstarrt. In der Kokille erstarrt nur eine dünne Randschicht
(10–15 mm) der Schmelze. Der im Kern noch flüssige Strang wird nach unten durch Füh-
rungsrollen mit kontrollierter Geschwindigkeit abgezogen, umgelenkt, gerichtet und nach
mittlerweile vollständiger Erstarrung zu Strangstücken getrennt. Aufgrund bedeutender
wirtschaftlicher und technologischer Vorteile hat das Stranggießen die Blockgussverfah-
ren stark verdrängt.
Die lokale chemische Zusammensetzung, die Anordnung, die Form und die Größe der
Körner (Gussgefüge) sowie die Dichtigkeit des Gusses hängen von dem Legierungstyp und
von den vorliegenden thermodynamischen Verhältnissen, also in erster Linie vom Gieß-
verfahren ab. Grundsätzlich geht der Erstarrungsvorgang von Kristallisationszentren, sog.
Keimen, aus. Keime können z. B. noch nicht aufgeschmolzene Partikel (bei niedriger Gieß-
temperatur), Fremdatome oder die Kokillenwand sein. Der Erstarrungsprozess umfasst
somit die Vorgänge der Keimbildung und/oder des Keimwachstums sowie des eigentlichen
Kornwachstums. In Abb. 3.2 sind in einem ebenen Modell einzelne Wachstumsstadien der
Körner eines reinen Metalls angedeutet. Durch eine Impfbehandlung, also den Zusatz von
feinen Teilchen oder grenzflächenaktiven Substanzen, kann die Ausbildung des Gussgefü-
ges z. B. im Hinblick auf die Korngröße gezielt beeinflusst werden.
24 3 V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen und Legierungen
a b
Formsand Lunker
Einguss
Speiser Haube
Kokille
Block
Formkasten Metallkörper
c d
Verteilergefäß
Auswerfer mit Schmelze
Eintauchausguss
Kolben
Schmelztiegel Kokille
Druckkammer Kühlwasser
Ofen Schmelze
Gussstrang
Formhälfte mit Auswerfer Formhälfte mit Einguss Treibrollen
Abb. 3.1 Gussformen. a Sandguss, b Blockguss, c Druckguss, d Strangguss, nach [Ber09], [Hor01]
Für die lokale Gefügeausbildung in einem Gussstück ist die vorliegende Wärmeabfluss-
richtung bestimmend. Für einen zylindrischen Gussblock aus Aluminium, der durch Ab-
guss in eine auf Raumtemperatur befindliche Stahlkokille erhalten wurde, zeigt Abb. 3.3 die
nach Anätzen mit einem Säuregemisch im Querschnitt sichtbar gemachte Gefügestruktur.
In den an der Kokillenwand unmittelbar anliegenden Blockbereichen liegt ein feinkörniges
globulares Gefüge vor, das sich, von vielen Kristallisationskeimen der Kokillenwand aus-
gehend, gebildet hat. Daran schließt sich ein Bereich mit lang gestreckten stängelförmigen
Kristallen an. Die Längsachse der Stängelkristalle verläuft parallel zur Wärmeflussrichtung
und steht daher senkrecht auf der Formwandung; sie weist eine bevorzugte Orientierung
(Textur, vgl. V10) auf. Im zentralen Blockbereich schließlich entwickelt sich wegen ei-
nes wieder erhöhten Keimangebotes erneut ein globulares Gefüge mit größeren mittleren
Kornabmessungen als in den Randschichten.
Das Temperaturgefälle in einer erstarrenden Legierung ist ähnlich wie beim reinen Me-
tall, jedoch tritt aufgrund der Konzentrationsänderungen beim Erstarren der Schmelze
eine konstitutionsbedingte Unterkühlung auf. Diese ist verantwortlich dafür, dass die Kris-
3.1 Grundlagen 25
tallisationsfront in technischen Metallen und Legierungen nicht völlig eben bleibt, sondern
einzelne Kristalle vorschießen und dendritisches Wachstum zeigen. Dabei wachsen, von
Kristallisationskeimen ausgehend, tannenbaumförmige Gebilde, bei denen in Richtung des
Stammes und der Äste günstigere Wachstumsbedingungen vorliegen als in allen anderen
Richtungen. Abbildung 3.4 deutet schematisch verschiedene Zustände des dendritischen
Kornwachstums an. Bei Legierungen mit dendritischem Gefüge treten in den einzelnen
Körnern stets viele Dendriten auf. Abbildung 3.5 belegt dies am Beispiel des Schliffbildes
(vgl. V7) einer AuNi25Cu18Zn8-Legierung, die nach dem Wachsausschmelzverfahren in
26 3 V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen und Legierungen
einer Gipsform von einer Gießtemperatur von 1000 °C abgegossen wurde. Die Dendri-
tenstruktur ist gut zu erkennen. In Abb. 3.6 schließlich ist ein Gussdendritenagglomerat
gezeigt, das dem Lunker (s. u.) eines Feinkornbaustahls entnommen wurde. Die räumliche
Struktur der Dendritenausbildung tritt deutlich hervor.
Der Übergang eines Metall- bzw. Legierungsvolumens aus dem schmelzflüssigen in den
festen Zustand bei Raumtemperatur ist mit Schrumpfungsvorgängen verbunden. Dabei
sind verschiedene Stadien zu unterscheiden, und zwar einmal der Übergang von der Guss-
zur Erstarrungstemperatur bei Metallen bzw. zur Liquidustemperatur bei Legierungen (vgl.
V6), dann der Übergang vom flüssigen zum festen Zustand bei Legierungen sowie schließ-
lich die Abkühlung im festen Zustand auf Raumtemperatur. Dabei ist das Ausmaß der
Erstarrungsschrumpfung (vgl. Tab. 3.1), die bei vielen Metallen und Legierungen Werte
zwischen −2 und −8 Vol.-% annimmt, von erheblicher Bedeutung. Schließen die beim Ab-
guss zuerst erstarrten Volumenbereiche noch schmelzflüssige ein, so fehlt als Folge der
Schrumpfung am Ende der Erstarrung Gussvolumen, und es treten Hohlräume auf. Die
Lage und Form dieser „Lunker“ ist auf Grund der jeweiligen Wärmeableitbedingungen
voraussagbar. Bei einseitig offenen zylindrisch oder andersartig begrenzten Gussblöcken
treten trichterförmige Lunker auf (vgl. Abb. 3.7).
3.2 Aufgabe 27
Tab. 3.1 Erstarrungsschrumpfungen für einige reine Metalle und Richtwerte für einige Gusslegie-
rungen (Sb und Bi zeigen Erstarrungsaufweitungen!)
Werkstoff ΔV
V ⋅ %
Al −6,0
Mg −4,2
Zn −4,2
Cu −4,1
Sn −2,8
Sb +0,95
Bi +3,3
Gusseisen mit Lamellengraphit (GG) −2,0
Gusseisen mit Kugelgraphit (GGG) −6,0
Stahlguss (GS) −5,0
Al-Basislegierungen −6,0
Cu-Basislegierungen −8,0
3.2 Aufgabe
Es stehen Reinaluminium (Al99.5) und eine Vorlegierung AlSi20 zur Verfügung. Reinalu-
minium wird aufgeschmolzen und in zwei zylindrische Stahlkokillen von 15 mm Durch-
messer abgegossen, die sich auf einer Temperatur von 20 und 500 °C befinden. Danach ist
aus Reinaluminium und der Vorlegierung AlSi20 eine Legierung AlSi12 zu erschmelzen
und in gleicher Weise zu vergießen. Nach der Erstarrung sind die Gussgefüge in Quer-
und Längsschnitten der Gussstäbe zu beurteilen.
28 3 V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen und Legierungen
3.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein Widerstandsofen mit Graphittiegeln zur Verfügung. Fer-
ner ist ein Kammerofen vorhanden. Bei einem Teil der Kokillen sind die Zylinderwände
durch Wasserzufuhr kühlbar. Die anderen Kokillen werden im Kammerofen auf die vor-
gesehene Temperatur vorgewärmt.
Zunächst wird in einem Tiegel das Reinaluminium aufgeschmolzen. Als Gießtempera-
tur wird 700 °C angestrebt. Danach erfolgt Abguss in eine gekühlte und eine vorgewärmte
Kokille. Nach Abschluss der Erstarrung werden die zylindrischen Proben den Kokillen ent-
nommen. Danach wird aus der Probenmitte eine Scheibe von 20 mm Dicke heraus gesägt
und diese einseitig mit kleiner Spanabnahme überfräst. Ferner werden die oberen und un-
teren Gussstabenden vertikal aufgeschnitten und in einer die Stablängsachse enthaltenden
Ebene fein überfräst. Anschließend werden die so präparierten Flächen zur Grobgefüge-
entwicklung mit einem Gemisch aus 15 ml Flusssäure, 45 ml Salzsäure, 15 ml Salpetersäure
und 25 ml Wasser geätzt.
3.4 Symbole, Abkürzungen 29
Für den zweiten Teil des Versuches werden zunächst die Massen an Reinaluminium und
der Vorlegierung berechnet, die für die gewünschte Legierung AlSi12 erforderlich sind. Im
Tiegel wird dann das Reinaluminium aufgeschmolzen und anschließend die Vorlegierung
in geeigneten Teilmengen zugegeben. Nach hinreichender Homogenisierung der Schmelze
und Einstellung einer Gießtemperatur von 650 °C wird in die auf unterschiedlichen Tem-
peraturen befindlichen Kokillen abgegossen. Alle weiteren Arbeitsschritte erfolgen wie bei
Reinaluminium.
Literatur
Verwendete Literatur
[Ber09] Bergmann, W.: Werkstofftechnik – Teil 2: Anwendung, 4. Aufl. Hanser, München (2009)
[Hor01] Hornbogen, E., Warlimont, H.: Metallkunde – Aufbau und Eigenschaften von Metallen und
Legierungen, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg (2001)
Weiterführende Literatur
[Cha67] Chalmers, B.: Principles of Solidification, 2. Aufl. Wiley & Sons, New York (1967)
[Guy83] Guy, A.G.: Metallkunde für Ingenieure, 4. Aufl. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesba-
den (1983)
[Hei83] Hein, K., Bubrig, E.: Kristallisation aus Schmelzen. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1983)
30 3 V3 Schmelzen und Erstarren von Metallen und Legierungen
[Mas70] Mason, G.L., in Meinberg, F.: Tools and Techniques in Physical Metallurgy, 2. Aufl. Dekker,
New York (1970)
[Sie58] Siebel, E.: Handbuch der Werkstoffprüfung, 2. Aufl. Springer, Berlin (1958)
[Sma07] Smallman, R.E., Ngan, A.H.W.: Metallurgy and Advanced Materials, 7. Aufl. Elsevier, Ams-
terdam u. a. (2007)
V4 Optische Metallspektroskopie
4
4.1 Grundlagen
Die Kenntnis der chemischen Zusammensetzung eines Werkstoffes ist von grundsätzlicher
Bedeutung für werkstoffkundliche Belange. Die quantitative chemische Analyse stellt dafür
genaue, aber i. Allg. sehr zeitaufwendige Methoden zur Verfügung. Bei den für praktische
Zwecke vielfach ausreichenden Betriebsanalysen bedient man sich durchweg schnellana-
lytischer Verfahren, unter denen die optische Spektralanalyse besonders wichtig ist. Sie
ermöglicht in sehr kurzen Zeiten für viele Zwecke hinreichend genaue Angaben über Art
und Menge der in einem Werkstoff vorliegenden Elemente.
Die Metallspektroskopie beruht auf der Tatsache, dass die Atome der chemischen Ele-
mente bei Zuführung von Energie, z. B. durch elektrische Funken- und Bogenentladungen,
vom Grundzustand auf ein höheres Energieniveau gebracht werden. Bei diesem Anre-
gungsprozess nehmen die äußeren Elektronen der Atome freie Plätze auf energiereicheren
Schalen der Elektronenhülle ein und emittieren beim anschließenden Übergang in energie-
ärmere Zustände und in den Ausgangszustand Lichtquanten mit definierten Wellenlängen.
Das Emissionsspektrum eines Elementes umfasst somit ein elementspezifisches Linien-
spektrum mit unterschiedlichen Wellenlängen und Intensitäten. Als Beispiel ist in Abb. 4.1
das Eisenspektrum im Wellenlängenbereich beiderseits von 0,530 und 0,535 μm wiederge-
geben. Die Strichstärke ist dabei der Intensität der einzelnen Spektrallinien proportional.
Die meisten metallischen Elemente emittieren Spektrallinien im Wellenlängenbereich des
sichtbaren Lichtes (0,360 bis 0,800 μm) und sind damit visuellen spektroskopischen Beob-
achtungen zugänglich. Es gibt aber auch Elemente, wie z. B. Kohlenstoff, Bor oder Beryl-
lium, deren Emissionsspektren nicht im sichtbaren Wellenlängenbereich, sondern bereits
im UV-Bereich bis herab zu etwa 130 nm liegen.
Die spektrale Zerlegung des von angeregten Atomen eines Elementes emittierten Lich-
tes erfolgt mit optischen Hilfsmitteln, und zwar entweder mit Prismen oder mit optischen
Gittern. In Prismenspektralapparaten wird die Wellenlängenabhängigkeit der Brechungs-
zahl (Dispersion) des Stoffes (Glas, Quarz) ausgenutzt, aus dem das Prisma gefertigt ist.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 31
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
32 4 V4 Optische Metallspektroskopie
Abbildung 4.2 zeigt den prinzipiellen Aufbau eines solchen Gerätes. Das zu analysierende
Licht fällt auf einen Spalt Sp, der sich in der Brennebene einer achromatischen Linse L1
befindet. Das durch L1 parallelisierte Strahlenbündel durchsetzt das Prisma P und wird
dort gemäß der wellenlängenabhängigen Brechungszahl in Parallelbündel definierter Wel-
lenlänge aufgefächert. Diese Bündel werden von der zweiten Linse L2 in deren Brennebene
als Spektrallinien abgebildet. Violettes (v) Licht mit λ ≈ 0,400 μm wird dabei stärker abge-
lenkt als rotes (r) Licht mit λ ≈ 0,780 μm.
Bei Gitterspektralapparaten erfolgt die spektrale Zerlegung unter Ausnutzung der Wel-
lenlängenabhängigkeit der Beugung des Lichtes an optischen Gittern. Solche Beugungsgit-
ter bestehen im einfachsten Falle aus einer Spiegelglasplatte, in die mit einem Diamanten
mehr als 100 parallele Furchen pro Millimeter eingeritzt werden können. Die zwischen den
Furchen liegenden Teile der Platte wirken als die Spalte des Gitters. Ist der Spaltabstand d,
so treten für senkrecht auffallendes Licht der Wellenlänge λ hinter dem Gitter Beugungsli-
nien verschiedener Ordnung k unter Winkeln α gegenüber dem primären Strahlenbündel
auf, die durch die Beziehung
gegeben sind (Abb. 4.3). Unabhängig von k werden kurzwellige Strahlen (violettes Licht)
weniger weit abgebeugt als langwellige Strahlen (rotes Licht). Bei dem in Abb. 4.4 sche-
matisch gezeigten Gitterspektralapparat, bei dem gegenüber Abb. 4.2 lediglich das Prisma
durch ein Transmissionsgitter G ausgetauscht ist, erscheinen also in der Bildebene die Spek-
trallinien innerhalb der einzelnen Ordnungen unter umso größeren Ablenkungswinkeln,
je größer ihre Wellenlänge ist. Die Auflösung des Spektrums wächst mit der Ordnung an.
Gleichzeitig überlappen oder überlagern sich aber die Spektren höherer Ordnung. Schließ-
lich ist die Lichtintensität umso geringer, je größer die Ordnung ist. Üblicherweise werden
nur die Spektren 1. und 2. Ordnung registriert.
Wegen der starken Absorption kurzwelliger Lichtstrahlen in Gläsern lassen sich die im
ultravioletten Spektralgebiet liegenden Spektren weder unter Benutzung von Glasprismen
Für jedes Element ist eine charakteristische Linie ausgewählt, die fest auf dem Spektro-
meterkreis eingerichtet ist. Die Detektoren sind Sekundärelektronenvervielfacher (Photo-
multiplier), bei denen von den einfallenden Strahlungsquanten in der Photokathode Elek-
tronen herausgeschlagen werden. Diese werden in einem elektrischen Feld beschleunigt
und fallen auf eine Prallelektrode auf, wo sie durch Stoßprozesse weitere Elektronen frei-
setzen, die wiederum einer Prallelektrode zugeführt werden. Durch mehrmalige Wieder-
holung dieses Prozesses entsteht ein der auffallenden Lichtintensität proportionaler Elek-
tronenstrom, der als Maß für die Konzentration der interessierenden Elementart weiterver-
Wellenlänge
arbeitet werden kann. Abbildung 4.8 skizziert den Intensitätsverlauf über die Wellenlänge
in der Umgebung einer Spektrallinie.
Um die Probenatome anregen zu können, müssen sie aus der Oberfläche freigesetzt wer-
den, was mittels einer Funkenentladung in Argon als Schutzgasatmosphäre erfolgt. Die
Proben werden mit der zu messenden Seite auf die mit einer Blende versehenen Platte
des Probenstativs gepresst, die gleichzeitig eine argongespülte Funkenkammer luftdicht ab-
schließt (Abb. 4.9).
Die Funkenerzeugung erfolgt mit einer meist aus Wolfram bestehenden Elektroden-
spitze. Die Probe, die die Gegenelektrode bildet, muss eben und elektrisch leitfähig sein.
Während eines Messvorganges wird eine Folge kurzer Funkenentladungen erzeugt, die
in zufälliger Folge auf der Probe auftreffen. Zur Förderung der Funkenbildung wird die
Probenoberfläche vorher geschliffen. In einer Einfunkphase wird zunächst ein stationärer
Abfunkzustand erreicht. Anschließend erfolgt eine Homogenisierung des Werkstoffes im
Brennfleck durch Umschmelzen über typische 5–50 μm des randnahen Bereiches. In der
dritten Phase erfolgt die nur wenige Sekunden dauernde eigentliche Messung des durch
die verdampften und angeregten Probenatome emittierten Lichtes im Spektrometer. Die
Gesamtdauer für eine Abfunkung liegt bei etwa einer Minute. Die Art des Werkstoffes und
sein Gefüge beeinflussen die o. g. Vorgänge, so sind Anregungsparameter und Funkenfol-
gefrequenz werkstoffspezifisch zu wählen.
36 4 V4 Optische Metallspektroskopie
I0
ΔBG
BEC NG EG BG Konzentration C
ter Grenzwerte [DIN 32645]. Die Nachweisgrenze (NG) ergibt sich aus der Obergrenze
des Streubereiches der Leerwertmessung und ist der kleinste Elementgehalt, bei dem das
Vorhandensein des Elementes noch nachgewiesen, seine Konzentration aber nicht quan-
tifiziert werden kann. Sie kann aus der Standardabweichung sL der an der Leerprobe ge-
messenen Intensitäten und der Steigung b einer Kalibriergeraden I = I 0 + b ⋅ C abgeschätzt
werden mit
NG = ⋅ sL /b (4.2)
oder direkt aus dem BEC-Wert mit b = I 0 /BEC und der relativen Standardabweichung der
Leerwertmessung sLrel = sL /I 0 ⋅ 100 aus
Die Erfassungsgrenze (EG) ist der Grenzwert, oberhalb der die Gehalte quantifizierbar
sind. Sie wird abgeschätzt aus
EG = ⋅ NG. (4.4)
Die Bestimmungsgrenze (BG) wird direkt aus dem Konzentrationswert definiert und ist
der niedrigste Gehalt, der mit einer vorgegebenen Unsicherheit bestimmt werden kann. Sie
muss immer größer als die Erfassungsgrenze sein und kann für eine relative Unsicherheit
ΔBG von 33 % abgeschätzt werden aus
BG = ⋅ NG. (4.5)
Bei der Spektralanalyse mit dem Funkenspektrometer gibt es einige Effekte, die die In-
tensitäten der Analysenlinien beeinflussen, wie Linienüberlappungen und elektronische
Untergrundsignale sowie spektrale Interferenzen zwischen den in der Probe vorhande-
nen Elementen. Letztere sind von der Konzentration der störenden Elemente abhängig.
Entsprechende Korrekturfaktoren können derartige Einflüsse bei der Kalibrierung berück-
sichtigen. Um Schwankungen während der Abfunkung und der Strahlungserzeugung aus-
38 4 V4 Optische Metallspektroskopie
zugleichen, werden die Signale der Analysenlinien auf eine Referenzlinie als innerem Stan-
dard bezogen. In der Regel wird dafür eine Linie des Basiselementes verwendet. Aufgrund
der werkstoffabhängigen Mess- und Auswertungsbedingungen sind für jeden Basiswerk-
stoff (wie Eisen, Aluminium, Nickel, Kupfer) eigene Messprogramme und Kalibrierungen
zu erstellen, wobei zusätzlich zwischen verschiedenen Werkstoffgruppen (bspw. niedrig-
oder hochlegiert) wegen der unterschiedlichen Abfunkparameter unterschieden wird.
Für zuverlässige Ergebnisse muss die Qualität der Messungen, d. h. auch der Gerätezu-
stand, regelmäßig überprüft werden. Dazu werden Kontrollproben gemessen, deren Ergeb-
nis in vorgegebenen Toleranzen liegen muss. Werden diese überschritten, sind Maßnah-
men erforderlich. Da der Gerätezustand über die Betriebsdauer nicht völlig konstant ist,
bedingt bspw. durch Alterung elektronischer Bauelemente, thermische Ausdehnung, Bele-
gung des Vakuumfensters durch Verdampfungsrückstände, können sich die Messsignale
gerätebedingt mit der Zeit verändern. Ein Vergleich mit den früheren Kalibrierproben
kann diese Gerätedrift dann ausgleichen. Diese Driftkorrektur, auch Rekalibrierung ge-
nannt, muss in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden.
Die Probenoberflächen müssen sauber und eben sein, ggf. sind sie frisch mit Abrasiv-
medien (Schleifsteine, Schleifpapier) anzuschleifen. Bei weichen Werkstoffen (bspw. Al-,
Cu-Basis) ist die Oberfläche abzufräsen, um das Eindrücken von Schleifkörnern in die
Oberfläche zu vermeiden. Für eine Elementanalyse werden mehrere Abfunkflecke erzeugt.
Dazwischen ist der Niederschlag des verdampften Materials mit einer Drahtbürste von der
Elektrode zu entfernen. Als Ergebnis wird der Mittelwert angegeben.
Eine Werkstoff-Analyse ist mit einem geringen Zeitaufwand möglich. Dadurch sind
auch alle Voraussetzungen für Schnellanalysen zur Prozesssteuerung und -kontrolle von
Legierungszusammensetzungen z. B. in Stahlwerken, Gießereien oder Umschmelzbetrie-
ben gegeben. Abbildung 4.11 zeigt als Beispiel einen Auszug aus ausgedruckten Analysen,
wie sie mit Vakuum-Emissions-Spektrometern in Gießereibetrieben vorgenommen wer-
4.2 Aufgabe 39
den. Parallel kann ein so genannter Typenstandard mitgemessen werden, der die Sollzu-
sammensetzung des Werkstoffes der Produktion besitzt. Die zulässigen Toleranzen sind
vorgegeben. Werden diese überschritten, wird dies angezeigt.
4.2 Aufgabe
4.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein Funkenspektrometer zur Verfügung. Zuerst ist mittels
Kontrollproben durch Vergleich der Soll- und Istwerte der Gerätezustand zu prüfen.
Die verschiedenen Proben sind vorzubereiten. Nach einer Testmessung ist das für den
Werkstoff geeignete Messprogramm zu wählen. Die Proben sind anschließend mehrmals
zu messen und statistisch auszuwerten. Die Werkstoffe sind anhand von Werkstoffnormen,
wie z. B. [SEL], zu identifizieren. Ggf. sind an einer Reineisenprobe die Intensitäten für
ausgewählte Analysenlinien zu messen und daraus mit Gln. 4.2–4.5 die entsprechenden
Grenzwerte zu berechnen.
Die Genauigkeit der Werkstoffanalysen ist zu diskutieren.
Literatur
Verwendete Literatur
[DIN 32645] Chemische Analytik – Nachweis-, Erfassung- Bestimmungsgrenze unter Wiederholbe-
dingungen, Begriffe, Verfahren, Auswertung, Nov. 2008
[Sac04] Sachs, L.: Angewandte Statistik. Springer, Berlin, Heidelberg, New York (2004)
[SEL] Stahl-Eisen-Liste: Register Europäischer Stähle. Verlag Stahleisen, Düsseldorf (2005)
Weiterführende Literatur
[Fin67] Finkelnburg, W.: Atomphysik, 12. Aufl. Springer, Berlin (1967)
[Ger89] Gerthsen, C., Kneser, H., Vogel, H.: Physik, 16. Aufl. Springer, Berlin (1989)
[Sie58] Siebel, E.: Handbuch der Werkstoffprüfung, 2. Aufl. Springer, Berlin (1958)
[Sli92] Slickers, K.: Die automatische Atom-Emissions-Spektralanalyse. Verlag der Brühlschen Uni-
versitätsdruckerei, Lahn-Gießen (1992)
V5 Röntgenfluoreszenzanalyse
5
5.1 Grundlagen
Ekin = eU = mv . (5.1)
Die Abb. 5.3 zeigt das Röntgenspektrum einer Molybdänanode bei einer Röhrenspan-
nung von 40 kV. Das Spektrum besteht aus einer Überlagerung eines kontinuierlichen
Bremsspektrums und der charakteristischen Röntgenstrahlung des Anodenmaterials Mo-
lybdän.
Die Entstehung der charakteristischen Röntgenstrahlung kann mit dem Schalenmodell
der Atome veranschaulicht werden. Der positiv geladene Atomkern erzeugt ein elektri-
sches Feld in dem die negativ geladenen Elektronen der Atomhülle gebunden sind. Die
Energie der Elektronen um den Atomkern kann durch einen Potenzialtopf gemäß Abb. 5.4
veranschaulicht werden. Je näher sich die Elektronen am Atomkern befinden desto mehr
Energie muss aufgewendet werden, um sie vom Atomkern zu entfernen. Deshalb steigt die
potenzielle Energie der Elektronen mit zunehmender Entfernung vom Atomkern an. Nach
den Gesetzen der Quantenmechanik nehmen die Elektronen diskrete Quantenzustände
innerhalb dieser Potenzialtöpfe ein. Die erlaubten Quantenzustände sind in Abb. 5.4 je-
weils durch horizontale Linien im Potenzialtopf dargestellt. Der Quantenzustand mit der
Hauptquantenzahl n = 1 hat die niedrigste Energie En=1 und wird von Elektronen auf der
innersten Schale besetzt, der so genannten K-Schale. Die Zustände mit den Hauptquan-
tenzahlen n = 2, 3 und 4 entsprechen Elektronen auf der L-, M- und N-Schale (vgl. V1).
Treffen in der Röntgenröhre die energiereichen Elektronen auf die Anode, so werden durch
Stoßprozesse Elektronen aus den K- oder L-Schalen der Atome des Anodenmaterials her-
aus geschlagen. Die frei gewordene Quantenzustände können dann durch Elektronen aus
höheren Schalen besetzt werden. Beim Übergang der Elektronen von einem Quantenzu-
stand höherer Energie zu einem Quantenzustand geringer Energie emittiert das Elektron
die Energiedifferenz in Form eines Röntgenphotons. Gemäß Gl. 5.4 hat das emittierte Pho-
ton die Wellenlänge λ.
hc
ΔE Kα = E n= − E n= = hν = (5.4)
λ
44 5 V5 Röntgenfluoreszenzanalyse
Beim Sprung der Elektronen von der L- auf die K-Schale entsteht die sog. Kα-Strahlung.
Springen Elektronen von der M- auf die K-Schale entsteht die sog. Kβ-Strahlung. Gehen
Elektronen von der M- oder höheren Schalen auf die L-Schale über, so ergibt sich das L-
Strahlungsspektrum. Reicht die Energie der auf das Anodenmaterial auftreffenden Elek-
tronen aus, um dort Elektronen aus den K-Schalen der Atome herauszuschlagen, so wird
das gesamte für den Elektronenaufbau der inneren Atomhülle charakteristische Röntgen-
spektrum emittiert.
Aufgrund der Feinstrukturaufspaltung besteht die L-Schale (n = 2) aus drei eng bei-
einander liegenden Energieniveaus Ll bis LIII und die M-Schale aus fünf eng beieinander
liegenden Energieniveaus M I bis M V . Die Feinstrukturaufspaltung ist auf Unterschiede in
den Nebenquantenzahlen l (l = 0 bis n − 1) und in der Spinquantenzahl s (−1/2, +1/2) der
Elektronen in den entsprechenden Schalen zurückzuführen. Die Nebenquantenzahl l ent-
spricht dabei dem Bahndrehimpuls und die Spinquantenzahl s dem Drehimpuls der Elek-
tronen. Aufgrund der Drehimpulserhaltung sind nur solche Übergänge erlaubt, bei denen
sich die Nebenquantenzahl l um 1 verändert, da das emittierte Photon den Spin ±1 besitzt
und somit immer einen Drehimpuls ±1 mit sich trägt. Abbildung 5.5 zeigt schematisch
die erlaubten Elektronenübergänge für Kupfer, die das charakteristische Röntgenspektrum
bestimmen. Die Kα 1 -Linie entspricht dem Übergang LIII (l = 1) → K (l = 0), die Kα 2 -Li-
nie dem Übergang LII (l = 1) → K (l = 0). Der Übergang LI (l = 0) → K (l = 0) ist verboten,
da beide Quantenzustände den gleichen Bahndrehimpuls aufweisen. Die Kβ 1 -Linie ent-
spricht dem Übergang M III (l = 1) → K (l = 0), wobei λ (Kβ 1 ) < λ (Kα 1 ) < λ (Kα 2 ) ist. Die
zu den Röntgenlinien gehörigen Strahlungsintensitäten I (Kα 1 ), I (Kα 2 ) und I (Kβ 1 ) ver-
halten sich wie
I(Kα ) ∶ I(Kα ) ∶ I(K β ) = ∶ ∶ . (5.5)
Mit steigender Ordnungszahl Z der Atome werden die Potenzialtöpfe tiefer und damit
verschieben sich auch die Energieniveaus der erlaubten Quantenzustände nach unten. Ins-
besondere steigt auch die Energiedifferenz zwischen den verschiedenen Quantenzuständen
mit zunehmender Ordnungszahl an, mit der Folge, dass die Wellenlänge der zur K-Serie
5.1 Grundlagen 45
λ = D sin θ (5.8)
nur Röntgenstrahlung der Wellenlänge λ den Detektor. Durch schrittweise Änderung der
Winkel θ und 2θ kann die Intensitätsverteilung mit dem Strahlungsdetektor in Abhän-
gigkeit von 2θ registriert werden. Als Analysatorkristalle werden für die zu analysieren-
den Elemente Ca (Z = 20) bis Ag (Z = 47) Lithiumfluorid-, für die Elemente P (Z = 15),
S (Z = 16), Cl (Z = 17) und K (Z = 19) Quarzkristalle und für Mg (Z = 12), Al (Z = 13),
Si (Z = 14) und P (Z = 15) Ammoniumdihydrogen-Phosphatkristalle eingesetzt. Für den
Nachweis der leichtesten Elemente B (Z = 5), C (Z = 6), N (Z = 7) und O (Z = 8) kommen
Bleisteatatkristalle zur Anwendung. Die Strahlungsregistrierung erfolgt im Wellenlängen-
bereich von 150 bis 2000 pm mit Durchflusszählrohren und im Wellenlängenbereich 50
bis 270 pm mit Szintillationszählern. Wegen der starken Absorption langwelliger Rönt-
genstrahlungen in Luft, erfolgt die Fluoreszenzanalyse von Elementen mit kleiner Ord-
nungszahl mit evakuierten Messsystemen. Routinemäßig lassen sich heute röntgenfluores-
zenzanalytische Untersuchungen bis Z = 9 (Fluor) durchführen. Die von den Detektoren
aufgenommenen Signale werden dabei elektronisch aufgezeichnet und weiterverarbeitet
(vgl. Abb. 5.7).
Mit der beschriebenen Messanordnung (vgl. Abb. 5.6) werden die Spektrallinien der in-
teressierenden Elemente nacheinander registriert. Ein solches Messsystem wird Sequenz-
Spektrometer genannt. Davon sind Mehrkanalspektrometer zu unterscheiden, die für aus-
gewählte Spektrallinien jeweils fest eingestellte Spektrometerkanäle haben. Mit modernen
Geräten dieser Art werden bis zu 30 Einzellinien gleichzeitig registriert. Mehrkanal-Rönt-
48 5 V5 Röntgenfluoreszenzanalyse
IB = acB + b , (5.9)
wenn die Absorption der anregenden Röntgenstrahlung für beide Komponenten gleich
groß ist. Absorbieren die Atome des Elements B weniger Strahlung als die Atome des Ele-
ments A, so ergeben sich Kurven mit positiver Krümmung (Typ II). Ist es umgekehrt,
so ergeben sich Kurven mit negativer Krümmung (Typ III). Mit Hilfe der Kalibrierkur-
ven können die gemessenen Linienintensitäten in Konzentrationen umgerechnet werden.
Intensitätswerte zwischen den einzelnen Kalibrierproben werden durch Interpolation er-
mittelt.
Der zeitliche Messaufwand für Röntgenfluoreszenzanalysen ist relativ klein. Bei CuZn32
lässt sich beispielsweise in 100 s Messzeit mit einer Chromanodenröhre ein Aluminium-
gehalt von 0,021 Masse-% mit einer Genauigkeit von ±0,0025 Masse-% bestimmen. In
unlegierten Stählen ist in der gleichen Zeit ein S-Gehalt von 0,010 ± 0,001 Masse-% nach-
weisbar. Eine Manganbestimmung im Subprozent-Bereich, z. B. 0,36 ± 0,0043 Masse-%,
kann bereits mit einer Messzeit von 10 s ermittelt werden.
5.2 Aufgabe
5.3 Versuchsdurchführung
Eisen- und Molybdänpulver (Korngröße < 100 μm) werden mit einer Analysenwaage ab-
gewogen, gut gemischt und anschließend in Tablettenform gepresst. Danach werden sie in
einem WDXRF-Spektrometer vermessen. Dafür wird eine Röntgenröhre mit Chromanode
genutzt, die mit 40 kV und 40 mA betrieben wird. Während der gesamten Untersuchung
müssen die Betriebsbedingungen der Röntgenröhre und der Detektoreinrichtungen kon-
stant gehalten werden. Eine Temperaturkonstanz von ±0,5 °C wird angestrebt.
Von der Kalibrierprobe mit dem größten Molybdängehalt wird zunächst das gesamte
Röntgenfluoreszenzspektrum aufgenommen und eine Indizierung der gefundenen Rönt-
genfluoreszenzlinien vorgenommen. Danach wird der Strahlungsdetektor auf das Maxi-
mum der Molybdän Kα-Strahlung eingestellt und mehrfach die Intensität bei einer Mess-
dauer von 60 s gemessen. Mit zunehmendem Molybdängehalt cMo der Kalibrierproben
steigt der Mittelwert der gemessenen Molybdän-Kα-Strahlungintensität I Mo Kα an. Die ge-
messenen Strahlungsintensitäten werden als Funktion vom Molybdängehalt aufgetragen
und über Ausgleichsgeraden miteinander verbunden. Die so erhaltene Kalibrierkurve wird
verwendet, um in nachfolgenden Messungen den Molybdängehalt unbekannter Stahlpro-
ben zu ermitteln. Der Einfluss weiterer vorhandender Legierungselemente bei den Stählen
auf die Messergebnisse wird diskutiert.
50 5 V5 Röntgenfluoreszenzanalyse
Weiterführende Literatur
[Glo85] Glocker, R.: Materialprüfung mit Röntgenstrahlen, 5. Aufl. Springer, Berlin (1985)
[Ste85] Steeb, S.: Röntgen- und Elektronenbeugung. Expertverlag, Sindelfingen (1985)
[Van02] Van Grieken, R., Markowicz, A.A.: Handbook of X-Ray Spectrometry. Marcel Dekker Inc.,
New York (2002)
[Bec06] Beckhoff, B., Kanngießer, B., Langhoff, N., Wedell, R., Wolff, H.: Handbook of Practical X-
Ray Fluorescence Analysis. Springer, Berlin (2006)
[Sch08] Schwedt, G.: Analytische Chemie: Grundlagen, Methoden und Praxis. Wiley-VCH, Wein-
heim (2008)
V6 Thermische Analyse
6
6.1 Grundlagen
Unter thermischer Analyse versteht man ein metallkundliches Messverfahren, das auf
Grund von Temperatur-Zeit-Kurven Rückschlüsse auf Zustandsänderungen bei der Ab-
kühlung bzw. Erwärmung von Metallen oder Legierungen erlaubt. In Abb. 6.1 ist das
Zustandsdiagramm eines binären Legierungssystems aus den reinen Metallen (Kompo-
nenten) A und B wiedergegeben, die im schmelzflüssigen Zustand vollständig ineinander
löslich sind, im festen Zustand beidseitig eine begrenzte Löslichkeit besitzen (A-reicher
Mischkristall α und B-reicher Mischkristall β) und bei Abkühlung aus der Schmelze (S)
in einem relativ breiten Konzentrationsbereich bei der eutektischen Temperatur T Eu voll-
ständig erstarren. T S,A ist der Schmelzpunkt des reinen Metalls A und T S,B der des reinen
Metalls B.
Anhand dieses Zustandsdiagramms lässt sich das bei der thermischen Analyse ange-
wandte Prinzip relativ einfach beschreiben. In den Zustandsdiagrammen von Zweistoffsys-
temen sind durch Grenzlinien die Temperatur-Konzentrations-Bereiche als Zustandsfelder
voneinander abgegrenzt, in denen bestimmte Phasen (physikalisch und chemisch vonein-
ander unterscheidbare Werkstoffzustände) vorliegen. Oberhalb der sog. Liquiduslinien a–e
und e–h existiert das Legierungssystem einphasig im schmelzflüssigen Zustand. Die reinen
Metalle A und B gehen unmittelbar bei T S,A und T S,B , die Legierung mit der eutektischen
Zusammensetzung cEu bei T Eu aus der Schmelze in den festen Zustand über. Der Punkt e
heißt eutektischer Punkt, die Strecke k–e–m eutektische Gerade (Eutektikale). Die durch
a–k–e–a bzw. h–e–m–h begrenzten Bereiche sind Zweiphasengebiete, in denen neben der
Schmelze S noch α- bzw. β-Mischkristalle vorliegen. Im Gebiet A–p–k–a–A existieren nur
homogene α-Mischkristalle, im Gebiet B–q–m–h–B nur homogene β-Mischkristalle. Bei
den α- bzw. β-Mischkristallen sind B- bzw. A-Atome auf regulären Gitterplätzen der reinen
Komponenten A und B statistisch regellos verteilt (Substitutionsmischkristalle). Im Gebiet
p–k–m–q–p liegen α- und β-Mischkristalle nebeneinander vor. Die Konzentrationen der
bei gegebener Temperatur in zweiphasigen Gebieten miteinander im Gleichgewicht be-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 51
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
52 6 V6 Thermische Analyse
Abb. 6.1 Binäres Zustandsdiagramm mit vollständiger Löslichkeit im flüssigen und beidseitig be-
grenzter Löslichkeit im festen Zustand
findlichen Phasen ergeben sich aus den Schnittpunkten der Geraden T = const. (Konoden)
mit den Begrenzungslinien der 2-Phasengebiete. Die dabei im Gleichgewicht befindlichen
Massenanteile der Phasen berechnen sich mit Hilfe des Hebelgesetzes. Betrachtet man bei-
spielsweise die Legierung mit der Konzentration c1 an B-Atomen, so entstehen aus dieser
bei Erreichen der Liquiduslinie a–e im Punkte b die ersten α-Mischkristalle mit einer dem
Punkte b′ entsprechenden Konzentration an B-Atomen. Nach Absenkung der Temperatur
auf den Punkt * befinden sich α-Mischkristalle mit einer dem Punkte c′ und Schmel-
ze mit einer dem Punkte c entsprechenden Konzentration an B-Atomen miteinander im
Gleichgewicht. Ist mα der Massenanteil des α-Mischkristalls und mS der Massenanteil der
Schmelze, so gilt
mα c − c ls
= ′
= , (6.1)
ms c − c lα
lS und l α sind offenbar (vgl. oberen Teil von Abb. 6.1) die Hebelarme des zweiseitigen He-
bels mit dem Auflager * bei der Konzentration c1 , an dessen Enden c′ und c man sich die
Massenanteile mα und mS der Phasen vorzustellen hat. Da für die Gesamtmasse der be-
6.1 Grundlagen 53
m = m α + ms (6.2)
erfüllt sein muss, folgt mit l = l α + lS = c − c′ aus Gln. 6.1 und 6.2
ls
mα = m, (6.3)
l
bzw.
lα
ms = m. (6.4)
l
Der bei gegebener Temperatur vorliegende relative Massenanteil einer Phase verhält
sich also wie der abgewandte Hebelarm zur Gesamtlänge des zweiseitigen Hebels. Nach
Erreichen der Konode d′ d liegt demnach für die betrachtete Legierung die gesamte Legie-
rungsmasse (lS = l) als α-Mischkristall vor. Analoge Überlegungen gelten für die anderen
Zweiphasengebiete des Zustandsdiagrammes.
Für die Legierung der Konzentration c1 kann mit Hilfe der thermischen Analyse die La-
ge der Punkte b und d′ leicht ermittelt werden. Bei Abkühlung aus dem schmelzflüssigen
Zustand zeigt die Temperatur-Zeit-Kurve (vgl. Abb. 6.2) zunächst einen kontinuierlichen
exponentiellen Abfall, der von der spezifischen Wärme und der Masse der Legierung sowie
den Umgebungsbedingungen abhängt. Wird die Liquiduslinie bei b erreicht, so bewirkt die
Bildung der α-Mischkristalle mit der Konzentration b′ an B-Atomen, dass die zugehörige
Schmelze reicher an B-Atomen wird und deshalb ihre Erstarrungstemperatur absenkt. Auf
Grund der bei der Kristallisation frei werdenden Erstarrungsenthalpie verläuft die Tempe-
ratur-Zeit-Kurve der Legierung somit nach Unterschreiten der Liquiduslinie flacher als im
einphasigen Schmelzbereich, und es tritt ein Knickpunkt im Kurvenverlauf auf. Mit wei-
ter abnehmender Temperatur nimmt sowohl die Konzentration der Restschmelze als auch
die der α-Mischkristalle an B-Atomen zu. Der noch flüssige Massenanteil der Legierung
wird kleiner, der kristallisierte entsprechend größer. Da die Erstarrung der Schmelze beim
Erreichen der Konode d′ d abgeschlossen ist (d′ liegt auf der sog. Soliduslinie), wird bei
dieser Temperatur ein weiterer Knickpunkt beobachtet. Danach erfolgt die Abkühlung auf
Raumtemperatur kontinuierlich.
Neben dem eben beschriebenen Sachverhalt sind in Abb. 6.2 Temperatur-Zeit-Kurven
für die reinen Metalle A und B sowie für die in Abb. 6.1 vermerkten Legierungen mit den
Konzentrationen c2 , cEu , c3 und c4 aufgezeichnet. Die reinen Metalle A bzw. B ergeben als
Folge der bei den Schmelztemperaturen T S,A bzw. T S,B beim Erstarren frei werdenden Kris-
tallisationswärme (Erstarrungsenthalpie) Kurven mit sog. Haltepunkten. Für Legierungs-
konzentrationen, die zwischen den Begrenzungspunkten der eutektischen Geraden k–e–m
liegen, gelten – mit Ausnahme der eutektischen Zusammensetzung cEu – nach Unterschrei-
ten der Grenzlinie a–e und e–h zunächst die gleichen Überlegungen wie für die Legierung
mit der Konzentration c1 . Kurz vor Erreichen der eutektischen Temperatur T Eu liegen aber
in allen Fällen neben α- bzw. β-Mischkristallen unterschiedlich große Mengenanteile an
54 6 V6 Thermische Analyse
Abb. 6.2 Abkühlungskurven für die reinen Metalle und fünf Legierungen des in Abb. 6.1 gezeigten
Zustandsdiagrammes
Schmelze mit der Konzentration cEu vor, die sich nach weiterer Temperaturabsenkung bei
T = T Eu gemäß
s→α+β (6.5)
eutektisch umwandeln. Das Erreichen der Eutektikalen macht sich also bei diesen Legie-
rungen als Haltepunkt in den T,t-Kurven bemerkbar. Aus der Schmelze der Legierung mit
der Konzentration c2 bilden sich z. B. zunächst α-Mischkristalle. Bei Erreichen einer we-
nig über T Eu liegenden Temperatur besteht Gleichgewicht zwischen α-Mischkristallen mit
einer dem Punkt k entsprechenden Konzentration an B-Atomen und Restschmelze, die
praktisch die eutektische Konzentration an B-Atomen besitzt. Absenken der Temperatur
auf T = T Eu führt zur eutektischen Reaktion der Restschmelze gemäß Gl. 6.5. Eine eutek-
tische Legierung der Konzentration cEu erstarrt dagegen direkt als heterogenes Gemenge
aus α und β-Mischkristallen bei der Temperatur T Eu . Die entsprechende Abkühlungskurve
(cEu in Abb. 6.2) zeigt daher, wie die der reinen Metalle, nur einen Haltepunkt. Bei einer
Legierung der Konzentration c3 sind die Vorgänge bei der Abkühlung zwischen f und l
ähnlich wie die bei der Legierung der Konzentration c2 zwischen d und r. Zunächst bilden
sich nach Überschreiten der Linie e–h B-reiche Mischkristalle, so dass die Schmelze B-är-
mer wird. Die Restschmelze reichert sich bei weiterer Absenkung der Temperatur solange
an A an, bis sie die eutektische Zusammensetzung erreicht. Dementsprechend enthält die
zugehörige Abkühlungskurve (c3 in Abb. 6.2) neben einem Knickpunkt bei der Tempera-
tur f noch einen Haltepunkt bei der eutektischen Temperatur T Eu . Bei der Konzentration
6.2 Aufgabe 55
c4 schließlich finden zwischen g–n ähnliche Erstarrungsvorgänge statt wie für c1 auf der A-
reichen Legierungsseite zwischen b–d′ . Nach Unterschreiten der Grenzlinie m–h liegen nur
noch homogene β-Mischkristalle vor. Wird die Gleichgewichtslinie m–q unterschritten, so
bilden sich α-Mischkristalle aus den B-reichen β-Mischkristallen. Die Legierung geht wie-
der in einen zweiphasigen Zustand mit heterogenem Gefüge über. Die Abkühlungskurve
c4 in Abb. 6.2 spiegelt diese Prozesse wider.
6.2 Aufgabe
Von vier Blei-Zinn-Legierungen sowie reinem Blei und reinem Zinn sind die Temperatur-
Zeit-Kurven beim Abkühlen aus dem schmelzflüssigen Zustand zu ermitteln. Mit Hilfe der
Messwerte ist die Lage der Gleichgewichtslinien des zugehörigen Zustandsdiagrammes,
das typenmäßig Abb. 6.1 entspricht, anzugeben.
6.3 Versuchsdurchführung
Reines Blei und Zinn sowie vier verschiedene PbSn-Legierungen, in die Kupfer-Konstan-
tan-Thermoelemente eintauchen, werden in elektrischen Tiegelöfen auf etwa 350 °C aufge-
heizt und liegen dann im schmelzflüssigen Zustand vor. Die Massen von Tiegel, Thermoele-
ment und Schutzrohr sind jeweils klein gegenüber der Masse der Schmelze. Zur Vermei-
dung von Temperaturunterschieden werden die einzelnen Schmelzen hinreichend lange
gerührt. Die Thermoelementspannungen werden mit Hilfe eines Bereichsumschalters ei-
nem digitalen Temperaturmessgerät zugeführt. Nach Abschalten der Heizung werden bei
geringer Abkühlgeschwindigkeit die Temperaturen der einzelnen Legierungen in Abstän-
den von etwa 1 Minute abgelesen und aufgezeichnet. Die den Halte- und Knickpunkten
der Abkühlungskurven zukommenden Temperaturen werden ermittelt, über der bekann-
ten Legierungskonzentration aufgetragen und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Lage
der Zustandsbereiche des Zweistoffsystems PbSn erörtert.
56 6 V6 Thermische Analyse
Weiterführende Literatur
[Böh68] Böhm, H.: Einführung in die Metallkunde. Bibliographisches Institut, Mannheim (1968)
[Guv83] Guv, A.G.: Metallkunde für Ingenieure, 4. Aufl. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt
(1983)
[Sch03] Schatt, W., Worch, H.: Werkstoffwissenschaft. Verlag Wiley-VCh, Weinheim (2003)
[Sch04] Schumann, H.: Metallografie, 14. Aufl. Verlag Wiley-VCh, Weinheim (2004)
[Ils10] Ilschner, B.; Singer, R.: Werkstoffwissenschaften und Fertigungstechnik, 5. Auflage, Springer,
Berlin (2010)
V7 Lichtmikroskopie von Werkstoffgefügen
7
7.1 Grundlagen
Der lichtmikroskopisch erkenn- und bewertbare Aufbau metallischer Werkstoffe wird als
Gefüge bezeichnet. Lichtmikroskopische Untersuchungen werden an geschliffenen, polier-
ten und geätzten Proben des Werkstoffes durchgeführt. Man unterscheidet dabei zwischen
homogenen und heterogenen Werkstoffen, je nachdem, ob ein- oder mehrphasige Zu-
stände vorliegen. Für die Beurteilung des Gefüges sind Zahl und Anteil der Phasen sowie
Größe, Form und Verteilung der den einzelnen Phasen zuzuordnenden Körner von zen-
traler Bedeutung.
Die zur lichtmikroskopischen Gefügeanalyse erforderlichen Präparationsschritte um-
fassen die Probenentnahme sowie das Schleifen, Polieren und Ätzen der Proben. Um ir-
reparable Schäden an der Probe und dem Gefüge zu vermeiden, muss dem Trennvorgang
eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Die Probe sollte möglichst ohne Wärme-
beeinflussung, Verformung oder Werkstoffstörungen wie Ausbrüche oder Risse getrennt
werden. Durch das Einbetten der metallographischen Proben in Warm- oder Kalteinbett-
mittel (z. B. Bakelite, Epoxidharz) wird in erster Linie eine bessere Handhabung für die
anschließende Präparation und Auswertung erreicht. Außerdem können unterschiedlich
dimensionierte Proben in Formen gleichen Durchmessers gebracht werden, um diese in
geeigneten Probenhaltern halbautomatisch präparieren zu können. Sehr kleine und un-
handliche Proben können durch das Einbetten überhaupt erst bearbeitet werden.
Nach der Probenentnahme weist die erzeugte Trennfläche mechanisch geschädig-
te Werkstoffbereiche auf. Das Freilegen des unbeeinflussten Gefüges erfolgt in zwei
Präparationsschritten – dem Schleifen und dem Polieren. Beim Schleifen werden die
oberen Werkstoffschichten mit Hilfe gebundener Schleifkörner (Siliziumcarbid (SiC),
Aluminiumoxid (Al2 O3 ), Diamant oder Bornitrid (CBN)) abgetragen. Dabei finden von
grob nach fein abgestufte Schleifpapiere unterschiedlicher Körnung nacheinander An-
wendung. Jede Schleifstufe sollte die vorangegangene Verformung beseitigen, verursacht
ihrerseits allerdings neue Schäden. Die Tiefe der Deformation nimmt mit feiner werdender
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 57
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
58 7 V7 Lichtmikroskopie von Werkstoffgefügen
Tab. 7.1 Mittlerer Reflexionsgrad R von ausgewählten Metallen, Sulfiden und Oxiden
Ag Mg Cu Al Ni Fe W FeS Fe2 O3 Cu2 O MnS FeO C Al2 O3
R [%] 94 93 83 82,7 62 59 54,5 37 25,7 22,5 21 19 14 7,6
Körnung ab. Es gilt zu beachten, dass bei weichen Werkstoffen die Deformation um ein
Vielfaches größer ist als bei harten Werkstoffen. Um eine Erwärmung der Proben wäh-
rend des Schleifvorganges zu vermeiden, werden Kühlflüssigkeiten (z. B. H2 O) benutzt,
die gleichzeitig ausgebrochene Schleifmittelkörner sowie abgeschliffene Werkstoffteilchen
wegschwemmen.
Beim Poliervorgang wird anders als beim Schleifen das Abrasivmittel in Form von Pas-
ten oder Suspensionen auf ein Poliertuch aufgetragen. Durch den Polierdruck werden die
Abrasive in der Unterlage fixiert und wirken dadurch ähnlich wie gebundenes Korn. Zum
Polieren werden hauptsächlich die Poliermedien Diamant, Aluminiumoxid (Al2 O3 ) und
amorphes Siliziumdioxid (SiO2 ) in kolloidaler Suspension verwendet. Mit Ausnahme von
Diamant werden diese Poliermittel in der Regel in destilliertem Wasser gelöst. Das Polieren
wird normalerweise in mehreren Stufen durchgeführt, wobei mit 6 oder 3 μm Diamanten-
poliermittel auf glatten, harten Poliertüchern vorpoliert wird. Anschließend kann mit einer
1 μm Diamantstufe auf weichen Poliertüchern fortgefahren werden. Um eine Erwärmung
oder Verformung auf der Oberfläche zu verhindern, sollte ein passendes Schmiermittel
eingesetzt werden.
Nach dem Polieren kann der Schliff nur dann direkt lichtmikroskopisch beurteilt
werden, wenn Gefügebestandteile unterschiedlicher Eigenfärbung und/oder unterschied-
lichen Reflexionsvermögens vorliegen. Bei heterogenen Werkstoffen wird unter senkrech-
tem Lichteinfall von einer Phase mit dem Brechungsindex n der Anteil
n−
R=( ) ⋅ % (7.1)
n+
reflektiert. Die in Tab. 7.1 angegebenen Zahlenwerte geben das mittlere Reflexionsver-
mögen R einiger ausgewählter Metalle, Sulfide und Oxide bei einer Lichtwellenlänge von
0,590 μm wieder. Bei Fe2 O3 und C ist R stark anisotrop.
In der Regel ist eine Kontrastierung des Gefüges durch Ätzen notwendig. Die Möglich-
keiten zur Gefügekontrastierung sind zahlreich. Je nachdem, ob die Kontrastierung ohne
oder mit einer Veränderung der polierten Schlifffläche vorgenommen wird, unterscheidet
man zwischen optischen, elektrochemischen und physikalischen Ätzmethoden.
Das metallographische Ätzen umfasst alle Prozesse, um besondere strukturelle Merk-
male eines Werkstoffes zum Vorschein zu bringen, die im polierten Zustand nicht erkenn-
bar sind. Die Überprüfung an ungeätzten Proben kann strukturelle Merkmale wie Porosi-
tät, Risse und Einschlüsse hervorbringen. Viele dieser Merkmale werden mittels Bildana-
lyse im ungeätzten Zustand erfasst und ausgewertet.
Das Ätzen wird durch Eintauchen, Wischen oder elektrolytisch mit einer geeigneten
chemischen Lösung durchgeführt. Dabei wird die Tatsache genutzt, dass der chemische
7.1 Grundlagen 59
Angriff bei den Gefügebestandteilen von deren Orientierung und chemischen Zusammen-
setzung abhängt. Bei der Korngrenzenätzung (Abb. 7.1a) greift das Ätzmittel lediglich die
Korngrenzen an. Bei der Kornflächenätzung (Abb. 7.1b) werden dagegen wegen der aniso-
tropen Wirkung des Ätzmittels Kristallite je nach ihrer Orientierung unterschiedlich stark
abgetragen.
Als Folge der dislozierten Reflexion erhält man einen scheinbaren Hell-Dunkel-Ein-
druck der Kristallite, weil das auf den Schliff auftreffende Lichtbündel in einzelne Raum-
richtungen unterschiedlich stark reflektiert wird, so dass die Kornflächen unterschiedlich
hell erscheinen. Die für die einzelnen Werkstoffe geeigneten Ätzmittel wurden empirisch
gefunden und sind in Handbüchern zusammengestellt. Optimale Ätzzeiten, die zwischen
wenigen Sekunden und einigen Minuten liegen können, ermittelt man durch Probieren.
Greift ein Ätzmittel zu stark an, so kann es meist mit Ethanol, Glycerin oder Glykol ver-
dünnt werden. Die Proben werden üblicherweise mit Hilfe von Platinzangen in das Ätz-
mittel getaucht, nach dem Erkennen der ersten Anlaufspuren mit Wasser und Alkohol
abgespült und dann an warmer Luft getrocknet. In Tab. 7.2 sind beispielhaft für einige
Werkstoffgruppen herkömmliche Ätzmittel angegeben.
Die Größe, unter der ein Objekt mit der Abmessung AB eines fertig gestellten Schlif-
fes einem Beobachter erscheint, ist nach Abb. 7.2 von der Entfernung s zwischen Objekt
und Auge abhängig. Sie wird durch den Sehwinkel ω festgelegt, den die Grenzstrahlen des
Objektes von der Augenlinse aus bilden.
Die sog. deutliche Sehweite, auch Bezugs- oder Normsehweite genannt, ist festgelegt
auf s0 = 250 mm. In dieser Entfernung erscheint dem normalsichtigen Auge ein Gegen-
stand mit dem zugehörigen Sehwinkel ω0 unter der Vergrößerung 1. Ein Gegenstand in
60 7 V7 Lichtmikroskopie von Werkstoffgefügen
der Entfernung s < s0 unter einem größeren Sehwinkel ω wird mit der Vergrößerung
ω
V= (7.2)
ω
dargestellt. Wird der Abstand Objekt–Auge auf weniger als 100 mm reduziert, so erfordert
die Sehwinkelvergrößerung optische Hilfsmittel wie Lupe oder Mikroskop. Dabei ist die
erzielbare Vergrößerung bestimmt durch
Ein Okular ist eine Sammellinse kleiner Brennweite, mit der ein in der Brennebene F Ok,1
liegender Gegenstand A′ B′ dem nicht akkommodierten Auge mit der Größe A′′ B′′ unter
dem Sehwinkel ω = A′ B′ /f Ok im Unendlichen erscheint (Abb. 7.3 Mitte). Die Brennweite
f Ok entspricht dem Abstand der Brennebene zur Hauptebene der Linse. Da der Gegenstand
ohne Okular in der deutlichen Sehweite unter dem Sehwinkel ω0 = A′ B′ /s0 erscheinen wür-
de, ergibt sich nach Gl. 7.2 die Okularvergrößerung zu
s0
VOk = . (7.4)
fOk
7.1 Grundlagen 61
Mit einfachen Okularen sind nur geringe Vergrößerungen erzielbar. Eine 10fache Ver-
größerung benötigt bereits eine Brennweite von 25 mm. Stärkere Vergrößerungen erfor-
dern Mikroskope. Dort wird zunächst mit einem Objektiv vom Gegenstand AB (Abb. 7.3
oben) ein reelles vergrößertes Bild A′ B′ (Zwischenbild) erzeugt und dieses anschließend
(Abb. 7.3 Mitte) mit einem als Lupe wirkenden Okular betrachtet. Objektiv und Oku-
lar sind auf einer gemeinsamen optischen Achse angebracht (Abb. 7.3 unten). Ist f Ob die
62 7 V7 Lichtmikroskopie von Werkstoffgefügen
Brennweite des Objektives und ist t der Abstand zwischen bildseitigem Objektivbrenn-
punkt F Ob,2 und dem Zwischenbild A′ B′ , so ergibt sich als Objektivabbildungsmaßstab
t
β≈ . (7.5)
fOb
Mit der Vergrößerung des Okulars V Ok ergibt sich die mikroskopische Gesamtvergrö-
ßerung zu
t s
VM = Objektivabbildungsmaßstab ⋅ Okularvergrs̈oßerung = β ⋅ VOk = ⋅ . (7.6)
fOb fOk
Die Mikroskopvergrößerung für ein auf Unendlich eingestelltes Auge ist also gleich
dem Produkt aus deutlicher Sehweite und Abstand zwischen den einander zugekehrten
Objektiv- und Okularbrennebenen dividiert durch das Produkt aus der Objektiv- und Oku-
larbrennweite. Das beobachtbare Bild des Gegenstandes ist seiten- und höhenverkehrt.
Wesentlich für die Qualität einer mikroskopischen Abbildung ist ein optimaler Beleuch-
tungsstrahlengang. Dieser wird meistens nach dem Köhlerschen Beleuchtungsprinzip rea-
lisiert (Abb. 7.4). Die Kollektorlinse K erzeugt in der Ebene der Aperturblende A ein Ab-
bild der Lichtquelle L. Die Aperturblende wird ihrerseits über die Linsen Li in die hin-
tere Brennebene des Objektivs O abgebildet. Über eine Veränderung der Aperturblende
kann so die tatsächlich genutzte Beleuchtungsapertur (Öffnungswinkel der beleuchtenden
Strahlen) reguliert und eine gleichmäßige Ausleuchtung des Objekts erzielt werden. Die
zweite Blende B wird von der Linse Li und dem Objektiv O in die Objektebene abgebil-
det. Sie begrenzt damit das tatsächlich ausgeleuchtete Objektfeld. Das Köhlersche Beleuch-
tungsprinzip gestattet also eine Variation der Beleuchtungsapertur sowie des Durchmessers
des Leuchtfeldes und vermeidet dadurch Streulicht und störende Reflexionen.
Die bei der Metallmikroskopie Verwendung findenden Objektive und Okulare bestehen
aus Mehrlinsensystemen. Bei Okularen gibt die eingravierte Bezeichnung, z. B. 20×, Auf-
schluss über die damit erzielbare Vergrößerung. Objektivbezeichnungen bestehen i. a. aus
Buchstaben- und Zahlenfolgen, z. B. Pl 40×/0,85. Die Buchstaben bezeichnen die Objekti-
7.1 Grundlagen 63
vart. Apochromate (Apo) Objektive sind chromatisch weitestmöglich und sphärisch voll-
ständig korrigiert. Planapochromate (Pl) Objektive sind darüber hinaus noch hinsichtlich
der Bildfeldwölbung korrigiert. Fehlen Buchstabenangaben, so handelt es sich um Achro-
mate, die chromatisch hinsichtlich der grüngelben und roten Lichtanteile sowie sphärisch
korrigiert sind. Die der Objektivart folgende erste Zahl mit nachfolgendem × gibt den Ab-
bildungsmaßstab β an, die davon getrennte zweite Zahl die numerische Apertur
AN = n ⋅ sin α . (7.7)
festlegen. Wird z. B. ein Objektiv 50×/0,70 mit β = 50 und AN = 0,70 benutzt, so ist
350 < V f < 700. Mit V Ok = V f /β ergeben sich daher als Grenzwerte der anzuwenden-
den Okularvergrößerung 7 ≤ V Ok ≤ 10. Es ist also zweckmäßiger mit einem 10fach ver-
größernden Okular zu arbeiten. Ein Okular mit 15facher Vergrößerung liefert bereits
Leervergrößerungen. Neben der Auflösung und der förderlichen Vergrößerung ist bei
lichtmikroskopischen Betrachtungen noch die Schärfentiefe von großer Bedeutung. Man
versteht darunter den Abstand S zweier in Richtung der optischen Achse hintereinander
gelegener Objektpunkte, die noch scharf abgebildet werden können. S nimmt mit wachsen-
der numerischer Apertur AN und wachsender Gesamtvergrößerung V M bzw. förderlicher
Vergrößerung V f ab. Mit V M = V f = V gilt
,
S≈ ⋅ ( + ) . (7.11)
AN ⋅ V V
Für AN = 0,70 und V = 500 wird z. B. S = 0,0002 mm = 0,2 μm. Die Schärfentiefe ist also
bei lichtmikroskopischen Betrachtungen sehr klein.
7.2 Aufgabe
7.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
8.1 Grundlagen
Das Attribut „hart“ wird in der Technik zur Beschreibung recht unterschiedlicher Werk-
stoffeigenschaften benutzt. Es ist allgemein üblich, den gegen das Eindringen eines Fremd-
körpers beim Ritzen, Furchen, Schneiden, Schlagen, Aufprallen oder Pressen in den ober-
flächennahen Werkstoffbereichen wirksamen Werkstoffwiderstand als „Härte“ anzuspre-
chen. Zu einer Objektivierung des Begriffes Härte gelangt man daher nur durch Festlegung
einer Prüfvereinbarung.
Für die Werkstoffkunde ist es zweckmäßig, als Härte eines Werkstoffes den Widerstand
gegen das Eindringen eines härteren Festkörpers unter der Einwirkung einer ruhenden
Kraft zu definieren. Dementsprechend lässt man bei allen technischen Härteprüfverfahren
hinreichend harte Eindringkörper mit vorgegebener geometrischer Form während einer
festgelegten Zeit mit einer bestimmten Kraft auf das Werkstück einwirken. Der Eindring-
körper, der im zu untersuchenden Werkstoff lokal eine hohe Flächenpressung hervorruft
und eine mehrachsig elastisch-plastische Verformung erzwingt, darf sich dabei selbst nur
elastisch verformen (vgl. V23). Als Härtemaß wird angesehen entweder die auf die Ober-
fläche des entstandenen Eindruckes bezogene Prüfkraft (Brinellhärte, Vickershärte), oder
die vom Eindringkörper hinterlassene Eindrucktiefe (Rockwellhärte).
Bei der Härteprüfung nach Brinell wird eine Hartmetallkugel des Durchmessers D mit
einer Kraft F senkrecht zur Oberfläche des Messobjektes in die zu vermessende Werk-
stückoberfläche eingedrückt (vgl. Abb. 8.1 und 8.2). Die Belastung der Prüfkugel erfolgt
stoßfrei (z. B. mit Hilfe einer Ölbremse) und erreicht nach der Lastaufbringzeit (t2 − t1 )
ihren Sollwert. Die Lasteinwirkzeit (t3 − t2 ) beträgt gewöhnlich 10 bis 15 s. Am Ende der
Lasteinwirkzeit berechnet sich die Tiefe der entstandenen Kugelkalotte zu
√
x = (D − D − d ), (8.1)
wobei d der Eindruckdurchmesser ist. Die Eindrucktiefe x sollte dabei höchstens 1/8 der
Probendicke h betragen. Für die Oberfläche der Kugelkalotte ergibt sich
πD √
OK = πDx = (D − D − d ). (8.2)
Als Maßzahl MZ der Brinellhärte HBW hat man
F αF
MZ = α = √ (8.3)
OK πD(D − D − d )
MZ HBW, (8.4)
also z. B. 280 oder 375 HBW. Wobei W für Wolframkarbidhartmetall steht, das Material
der Prüfkugel. In früheren Normen, in denen eine Stahlkugel als Eindringkörper verwen-
det wurde, war die Bezeichnung für die Brinellhärte HB oder HBS. Bei praktischen HBW-
Bestimmungen wird der Eindruckdurchmesser in zwei zueinander senkrechten Richtun-
gen vermessen. Die experimentelle Erfahrung zeigt, dass die d-Werte für
F
B= α (8.6)
D
konstant gehalten wird. Tabelle 8.1 fasst die für technisch wichtige Werkstoffgruppen fest-
gelegten Beanspruchungsgrade zusammen.
Bei der Härteprüfung nach Vickers wird als Eindringkörper eine regelmäßige vierseitige
Diamantpyramide mit einem Öffnungswinkel von 136° benutzt, die mit einer Kraft F in das
zu prüfende Werkstück eingedrückt wird. Bei blanken und ebenen Werkstoffoberflächen
hat ein Härteeindruck im Idealfall die in Abb. 8.3 skizzierte quadratische Begrenzung. Ist
d der aus den Diagonallängen d1 und d2 erhaltene arithmetische Mittelwert, so ergibt sich
die Eindruckoberfläche zu
d d d
OP = √ √ = . (8.7)
cos ○ ,
F α,F
MZ = α = (8.8)
OP d
72 8 V8 Härteprüfung
Abb. 8.3 Prinzip der Härteprüfung nach Vickers und Berücksichtigung nicht quadratisch begrenz-
ter Eindrücke, D = Durchmesser der Kugel, deren Tangentenkegel einen Öffnungswinkel von 136°
besitzt
MZ HV, (8.9)
also z. B. 430 oder 670 HV. Treten verzerrte Härteeindrücke der in Abb. 8.3 rechts gezeig-
ten Art auf, so werden neben den Diagonallinien d1 und d2 noch die mit z bezeichneten
Strecken ermittelt. Die Maßzahl der Vickershärte ergibt sich in diesen Fällen zu
α,F
MZ = (8.10)
( √d ± z)
Auch bei der Vickershärteprüfung wird die Prüflast stoß- und schwingungsfrei aufge-
bracht. Die Lastaufbringzeit beträgt 2 bis 8 s, die Lasteinwirkzeit 10 bis 15 s. Da bei Be-
lastungen > 10 N die Eindrücke geometrisch ähnlich bleiben, besteht bei der makrosko-
pischen Vickershärteprüfung praktisch kein Prüflasteinfluss. Je nach Probendicke werden
Prüflasten von beispielsweise F = 490,3, 294 oder 98 N benutzt. Die so ermittelten Härte-
werte kennzeichnet man durch Anfügen des 9,81-ten Teiles der Prüflast an die HV-Anga-
ben, also z. B. 280 HV 30 oder 670 HV 10. Für den Flächenöffnungswinkel der Vickerspy-
ramide wurde deshalb ein Wert von 136° gewählt, weil dann der Tangentenkegel eines im
optimalen Arbeitsbereich liegenden Brinelleindruckes mit d = 0,375 D gerade den gleichen
Winkel einschließt (vgl. Abb. 8.3). Auf diese Weise erhält man Vickers- und Brinellhärten,
deren Maßzahlen bis zum Betrag von etwa 350 übereinstimmen. Bei größeren Härten eines
Werkstoffes werden größere Vickers- als Brinellwerte gemessen, weil dann die Brinellein-
drücke Tangentenkegel mit relativ zu großen Öffnungswinkeln liefern (vgl. V36).
In vielen Fällen ist es wünschenswert, die in kleinen Werkstoffbereichen vorliegenden
Vickershärtewerte zu kennen. Dazu wurden spezielle Kleinlasthärteprüfgeräte entwickelt.
8.1 Grundlagen 73
Bei diesen werden mit kleinen Diamanten und Prüfkräften < 20 N Eindrücke erzeugt und
mikroskopisch vermessen. Ein solches Gerät wird in V25 beschrieben.
Bei der Härteprüfung nach Rockwell (vgl. Abb. 8.4) werden zwei verschiedene Eindring-
körper verwendet. Je nachdem, ob ein abgerundeter Diamantkegel oder eine Hartmetall-
kugel für die Prüfung benutzt wird, spricht man von einer HRC (hardness rockwell cone)-
oder einer HRB (hardness rockwell ball)-Prüfung. In beiden Fällen dient als Maßzahl für
die Härte der Unterschied in der Eindringtiefe, den der Eindringkörper bei einer bestimm-
ten Vorlast vor und nach der Einwirkung einer bestimmten Prüfzusatzlast zeigt.
Bei der HRC-Prüfung wird die Werkstoffoberfläche senkrecht zur Achse des Eindring-
kegels orientiert. Um einen von der Probenoberfläche unbeeinflussten und reproduzier-
baren Nullpunkt für die Eindringtiefe zu erhalten, wird der Kegel mit einer Vorlast von
F = 98 N auf das Prüfobjekt gedrückt. Als Eindringtiefe wird von der Messuhr eines Tie-
fenmessers xv angezeigt. Daraufhin wird in etwa 1 bis 8 s die Kegelbelastung stoßfrei um
1373 N auf insgesamt 1471 N gesteigert und diese Last etwa 2 bis 6 s konstant gehalten.
Im Zweifelsfalle erfolgt die Lasteinwirkung so lange, bis der Zeiger der Messuhr zum Still-
stand kommt. Danach wird die Zusatzlast von 1373 N wieder entfernt und die nunmehr
vorliegende Eindringtiefe xv1 gemessen. Bei dem Tiefenmesser, der über eine Skala mit
100 Teilen verfügt, entspricht die Änderung der Anzeige um 1 Skalenteil einer Eindring-
tiefenänderung von 0,002 mm. Als dimensionslose Maßzahl MZ der Rockwellhärte HRC
74 8 V8 Härteprüfung
wird
xv − xv
MZ ∣C = − (8.11)
,
definiert, die umso größer, je kleiner die Eindringtiefe des Diamantkegels ist. Die Rock-
wellhärte wird in der Form
MZ ∣C HRC, (8.12)
also z. B. 47 oder 56 HRC angegeben. Man ist übereingekommen, eine HRC-Prüfung nur
im Bereich zwischen 20 und 70 HRC vorzunehmen.
Bei den HRB-Prüfungen ist der Messvorgang im Prinzip der gleiche wie bei HRC-Prü-
fungen. Der Kugeleindruck erfolgt bei der gleichen Vorlast, jedoch mit einer kleineren
Zusatzlast von 883 N. Die dimensionslose Maßzahl MZ der Rockwellhärte HRB wird daher
als
xv − xv
MZ ∣B = − (8.13)
,
8.2 Aufgabe 75
MZ ∣B HRB (8.14)
also z. B. 40 oder 82 HRB. HRB-Prüfungen dürfen nur zwischen 20 und 100 HRB vorge-
nommen werden.
Zu den klassischen Härteprüfgeräten, bei denen die Härteeindrücke mit Hilfe optischer
Systeme oder mit Feinmessuhren manuell zu vermessen sind (vgl. Abb. 8.5), treten neu-
erdings vollautomatische mikroprozessorgesteuerte Prüfeinrichtungen. Als Beispiel zeigt
Abb. 8.6 ein modernes Prüfgerät für Rockwell-Härten, das über Touchscreen und Netz-
werkanschlüsse verfügt. Basierend auf der Kraftmessung über Kraftmessdosen wird ein
Höchstmaß an Reproduzierbarkeit gewährleistet. Außerdem finden zunehmend Univer-
salhärteprüfgeräte Anwendung, die eine Messung nach Vickers, Brinell und Rockwell über
einen großen Prüfkraftbereich ermöglichen (vgl. Abb. 8.7).
8.2 Aufgabe
An Platten aus PbSn10, MgAl8, Al 99.98, AlCuMg2, Cu 99.8, CuZn28, StE 420 und
X2CrNiMo18-10, deren Herstellweg bekannt ist, sind Brinell-Härteprüfungen durchzu-
führen. Die Messwerte sind statistisch abzusichern und zu diskutieren. Bei den einzelnen
Werkstoffen sind Möglichkeiten der Härtesteigerung zu erörtern.
76 8 V8 Härteprüfung
8.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Hab80] Habig, K.-H.: Verschleiß und Härten von Werkstoffen. Carl Hanser Verlag, München (1980)
[Rei81] Reicherter, G.: Die Härteprüfung nach Brinell, Rockwell und Vickers, 3. Aufl. Springer, Berlin
(1981)
[Rel71] Relly, E.R.: Interscience Techniques of Materials Research, Bd. V/2. New York, S. 157 (1971)
[DIN EN ISO 6506-1:2006-03] DIN EN ISO 6506-1:2006-03, Metallische Werkstoffe – Härteprüfung
nach Brinell – Teil 1: Prüfverfahren
[DIN EN ISO 6507-1:2006-03] DIN EN ISO 6507-1:2006-03, Metallische Werkstoffe – Härteprüfung
nach Vickers – Teil 1: Prüfverfahren
[DIN EN ISO 6508-1:2006-03] DIN EN ISO 6508-1:2006-03, Metallische Werkstoffe – Härteprüfung
nach Rockwell – Teil 1: Prüfverfahren
V9 Kaltumformen durch Walzen
9
9.1 Grundlagen
der Austrittsstelle A ist dagegen die Geschwindigkeit des Walzgutes v1 größer als die der
Walzenoberfläche vw . Durch das Stauchen werden also die einzelnen Walzgutquerschnitte
beschleunigt, weil in der Zeiteinheit gleiche Werkstoffmengen die einzelnen Bereiche des
Walzspaltes durchsetzen müssen. Diese Bedingung der Volumenkonstanz und die erzwun-
9.1 Grundlagen 81
gene Querschnittsabnahme bewirken, dass die Geschwindigkeit des Walzgutes vom Ein-
tritt in den Walzspalt bis zum Austritt aus dem Walzspalt ständig zunimmt. Demnach gibt
es einen Punkt, in dem die Umfangsgeschwindigkeit der Walze in Walzrichtung und die
Vorschubgeschwindigkeit des Walzgutes gleich groß sind. Dieser Punkt wird Fließscheide
S genannt. Der Bereich vor der Fließscheide heißt Nacheilzone. Dort ist die Walzgutge-
schwindigkeit v < vw cos φ. Der Bereich hinter der Fließscheide wird umso näher an die
Eintrittsstelle herangeschoben, je größer die Reibung ist. Als Folge der beschriebenen ki-
nematischen Gegebenheiten kehren sich die Vorzeichen der Reibungskräfte in der Vor-
und in der Nacheilzone um. In beiden Zonen sind sie auf die Fließscheide hin gerichtet. In
der Fließscheide selbst sind keine Reibungskräfte wirksam.
In Abb. 9.3 sind für die Voreilzone die Geometrie und die auf die Breite b des Walzgu-
tes bezogenen Kräfte eines Walzgutelementes dargestellt. Betrachtet wird eine reibungslose
Umformung wie z. B. das Bandwalzen, bei dem die Breite des Walzgutes konstant bleibt.
Auf die Oberfläche b dx/cos φ des Walzgutelementes wirkt die Normalkraft dN, die in der
Oberfläche die Reibungskraft dR hervorruft. Auf den Querschnitt bh an der Stelle x wirkt
die Horizontalkraft H, auf den Querschnitt b (h + dh) an der Stelle x + dx die Horizontal-
kraft H + dH. Die Flächen b dx parallel zur Symmetrieebene des Walzgutelementes werden
von der Normalkraft dF = dN cos φ beaufschlagt. Für das Kräftegleichgewicht in x-Rich-
tung ergibt sich daher
oder
dH = dF (tan φ + μ) . (9.3)
82 9 V9 Kaltumformen durch Walzen
Definiert man als Walzdruck die gesamte auf die Symmetrieebene des Walzgutelementes
bezogene Normalkraft, so ergibt sich
bdF dF
p= = (9.4)
bdx dx
und man erhält schließlich als Differentialgleichung des elementaren Walzvorganges in der
Voreilzone
dH = pdx (tan φ + μ) . (9.5)
Für die Nacheilzone liefert eine analoge Betrachtung die Differentialgleichung
Unter Annahme bestimmter Randbedingungen lässt sich also mit Hilfe der Gln. 9.5
und 9.6 die Druckverteilung im Walzspalt berechnen. Abbildung 9.4 zeigt als Beispiel den
Walzdruck p in Abhängigkeit vom Walzwinkel φ beim Walzen von Aluminium. Der Walz-
druck nimmt von der Eintrittsstelle des Walzgutes an kontinuierlich zu, erreicht in der
Fließscheide seinen Maximalwert und fällt bis zur Austrittsstelle (φ = 0°) wieder ab. Druck-
maximum und Fließscheide fallen also zusammen. Bei zunehmender Reibung zwischen
Walzen- und Walzgutoberfläche steigen die Walzdrücke. Aus den Walzdruckkurven las-
sen sich die zur Umformung erforderlichen Walzkräfte und Walzmomente berechnen. Die
durch den Walzprozess erzwungene Dickenreduzierung des Walzgutes
h − h
εW = (9.7)
h
wird als Walzgrad bezeichnet. Dabei ist h0 die Ausgangsdicke, h1 die nach dem Walzen
vorliegende Dicke. In der Umformtechnik wird jedoch meist die auf die jeweilige Höhe h
9.2 Aufgabe 83
a b
Abb. 9.5 Längsschliffe durch Bleche aus EN-AW AlMg5Mn (EN-AW 5182) a vor und b nach star-
kem Walzen (Abwalzgrad 82 %) [Bildquelle: Hydro Aluminium, Bonn]
bezogene Höhenabnahme
h
dh h
φW = − ∫ = ln (9.8)
h h
h
9.2 Aufgabe
Weichgeglühte Bleche aus Reinaluminium (99,5 Masse-% Al) mit den Abmessungen
l0 = 60 mm, b0 = 20 mm und h0 = 5 mm sind auf mehrere Enddicken bis zu etwa h = 1 mm
84 9 V9 Kaltumformen durch Walzen
abzuwalzen. Die Abhängigkeit der Vickershärte von den Umformgraden εw und φw ist zu
ermitteln und zu diskutieren. Der Gefügezustand des Ausgangs- und der Walzzustände ist
zu beurteilen.
9.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Lan03] Lange, K.: Lehrbuch der Umformtechnik, 2. Aufl. Springer, Berlin (2003)
[Ost07] Ostermann, F.: Anwendungstechnologie Aluminium, 2. Aufl. Springer, Berlin (2007)
[Was81] Wassermann, G., Greven, J.: Texturen metallischer Werkstoffe. Springer, Berlin (1981)
V10 Werkstofftexturen
10
10.1 Grundlagen
In homogenen und heterogenen vielkristallinen Werkstoffen liegen die Körner in den sel-
tensten Fällen mit statistisch regelloser Orientierungsverteilung vor. Je nach Vorgeschichte
eines Werkstoffs treten mehr oder weniger ausgeprägte Vorzugsrichtungen auf, mit denen
sich bestimmte kristallographische Richtungen und/oder Ebenen (vgl. V1) bezüglich äu-
ßerer durch den Fertigungsprozess vorgegebener Koordinaten einstellen. So ordnen sich
z. B. beim Ziehen von Kupferdrähten die meisten Körner mit ⟨111⟩-Richtungen parallel
zur Zugrichtung an. Man spricht von einer Ziehtextur. Nach hinreichend starkem Wal-
zen (vgl. V9) von Eisenblechen orientieren sich viele Körner mit ihren ⟨110⟩-Richtungen
in Walzrichtung und mit ihren {100}-Ebenen parallel zur Walzebene. Man spricht von
einer Walztextur. Auch andere technologisch wichtige Prozesse führen zur Ausbildung
kennzeichnender Texturen mit Kornorientierungen, die mehr oder weniger stark von einer
regellosen Orientierungsverteilung abweichen. Beispiele sind Gusstexturen (vgl. V3), Re-
kristallisationstexturen (vgl. V12) und Deckschichttexturen. Da die Eigenschaften textur-
behafteter Werkstoffzustände grundsätzlich richtungsabhängig sind, besitzt die Ermittlung
von Texturen eine große praktische Bedeutung. Derartige Texturbestimmungen erfolgen
heute durchweg röntgenographisch mit Texturgoniometern.
Texturen werden durch sog. Polfiguren beschrieben. Zur Veranschaulichung dieses
Hilfsmittels stelle man sich einen Vielkristall vor, bei dem die individuellen Orientierun-
gen der mit regelloser Orientierungsverteilung vorliegenden Körner durch die Normalen
von bestimmten Gitterebenen angezeigt werden (Abb. 10.1a). Fasst man gedanklich die
Gesamtheit der Körner im Zentrum einer Kugel zusammen, so durchstoßen die {hkl}-Nor-
malen die Kugeloberfläche (Lagekugel) mit gleichmäßiger Belegungsdichte (Abb. 10.1b).
Projiziert man vom Südpol aus die auf der nördlichen Halbkugel liegenden Durchstoß-
punkte (Flächenpole) auf die Äquatorebene (Abb. 10.1c), so erhält man eine Polfigur, die
sich ebenfalls durch eine gleichmäßige Belegungsdichte auszeichnet (Abb. 10.1d). Denkt
man sich anstelle der regellosen Orientierungsverteilung z. B. ein vielkristallines Blech,
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 87
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
88 10 V10 Werkstofftexturen
c d
z
XX X
X
X X X
X X X X
X X
X X X X X
X X X X X X
X X X
X X X
X X X X X
X X X X X X X X X
y
X X X X X X X
y X
X X
X
X
X X
X X X X X
X X X X
X X X X
X X X X
X X
X X X
X X X X
X X
x Südpol x
bei dem durch Walzen die Würfelflächen ({100}-Ebenen) und die Würfelkanten (⟨100⟩-
Richtungen) nahezu aller Körner sich parallel zur Walzrichtung einstellen, so erhält man,
wenn die Walzrichtung mit WR und die dazu senkrechte Querrichtung mit QR bezeichnet
wird, für die Normalen der {100}-Ebenen die in Abb. 10.2b, für die Normalen der {110}-
Ebenen die in Abb. 10.2c und für die Normalen der {111}-Ebenen die in Abb. 10.2d wie-
dergegebenen Polfiguren. Man spricht von Polfiguren der {100}-, {110}- und {111}-Ebenen
oder kurz auch von {100}-, {110}- und {111}-Polfiguren.
Abbildung 10.3 erläutert, wie man solche Polfiguren röntgenographisch ermitteln kann.
Im Zentrum des Grundkreises wird die Probe justiert. Auf einem Kreis senkrecht dazu
werden die Eintrittsspalte einer monochromatischen Röntgenstrahlenquelle und eines
Detektors symmetrisch zum Oberflächenlot des Bleches so angebracht, dass die paral-
lel zur Probenoberfläche liegenden Gitterebenen {hkl} der erfassten Körner auf Grund
der Bragg’schen Gleichung Primärstrahlintensität reflektieren. Je mehr Körner sich unter
diesen Bedingungen in reflexionsfähiger Lage befinden, desto größer ist die abgebeugte
Röntgenintensität. Dreht man die Probe um das Oberflächenlot L zur Einstellung un-
terschiedlicher Azimutwinkel φ, so ändert sich an der vorliegenden Beugungsgeometrie
nichts. Kippt man die Probe aus ihrer Ausgangslage um den Winkel Ψ durch Drehung
um die Achse in Querrichtung, so werden bei konstanter Lage von Strahlungsquelle und
Detektor Körner reflexionsfähig, deren {hkl}-Ebenen um den Winkel Ψ gegenüber dem
Oberflächenlot der Probe geneigt und deren Normalen in der vom Oberflächenlot und
10.1 Grundlagen 89
c d
Walzrichtung Walzrichtung
{111}
{110}
Querrichtung Querrichtung
der Walzrichtung aufgespannten Ebene liegen. Dreht man nun erneut die Blechprobe
um das Oberflächenlot, so werden auf der Lagekugel alle Positionen abgetastet, die den
Winkelabstand Ψ vom Oberflächenlot haben. Offensichtlich muss man nach Einstellung
verschiedener Distanzwinkel Ψ die Blechprobe um ihr Oberflächenlot drehen, um hinrei-
chende Informationen über die Verteilung der Flächenpole der {hkl}-Ebenen und damit
über die zugehörige Polfigur zu erhalten. Bei modernen Texturgoniometern wird die Pol-
figur in dieser Weise nacheinander auf konzentrischen Kreisbahnen in Winkelabständen
von 5° abgetastet. Die dabei erhaltenen lokalen Intensitäten werden wegen der je nach
Probenneigung unterschiedlichen Absorptionsverhältnisse korrigiert und dann z. B. mit
einem Mehrfarbenschreiber aufgezeichnet, wobei jeder Farbe ein bestimmtes Intensitäts-
intervall und damit eine bestimmte Poldichte zukommt.
a b
Oberflächenlot Oberflächen- {hkl} Walz-
{hkl} lot Detektor richtung
Detektor
Walz-
richtung Spur der Messebene und
θ
Strahlungs- ψ einer reflektierenden
quelle θ Strahlungs- Gitterebene
quelle
Quer- θ Quer-
richtung Probe richtung
θ Probe
φ φ
Nur selten liefert eine Texturanalyse so einfache Polfiguren mit einer niedrig indizierten
„Ideallage“, wie in Abb. 10.2 angenommen. Man spricht im betrachteten Falle vom Auftre-
ten einer Texturkomponente {100} ⟨100⟩. Meist liegen kompliziertere Polfiguren vor, weil
sich mehrere Texturkomponenten überlagern.
Bei der Beurteilung von Polfiguren ist grundsätzlich zu beachten, dass sie jeweils nur für
einen Ebenentyp die Orientierungen als Funktion des Distanzwinkels Ψ und des Azimut-
winkels φ wiedergeben. Die exakte räumliche Fixierung einer Kornorientierung erfordert
aber die Angabe von drei Winkeln. Deshalb ist kein exakter Schluss von einer ermittelten
Polfigur auf die tatsächlich vorliegende Textur möglich. Mit mathematisch aufwendigen
Methoden lässt sich jedoch die räumliche Verteilungsfunktion der Kornorientierungen
umso besser annähern, je mehr {hkl}-Polfiguren vermessen werden. Praktisch erörtert man
aber vorliegende Texturen meist nur an Hand von einer oder von zwei Polfiguren für Git-
terebenen {hkl} mit niedriger Indizierung.
10.2 Aufgabe
Proben aus reinem Kupfer und einer Legierung CuZn32 werden hinreichend stark kaltge-
walzt (vgl. V9) und danach unter Aufnahme von {111}-Polfiguren auf ihren Texturzustand
untersucht. Die Besonderheiten der Kupfer- und der Messingtextur sind zu ermitteln und
zu diskutieren.
10.3 Versuchsdurchführung
Es stehen ein Laborwalzwerk und ein Texturgoniometer zur Verfügung. Die Werkstoff-
proben werden zunächst in geeigneten Stichen auf etwa 90 % kaltgewalzt. Anschließend
werden aus den Blechen Probenteile unter Markierung von Walz- und Querrichtung her-
ausgeschnitten und auf dem Objekthalter des Texturgoniometers befestigt. Abbildung 10.4
zeigt ein vollautomatisch arbeitendes χ-Diffraktometer (vgl. V75), mit dem u. a. Textur-
messungen durchgeführt werden können. Das abgebildete Gerät arbeitet nicht mit einer
Eulerwiege sondern mit Hebelarmen, die in gegensätzliche Richtungen bewegbar sind und
eine präzise Einstellung von χ im Bereich von −90° bis 90° ermöglichen.
Es werden die {111}-Polfiguren beider Werkstoffe aufgenommen. Zusammen mit für
die gleiche Walzverformung bereits vorliegenden {100}- und {110}-Polfiguren werden die
Unterschiede der entstandenen Texturen aufgezeigt und erörtert.
10.4 Symbole, Abkürzungen 91
Weiterführende Literatur
[Glo85] Glocker, R.: Materialprüfung mit Röntgenstrahlen, 5. Aufl. Springer, Berlin (1985)
[Got78] Gottstein, G., Lücke, K.: Textures of Materials. Springer, Berlin (1978)
[Spi09] Spieß, L., Schwarzer, R., Behnken, H., Teichert, G., Genzel, C.: Moderne Röntgenbeugung
– Röntgendiffraktometrie für Materialwissenschaftler, Physiker und Chemiker. Vieweg+Teubner,
Wiesbaden (2009)
[Ste85] Steeb, S.: Röntgen- und Elektronenbeugung. expert verlag, Sindelfingen (1985)
[Was62] Wassermann, G., Grewen, J.: Texturen metallischer Merkstoffe. Springer, Berlin (1962)
V11 Korngrößenermittlung
11
11.1 Grundlagen
Die metallischen Werkstoffe der technischen Praxis sind Vielkristalle. Sie bestehen aus
einer großen Anzahl von Körnern (Kristalliten), die in einem bestimmten Kristallsys-
tem kristallisieren (vgl. V1), einen mit Gitterstörungen versehenen Gitteraufbau besitzen
(vgl. V2) und durch stärker gestörte Gitterbereiche, die Korn- bzw. Phasengrenzen, vonein-
ander getrennt sind. Innerhalb der Körner können je nach Werkstofftyp und Vorgeschichte
die verschiedenartigsten Gitterstörungen auftreten. Nur im Idealfall sind die kristallogra-
phischen Achsen der einzelnen Körner statistisch regellos verteilt. Meist treten davon
jedoch mehr oder weniger starke Abweichungen und damit Texturen auf (vgl. V10).
Bei einphasigen Werkstoffen liegt nur eine Art von Körnern vor. Als Beispiel zeigt
Abb. 11.1 das Schliffbild einer homogenen Kupfer-Zink-Legierung mit 30 Masse-%
Zink. Die einzelnen α-Mischkristallkörner erscheinen verschieden hell. Die geradlini-
gen Streifungen innerhalb der Körner begrenzen Kornbereiche, die sich relativ zueinander
in Zwillingspositionen befinden (vgl. V2). Mehrphasige heterogene Werkstoffe besit-
zen Körner mit verschiedenen Kristallstrukturen. Ein Beispiel zeigt Abb. 11.2. Dort ist
das Schliffbild einer heterogenen Kupfer-Zink-Legierung mit 42 Masse-% Zink wie-
dergegeben. Die dunkel erscheinenden Schliffbereiche sind β-Mischkristalle (krz), die
hellen α-Mischkristalle (kfz). Auch hier sind die α-Mischkristalle von Zwillingen durch-
setzt.
Die Korngröße beeinflusst die mechanischen Eigenschaften metallischer Werkstoffe,
wie z. B. die Härte (vgl. V8) sowie die Streckgrenze und die Zugfestigkeit (vgl. V23). Des-
halb ist die Kenntnis der Größe und Verteilung der Körner für die Beurteilung des Werk-
stoffverhaltens von großer praktischer Bedeutung.
Für die Bestimmung der mittleren Korngröße an metallographischen Schliffen wurden
unter Anwendung stereologischer Methoden (vgl. V18) Standardverfahren entwickelt. Ei-
ne Definition leitet auf der Basis der Flächenanalyse die Korngrößenkennzahl G aus der
Anzahl m der Körner pro Fläche ab. In der europäischen Norm [ISO 643] ist dafür festge-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 93
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
94 11 V11 Korngrößenermittlung
legt: G = 1 für m = 16 Körner pro mm2 . Die anderen Korngrößen berechnen sich aus
m = ⋅ G (11.1a)
Ā = /m (11.2)
Eine zweite Definition der Korngröße auf der Basis der Linearanalyse ist das mittlere
Linienschnittsegment ℓ, bestimmt aus der Anzahl Pm der von Messlinien der Länge LT
geschnittenen Korngrenzen (vgl. V18)
Die beiden Messgrößen m und ℓ sind voneinander unabhängig und können nicht direkt
umgerechnet werden. Tabelle 11.1 stellt einige der o. g. Größen gegenüber.
Verfahren zur Messung der mittleren Korngröße sind:
∑ Li
ℓ̄ = ⋅ (11.6)
M Pm
angegeben.
Durch den ebenen Anschnitt der Körner werden in der Schlifffläche die Körner nicht
immer in ihrem maximalen Durchmesser geschnitten; je nach Lage bezüglich der Schnitt-
fläche werden sie unterschiedlich angeschnitten und erscheinen daher auch dann verschie-
den groß, wenn sie exakt gleiche Größe hätten. Bei Anwendung des Flächenauszählverfah-
rens oder des Linienschnittverfahrens werden immer kleinere mittlere Korngrößen, als in
Wirklichkeit vorliegen, gemessen. Bei einem gleichmäßigen, isometrischen Gefüge kann
der räumliche Durchmesser D′ näherungsweise abgeschätzt werden mit D ′ = ,ℓ̄.
Eine elementare Voraussetzung für eine einigermaßen korrekte Korngrößenbestim-
mung besteht darin, dass die vermessenen Schliffe hinreichend repräsentativ für das
Werkstoffganze sind. Zur statistischen Absicherung sowie besonders bei stark inho-
98 11 V11 Korngrößenermittlung
11.2 Aufgabe
Bei einer homogenen Kupfer-Zink-Legierung sind die nach Verformung und nach drei ver-
schiedenen Wärmebehandlungen vorliegenden Kornabmessungen nach dem Vergleichs-,
Flächenauszähl- und Linienschnittverfahren zu bestimmen, miteinander zu vergleichen
und zu diskutieren. Beim Auszählen sind die Grenzen der Rekristallisationszwillinge nicht
wie Korngrenzen zu behandeln. Der Zusammenhang zwischen Korngröße und Härte so-
wie Streckgrenze der Legierungen ist zu ermitteln und zu erörtern.
11.3 Versuchsdurchführung
Literatur
Verwendete Literatur
[ASTM E112] ASTM E112 – 96 (2004): Standard Test Methods for Determining Average Grain Size
(2004)
[ISO 643] DIN EN ISO 643 (2003–09): Stahl – Mikrofotographische Bestimmung der scheinbaren
Korngröße (2003–09)
Weiterführende Literatur
[Bar13] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde. 11. Aufl. Springer, Berlin (2013)
[Bra67] Brandis, H., Wiebking, K.: DEW-Technische Berichte 7, 215, Witten-Krefeld (1967)
[Exn93b] Exner, H.E., et al.: Quantitative Beschreibung der Gefügegeometrie – Korngrö-
ße/Korngrenzendichte. Prakt. Metallogr. 30, 287–293 (1993)
[Mac68] Macherauch, E.: Z. Metallkde. 59, 669 (1968)
V12 Erholung und Rekristallisation
12
12.1 Grundlagen
Bei der Kaltumformung eines metallischen Werkstoffes wird der überwiegende Teil der ge-
leisteten Verformungsarbeit in Wärme umgesetzt, und nur ein relativ kleiner Teil (< 5 %)
führt als Folge der erzeugten Gitterstörung zur Erhöhung der inneren Energie und da-
mit der freien Enthalpie des Werkstoffzustandes. Dieser thermodynamisch instabile Zu-
stand ist bei Temperaturerhöhung bestrebt, durch Umordnung und Abbau der Gitterstö-
rungen seine freie Enthalpie zu verkleinern. Das führt dazu, dass kaltverformte Werkstoffe
nach gleich langer Glühung die aus Abb. 12.1 ersichtliche Abhängigkeit der Raumtempe-
raturhärte von der Glühtemperatur zeigen. Lichtmikroskopische Gefügeuntersuchungen
ergeben nach Glühungen links vom Steilabfall der Kurve keine Änderungen des vorliegen-
den Verformungsgefüges. Die dort auftretenden geringen Härteänderungen müssen also
submikroskopischen Prozessen zugeordnet werden. Man spricht von Erholung. Dabei tre-
ten Reaktionen punktförmiger Gitterstörungen (vgl. V2) untereinander und mit anderen
Gitterstörungen auf. Ferner finden Annihilationen von Versetzungen unterschiedlichen
Vorzeichens statt, und es bilden sich energetisch günstigere Versetzungsanordnungen aus.
Als treibende Kraft für diese Prozesse ist der Abbau der freien Enthalpie des verformten
Werkstoffvolumens anzusehen. Im Temperaturbereich des Steilabfalls und des sich an-
schließenden Plateaus der Härtewerte werden dagegen Gefügeänderungen in Form von
Kornneubildungen sichtbar. Diesen Prozess bezeichnet man als Rekristallisation. Er um-
fasst alle Vorgänge, die zur Bildung neuer Kristallkeime und deren Wachstum auf Kos-
ten des verformten Gefüges führen. Rekristallisation besteht daher in der Bildung und
in der Wanderung von Großwinkelkorngrenzen. Die treibende Kraft für das Keimwachs-
tum ist die Differenz der gespeicherten Verformungsenergien in den Spannungsfeldern
der Versetzungen der Keime und der verformten Matrix. Die treibende Kraft für die in-
nerhalb rekristallisierter Bereiche stattfindende weitere Kornvergrößerung ergibt sich aus
dem relativen Abbau der spezifischen Korngrenzenenergie. Im Gegensatz zur Erholung
beginnen Rekristallisationsprozesse bei gegebener Temperatur erst nach einer temperatur-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 101
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
102 12 V12 Erholung und Rekristallisation
Glühzeit (Abb. 12.4b–d) wachsen von diesen Keimen ausgehend relativ ungestörte neue
Gitterbereiche in die verformten Körner hinein. Daneben entstehen weitere wachstumsfä-
hige Keime. Bei der Bewegung der Großwinkelkorngrenzen zehren die neuen Körner die
verformte Matrix, wie in den letzten Abb. 12.4e und f angedeutet, völlig auf. Die Rekris-
tallisation ist lokal beendet, wenn die von benachbarten Keimen aus wachsenden Körner
einander berühren. Gitterstörungszustand, Größe, Form und Orientierung der neu ent-
standenen Körner weichen relativ stark von denen des verformten Gefüges ab. Ist nach
hinreichend langer Zeit der Rekristallisationsprozess des gesamten Werkstoffvolumens
abgeschlossen, so stellen sich ein Härteendwert und eine typische Rekristallisationstextur
(vgl. V10) ein. Außer verminderter Härte weist ein rekristallisierter Werkstoff gegenüber
dem kaltverformten Zustand eine geringere Streckgrenze und Zugfestigkeit sowie eine
größere Bruchdehnung und Brucheinschnürung auf (vgl. V23).
Den beschriebenen Kornwachstumsprozess, der – ausgehend von Keimen – zu einer ste-
tigen Kornvergrößerung führt, nennt man primäre Rekristallisation. Unter bestimmten Be-
dingungen – nach großen Verformungsgraden und Glühungen bei sehr hohen Temperatu-
ren – wird noch eine unstetige Kornvergrößerung beobachtet, bei der einige wenige rekris-
tallisierte Körner auf Kosten aller anderen wachsen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Se-
kundärrekristallisation. Einen Überblick über das Rekristallisationsverhalten eines Werk-
104 12 V12 Erholung und Rekristallisation
stoffes verschafft man sich an Hand von Rekristallisationsdiagrammen (Abb. 12.5). Dazu
werden unterschiedlich stark verformte Proben bei verschiedenen Temperaturen gleich
lange geglüht und die nach dieser Glühbehandlung vorliegenden Korngrößen ermittelt.
Die Korngrößen werden als Funktion von Verformungsgrad und Glühtemperatur aufge-
tragen. Je nach gewählten Glühbedingungen werden dabei auch die Kornvergrößerungen
durch Sekundärrekristallisation mit erfasst.
In der Praxis bezeichnet man vielfach als Rekristallisationstemperatur T R eines verform-
ten Werkstoffes die Temperatur, bei der die Rekristallisation nach einstündiger Glühbe-
handlung auf Grund visueller Beobachtung abgeschlossen ist. T R kann für reine Metalle
mit relativ großen Verformungsgraden mit Hilfe der Faustregel
abgeschätzt werden. Dabei ist T S die Schmelztemperatur in K. Einige weitere wichtige Er-
fahrungswerte über die Rekristallisation verformter metallischer Werkstoffe lassen sich wie
folgt zusammenfassen:
Insgesamt stellt die Rekristallisation metallischer Werkstoffe einen für die Werkstoff-
technik außerordentlich wichtigen Prozess dar, der zur Auflösung einer aufgeprägten Ver-
formungsstruktur führt. Bei stark kaltverformten Werkstoffen kann dabei die Versetzungs-
dichte von 1012 auf 108 cm−2 abfallen, was zu einer starken Reduzierung der Mikroeigen-
spannungen (vgl. V75) führt. Rekristallisationsvorgänge führen auch zum Abbau vorhan-
106 12 V12 Erholung und Rekristallisation
12.2 Aufgabe
12.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Bar13] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde. 11. Aufl. Springer, Berlin (2013)
[Hae78] Haessner, F.: Recrystallisation of Metallic Materials, 2. Aufl. Riederer, Stuttgart (1978)
[Byr65] Byrne, J.G.: Recovery, Recrystallisation and Grain Growth. McMillan, New York (1965)
[Dgm73] Wärmebehandlung, DGM-Symposium, DGM, Oberursel (1973)
V13 Elektrische Leitfähigkeit
13
13.1 Grundlagen
Ein charakteristisches Merkmal metallischer Werkstoffe ist ihre relativ hohe elektrische
Leitfähigkeit. Sie beruht auf der Bewegung von sog. Leitungselektronen unter der Einwir-
kung eines elektrischen Feldes.
Besteht wie in Abb. 13.1 zwischen den Enden eines quaderförmigen Leiters mit dem
Querschnitt A0 und der Länge L0 eine elektrische Potentialdifferenz (elektrische Spannung
U), wirkt infolge der Feldstärke E⃗ auf die Elektronen eine Kraft, die die Elektronen (La-
dungsträger) beschleunigt.
⃗ = U [V/cm]
∣E∣ (13.1)
L
Die beschleunigten Leitungselektronen werden durch Wechselwirkung mit den Atom-
rümpfen gebremst, so dass sich eine mittlere Driftgeschwindigkeit einstellt. Beeinflusst
wird diese Drift durch Gitterschwingungen (Phononen) und durch Abweichungen von der
regelmäßigen Gitterstruktur (Gitterstörungen). Als Folge dieser Drift der Elektronen fin-
det ein Ladungsträgertransport statt; es stellt sich eine Stromdichte i ein. Ist diese im Leiter
homogen, fließt durch die Querschnittsfläche A0 ein mittlerer elektrischer Strom I
I ⃗
i= = ∣E∣ . (13.2)
A ρ
Dabei ist ρ der sog. spezifische elektrische Widerstand. Das Verhältnis von Spannung
und Strom wird als elektrischer Widerstand R bezeichnet (Ohmsches Gesetz).
U U L
R= = =ρ (13.3)
I iA A
Somit lässt sich, wenn die Abmessungen des (homogenen) Leiters bekannt sind, der
spezifische Widerstand gemäß
A
ρ=R (13.4a)
L
durch Messung von R ermitteln. Die Einheit für den elektrischen Widerstand ist Ω („Ohm“)
und ist abgeleitet aus den SI-Einheiten:
V kg ⋅ m2
Ω = =1 2 3 . (13.4b)
A A ⋅s
Für den spezifischen Widerstand ergibt sich als Einheit Ω m. Für praktische Zwecke ist
es bequemer, den Querschnitt des Leiters A0 in mm und seine Länge L0 in m zu messen.
Als Einheit von ρ wird deshalb häufig neben Ω cm auch Ω mm /m benutzt, wobei der
Zusammenhang gilt:
− Ω m = − Ω cm = Ω mm /m. (13.5)
Der Reziprokwert von R heißt elektrischer Leitwert oder Konduktanz G mit der Ein-
heit 1/Ω = S. Dabei steht „S“ für „Siemens“. Der Reziprokwert von ρ wird spezifische elek-
trische Leitfähigkeit κ („Kappa“) mit [κ] = S m−1 genannt.
Die Beeinflussung der Gitterschwingungen, z. B. durch Temperaturänderung, und/oder
die der Gitterstörungen, z. B. durch Veränderung des Verformungszustandes, wirken sich
auf die elektrische Leitfähigkeit aus. Als Beispiel zeigt Abb. 13.2 die relativen Änderungen
des spezifischen elektrischen Widerstandes Δρ/ρ von Kupfer durch plastische Verformung
bei den Temperaturen 83, 190 und 300 K. Sie nehmen mit dem Verformungsgrad zu, und
zwar umso ausgeprägter, je niedriger die Verformungstemperatur ist.
Erfahrungsgemäß setzt sich der spezifische elektrische Widerstand ρ eines Werkstof-
fes additiv aus einem temperaturabhängigen Anteil ρ T und einem temperaturabhängigen
Anteil ρ 0 zusammen. Es ist also (Matthiesensche Regel)
ρ = ρ + ρ T . (13.6)
Verunreinigungen (siehe z. B. Abb. 13.3) und strukturelle Störungen liefern den Beitrag
ρ 0 , die Gitter-Schwingungen den Beitrag ρ T . In Abb. 13.4 ist die Tieftemperaturabhängig-
keit des spezifischen elektrischen Widerstandes von reinem Kupfer und von drei Kupfer-
Nickel-Legierungen wiedergegeben. Mit wachsender Temperatur nimmt ρ zu, und zwar
13.1 Grundlagen 111
oberhalb von 100 K etwa linear mit der Temperatur. Die Nickelzusätze bewirken eine ih-
rer Konzentration proportionale Erhöhung des spezifischen elektrischen Widerstandes bei
praktisch gleich bleibender Temperaturabhängigkeit. Der am absoluten Nullpunkt verblei-
bende ρ-Wert wird als spezifischer elektrischer Restwiderstand bezeichnet.
Die Temperaturabhängigkeit des spezifischen elektrischen Widerstandes lässt sich ober-
halb der Raumtemperatur durch ein Polynom beschreiben, das nach zweiter Ordnung oder
sogar nach erster Ordnung abgebrochen wird. Mit T 0 < T gilt
ρ(T) = ρ(T )[ + α(T − T ) + β(T − T ) ]. (13.7)
ρ(T) − ρ(T )
α= . (13.8)
ρ(T ) T − T
Aus dem Anstieg der ρ(T)-Kurve lässt sich in diesem Fall α einfach bestimmen.
112 13 V13 Elektrische Leitfähigkeit
13.2 Aufgabe
Von Proben aus Kupfer, Aluminium und Eisen, die verschieden stark kalt verformt wur-
den, sind der spezifische elektrische Widerstand und seine Abhängigkeit von der Tempe-
ratur zu bestimmen. Von je einer Probe der drei Werkstoffe ist für das Temperaturintervall
20 °C < T < 90 °C die Temperaturabhängigkeit von ρ zu ermitteln und α anzugeben.
13.3 Versuchsdurchführung
Die Messung von Widerständen Rx > 1 Ω erfolgt zweckmäßigerweise mit einer Wheatsto-
ne-Brücke, die von Widerständen Rx < 1 Ω dagegen mit einer Thomson-Brücke.
Die Thomson-Brücke, deren Prinzip an Hand von Abb. 13.5 erläutert werden kann, ist
eine abgewandelte Wheatstone-Brücke (vgl. V22). Deshalb wird in Abb. 13.5a von einer
solchen ausgegangen. Diese wird abgeglichen, indem die beiden Punkte C und E durch
Verändern des Widerstandes R2 bzw. des Verhältnisses von R2 : R1 auf gleiches Potential
gebracht werden, was mit der Spannung U G = 0 am Galvanometer G (Spannungsmesser
mit sehr hohem Innenwiderstand, d. h. kein Stromfluss von C bzw. C′ nach E) nachgewie-
sen wird. Wird nun angenommen, dass die Widerstände R ′z und R ′′z der Zuleitungen C1 C
und CC2 nicht gegenüber dem Prüfwiderstand Rx und Vergleichswiderstand Rv vernach-
lässigbar sind, gilt im Fall des Brückenabgleichs mit dem veränderlichen Widerstand R1 :
R x + R ′Z RV + R ′′Z
= . (13.9)
R R
13.3 Versuchsdurchführung 113
G
R2 R1
b Rq
U
RX R‘Z R“Z RV
C1 C C2
A B
R4 R3
C‘
G
R2 R1
R ′Z R x
= (13.10)
R ′′Z RV
geteilt werden, dann vereinfacht sich bei Brückenabgleich die Bestimmung von Rx zu
R2
R x = RV (13.11)
R
d. h. es ergibt sich die gleiche Beziehung wie bei einer Wheatstone-Brücke mit vernachläs-
sigbar kleinen Leitungswiderständen (vgl. V24).
Soll also der Einfluss der Zuleitungswiderstände eliminiert werden, so muss die Abgriff-
stelle C auf der Verbindungsleitung C1 C2 so gelegt werden, dass sie deren Widerstand R Z =
R ′Z + R ′′Z im Verhältnis Rx : RV bzw. R2 : R1 teilt. Das lässt sich durch die in Abb. 13.5b skiz-
zierte Schaltung erreichen. Die Verbindungsleitung wird durch die Widerstände R3 + R4
überbrückt. Diese werden mit den Abgleichwiderständen R1 und R2 so gekoppelt, dass
stets gilt
R R
= . (13.12)
R R
114 13 V13 Elektrische Leitfähigkeit
Unter dieser Nebenbedingung befinden sich der Punkt C′ der Verbindungsleitung und
der Punkt C zwischen den Teilwiderständen R ′Z und R ′′Z auf gleichem Potential. Zum Ab-
gleich der Brücke sind dann nur noch die Punkte C′ und E auf gleiches Potential zu bringen.
Das ist erreicht, wenn die zwischen den Punkten BC2 , BE und C2 C′ fließenden Ströme I BC2 ,
I BE und I C2C′ (I EC′ = 0 A) die Bedingungen
und
IBC R x + IC C′ R = IBE R (13.14)
erfüllen, mit Gl. 13.12 folgt damit
R
R x = RV . (13.15)
R
Bei Messungen mit der Thomson-Brücke gilt also dieselbe Abgleichformel wie bei der
Wheatstone-Brücke.
Für Präzisionsmessungen ist die Thomson-Brücke als Doppelkurbelmessbrücke ausge-
bildet, wobei der Feinabgleich durch gekoppelte Veränderung der Widerstände R1 und R3
erfolgt. Die Widerstände R3 und R4 sind immer ≥ 10 Ω, so dass die Zuleitungseinflüsse
zwischen Rx und R4 bzw. RV und R3 meist vernachlässigt werden können. Die Brücken-
widerstände sind aus einer Kupfer-Mangan-Nickel-Legierung Cu86Mn12Ni2 bzw. Werk-
stoffnummer 21.362 (Manganin®) gefertigt. Sie besitzen einen sehr kleinen Temperaturko-
effizienten von etwa 10−5 K−1 und extreme Langzeitkonstanz. Alle Kontakte und Kontakt-
bahnen sind versilbert, alle Kontaktflächen hartsilberplattiert. Mit der Thomson-Brücke ist
eine absolute Messgenauigkeit von ±2 10−9 Ω erreichbar.
Die für die Messungen vorgesehenen Proben werden vermessen und anschließend mit
Stromzuführungen versehen. Mit Schneiden, die auf die Proben in definiertem Abstand
aufgesetzt werden, wird der Spannungsabfall über Rx abgenommen und der Brücke zuge-
führt. Da an der Probe vier Zuleitungen angeschlossen werden, wird dies Verfahren auch
als „Vierleitermessung“ bezeichnet.
Der Brückenabgleich erfolgt gemäß der obigen Beschreibung über die Einstellung der
verstellbaren Widerstände, bzw. Widerstandskaskaden. Die dazu erforderlichen Wider-
standswerte werden abgelesen und der Berechnung des unbekannten Widerstandes Rx
zugrunde gelegt. Um sich mit den Einstellungen vertraut zu machen, wird zunächst ein
bekannter Widerstand vermessen.
Die Messungen bei erhöhten Temperaturen erfolgen in einem geeigneten Flüssigkeits-
bad.
Mit den Probenabmessungen wird der spezifische elektrische Widerstand berechnet.
Diskutiert werden Einflüsse von Werkstoff, Werkstoffvorgeschichte und Temperatur auf
den spezifischen Widerstand.
13.4 Symbole, Abkürzungen 115
Literatur
14.1 Grundlagen
Die metallographische Untersuchung unlegierter Stähle setzt die Kenntnis des in Abb. 14.1
gezeigten metastabilen Zustandsdiagrammes Eisen-Eisencarbid voraus. Dieses gibt eine
Übersicht über die Temperatur-Konzentrations-Bereiche, in denen bestimmte Phasen
auftreten. Vereinbarungsgemäß werden einzelne Punkte des Zustandsdiagrammes durch
große lateinische Buchstaben gekennzeichnet. Gleichgewichtslinien lassen sich daher auch
durch Folgen dieser Buchstaben eindeutig festlegen. Den wichtigen Punkten P, I, S, E
und C des Diagramms kommen die Kohlenstoffmasse-%/Temperatur-Kombinationen
0,02 % / 723 °C, 0,25 % / 1489 °C, 0,8 % / 723 °C, 2,1 % / 1147 °C und 4,3 % / 1147 °C zu. I
heißt peritektischer Punkt, HIB peritektische Gerade, C eutektischer Punkt, ECF eutekti-
sche Gerade. S wird als eutektoider Punkt und PSK als eutektoide Gerade bezeichnet. Da
es bei Zustandsdiagrammen üblich ist, die Schmelze ebenfalls mit S abzukürzen, tritt der
gleiche Buchstabe mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen auf.
Bei 1489 °C unterliegen alle Legierungen mit Kohlenstoffkonzentrationen zwischen H
und B der peritektischen Umwandlung:
bei der die krz-δ-MK zusammen mit Schmelze in kfz-γ-MK übergehen. Alle Legierungen
mit Kohlenstoffgehalten zwischen E und F schließen ihren Erstarrungsvorgang bei 1147 °C
mit der Reaktion
ab, bei der sich Schmelze in kfz-γ-MK und orthorhombisches Eisencarbid Fe3 C mit ei-
nem Kohlenstoffgehalt von 6,69 Masse-% umwandelt (eutektische Reaktion). Der γ-MK,
bei dem die Kohlenstoffatome auf Oktaederlücken des kfz-Gitters eingelagert sind (vgl.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 117
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
118 14 V14 Metallographie unlegierter Stähle
Abb. 1.4, V1), wird auch als Austenit bezeichnet. Das eutektisch entstehende Gemenge aus
γ-MK und Fe3 C heißt Ledeburit. Bei 723 °C gehen Legierungen mit größeren Kohlenstoff-
gehalten als 0,02 Masse-% schließlich gemäß
in krz-α-MK und Eisencarbid über (eutektoide Reaktion). Der α-MK, in dem die gelösten
Kohlenstoffatome Oktaederplätze der krz-Gitterstruktur einnehmen (vgl. Abb. 1.3, V1),
wird Ferrit genannt. Das sich eutektoidisch bildende Gemenge aus Ferrit und Fe3 C heißt
Perlit.
Die Konzentrationen der sich bei gegebener Temperatur innerhalb der 2-Phasengebiete
im Gleichgewicht befindenden Phasen liest man als Abszissenwerte der Geradenschnitt-
punkte T = const. (Konoden) mit den Begrenzungslinien der Phasengebiete ab. Die zuge-
hörigen Massenanteile der Phasen berechnen sich nach dem Hebelgesetz (vgl. V6).
Die eutektische und die eutektoide Umwandlung beeinflussen die Ausbildung der
Gleichgewichtsphasen in ganz charakteristischer Weise. Deshalb kann man der phasen-
mäßigen Betrachtung des Systems Fe-Fe3 C auch eine gefügemäßige gegenüberstellen.
Abbildung 14.2 zeigt die entsprechende Darstellung. Dabei wird innerhalb der zweipha-
14.1 Grundlagen 119
sigen Zustandsfelder der Zementit nach der Art seiner Entstehung unterschieden (Fe3 CI
Primärzementit, Fe3 CII Sekundärzementit und Fe3 CIII Tertiärzementit). Ferner wird das
eutektisch entstehende Phasengemenge aus Austenit und Eisencarbid als Ledeburit I
und das sich daraus während der Perlitumwandlung seiner Austenitanteile entwickelnde
Phasengemenge als Ledeburit II bezeichnet. Für die Beurteilung des Gleichgewichtsge-
füges unlegierter Stähle nach hinreichend langsamer Abkühlung auf Raumtemperatur
ist eigentlich das Fe-Fe3 C-Diagramm nur links von 2,1 Masse-% Kohlenstoff wichtig.
Aus grundsätzlichen Erwägungen wird jedoch bei den nachfolgenden Erörterungen der
gesamte Diagrammbereich bis 6,69 Masse-% C mit in die Betrachtungen einbezogen.
Oberhalb der Grenzlinien GS und SE liegen alle Legierungen mit weniger als 2,1 Mas-
se-% Kohlenstoff als homogene γ-Mischkristalle vor. Bei kleineren Kohlenstoffgehalten
als 0,02 Masse-% wandelt sich der Austenit während langsamer Abkühlung, oberhalb
723 °C vollständig in Ferrit um. Wegen der unterhalb 723 °C mit sinkender Temperatur
abnehmenden Löslichkeit des α-Eisens für Kohlenstoff verliert die Eisenmatrix bei der
Abkühlung auf Raumtemperatur Kohlenstoff, und es bildet sich Fe3 CIII als sogenann-
ter Tertiärzementit. Bei Raumtemperatur beträgt die Löslichkeitsgrenze des α-Eisens für
Kohlenstoff etwa 10−6 bis 10−7 Masse-%. Der Schliff einer Legierung mit 0,01 Masse-%
Kohlenstoff zeigt nach Abb. 14.3a durch Korngrenzen voneinander getrennte Ferritkörner
unterschiedlicher Größe und tertiären Zementit an den Korngrenzen. Mit wachsendem
Kohlenstoffgehalt kommen zu den Ferritkörnern perlitische Bereiche hinzu. Bei einer
Legierung mit 0,45 Masse-% C zeigt der Schliff nach Abb. 14.3c nur noch etwas mehr als
40 % Ferritkörner. Die restliche Schlifffläche wird von Perlitbereichen („Perlitkörnern“)
gebildet, die aus einer streifigen bzw. lamellaren Anordnung einander abwechselnder Fer-
rit- und Zementitlamellen bestehen. Wird die Legierung aus dem γ-Gebiet hinreichend
langsam abgekühlt, so bildet sich bei Unterschreiten der Linie GS zunächst Ferrit, dessen
Menge mit sinkender Temperatur auf Kosten des verbleibenden Austenits zunimmt. Bei
723 °C besteht ein Gleichgewicht zwischen etwa 45 % Ferrit mit 0,02 Masse-% C und etwa
55 % Austenit mit 0,8 Masse-% C. Unterschreitet der Austenit 723 °C, so wandelt er sich
eutektoid in Perlit um.
Die Perlitreaktion wird durch heterogene Keimbildung an den Austenitkorngrenzen
eingeleitet. Beim Wachsen in die Austenitkörner ordnen sich die Phasen Ferrit und Ze-
mentit einander abwechselnd lamellenförmig an. In der Wachstumsfront werden durch
starke Kohlenstoffdiffusionsströme die Unterschiede zwischen dem Kohlenstoffgehalt des
Austenits (0,8 Masse-%) und dem des Ferrits (0,02 Masse-%) durch die Ausscheidung von
Zementit (6,69 Masse-%) überbrückt. Der perlitisch gebildete Ferrit unterscheidet sich ent-
stehungsmäßig, nicht aber strukturell von dem längs GS gebildeten Ferrit.
Eine Legierung mit 0,8 Masse-% C zeigt nach langsamer Abkühlung aus dem γ-Gebiet
auf Raumtemperatur als Folge der bei 723 °C ablaufenden eutektoiden γ-α Umwandlung
ein rein perlitisches Gefüge. Bei einer Legierung mit 1,5 Masse-% C bildet sich dagegen
zunächst nach Unterschreiten der Linie SE an den Austenitkorngrenzen Fe3 CII (Sekundär-
zementit). Der Carbidanteil nimmt mit abnehmender Temperatur auf Kosten des Austeni-
tanteils zu, weil dessen Kohlenstoffgehalt längs der Linie ES auf den Wert von 0,8 Masse-%
120 14 V14 Metallographie unlegierter Stähle
Abb. 14.2 Das Fe-Fe3 C-Diagramm (gefügemäßige Kennzeichnung). Nur die lichtmikroskopisch
unterscheidbaren Gefügeanteile sind vermerkt
bei 723 °C abfällt. Bei Absenkung der Temperatur unter 723 °C wandelt sich der dann noch
vorhandene Austenit eutektoid in Perlit um. Nach Abkühlung auf Raumtemperatur liegt
schließlich wie in Abb. 14.3f eine Gefügeausbildung vor, bei der Carbidnetze zusammen-
hängende Perlitbereiche umsäumen. Die für einen unlegierten Stahl mit 1,5 Masse-% C
bei 1300, 910, 730 und 20 °C auftretenden Gefügezustände, die Massenanteile der bei die-
sen Temperaturen im Gleichgewicht befindlichen Phasen und die Kohlenstoffbilanzen sind
in Abb. 14.4 wiedergegeben.
14.1 Grundlagen 121
Abb. 14.3 Gefüge von unlegierten Stählen mit 0,01 (a), 0,22 (b), 0,45 (c), 0,60 (d), 1,05 (e) und
1,30 (f) Masse-% C nach langsamer Abkühlung aus dem γ-Gebiet
Für die den Gleichgewichtslinien GS, PSK und SE des Zustandsdiagrammes zukom-
menden Halte- bzw. Umwandlungspunkte (Arrêt) werden auch die Bezeichnungen A3 , A1
und Acm , benutzt. Da diese bei Abkühlung (refroidissement) und bei Aufheizung (chauffa-
ge) unterschiedlich sind und nicht mit den Gleichgewichtswerten übereinstimmen, werden
sie als Ar3 -, Ar1 - und Arcm - bzw. Ac3 -, Ac1 - und Accm -Temperaturen bezeichnet.
122 14 V14 Metallographie unlegierter Stähle
Abb. 14.4 Gleichgewichte einer Legierung mit 1,50 Masse-% Kohlenstoff bei verschiedenen Tem-
peraturen
a b
ler übereutektischer Legierungen einen Kohlenstoffgehalt von 4,3 Masse-% C. Wird also
die eutektische Temperatur von 1147 °C unterschritten, so erfolgt bei allen Legierungen
mit 2,1 bis 6,69 Masse-% C eine eutektische Umwandlung der Restschmelze. Das entste-
hende eutektische Gemenge aus γ-MK und Fe3 CI wird Ledeburit I genannt. Bei weiter
absinkender Temperatur scheidet sich aus dem Austenit, wegen seiner längs der Linie ES
abnehmenden Löslichkeit für Kohlenstoff, Sekundärzementit aus, der aber nur bei untereu-
tektischen Legierungen als gesonderter Gefügebestandteil nachzuweisen ist. Der Austenit
untereutektischer Legierungen und der Austenit im Ledeburit I aller Legierungen mit 2,1
bis 6,69 Masse-% C wandelt sich schließlich bei Unterschreiten der eutektoiden Tempe-
ratur von 723 °C perlitisch in α-Eisen und Fe3 CII um. Die aus Ledeburit I bestehenden
Werkstoffbereiche werden dabei in den Gefügezustand Ledeburit II übergeführt, der aus
Perlit und Eisencarbid besteht. Bei Raumtemperatur umfasst daher das Gefüge untereu-
tektischer Legierungen Perlit, Sekundärzementit und Ledeburit II (vgl. Abb. 14.5a), das
Gefüge übereutektischer Legierungen dagegen nur Primärzementit und Ledeburit II (vgl.
Abb. 14.5c). Eine eutektische Legierung mit 4,3 Masse-% C liegt bei Raumtemperatur in
Form von Ledeburit II vor (vgl. Abb. 14.5b).
124 14 V14 Metallographie unlegierter Stähle
bei 4,3, 2,1, 0,8 und 0,02 Masse-% Kohlenstoff ihre Größtwerte und fallen von diesen
sowohl zu höheren als auch zu kleineren Kohlenstoffgehalten hin linear ab.
14.2 Aufgabenstellung
Mehrere unlegierte unter- und übereutektoide Stähle werden austenitisiert und langsam
aus dem Austenitgebiet abgekühlt. Von diesen Werkstoffzuständen sind Schliffe herzustel-
len, die Gefüge zu beurteilen und die Kohlenstoffgehalte auf Grund der Gefügeausbildung
abzuschätzen.
14.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
15.1 Grundlagen
Werden unlegierte Stähle durch Zufuhr thermischer Energie austenitisiert und anschlie-
ßend aus dem Gebiete der γ-Mischkristalle mit hinreichend großer Abkühlgeschwindig-
keit auf Raumtemperatur abgeschreckt, so entsteht ein charakteristisches Abschreckgefüge,
dessen kennzeichnender Bestandteil als Martensit bezeichnet wird. Im Austenitgebiet, also
oberhalb der Grenzlinie GSE des Eisen-Eisencarbid-Diagramms (vgl. Abb. 14.1 und 14.2,
V14), sind die Kohlenstoffatome vollständig im kfz-Eisengitter gelöst und nehmen dort ok-
taedrisch koordinierte Lückenplätze ein (vgl. Abb. 1.3, V1). Durch die rasche Abkühlung
entsteht eine Nichtgleichgewichtsphase von größter praktischer Bedeutung.
Der austenitische Werkstoffzustand ist bei gegebener Temperatur und gegebenem
Druck durch einen Minimalwert der freien Enthalpie G charakterisiert, der wie in Abb. 15.1
von der Temperatur abhängt (Kurve A). Eine Umwandlung in eine andere Phase ist nur
möglich, wenn dieser bei gegebener Temperatur eine kleinere freie Enthalpie zukommt
als dem Austenit. Liegen z. B. die G-T-Kurven für die Phasen Ferrit (α) und Zementit
(Fe3 C) im schraffierten Bereich von Abb. 15.1, so setzt die Umwandlung in diese Phasen
erst ein, wenn die Temperaturen A3 bzw. Acm , die der Linie GSE im Fe-Fe3 C-Diagramm
entsprechen, unterschritten werden. Diese Umwandlungen laufen diffusionsgesteuert ab
und benötigen daher Zeit, so dass sie nur bei hinreichend langsamer Abkühlung aus dem
γ-Mischkristallgebiet auftreten. Das System Eisen-Eisencarbid zeichnet sich dadurch aus,
dass sich außer den genannten Gleichgewichtsphasen auch eine Nichtgleichgewichts-
phase bilden kann. Für sie ist die in Abb. 15.1 mit M bezeichnete G-T-Kurve gültig, die
gegenüber den Gleichgewichtsphasen zu höheren G-Werten verschoben ist. Diese Nicht-
gleichgewichtsphase wird als Martensit bezeichnet. Sie kann nur entstehen, wenn durch
hinreichend rasche Abkühlung des Austenits die diffusionsgesteuerte Ausbildung der
Gleichgewichtsphasen verhindert wird. Ist das der Fall, so besitzen Austenit und Martensit
bei der konzentrations- und druckabhängigen Temperatur T = T 0 die gleichen freien Ent-
halpien und sind miteinander im Gleichgewicht. Für die Einleitung der martensitischen
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 129
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
130 15 V15 Martensitische Umwandlung
ΔT = T0 − Ms (15.1)
auch für T < M f weniger als 100 Vol.-%. Die umwandlungsfreien Intervalle in den Mar-
tensitanteil-Temperatur-Kurven bei Abkühlung wachsen mit der Austenitkorngröße an.
Bei hinreichend kleiner Austenitkorngröße kann jedoch davon ausgegangen werden, dass
mit sinkender Temperatur der Martensitanteil monoton ansteigt. Nach Abschrecken auf
T u = 20 °C bzw. T u = −196 °C sind in Abhängigkeit vom Kohlenstoffgehalt die Abb. 15.3
entnehmbaren Martensit- und Restaustenitanteile zu erwarten. Der Restaustenitgehalt
lässt sich in beiden Fällen in guter Näherung beschreiben durch
mit B = 1,1 ⋅ 10−2 (°C)−1 bei T U = 20 °C und B = 7,5 ⋅ 10−3 (°C)−1 bei T U = −196 °C. B ist
von der Umwandlungstemperatur und von der Austenitisierungstemperatur sowie von der
Abkühlungsgeschwindigkeit abhängig.
Bei der martensitischen Umwandlung geht das kubisch-flächenzentrierte Austenitgitter
in ein tetragonal-raumzentriertes Martensitgitter über. Dies lässt sich in der in Abb. 15.4
wiedergegebenen Weise beschreiben.
132 15 V15 Martensitische Umwandlung
einer {110}-Ebene des virtuell vorgebildeten Martensits identisch ist. Ferner entsprechen
sich die dichtest gepackten Gitterrichtungen ⟨110⟩A und ⟨111⟩M . Der Orientierungszusam-
menhang ist also durch die nach Kurdjumov-Sachs benannte Beziehung
gegeben, die bei unlegierten Stählen oberhalb 0,5 Masse-% Kohlenstoff experimentell be-
stätigt wird.
Bei dem bei der martensitischen Umwandlung entstehenden tetragonal innen zentrier-
ten Martensit werden in Abhängigkeit vom Kohlenstoffgehalt die in Abb. 15.5 wiedergege-
benen Gitterparameter aM sowie cM gemessen. Es gilt
cM
= , + , Masse-% C. (15.4)
aM
Die gestrichelten Kurventeile sollen andeuten, dass für C-Gehalte < 0,5 Masse-% kei-
ne einheitlichen Aussagen über die Tetragonalität des Martensits vorliegen. Da die kfz-γ-
Mischkristalle dichter gepackt sind als die tetragonal raumzentrierten Martensite gleichen
Kohlenstoffgehaltes (vgl. auch V1), tritt bei der Umwandlung von Austenit in Martensit
eine Volumenvergrößerung auf. Die Korrelation der mit der Martensitbildung bei unlegier-
ten Stählen verbundenen relativen Volumenvergrößerungen sind in Abb. 15.6 dargestellt.
Als Folge der mit dem Kohlenstoffgehalt zunehmenden Tetragonalität wächst die relative
Volumenänderung an. Bei den Berechnungen wurden die Restaustenitgehalte, die nach der
martensitischen Härtung bei höheren C-Gehalten vorliegen, berücksichtigt.
Die kennengelernten strukturellen Details beeinflussen das morphologische Erschei-
nungsbild der FeC-Martensite. Abbildung 15.7 zeigt die lichtmikroskopisch beobachtbaren
Erscheinungsformen des Martensits der Stähle Ck 15, Cf 53 und 125 Cr 2. Bei kleinen C-
Gehalten (< 0,5 Masse-%) wird eine Martensitstruktur mit Paketen paralleler Latten inner-
halb ehemaliger Austenitkörner beobachtet. Die Latten sind mehrere μm lang und besitzen
Dicken von 0,1 bis 0,5 μm. Das Gefüge wird als Latten- oder Massivmartensit bezeichnet.
Bei größeren C-Gehalten zwischen 0,5 und etwa 1,1 Masse-% treten zu den lattenförmigen
134 15 V15 Martensitische Umwandlung
Tab. 15.1 Strukturelle und morphologische Kennzeichnung des Martensits unlegierter Stähle mit
unterschiedlichen Kohlenstoffgehalten
C-Gehalt Habitusebene Orientierungs- Typ Feinstruktur
[Masse-%] beziehung
< 0,5 {111}A bzw. ? Massivmartensit Pakete paralleler Latten in
{123}M ⟨111⟩M -Richtung mit hoher
Versetzungsdichte (1011 bis
1012 cm/cm3 )
0,5 bis 1,1 {225}A bzw. Kurdjumov-Sachs Mischmartensit Nebeneinander Latten (mit
{112}M hoher Versetzungsdichte)
und Platten (stark
verzwillingt), Restaustenit
> 1,1 {225}A bzw. Kurdjumov-Sachs Plattenmartensit Willkürlich angeordnete
{112}M und linsenförmige
{225}A bzw. Martensitplatten und
{112}M Restaustenit, Platten
verzwillingt, Zwillingsebene
{112}M
a b c
Abb. 15.7 Martensitgefüge unlegierter Stähle. a Massivmartensit (Ck 15), b Mischmartensit (Cf 53),
c Plattenmartensit (125 Cr 2)
Werden reine FeC-Legierungen hinreichend lange bei T > A3 bzw. Acm (vgl. V14) aus-
tenitisiert und anschließend rasch auf 20 °C abgeschreckt, so zeigen sie auf Grund der
erörterten strukturmechanischen Gegebenheiten in Abhängigkeit vom gelösten Kohlen-
stoffgehalt die in Abb. 15.8 wiedergegebenen Härtewerte. Zwischen 0,1 und 0,5 Masse-%
Kohlenstoff ist in guter Näherung der Zusammenhang
erfüllt. Bei etwa 0,7 Masse-% C treten maximale Härtewerte von etwa 66 HRC auf. Bei
größeren Kohlenstoffgehalten fallen die HRC-Werte wegen der anwachsenden Restauste-
nitanteile kontinuierlich ab.
15.2 Aufgabe
Proben aus C 40 sind auf Temperaturen von 760, 820 und 980 °C, Proben aus C 130 auf
Temperaturen von 820, 980 und 1080 °C zu erwärmen, dort 30 min zu halten und anschlie-
136 15 V15 Martensitische Umwandlung
15.3 Versuchsdurchführung
Für die Wärmebehandlungen stehen zwei kleine Laborsalzbadöfen zur Verfügung. Die Tie-
geleinsätze bestehen aus hitzebeständigem Stahl. Die Öfen werden zunächst auf 820 und
980 °C eingestellt. Je zwei der gekennzeichneten Kleinproben aus C 40 und C 130 werden
in die Salzbäder eingetaucht. Nach 30 min werden die Proben mit Zangen den Salzbädern
entnommen und ohne Verzögerung in einem auf Raumtemperatur befindlichen Ölbad ab-
geschreckt. Der Salzbadofen mit der niederen (höheren) Temperatur wird dann auf 760 °C
(1080 °C) abgekühlt (aufgeheizt). Nach Erreichen der Solltemperaturen wird eine C 40
(C 130) Probe in das auf 760 °C (1080 °C) erwärmte Salzbad eingetaucht, 30 min gehalten
und anschließend ebenfalls in Öl von 20 °C abgeschreckt. Danach werden von den Proben
Schliffe angefertigt. Die Ätzbehandlung erfolgt bei C 40 mit 2 %-iger, bei C 130 mit 6 %-iger
Salpetersäure. Die Schliffe werden beurteilt. Von den Gefügezuständen werden ergänzende
Makro- und Mikrovickershärten bestimmt (vgl. V8 und V25).
15.4 Symbole, Abkürzungen 137
Weiterführende Literatur
[Vöh77] Vöhringer, O., Macherauch, E.: Struktur und mechanische Eigenschaften von Martensit.
HTM Härterei-Techn. Mitt. 32(4), 153 (1977)
[Nis78] Nishiyama, Z.: Martensitic Transformation. Academic Press, London (1978)
[Kna56] Knapp, H., Dehlinger, U.: Mechanik und Kinetik der diffusionslosen Martensitbildung. Acta
Metallurgica 4, 289–297 (1956)
V16 Phasenanalyse mit Röntgenstrahlen
16
Seit der Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Wilhelm Conrad Röntgen 1895 haben
sich die Methoden der Röntgendiffraktometrie stark weiterentwickelt und haben seit et-
wa 1960 in der Werkstofftechnik zunehmend an Bedeutung gewonnen. Hierbei wird die
Wechselwirkung von Röntgenstrahlung, welche eine charakteristische Wellenlänge in der
Größenordnung der Abmessungen von Kristallgittern besitzt, mit den Atomen ausgenutzt.
Mit den Methoden der Röntgendiffraktometrie kann eine Vielzahl von Werkstoffeigen-
schaften charakterisiert werden wie z. B.: qualitative und quantitative Phasenanalyse, Git-
terstruktur- und Gitterkonstantenbestimmung, Eigenspannungen und Texturen.
Die Beschreibung der geometrischen Bedingungen für die Beugung an einer Netzebe-
nenschar (vgl. V1) wurde 1912 von W. L. Bragg geliefert (Abb. 16.1).
Fällt wie in Abb. 16.1 ein Röntgenstrahl I 0 mit der Wellenlänge λ unter dem Winkel θ
auf Gitterebenen mit dem Abstand D und den Miller’schen Indizes {hkl}, dann tritt unter
dem Winkel 2θ gegenüber I 0 der abgebeugte Strahl 1. Ordnung auf, wenn die Bragg’sche
Bedingung:
D sin(θ) = λ (16.1)
erfüllt ist. Die Wegdifferenz der von benachbarten Atomen abgebeugten Strahlen beträgt
dann gerade eine Wellenlänge. Man erkennt, dass der Beugungsvorgang formal als eine Re-
flexion des primären Röntgenbündels an den betrachteten Gitterebenen beschrieben wer-
den kann. Abgebeugte Strahlen n-ter Ordnung (n > 1) treten auf, wenn der Einfallwinkel
θ so verändert wird, dass die Wegdifferenz zwischen I 0 und I das n-fache der Wellenlänge
erreicht. Dann gilt
D sin(θ) = n ⋅ λ. (16.2)
a
D = . (16.3)
h + k + l
Damit folgt aus den Gln. 16.1 und 16.3:
λ
sin (θ hkl ) = ⋅ [h + k + l ] . (16.4)
a
Die bei der Röntgenbeugung an einer Pulverprobe oder allgemein an einem polykris-
tallinen Werkstoff auftretende Interferenzerscheinung erläutert Abb. 16.2.
Die von den regellos orientierten Kristalliten gebeugten Strahlungsintensitäten treten
gleichzeitig auf Debye-Scherrer Kegeln mit den Öffnungswinkeln 4θ {hkl}, symmetrisch
zum Primärstrahl auf.
In der Praxis wird häufig nur ein Bruchteil der Diffraktionskegel gemessen. Das inzwi-
schen meistverbreitete Verfahren beruht auf computergesteuerten Röntgendiffraktometern
nach dem Bragg-Brentano-Fokussierungsprinzip. Ein solches Röntgendiffraktometer ist in
Abb. 16.3 schematisch dargestellt.
Die vom Brennfleck B der Röntgenröhre R ausgehende Strahlung gelangt durch die
Aperturblende Bl 1, die den Öffnungswinkel des Primärstrahlenbündels begrenzt, auf die
im Zentrum des Diffraktometers drehbar angebrachte Probe P. Beim Drehen der Probe
mit einer definierten Winkelgeschwindigkeit tastet die Primärstrahlung nacheinander alle
günstig orientierten Kristallite in den oberflächennahen Probenbereichen ab und reflek-
tiert bei Erfüllung der Bragg’schen Bedingung unter Winkeln (2θ)i die von Netzebenen
16.1 Grundlagen der Röntgendiffraktometrie 141
{hkl}i der vorhandenen Phasen. Die abgebeugte Strahlung gelangt quasi-fokussiert in den
Detektor De, wenn dieser sich mit doppelter Winkelgeschwindigkeit wie die Probe auf
dem Messkreis Me bewegt. Der Brennfleck der Röntgenröhre, die Probenoberfläche in
der Probenachse und die Detektorblende liegen auf dem sog. Fokussierungskreis F. Die im
Detektor in elektrische Impulse umgewandelten Röntgenquanten werden von der Steue-
rungselektronik an den Computer weitergeleitet und anhand der vom Hersteller gelieferten
Software dargestellt und aufgezeichnet. Man erhält dann ein Beugungsdiagramm welches
die Intensität des gemessenen Signals über den Winkel 2θ darstellt.
Verschiedene Arten von Detektoren existieren. Es wird von Punkt-, Linear-, und Flä-
chendetektoren gesprochen, je nach Größe des aktiven Messfensters. Punktdetektoren
(z. B. Szintillationszähler) können nur einen sehr kleinen 2θ Bereich gleichzeitig erfassen
und sind in der Höhe ebenfalls begrenzt. Lineardetektoren, sogenannte ortsempfindliche
Detektoren (OED), ermöglichen dagegen die Erfassung von großen 2θ Bereichen (von 3
bis 120° 2θ) und sind ebenfalls begrenzt in der Höhe. Flächendetektoren können große 2θ
Winkelbereiche gleichzeitig erfassen und ermöglichen durch ihre Höhe die gleichzeitige
Betrachtung eines großen Teils des Diffraktionskegels (gemessen werden Abschnitte der
Debye-Scherrer-Ringe, welche später in der Höhe aufintegriert werden). Je nach Anwen-
dung kommen verschiedene Detektorarten zum Einsatz.
142 16 V16 Phasenanalyse mit Röntgenstrahlen
Dabei ist Ri {hk} eine durch mehrere physikalische Parameter bestimmte Größe und
A(2θ) der Absorptionsfaktor abhängig vom Beugungswinkel 2θ. Bei hinreichend dicken
Proben, wie man sie üblicherweise für röntgenographische Restaustenitbestimmungen
benutzt, wird A unabhängig vom doppelten Braggwinkel 2θ.
16.2 Quantitative Phasenanalyse 143
Tab. 16.1 R-Faktoren und Winkellagen für verschiedene Interferenzen von Martensit und Restaus-
tenit
Strahlung
Interferenz
Phase CrKα MoKα
{hkl}
R ⋅ 10−48 °2θ R ⋅ 10−48 °2θ
Martensit {110} 102,0 68,8 1721,0 20,2
Martensit {200} 23,0 106,0 283,0 28,7
Martensit {211} 227,0 156,1 549,0 35,3
Restaustenit {111} 77,2 66,8 1294,0 19,7
Restaustenit {200} 36,6 79,1 624,0 22,8
Restaustenit {220} 57,1 128,5 388,0 32,4
Restaustenit {311} – – 428,0 38,2
Besteht die gehärtete Stahlprobe ausschließlich aus Martensit (M) und Restaustenit
(RA), so gilt demnach für die Restaustenitinterferenzen
{hkl } {hkl }
IRA = RRA AVRA (16.6)
{hkl } {hkl }
IM = RM AVM . (16.7)
Vol.-%
VRA = {hk l } {hk l }
. (16.9)
IM R RA
+ {hk l } {hk l }
I RA RM
Zur Restaustenitbestimmung ist also mindestens die Registrierung von je einer Interfe-
renzlinie (hkl) des Martensits und des Restaustenits erforderlich. Die Winkellagen geeig-
neter Interferenzen für Messungen mit CrKα- bzw. MoKα-Strahlung sowie die benötigten
R-Faktoren sind in Tab. 16.1 zusammengestellt. R-Faktoren sind abhängig vom gelösten
Kohlenstoffgehalt. Die in Tab. 16.1 angegebenen Werte gelten für Kohlenstoffgehalte zwi-
schen 0,4 und 0,8 Masse-%.
Üblicherweise werden jedoch für Restaustenitbestimmungen meistens vier Interferen-
zen registriert, und zwar jeweils zwei Martensit- und zwei Restaustenitinterferenzen. Auf
Grund der Angaben in Tab. 16.1 bieten sich z. B. bei Messungen mit MoKα-Strahlung die
144 16 V16 Phasenanalyse mit Röntgenstrahlen
Kombinationen
{} {} {} {}
IM RRA IM RRA
{} {} {} {}
(16.10)
IRA RM IRA RM
{} {} {} {}
IM RRA IM RRA
{} {} {} {}
(16.11)
IRA RM IRA RM
an. Die daraus berechneten V RA -Werte werden gemittelt und liefern den gesuchten
Restaustenitgehalt.
16.3 Aufgabe
An Proben aus 100Cr6, die für 20 min bei verschieden Temperaturen austenitisiert und
dann abgeschreckt wurden, sind röntgenographisch die Restaustenitgehalte zu bestimmen.
Als Strahlungsart ist MoKα-Strahlung oder CrKα-Strahlung zu verwenden (vgl. V5). Aus-
zuwerten sind die Interferenzen M {200}, M {211}, RA {220} und RA {311} für MoKα-
Strahlung, bzw. RA {200} für CrKα-Strahlung.
16.4 Versuchsdurchführung
Abbildung 16.4 zeigt die Intensität (Impulse pro Sekunde) in Abhängigkeit vom Winkel 2θ,
wie sie im Bereich einer Interferenzlinie vorliegt. Der Phasenanalyse muss jeweils die Net-
tointensität der Interferenzlinie, die der Fläche SL entspricht, zugrunde gelegt werden. Dazu
ist von der durch die Fläche SL + SU gegebenen Gesamtintensität die durch SU bestimmte
Untergrundintensität abzuziehen.
16.5 Symbole, Abkürzungen 145
Weiterführende Literatur
[Glo-85] Glocker, R.: Materialprüfung mit Röntgenstrahlen, 5. Aufl. Springer, Berlin (1985)
[Hab-66] Habraken, L., de Brouwer, J.L.: DeFerri Metallographia I. Presses Académiques Européen-
nes, Brüssel (1966)
[Din-08] Dinnebier, R.E., Billinge, S.J.L.: Powder Diffraction, Theory and Practice. The Royal society
of chemistry, Cambridge (2008)
[Spi-05] Spieß, L., Schwarzer, R., Behnken, H., Teichert, G.: Moderne Röntgenbeugung. Vie-
weg+Teubner, Wiesbaden (2005)
V17 Gefüge von Gusseisenwerkstoffen
17
17.1 Grundlagen
Masse-% C
SC = (17.1)
, − , Masse-% Si − , Masse-% P
in γ-MK und Graphit. Dieses Gemenge wird Graphiteutektikum I genannt. Aus den γ-
MK entsteht bei sinkender Temperatur wegen ihrer längs E′ S′ abnehmenden Löslichkeit
für Kohlenstoff weiterer Graphit CII , der sich an den primären und an den eutektisch ent-
standenen Graphitteilchen anlagert. Nach Unterschreiten der eutektoiden Temperatur von
738 °C zerfallen alle vorhandenen γ-MK mit 0,7 Masse-% C gemäß
in α-MK und eutektoiden Graphit. Dadurch geht das Graphiteutektikum I in das Gra-
phiteutektikum II über. Bei weiterer Temperaturabsenkung nimmt dann lediglich noch
der Kohlenstoffgehalt des Ferrits im Graphiteutektikum II ab, wodurch sich etwas CIII
17.1 Grundlagen 149
Abb. 17.2 Das Fe,C-Diagramm (gefügemäßige Kennzeichnung). Nur die lichtmikroskopisch unter-
scheidbaren Gefügeanteile sind vermerkt
bildet. Das Schliffbild bei Raumtemperatur (vgl. Abb. 17.3a) lässt aber nur die groben pri-
mären Graphitlamellen und die eutektisch entstandenen feineren Graphitlamellen erken-
nen. Eine eutektische Legierung mit 4,25 Masse-% C geht dagegen unmittelbar aus dem
schmelzflüssigen Zustand in das Graphiteutektikum I über. Die Erstarrung erfolgt in sog.
eutektischen Zellen aus Austenit und Graphit, die sich, ausgehend von Kristallisations-
keimen, nebeneinander aus der Schmelze bilden. Die eutektischen Zellen wachsen, bis
ihre Grenzen aufeinander stoßen. Ihre mittlere Größe hängt daher von der Anzahl der
Kristallisationskeime ab. Bei Unterschreiten von 738 °C wandeln sich die im Eutektikum
enthaltenen γ-MK gemäß Gl. 17.3 in Ferrit und eutektoiden Graphit um. Nach Abkühlung
auf Raumtemperatur, die mit geringer CIII -Bildung verbunden ist, liegt dann insgesamt
die aus Abb. 17.3b ersichtliche eutektische Anordnung von Ferrit und Graphit vor. Bei ei-
ner untereutektischen Legierung bilden sich bei Erreichen der Liquiduslinie BC′ aus der
Schmelze zunächst primäre γ-MK. Dadurch reichert sich die Restschmelze an Kohlenstoff
an. Nach Temperaturabsenkung besitzt bei 1153 °C die Restschmelze 4,25 Masse-% und
der γ-MK-Anteil 2,0 Masse-% Kohlenstoff. Nach Unterschreiten der eutektischen Tem-
peratur zerfällt die Restschmelze nach Gl. 17.2 in das eutektische Gemenge aus Graphit
und Austenit (Graphiteutektikum I). Bei weiterer Temperaturabsenkung scheidet sich aus
dem primär entstandenen γ-MK Kohlenstoff in Form von Sekundärgraphit aus. Gleich-
zeitig verliert auch der eutektisch entstandene Austenit Kohlenstoff. Bei jeder Temperatur
150 17 V17 Gefüge von Gusseisenwerkstoffen
Abb. 17.3 Graphitausbildung bei übereutektischen (a), eutektischen (b) und untereutektischen (c)
FeC-Legierungen
zwischen 1153 und 738 °C bestimmt die Löslichkeitsgrenzlinie S′ E′ den in den γ-MK vor-
liegenden Kohlenstoffgehalt. Bei 73 S° wandeln sich die primären γ-MK bei Unterschreiten
der Linie P′ S′ K′ eutektoid in α-MK und Graphit um. Der eutektoide Graphit lagert sich an
die bereits vorhandenen Graphitlamellen an, so dass die Bereiche ehemaliger γ-MK im Ge-
füge als graphitfreie Ferritbereiche zu erkennen sind. Gleichzeitig geht auch der γ-MK des
Graphiteutektikums I in α-MK und Graphit über, und es entsteht das Graphiteutektikum II.
Nach weiterer Abkühlung auf Raumtemperatur, während der noch etwas CIII gebildet wird,
liegt dann ein ferritisches Gusseisen mit ungleichmäßig verteilten Graphitlamellen vor. Ein
Beispiel zeigt Abb. 17.3c.
Wie eingangs erwähnt, wird die Umwandlung von Gusseisenwerkstoffen nach dem sta-
bilen System durch hinreichend hohe Si-Zusätze zu den FeC-Legierungen begünstigt. Von
großer praktischer Bedeutung ist, dass man bei Gusseisenlegierungen durch gezielte Beein-
flussung der Abkühlbedingungen den bei Raumtemperatur auftretenden Gefügezustand
beeinflussen kann. Abbildung 17.4 fasst die grundsätzlich bestehenden Möglichkeiten zu-
sammen. Im oberen Bildteil ist das Zustandsdiagramm für einen praxisnahen Siliziumge-
halt mit drei charakteristischen Temperaturbereichen I, II und III angedeutet. Wie man
sieht, wird durch den Silizium-Zusatz die Form und Größe der Zustandsfelder sowie die
Kohlenstoffkonzentration des Graphiteutektikums verändert, und es treten zusätzliche Zu-
standsfelder auf. Im unteren Bildteil sind, je nach Abkühlungsbedingung, die in diesen
Temperaturbereichen vorliegenden Phasen vermerkt. Erfolgt die Abkühlung so, dass die
eutektische und die eutektoide Reaktion nach dem stabilen System Fe,C ablaufen, so er-
hält man, wie den bisherigen Erörterungen zugrunde gelegt, ferritisches Gusseisen. Wenn
die eutektische Reaktion nach dem stabilen System Fe,C, die eutektoide Reaktion dage-
gen nach dem metastabilen System Fe,Fe3 C abläuft, so entsteht, wie im mittleren unteren
Teil von Abb. 17.4 angedeutet, anstelle eines ferritischen ein perlitisches Gusseisen mit la-
mellenförmiger Graphitausbildung. Läuft die eutektoide Umwandlung teilweise nach dem
metastabilen und teilweise nach dem stabilen System ab, so bildet sich ein ferritisch-per-
litisches Gusseisen. Eine sehr hohe Abkühlgeschwindigkeit führt schließlich – wie im lin-
ken unteren Teil von Abb. 17.4 vermerkt – zur Erstarrung und Umwandlung nach dem
17.1 Grundlagen 151
Abb. 17.4 Zum Einfluss unterschiedlicher Abkühlbedingungen auf die Gefügeausbildung bei unter-
eutektischen Fe-C-Si-Legierungen
metastabilen System und liefert weißes (ledeburitisches) Gusseisen. Ein weiterer wichti-
ger Gesichtspunkt ist, dass die Art der Graphitausbildung auch stark von keimbildenden
Substanzen und damit von der Schmelzvorbehandlung sowie von weiteren Legierungsele-
menten abhängig ist. Bei hohen Phosphorgehalten schließt sich beispielsweise der Graphit
nesterförmig zusammen. Durch Zusatz kleiner Mengen an Magnesium oder Cer bildet
152 17 V17 Gefüge von Gusseisenwerkstoffen
Abb. 17.5 Ferritisches Gusseisen mit Lamellengraphit (a), Vermiculargraphit (b) und Kugelgra-
phit (c)
sich der Graphit nicht mehr lamellen- sondern kugelförmig aus. Es entsteht Gusseisen mit
Kugelgraphit. Durch Zusätze von Cer und geeignete Schmelzführung kann man auch die
Ausbildung von wurmförmigen Graphitanordnungen erreichen. Auf diese Weise erhält
man sog. Gusseisen mit Vermiculargraphit. In Abb. 17.5 sind entsprechende Gefügeaus-
bildungen von ferritischem Gusseisen mit Lamellengraphit (GJL, früher GG), mit Vermi-
culargraphit (GJV, früher GGV) und mit Kugelgraphit (GJS, früher GGG) gezeigt.
17.2 Aufgabe
Gegeben sind Proben aus Gusseisen mit Lamellengraphit mit den Sättigungsgraden
SC = 0,80, 0,98 und 1,1, von denen jeweils eine relativ rasch, die andere relativ langsam
aus dem schmelzflüssigen Zustand auf Raumtemperatur abgekühlt wurde. Die Gefügeaus-
bildung dieser Werkstoffe ist zu untersuchen und an Hand vorliegender Gefügerichtreihen
zu beurteilen.
17.3 Versuchsdurchführung
Abb. 17.6 Richtreihe für die Graphitanordnung von Gusseisen mit Lamellengraphit. Die einzelnen
Graphitarten werden als A-Graphit, B-Graphit usw. angesprochen
Weiterführende Literatur
[Jäh71] Jähnig, W.: Metallographie der Gußlegierungen. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1971)
[Mit78] Mitsche, R.: Anwendung des Rasterelektronenmikroskopes bei Eisen- und Stahlwerkstoffen.
Radex Rundschau 3/4(575), 890 (1978)
[VDG62] VDG-Merkblatt P441, Richtreihen zur Kennzeichnung der Graphitausbildung, CDG, Düs-
seldorf (1962-08)
V18 Quantitative Gefügeanalyse
18
18.1 Grundlagen
Aufgabe der quantitativen Gefügeanalyse ist es, das Gefüge von Werkstoffen und ihre mög-
lichen Veränderungen durch geeignete Parameter quantitativ zu charakterisieren. Sie trifft
Aussagen über die Art und Menge der durch Grenzflächen (Korngrenzen bzw. Phasen-
grenzen) voneinander getrennten Gefügebestandteile sowie über ihre geometrischen Para-
meter (Größe, Form, Verteilung und Orientierung). Als Gefügebestandteile versteht man
u. a. Phasen und Phasenmischungen (bspw. Ferrit, Austenit, Perlit), Ausscheidungen (bspw.
Carbide), Einschlüsse (bspw. Sulfide, Oxide), Partikel, Poren, usw. Zu den grundlegenden
Parametern zur Beschreibung der Charakteristika von Gefügebestandteilen gehören ihr
Volumen, ihre Oberfläche sowie ihre Krümmung bzw. Form beschreibende Größen. Diese
Grundparameter werden auf das Messvolumen bezogen, man misst also die Dichten dieser
Kennwerte, d. h. bspw. Volumenanteil oder spezifische Grenzfläche. Aus ihnen leiten sich
weitere Kenngrößen ab.
In der Werkstoffkunde liegen überwiegend opake, d. h. lichtundurchlässige Werkstoffe
vor, so dass hauptsächlich Auflichtpräparate in Form ebener Schliffe mittels Reflexionsmi-
kroskopie untersucht werden. Um aus ebenen Schliffen Informationen über den räumli-
chen Aufbau von Gefügebestandteilen zu erhalten, werden stereologische Methoden ange-
wendet. Die Stereologie behandelt die Beziehung zwischen Schnitten durch dreidimensio-
nale geometrische Körper und den Körpern selbst und liefert mathematische Zusammen-
hänge zwischen Messgrößen am zweidimensionalen Schliff und der dreidimensionalen
Beschaffenheit der Gefügebestandteile (wie z. B. die Saltykov’sche Methode der zufälligen
Schnittlinien, das Delesse-Prinzip der Gleichheit von Volumen-, Flächen- und Linearan-
teilen oder das Cauchy-Theorem (Fläche der Projektion eines konvexen Körpers beträgt
ein Viertel seiner Oberfläche)). Stereometrische Methoden sind die Flächen-, Linien- und
Punktanalyse (siehe Abb. 18.1).
Um unabhängig vom Messumfang zu sein, werden die Messgrößen mit ihrer jeweiligen
Bezugsgröße normiert (bspw. mit der Messfläche AT , der Linienlänge LT oder der Punktan-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 155
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
156 18 V18 Quantitative Gefügeanalyse
zahl im Punktgitter PT ). So gilt bspw. für den Flächenanteil AA = Am /AT mit Am als die ge-
messene Fläche der Anschnitte der Gefügebestandteile oder für die Anzahl Schnittpunkte
pro Messlinienlänge PL = Pm /LT mit Pm als die gezählten Schnittpunkte. Der Index kenn-
zeichnet die jeweilige Bezugsgröße (A, L, oder P). Üblich sind folgende Bezeichnungen:
Volumen V, Fläche A, Oberfläche S, Länge L, Anzahl Teilchen N, Anzahl Schnittpunkte P.
Mit der Flächenanalyse können also die drei Größen „Fläche pro Fläche AA, Länge (Um-
fang) pro Fläche LA und Anzahl pro Fläche N A “, mit der Linearanalyse die zwei Größen
„Länge (Sehnen) pro Länge LL und Schnittpunkte (mit Grenzflächen) pro Länge PL bzw.
Anzahl (geschnittener Teilchen) pro Länge N L “ gemessen werden; mit der Punktanalyse
kann nur die Anzahl Trefferpunkte PP des Punktgitters bestimmt werden. Daraus ergeben
sich einige in der Praxis wichtige Gefügeparameter [Exn86a, Exn86b]:
• der Volumenanteil V V
VV = A A = L L = PP , (18.1)
• die spezifische Grenzfläche SV
S V = PL , (18.2)
• die mittlere Teilchengröße l
l = VV /N L , (18.3)
• der mittlere Teilchenabstand D
( − VV ) ⋅ ( − VV )
D= = , (18.4)
NL SV
• die Sphärizität F Sph
π VV ⋅ N A
FSph =
⋅ . (18.5)
PL
l entspricht bei einphasigen Gefügen mit V V = 1 der mittleren Korngröße (vgl. V11).
18.1 Grundlagen 157
Voraussetzung für die Anwendung der stereometrischen Methoden ist, dass die Probe
repräsentativ für das zu untersuchende Werkstück und das Gefüge isometrisch, d. h. unab-
hängig von Position und Orientierung im Werkstück, ist. Liegt eine Vorzugsorientierung
vor (z. B. bei verformten Körnern), sind die Methoden ggf. entsprechend zu modifizieren.
Alle o. g. stereometrischen Kenngrößen werden als „feldspezifische Parameter“ bezeich-
net, da für jedes Bild = ein Messfeld ein (mittlerer) Wert bestimmt wird. In der Praxis
werden mehrere Bilder ausgewertet und als Ergebnis Mittelwert mit Standardabweichung
und Messfeldanzahl bzw. Vertrauensbereich angegeben. Darüber hinaus kann die Analy-
se der Häufigkeiten der einzelnen Sehnenlängen aus der Linearanalyse weitere Aussagen
über die Größenverteilung der Gefügebestandteile liefern. „Objektspezifische Parameter“
hingegen werden an den einzelnen Schnittflächen der Gefügebestandteile bestimmt (siehe
Abb. 18.2), woraus sich weitere Kenngrößen zur Bewertung der individuellen Teilchenfor-
men ableiten:
Aspektverhältnis FStr = L/B (18.6)
Formabweichung (vom Kreis) FKr = π ⋅ A/U (18.7)
Formfaktor FI = L /(πA) (18.8)
Welligkeit des Randes FW = UC /U (18.9)
Die notwendigen Arbeitsschritte für eine quantitative Gefügeanalyse lassen sich in drei
aufeinander folgenden Gruppen zusammenfassen (siehe Abb. 18.3):
Abb. 18.3 Schematische Darstellung der Arbeitsschritte bei der quantitativen Gefügeanalyse
Die entsprechenden Messverfahren bzw. -geräte lassen sich einteilen in manuelle, halb-
und vollautomatische Systeme, wobei die Übergänge fließend sind. Manuelle Systeme sind
solche, bei denen die Entscheidung über die Zuordnung der Messpunkte zu bestimmten
Bildmerkmalen (Selektion) sowie alle folgenden Operationen, die zum Resultat der Ge-
fügeanalyse führen, vom Beobachter getroffen werden. Dazu gehört die Auswertung von
Gefügeaufnahmen mittels Linienschnittverfahren und Punktanalysen am Foto oder Aus-
druck der Gefügeaufnahmen, oder aber direkt am Monitor, unterstützt durch spezielle
Software. Bei halbautomatischen Geräten übernimmt der Beobachter nur die Selektion,
während alle anderen Operationen vom Gerät ausgeführt werden. Vollautomatische Geräte
führen nach einer Anpassung der Bildverarbeitungsschritte selbstständig die Gefügeana-
lyse unabhängig vom Beobachter durch.
Der grundsätzliche Aufbau eines quantitativen Gefügeanalysators geht aus Abb. 18.4
hervor. Das System umfasst stets den Bereich der Bilderzeugung, Bildaufzeichnung sowie
der Bildverarbeitung und Auswertung mit Ausgabeeinheit (Drucker).
Die Bilderzeugung erfolgt in der metallographischen Praxis meist in einem Auflicht-
mikroskop. Ein Strahlteiler leitet das vom Objektiv vergrößerte Abbild zum Okular für
die Beobachtung mit dem Auge sowie zur oben angesetzten Kamera. Die bislang üblichen
Analogkameras zur Erzeugung von Aufnahmen auf fotographischen Filmen, die anschlie-
ßend in chemischen Bädern entwickelt werden, werden heute meist durch Digitalkameras
abgelöst, die eine schnelle Bildaufzeichnung und -archivierung erlauben. Der Anschluss
der Kamera erfolgt mit Adaptern, dessen Länge so angepasst ist, dass das Mikroskopbild
auf die Bildaufnahme-Ebene der Kamera scharf abgebildet wird. Die Bildaufzeichnung in
einer Digitalkamera erfolgt mit lichtempfindlichen Sensoren. Ein CCD-Chip (CCD: char-
ge-coupled device) bspw. besteht aus einer Matrix mit lichtempfindlichen Fotodioden, die
18.1 Grundlagen 159
Digitalkamera
Digitales Bild Schnittstelle
A/D-Wandler
Bildelemente
Kameraebene Rechner
Bildspeicherung
Monitor 1 Monitor 2
Bildverarbeitung
Abbildungs-
system Okular Grafiktablett
Messung
Auswertung
Objektiv Probentisch-
x-y-z-
Probentisch steuerung (x,y)
Manipulator
Fokussierung (z)
z
x,y
„Pixel“ genannt werden (von engl. „picture elements“ abgeleitet), die nur wenige Mikro-
meter groß sind. Durch den photoelektrischen Effekt überträgt das einfallende Licht seine
Energie auf den Halbleiter, der die entstehenden Ladungen sammelt, deren Menge pro-
portional zur eingestrahlten Lichtmenge ist. Die gesammelten Ladungen werden dann in
seitliche abgedeckte Zwischenspeicherzellen verschoben, aus denen sie dann ausgelesen
werden. Derartige Kameras brauchen keinen mechanischen Verschluss, die Belichtungs-
zeit wird elektronisch geregelt. Je größer die Fläche des Chips ist, desto mehr Licht kann
eingefangen werden und desto höher ist die Empfindlichkeit. Bei Farb-Kameras werden
bspw. mittels vorgesetzten Farbfiltern für jede Farbe rot, blau, grün eigene Bildelemente
angesprochen.
Die erforderliche Pixelanzahl, um das Mikroskopbild ohne Verluste bei der lateralen
Auflösung aufzunehmen, kann aus der Mikroskopauflösung (d), vgl. V7, berechnet wer-
den mit d = λ / 2 ⋅ N.A., mit λ = Wellenlänge, N.A. = numerische Apertur des Objektives.
Umgerechnet auf die vergrößerte Abbildung auf dem Chip (d′ ) mit der Vergrößerung
M ergibt dies d′ = d ⋅ M. Das Abtasttheorem nach Nyquist besagt, dass die Abtastfre-
quenz mindestens zweimal so hoch sein muss wie die höchste vorkommende Frequenz.
Übertragen auf die Bilddigitalisierung darf die Pixelgröße des Sensors maximal halb so
groß sein wie die entsprechende vergrößerte Objektstruktur. Typische Pixelzahlen sind
2088 × 1550 pp = 3.2 Megapixel mit Pixelgrößen der Sensoren um 3 μm. Die Auflösung
der Farb- bzw. Grauwerte der Pixel wird bei der digitalen Aufzeichnung durch die Anzahl
der Stufen des Analog/Digital-Wandler bestimmt. Typisch ist eine 8-bit-Auflösung, d. h.
28 = 256 Graustufen. Allgemein leisten die Digitalkameras technisch weitaus höhere Pixel-
und Grauwertauflösungen, ausschlaggebend für Eingrenzungen sind hauptsächlich die
160 18 V18 Quantitative Gefügeanalyse
Abb. 18.5 System für die quantitative Gefügeanalyse am Lichtmikroskop (IWT Bremen, Software:
Fa. Leica). L Lichtmikroskop, K Kameras, O Objektive, T Probentisch mit xyz-Motoren, F Steuerein-
heit für Probentisch, R Rechner, G Grafiktablett
Abb. 18.6 C45 mit Ferrit und Perlit (3 prozentige alk. HNO3 ). Links oben: Graubild, links unten:
Grauwertverteilung entlang der gestrichelten Linie und Schwellwertauswahl, rechts: aufbereitetes Bi-
närbild (Schließen der hellen Bereiche im Perlit)
18.2 Aufgabe
18.3 Versuchsdurchführung
Von den Werkstoffen GJS-400-15, GJV-300 und GJL-200 (vgl. V17) werden Schliffe an-
gefertigt. Für die Durchführung des Versuches steht ein Gefügeanalysator zur Verfügung,
der sowohl halbautomatisch als auch vollautomatisch betrieben werden kann. Das Gefü-
ge der Proben wird mit einem Lichtmikroskop untersucht; pro Probe werden drei Bilder
aufgenommen und als Digitalbilder abgespeichert (siehe Bsp. in Abb. 18.7).
Nach Eingabe der entsprechenden Programme werden die benötigten Größen (AA , N L ,
N A ) berechnet und im Monitor angezeigt. Als Messzeilen werden im digitalen Bild die Bild-
zeilen verwendet. Da jedes Graphitteilchen zwei Schnittpunkte mit den Messlinien hat, ist
PL = 2 ⋅ N L . Daraus werden die in der Aufgabenstellung genannten feldspezifischen Kenn-
größen ermittelt (Mittelung über alle drei Bilder). In einer zweiten Messung des Binärbildes
werden für jedes einzelne Graphitteilchen die Parameter aus Abb. 18.2 vom Programm
automatisch bestimmt, die o. g. objektspezifischen Kennwerte berechnet und in Häufig-
keitsverteilungen dargestellt.
Trotz seines stereologisch zweidimensionalen Charakters hat sich der Formfaktor F I bei
Gusseisenwerkstoffen als ein vernünftiger Gefügeparameter der Graphitphase für die Be-
urteilung mechanischer Kenngrößen wie z. B. des Elastizitätsmoduls (vgl. V29) oder der
0.2 %-Dehngrenze und der Zugfestigkeit (vgl. V23) erwiesen. Ähnliche objektspezifische
Parameter werden auch für eine vollautomatische Bewertung der Größe und Form von
Graphitteilchen in Gusswerkstoffen herangezogen, um sie entsprechend der Normvorga-
ben, z. B. nach [ISO 945], zu klassifizieren.
∑ Li
i
LT = . (18.11)
M
Die Ergebnisse der manuellen und halbautomatischen Messung sind zu vergleichen und
zu diskutieren.
164 18 V18 Quantitative Gefügeanalyse
Literatur
Verwendete Literatur
[Exn86] Exner, H.E., Hougardy, H.P.: Einführung in die Quantitative Gefügeanalyse. DGM-Infor-
mationsgesellschaft, Oberursel (1986)
[Exn93a] Exner, H.E., et al.: Quantitative Beschreibung der Gefügegeometrie – Eine praktische An-
leitung zu manuellen Verfahren, Teil I und II. Prakt. Metallogr. 30, 216–226 (1993)
[Exn93b] Exner, H.E., et al.: Quantitative Beschreibung der Gefügegeometrie – Eine praktische An-
leitung zu manuellen Verfahren, Teil IV und V. Prakt. Metallogr. 30, 322–333 (1993)
[ISO 945] DIN EN ISO 945, Mikrostruktur von Gusseisen – Teil 1: Graphitklassifizierung durch
visuelle Auswertung (ISO 945-1:2008); Deutsche Fassung EN ISO 945-1:2008
Weiterführende Literatur
[Exn94] Exner, H.E.: Quantitative Description of Microstructures by Image Analysis. In: Cahn, R.W.,
Haasen, P., Kramer, E.J. (Hrsg.) Characterization of Materials, Part II Materials Science and Techno-
logy, Bd. 2B, S. 281–350. VCH, Weinheim (1994)
[Ond94] Ondracek, G.: Werkstoffkunde, 4. Aufl. Expert Verlag, Grafenau (1994)
[Ohs04] Ohser, J.: Quantitative Gefügeanalyse. In: Schumann, H. (Hrsg.) Metallographie, 14. Aufl.,
S. 250–284. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig (2004). Kap. 2.4
[Sal74] Saltvkov, S.A.: Stereometrische Metallographie. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1974)
[Sch85] Schmidt, K., et al.: Gefügeanalyse metallischer Werkstoffe. Hanser, München (1985)
V19 Transmissionselektronenmikroskopie
von Werkstoffgefügen 19
19.1 Grundlagen
beschleunigt. In Gl. 19.1 ist e die Elementarladung, m die Elektronenmasse und U die Be-
schleunigungsspannung. Aufgrund der de Broglie-Beziehung kann den Elektronen eine
Wellenlänge von
√ √
h h m
λ= = ≈ − [m] (19.2)
mv m eU U
zugeordnet werden. In Gl. 19.2 taucht zusätzlich zu den in Gl. 19.1 genannten Größen
noch das Plancksche Wirkungsquantum h auf. Wird die Spannung U in Volt angegeben,
so liefert der rechte Teil von Gl. 19.2 eine Wellenlänge mit der Maßeinheit m. Bei einer
Beschleunigungsspannung von U = 100 kV beträgt die Wellenlänge λ ≈ 4 ⋅ 10−12 m und ist
damit etwa zwei Größenordnungen kleiner als die für Feinstrukturuntersuchungen be-
nutzten Röntgenstrahlen (vgl. V5). Bei kristallinen Präparaten führt deshalb die Erfüllung
19.1 Grundlagen 169
der Bragg’schen Interferenzbedingung dazu, dass ein Teil des primären Elektronenstrah-
les abgebeugt und von der Objektivaperturblende aufgefangen wird. Wegen der kleinen
Elektronenwellenlängen treten sehr kleine Beugungswinkel auf. Der Anteil des Elektro-
nenstrahlbündels, der das Objektiv direkt durchsetzt, liefert ein vergrößertes Zwischenbild,
das bei der in Abb. 19.1 zugrunde gelegten Anordnung durch die Zwischen- und die Pro-
jektivlinse auf die Endgröße abgebildet wird.
Ein Beispiel für das elektronenmikroskopisch erzielbare Auflösungsvermögen zeigt
Abb. 19.2. Dort ist das TEM-Bild einer Galliumnitridgitterstruktur wiedergegeben.
Bei der elektronenmikroskopischen Abbildung entstehen die Bildkontraste hauptsäch-
lich durch die Wechselwirkung der Elektronen mit den Objektatomen. Bei amorphen Ob-
jekten treten die Elektronen mit den Atomkernen des Objektes in elastische Wechselwir-
kung und werden an diesen gestreut. Abbildung 19.3a deutet an, wie die Aperturblende in
der hinteren Brennebene der Objektivlinse die gestreuten Elektronen abfängt. Die unter-
schiedliche Streuung der Elektronen im Objekt, die mit der Ordnungszahl, der Dicke und
der Dichte des Objektmaterials zunimmt, bewirkt auf diese Weise einen Streuabsorptions-
kontrast. Weist z. B. der Objektbereich B eine höhere Dichte als die Umgebung A auf, so
erscheint er im Bild als dunkler Streifen.
Die bei der Durchstrahlung kristalliner Objekte entstehenden Kontraste sind jedoch
weitgehend auf Beugungskontrast zurückzuführen. In Abb. 19.3b ist für eine Hellfeldab-
bildung skizziert, wie die unter dem Winkel 2θ abgebeugten Wellen in der hinteren Brenn-
ebene des Objektives von der dort angeordneten Aperturblende abgefangen werden. An
den Stellen des Objektes, an denen die Bragg’sche Gleichung erfüllt ist, ergeben sich da-
her auf hellem Untergrund dunkle Bereiche. Kippt man den Kondensor oder verschiebt
man die Aperturblende, so wird erreicht, dass nur das abgebeugte Strahlenbündel zur Bild-
170 19 V19 Transmissionselektronenmikroskopie von Werkstoffgefügen
Abb. 19.3 Strahlengang bei der Abbildung amorpher und kristalliner Objekte im Hell- und Dun-
kelfeld
entstehung beiträgt, und man erhält dann – wie in Abb. 19.3c und d angedeutet – hell
abgebildete Bereiche auf dunklem Untergrund. In diesen Fällen spricht man von Dunkel-
feldabbildung.
Ein typisches Beispiel für wirksamen Beugungskontrast stellt die TEM-Abbildung von
Versetzungen (vgl. V2) dar. Abbildung 19.4 zeigt anschaulich, welche Kontrasterschei-
nungen zu erwarten sind, wenn im Objekt Stufenversetzungen mit unterschiedlicher
Orientierung gegenüber dem primären Elektronenstrahl vorliegen. Offenbar tritt dann
kein Beugungskontrast auf, wenn von keiner der Netzebenen die Bragg-Bedingung erfüllt
wird (Fall A). Treten nahe des Versetzungskerns aber Netzebenen mit exakter Bragg-Lage
auf, so ist maximaler Kontrast zu erwarten, und zwar je nach Orientierung auf unterschied-
lichen Seiten der Versetzungslinie (Fall B und C). Die Versetzungen werden also letztlich
über die mit ihnen verbundenen Gitterverzerrungen abgebildet. Die Kontraststärke ist
beurteilbar mit Hilfe des Skalarproduktes
g⃗ ⋅ ⃗
b = n. (19.3)
Dabei ist g⃗ ein spezieller Gittervektor, der normal auf den Ebenen steht, an denen die
Bragg-Beugung des primären Elektronenstrahlbündels erfolgt. ⃗ b ist der Burgersvektor, der
bei Stufenversetzungen in der Gleitebene senkrecht zur Versetzungslinie orientiert ist (vgl.
V2). Die Beugungstheorie zeigt, dass g⃗⋅ ⃗
b = zu minimalem Kontrast führt. g⃗ und ⃗ b stehen
dann senkrecht zueinander (Fall A). Sind g⃗ und ⃗ b gleich orientiert ist der Kontrast maxi-
mal (Fall B und C). Die Abbildbarkeit der Versetzungen hängt also von ihrer Orientierung
19.1 Grundlagen 171
zum Primärstrahl ab. Diese einfachen Betrachtungen sind für aufgespaltene Versetzungen
(Teilversetzungen) in kfz- und krz-Gittern zu modifizieren.
Weitere wichtige Beispiele für die Ausnutzung des Verzerrungskontrastes bei TEM-
Abbildungen stellen Objekte mit kohärenten, teilkohärenten und diskontinuierlichen Aus-
scheidungen dar, wenn bei diesen die sie umgebenden Spannungsfelder für die Kontrastbil-
dung dominant sind. Eine Orientierungsabweichung aus der exakten Bragg-Lage kann für
planparallel begrenzte Objektfolien auch auftreten, wenn diese gebogen sind. Man macht
sich leicht klar, dass dann nur an einzelnen (bei symmetrischer Folienverbiegung an zwei)
Stellen streifige Biegekontraste auftreten, die meist als Biege- bzw. Spannungskonturen an-
gesprochen werden. Sie werden stark von dem vorliegenden Spannungszustand bestimmt.
Neben dem bisher besprochenen Verzerrungs- bzw. Beugungskontrast, tritt bei der
Durchstrahlung kristalliner Folien noch ein Extinktions- bzw. Längenkontrast auf. Dieser
beruht darauf, dass die Intensitäten des durchgehenden und des abgebeugten Elektronen-
bündels innerhalb des Objektes nicht voneinander unabhängig sind. Schematisch liegen
unter bestimmten Bedingungen die in Abb. 19.5 skizzierten Verhältnisse vor. Die gesamte
Intensität des Elektronenstrahles pendelt als Folge von Beugungs- und Streuungseffekten
zwischen durchgehendem und abgebeugtem Strahl hin und her. Die Oberflächenentfer-
nung, in der die gesamte Primärstrahlintensität erstmals wieder voll im durchgehenden
Strahl zu finden ist, wird Extinktionslänge genannt. Sie hängt vom lokal vorliegenden
Streuvermögen des Objektmaterials für die Elektronenstrahlung ab und ist umso größer,
je kleiner die Wellenlänge und je kleiner der Bragg-Winkel ist.
Damit wird klar, dass beim Durchstrahlen von Objekten unterschiedlicher Dicke (keil-
förmige Proben) streifenartige Kontrasterscheinungen auftreten, deren Abstand durch die
Extinktionslänge bestimmt wird. Aber auch Korngrenzen, Zwillingsgrenzen und Stapel-
fehler bilden sich streifenförmig ab, wobei die Streifen jeweils parallel zur Oberflächenspur
dieser Grenzflächen liegen. Lokale Atomanhäufungen, wie z. B. bei kohärenten Ausschei-
172 19 V19 Transmissionselektronenmikroskopie von Werkstoffgefügen
dungen ohne Spannungsfeld, ändern ebenfalls die Extinktionslänge, so dass auch bei kon-
stanter Objektdicke extinktionsbedingte Kontrasterscheinungen auftreten können.
Alle Kontrasterscheinungen bei TEM-Untersuchungen lassen sich auf die beschriebe-
nen Grundphänomene des Verzerrungs- und des Extinktionskontrastes zurückführen.
Diese treten allerdings nur in seltenen Fällen alleine auf. Meistens liegt eine Überlagerung
beider Kontrasttypen vor. Abbildung 19.6 gibt beispielhaft für einige charakteristische
mikrostrukturelle Details verschiedener Werkstoffe die zugehörigen TEM-Aufnahmen
wieder.
19.2 Aufgabe
Von Proben aus reinem Kupfer und CuZn30, die einachsig zügig 2 % und 10 % plastisch bei
Raumtemperatur verformt werden, ist die Verformungsstruktur elektronenmikroskopisch
zu untersuchen.
19.3 Versuchsdurchführung
Abb. 19.6 Einige Beispiele von TEM-Aufnahmen. a 100Cr6 Perlit mit kugeligen Carbiden,
b 100Cr6 Bainitnadeln mit eingelagerten parallel orientierten Carbidlamellen, c 100Cr6 Marten-
sitnadeln mit feinen Carbidausscheidungen ohne bevorzugte Orientierung, d AlMg15Si8Cu2 mit
Korngrenze und Versetzungen, e X153CrMoV12 mit Korngrenze und darin eingelagerten Vanadi-
umcarbonitriden
lyten) werden so gewählt, dass nahe der Lochränder über genügend große Bereiche ein
keilförmiger Materialabtrag erfolgt und somit durchstrahlbare Werkstoffdicken entstehen.
Die endgedünnte Folie wird nach Abspülen des Elektrolyten in das TEM gebracht und nahe
der Lochränder untersucht.
174 19 V19 Transmissionselektronenmikroskopie von Werkstoffgefügen
Weiterführende Literatur
20.1 Grundlagen
Unter Metallographie versteht man die Untersuchung, Beschreibung und Beurteilung des
Gefüges metallischer Werkstoffe. Dabei wird zweckmäßigerweise unterschieden zwischen
dem aus dem schmelzflüssigen Zustand entstandenen Primärgefüge (Gussgefüge) und dem
nach weiteren Umform- und/oder Wärmebehandlungsprozessen vorliegenden Sekundär-
gefüge (Umform-, Umwandlungsgefüge). Beide Gefügehauptgruppen sind voneinander
abhängig. Primär- und Sekundärgefüge lassen sich makroskopisch, mikroskopisch und
submikroskopisch betrachten und bewerten (vgl. V7, V14, V17 u. V19).
Makroskopische Beobachtungen erfolgen visuell, mit Lupen oder mit Mikroskopen un-
ter kleiner Vergrößerung. Sie umfassen die Untersuchung von Gussstrukturen, Blockseige-
rungen, Lunkern, Blasen, Grobkornzonen, Einschlüssen, Rissen sowie Umform- bzw. Ver-
formungsstrukturen. Als Beispiel ist in Abb. 20.1 der Längsschnitt durch eine geschmiedete
Kurbelwelle aus 41Cr4 gezeigt. In den gegossenen Rohlingen bildet sich nach der Schmie-
deverformung ein anätzbarer Faserverlauf aus, den man der Endform des Bauteils optimal
anzupassen versucht. Durch den Schmiedeprozess werden die in dem primären Gussge-
füge enthaltenen nichtmetallischen Einschlüsse, Dendriten, Seigerungen sowie Korngren-
zenverunreinigungen gestreckt und ordnen sich zeilenförmig an (primäres Zeilengefüge).
Wegen der dadurch hervorgerufenen lokal unterschiedlichen Anätzbarkeit des Bauteils
entstehen die „Fasern“.
Mikroskopische Gefügeuntersuchungen (vgl. V7 und V11) vermitteln direkte Aussa-
gen über die Art, Form, Größe und gegenseitige Anordnung der Körner sowie ggf. auch
über deren Orientierung (vgl. V10). Dazu ist stets die Anfertigung von Schliffen mit ge-
eignet orientierten Schnittebenen durch das interessierende Werkstoffvolumen erforder-
lich. Ein Beispiel zeigt Abb. 20.2. Dort ist die räumliche Gefügeausbildung eines warm-
gewalzten Halbzeuges aus dem Vergütungsstahl 42CrMo4 wiedergegeben. Sie ist durch
bandförmig nebeneinanderliegende ferritische und perlitische Werkstoffbereiche (sekun-
däres Zeilengefüge) charakterisiert. Durch das Warmwalzen im Austenitgebiet ordnen sich
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 175
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
176 20 V20 Gefügebewertung
20.2 Aufgabe
Für eine durch Warmumformen hergestellte Schraube aus C 45 ist an Hand eines die
Schraubenachse enthaltenden Längsschnittes das Makrogefüge zu beurteilen. Für Schaft
und Kopf der Schraube sind mikroskopische Gefügebewertungen vorzunehmen.
178 20 V20 Gefügebewertung
20.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen stehen Trenn-, Schleif- und Poliervorrichtungen sowie Mikro-
skopiereinrichtungen zur Verfügung. Die Schraube wird längs geschnitten und danach
eine Hälfte in Kunstharz eingebettet. Von der verbliebenen Schraubenhälfte werden aus
dem Kopf und aus dem Schaft kleine Werkstoffbereiche herausgetrennt und ebenfalls ein-
gebettet. Danach erfolgt die Schleif- und Polierbehandlung der für die lichtmikroskopi-
schen Untersuchungen vorgesehenen Teile. Die Schraubenhälfte wird nach dem Polieren
mit Fry’schem Ätzmittel (vgl. Tab. 20.1) makrogeätzt und danach mit einem schwach ver-
größernden (10-fach) Binokularmikroskop betrachtet. Die Schaft- und Kopfbereiche wer-
den nach dem Polieren mit 2 %-iger alkoholischer Salpetersäure geätzt und anschließend
bei 100-bis 500-facher Vergrößerung in einem Metallmikroskop untersucht.
Weiterführende Literatur 179
Weiterführende Literatur
[Hab66] Habraken, L., de Brouwer, J.L.: De Ferri Metallographia I. Presses Académiques Européen-
nes, Brüssel (1966)
[Pok67] Pokorny, A.J.: De Ferri Metallographia III. Berger-Levrault, Paris (1967)
[Ros77] Rostoker, W., Dvorak, M.J.: Transmission Electron Microscopy of Materials. Wiley & Sons,
New York (1979)
[Schr66] Schrader, A., Rose, A.: De Ferri Metallographia III. Stahleisen, Düsseldorf (1966)
[Schu04] Schumann, H., Oettel, H.: Metallographie, 14. Aufl. Wiley-Vch, Weinheim (2004)
V21 Topographie von Werkstoffoberflächen
21
21.1 Grundlagen
Aus Werkstoffen werden durch Gießen, Umformen oder Ver-, Be- und Nachbearbeitungs-
vorgänge Bauteile oder Prüflinge mit den verschiedenartigsten geometrischen Formen her-
gestellt, deren Oberflächen herstellungs- bzw. bearbeitungsspezifische Merkmale aufwei-
sen. Im Gegensatz zu idealen Oberflächen, die eindeutig durch ihre geometrische Form
gekennzeichnet werden können und keine mikrogeometrischen Unregelmäßigkeiten auf-
weisen, besitzen technische Oberflächen eine mehr oder weniger ausgeprägte Feingestalt.
Formen und Höhen der Oberflächengebirge oder Topographien der technischen Oberflä-
chen sind oft von ausschlaggebender Bedeutung für die Funktionstüchtigkeit, die Möglich-
keit von Nachbehandlungen, die Festigkeit und das Aussehen von Bauteilen. Erwähnt seien
in diesem Zusammenhang nur die Passungsfähigkeit sowie das Reibungs- und Verschleiß-
verhalten gepaarter Teile, die Güte von Oberflächenbeschichtungen und das mechanische
Verhalten unter schwingender Beanspruchung. Es besteht daher eine große Notwendigkeit
an objektiven Kriterien zur Kennzeichnung und Beurteilung technischer Oberflächen. Die
ideal gedachte (durch die Konstruktionszeichnung festgelegte) Begrenzung eines Bauteils
wird geometrische Oberfläche (Solloberfläche) genannt. Die fertigungstechnisch erzielte
Gestalt der Bauteilbegrenzung heißt technische Oberfläche (Istoberfläche). Ist- und Soll-
oberflächen weichen bei realen Werkstoffoberflächen voneinander ab. Man spricht von
Gestaltabweichungen verschiedener Ordnung. Diese werden in DIN 4760:1960-07 in sechs
unterschiedliche Kategorien unterteilt. Im Folgenden wird nur auf die geometrische Fein-
gestalt technischer Oberflächen (die Gestaltabweichungen 3. bis 5. Ordnung) eingegangen.
Grundsätzlich bestehen mehrere Möglichkeiten zur Kontrolle der Gestaltabweichung
von Werkstoffoberflächen. Zu einen können senkrecht (Abb. 21.1) oder schräg zur geome-
trischen Oberfläche Schnitte durch das Oberflächengebirge gelegt werden, die das Pro-
fil der lokal vorliegenden Topographie unvergrößert und vergrößert wiedergeben (Pro-
filschnitte). Zum anderen sind Schnitte parallel zur geometrischen Oberfläche möglich,
die die Oberflächenbegrenzung der in der Höhe liegenden Werkstoffbereiche liefern (Flä-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 181
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
182 21 V21 Topographie von Werkstoffoberflächen
chenschnitte). Die Beschreibung technischer Oberflächen erfolgt, durchweg mit Hilfe von
Profilschnitten. Liegen längs eines solchen Profilschnittes keine groben Gestaltabweichun-
gen (z. B. Welligkeiten) vor, so ist das gemessene Profil P(lp) mit dem Rauhigkeitsprofil
R(lr) identisch.
Die Profilkenngrößen sind nach DIN EN ISO 4287:2010-07 an der Einzelmessstrecke
(lr) definiert. Die Rauheitskenngrößen werden zunächst auf der Basis der Einzelmessstre-
cke berechnet. Soweit nichts anderes angegeben wird, ergibt sich der Wert der Rauheits-
kenngröße durch Mitteln der Ergebnisse von (direkt hintereinanderliegenden) Einzelmess-
strecken.
lr
Ra = ∫ ∣Z(x) ∣dx (21.1)
lr
ist das arithmetische Mittel der Ordinatenwerte des Rauheitsprofils innerhalb der Ein-
zelmessstrecke lr. Er stellt die mittlere Abweichung des Profils von der mittleren Linie
dar (Abb. 21.2).
Der Mittenrauwert kann nicht zwischen Spitzen und Riefen unterscheiden, ebenso we-
nig kann er verschiedene Profilformen erkennen. Abbildung 21.3 zeigt drei Profile mit
recht unterschiedlichen Strukturen, die trotzdem fast denselben Ra-Wert aufweisen.
21.1 Grundlagen 183
ist der quadratische Mittelwert der Profilabweichung. Rq ist ähnlich definiert wie Ra,
reagiert aber empfindlicher auf einzelne Spitzen und Riefen. Bedeutung erlangt Rq bei
der statistischen Betrachtung eines Oberflächenprofils, wobei p(Z) die Verteilung der
Ordinatenwerte und der Rq-Wert sich aus der zugehörigen Standardabweichung σ der
Profilhöhenverteilung gibt (Abb. 21.4).
3. Größte Höhe des Profils Rz
ist die Summe aus der Höhe der größten Profilspitze Zp und der Tiefe des größten
Profiltales Zv innerhalb einer Einzelmessstrecke. Rp beschreibt die Höhe der größten
Profilspitze Zp und Rv die Tiefe des größten Profiltales Zv innerhalb der Einzelmessstre-
184 21 V21 Topographie von Werkstoffoberflächen
cke. Zp1 und Zv1 beschreiben in Abb. 21.5 diese eine bestimmte Höhe der Profilspitze
bzw. Tiefe des Profiltales.
4. Mittlere Höhe der Profilelemente Rc
m
Rc = ∑ Zt i (21.3)
m i=
Für die praktischen Untersuchungen technischer Oberflächen wurde eine Vielzahl von
verschiedenartigen Geräten entwickelt. Um Oberflächenkennwerte zu bestimmen, werden
taktile und optische Messgeräte eingesetzt. Bei den taktilen Geräten wird die Oberfläche
mit einer Diamantspitze abgefahren. Im Gegensatz dazu arbeiten optische Messgeräte be-
rührungslos. In den meisten Fällen können optische Messgeräte eine Oberfläche wesentlich
besser auflösen. Zudem werden die Amplituden nicht durch die Geometrie der Tastspit-
ze beeinflusst. Aufgrund dieser Effekte können sich Messergebnisse, die an verschiedenen
Geräten aufgenommen wurden, unterscheiden.
Bei den taktilen Geräten sind die sog. Tastschnittgeräte am wichtigsten. Bei diesen wird
das Oberflächenprofil längs der Messstrecke mit Hilfe einer Tastnadel abgetastet, deren
Auslenkungen gemessen und ausgewertet werden. In realen Fällen gilt, dass die Rauhig-
21.2 Aufgabe 185
keitskenngrößen durch die Messstellenauswahl und die Länge der Messstrecke beeinflusst
werden. Man erhält also stets nur lokalisiert gültige Aussagen. Deshalb werden am glei-
chen Objekt meist mehrere Messungen an unterschiedlichen Stellen vorgenommen und
der Auswertung die gesamte Messstrecke zugrunde gelegt.
Optische Messgeräte arbeiten als berührungslose Messverfahren und finden ihre An-
wendung an Oberflächen, die weich sind und/oder von der Tastspitze beschädigt wer-
den können. Es gibt unterschiedliche Sensoren zur berührungslosen Messung von Rau-
heitskennwerten. Dazu zählen der Weißlichtsensor, optische Autofokus-Sensoren, Nah-
feldakustik-Taster, Interferenz-Mikroskope, Rasterelektronenmikroskope und Streulicht-
messgeräte in der Rauheitsmessung Anwendung.
21.2 Aufgabe
Von einer geschliffenen und einer gefrästen Planfläche eines Bauteils aus vergütetem C80
sollen parallel und senkrecht zur Bearbeitungsrichtung die Oberflächenprofile mit einem
Tastschnittgerät ermittelt werden. Daraus sind die Rauhigkeits- und die Welligkeitsprofile
sowie die üblichen Rauhigkeitskennwerte zu ermitteln. Die Messresultate sind für beide
Bearbeitungszustände miteinander zu vergleichen und zu diskutieren.
21.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein ähnliches Gerät wie das in Abb. 21.6 gezeigt wird zur Ver-
fügung, dessen prinzipielle Funktionsweise aus Abb. 21.7 hervorgeht. Das Gerät umfasst
eine Objekthalterung (K, P), das eigentliche Messsystem (V, T) und das Versorgungs- und
Registriergerät (R). Auf einem Kreuztisch (K) mit einem Prismenblock (P) liegt das (im
betrachteten Falle) rotationssymmetrische Bauteil (B). Ein Stativ (S) trägt das Vorschub-
gerät (V) mit dem Tastsystem (T). Je nach Solloberfläche des Messobjektes stehen unter-
schiedliche Tastsysteme zur Verfügung, die die Tastnadelhalterung auf einer zur Oberflä-
che parallel ausgerichteten Bahn führen. Die Tastspitze aus Diamant ist mit dem Kern eines
induktiven Messwertaufnehmers verbunden (Abb. 21.7).
Bei der Bewegung der Tastnadel (Radius < 3 μm, Flankenwinkel 90°, Andruckkraft
0,8 N) treten Induktivitätsänderungen und damit Verstimmungen der trägerfrequenzge-
speisten Wechselstrombrücke auf, die den Ortsänderungen der Tastnadelspitze proportio-
nal sind. Das mit dem Oberflächenprofil modulierte Messsignal wird zunächst verstärkt,
dann demoduliert und anschließend einem Schreiber sowie einem Rechnersystem zuge-
führt. Ein Anzeigeinstrument dient zur Kontrolle der Verstärkeraussteuerung. Über eine
digitale Messwertanzeige können die interessierenden Messgrößen in beliebiger Folge di-
rekt abgelesen werden. Das Registriergerät enthält zudem einen Messwertdrucker, der alle
digital angezeigten Werte bei Abruf auch auf dem Schreiberstreifen ausdruckt. Das Gerät
lässt bis zu 105 -fache Vergrößerungen des Vertikalausschlages der Tastspitze zu. Bei einer
186 21 V21 Topographie von Werkstoffoberflächen
Tastgeschwindigkeit von 0,5 mm/s sind bis zu 100-fache, bei einer Tastgeschwindigkeit
von 0,1 mm/s bis zu 500-fache Horizontalvergrößerungen möglich. Die größtmögliche
Taststrecke umfasst 32 mm.
Zunächst wird das Gerät bezüglich der Oberfläche eines Tiefeneinstellnormals justiert
und die tatsächlich vorliegende Messvergrößerung ermittelt. Dann wird das Tastsystem
21.4 Symbole, Abkürzungen 187
auf das Messobjekt aufgesetzt und das längs der Messstrecke lr vorliegende Profil P(lp)
ermittelt. Das ertastete Profil P(lp) setzt sich aus der Welligkeit W(lw) und Rauheit R(lr)
zusammen. Über ein Tiefpassfilter werden die kurzwelligen Anteile des Profilsignals P(lp)
unterdrückt, so dass es durch eine Sinusfunktion geeigneter Wellenlänge λ approximiert
werden kann, die das Welligkeitsprofil W(lw) liefert. Die Differenz
ergibt das Rauheitsprofil R(lr), das der weiteren Auswertung zugrunde gelegt wird.
Literatur
Verwendete Literatur
[DIN EN ISO 4287:2010-07] Geometrische Produktspezifikation (GPS) – Oberflächenbeschaffen-
heit: Tastschnittverfahren – Benennungen und Kenngrößen der Oberflächenbeschaffenheit
Weiterführende Literatur
[DIN 4760:1960-07] Begriffe für die Gestalt von Oberflächen
[Kie65] Kienzle, O., Mietzner, K.: Grundlagen der Typologie umgeformter metallischer Oberflächen.
Springer, Berlin (1965)
[Vol05] Volk, R.: Rauheitsmessung Theorie und Praxis, DIN Deutsches Institut für Normung e. V.
Bd. 05. Beuth Verlag GmbH, München (2005)
V22 Messung elastischer Dehnungen
22
22.1 Grundlagen
Wird ein Zugstab der Länge L0 und des Durchmessers D0 in der in Abb. 22.1 angedeuteten
Weise momentenfrei durch die Kräfte F belastet, so verlängert er sich um den Betrag
ΔL = L − L . (22.1)
Treten keine oder nur vernachlässigbar kleine plastische Verformungen (vgl. V23) auf,
so stellt sich unter der Nennspannung
F F
σn = = (22.2)
A πD
ΔL L − L
εe,l = 100 % = 100 % (22.3)
L L
ΔD D − D
εe,q = 100 % = 100 % (22.4)
D D
σn = Eεe,l (22.6)
in einer dünnen Plastikfolie eingebettet. Das Messgitter von Folien-DMS wird aus einer
dünnen auf einem Kunststoffträger befindlichen Metallfolie (Gesamtdicke etwa 25 μm) mit
Hilfe einer speziellen Photoätztechnik herauspräpariert. Die vollständige Übertragung der
Längenänderung einer Probe auf den aktiven Teil eines DMS erfordert eine günstige Kon-
struktion des DMS und vor allem eine gute Klebung mit Spezialkleber auf dem Messobjekt.
So soll z. B. das Verhältnis der Dicke von Träger zu Draht größer als 5 : 1 sein. Draht- und
Folien-DMS verändern ihren elektrischen Widerstand (vgl. V13)
L
R=ρ (22.7)
A
ΔR Δρ
=[ + + ν] εe,l = kεe,l . (22.9)
R ρ εe,l
Wenn der erste Term in der Klammer hinreichend klein ist, besteht also ein linearer Zu-
sammenhang zwischen relativer Widerstandsänderung und Längsdehnung, k ist ein Maß
für die Empfindlichkeit eines DMS. Draht-DMS haben k-Werte zwischen 1,5 und 2,5.
Die den Dehnungen proportionalen Widerstandsänderungen der DMS können mit Hil-
fe von Dehnungsmessbrücken gemessen werden, wie die Wheatstonesche Brücke, deren
Aufbau Abb. 22.4 zeigt. Der DMS wird als Widerstand Rx geschaltet. Durch Veränderung
des Regelwiderstandes R2 , bzw. des Verhältnisses von R2 : R1 wird die Brücke abgeglichen,
bis das Galvanometer G keine Spannung mehr anzeigt. Dann ist der Spannungsabfall über
192 22 V22 Messung elastischer Dehnungen
R
R X = RV . (22.10)
R
Ändert nunmehr auf Grund einer Längenänderung durch mechanische Beanspruchung
der auf den Werkstoff aufgeklebte DMS seinen Widerstand, so tritt zwischen den Brücken-
punkten C und E eine Potentialdifferenz auf, und das Galvanometer zeigt eine der Dehnung
proportionale Spannung an. Die Auflösungsgrenze der DMS liegt bei etwa 5 ⋅ 10−6 . Sie ist
aber stark von der Güte der Klebung der DMS auf dem Prüfling abhängig. Der Messbereich
üblicher DMS umfasst meist nicht mehr als etwa 5 % Totaldehnung. Da auch Tempera-
turschwankungen eine Widerstandsänderung des DMS bewirken, wird bei praktischen
Messungen meistens der Widerstand R2 als Temperaturkompensations-DMS mit auf das
Untersuchungsobjekt geklebt, und zwar so, dass er mit Sicherheit keine Dehnung erfährt.
Bei der induktiven Dehnungsmessung wird von dem in Abb. 22.5 gezeigten Differen-
tialtransformator Gebrauch gemacht. Er enthält drei Spulen, die auf einem gemeinsamen
Wickelkörper angebracht sind. Die innere Spule S, an der die Spannung U liegt, stellt die
Primärwicklung, die äußeren Spulen S1 und S2 stellen die Sekundärwicklungen des Trans-
formators dar. Die Spule S1 wird anstelle von Rx , die Spule S2 anstelle von R2 in eine Wheat-
stonesche Brücke geschaltet. Bei symmetrischer (O)-Stellung des Tauchkerns K sind die
in den Sekundärspulen induzierten Spannungen gleich groß, und die Brücke wird mit-
tels R1 abgeglichen. Eine ±-Verschiebung des Tauchkerns infolge Längenänderungen des
Messobjektes hat Unterschiede in den Teilspannungen der Sekundärspulen und damit eine
messbare Verstimmung der Brückenschaltung zur Folge. Die Ankopplung eines indukti-
ven Verlängerungsaufnehmers an einen Probestab erfolgt ähnlich wie die mechanischer
Dehnungsmesser. In Abb. 22.2 ließe sich z. B. die mechanische Messuhr direkt durch einen
induktiven Aufnehmer ersetzen. Die Auflösungsgrenze induktiver Aufnehmer ist mit der
von DMS vergleichbar. Der Totaldehnungsmessbereich ist jedoch erheblich größer. Tabel-
le 22.1 fasst einige charakteristische Merkmale der besprochenen Messmethoden zusam-
men.
22.2 Aufgabe 193
Neben den vorgestellten Messmethoden werden heute auch optische Verfahren zur Aus-
wertung eingesetzt, die mittels Laser und Detektor eine Längsverschiebung auf den Proben
aufgeklebter Markierungen bestimmen können sowie gleichzeitig eine Probenverjüngung
zur Ermittlung der Querkontraktion (sog. Laser-Extensometer).
22.2 Aufgabe
An vorbereiteten Zugstäben aus Armcoeisen, reinem Aluminium und reinem Kupfer sind
Spannungs- und Dehnungsmessungen unter elastischer Beanspruchung durchzuführen
und die Elastizitätsmoduln zu bestimmen. Die erhaltenen Kurvenanstiege sind mit denen
zu vergleichen, die sich aus Kraft-Traversenverschiebungs-Kurven ergeben und zu disku-
tieren.
194 22 V22 Messung elastischer Dehnungen
22.3 Versuchsdurchführung
Die Durchführung der Zugbelastungen erfolgt mit Hilfe einer hydraulischen Zugprüfma-
schine mit Kraftanzeige durch Neigungspendel oder einer elektromechanischen Zugprüf-
maschine. Die direkten Dehnungsmessungen werden bei Armcoeisen mit einer mecha-
nischen Messuhr, bei Aluminium mit aufgeklebten Dehnungsmessstreifen und bei Kup-
fer mit einem induktiven Messsystem durchgeführt. Für die DMS und den induktiven
Dehnungsmesser stehen geeignete Messbrücken zur Verfügung. Der k-Faktor des DMS-
Systems ist bekannt, so dass Verlängerungen bzw. Dehnungen direkt bestimmt werden
können. Für das induktive Messsystem wird zunächst mit Hilfe eines Mikrometers eine
Eichkurve aufgenommen. Zur Gewährleistung einer momentenfreien einachsigen Belas-
tung werden die Köpfe der Versuchsproben sorgfältig in winkelbewegliche Formfassungen
der Zugprüfmaschine eingehängt. Anschließend wird schrittweise belastet. Die Maschi-
nenkraft und die Anzeigen der Dehnungsmessgeräte werden bei jedem Belastungsschritt
registriert, ebenso die Gesamtverschiebung der Maschinentraverse. Die Messdaten wer-
den in Spannungen und Dehnungen umgerechnet und gegeneinander aufgetragen. Die
Steigungen der Ausgleichsgeraden durch die Messpunkte, die sich auf Grund der direk-
ten Dehnungsmessungen an den Zugproben ergeben, liefern die gesuchten Elastizitäts-
moduln.
Weiterführende Literatur
[Hof87] Hoffmann, K.: Eine Einführung in die Technik des Messens mit Dehnungsmeßstreifen. Hot-
tinger Baldwin Messtechnik, Darmstadt (1987)
[Mül71] Müller, R.K.: Handbuch der Modellstatik. Springer, Berlin (1971)
[Roh89] Rohrbach, C., Czaika, N.: Handbuch der experimentellen Spannungsanalyse. VDI, Düssel-
dorf (1989)
V23 Grundtypen von Zugverfestigungskurven
23
23.1 Grundlagen
Der Zugversuch gibt Antwort auf die Frage, wie sich ein glatter, schlanker Prüfstab eines
Werkstoffes mit der Anfangsmesslänge L0 und dem Anfangsquerschnitt S0 unter einach-
siger, momentenfreier, kontinuierlich ansteigender Zugbeanspruchung verhält. Dazu wird
die in eine Zugprüfmaschine eingespannte Probe meist mit konstanter Traversengeschwin-
digkeit verformt. Die sich einstellende Zugkraft F wird in Abhängigkeit von der in Belas-
tungsrichtung auftretenden totalen Probenverlängerung
ΔLt = Lt − L0 (23.1)
Wird dagegen der Zugstab mit der Kraft F (1) > F eS (Abb. 23.1a) beansprucht und da-
nach entlastet, so geht die totale Probenverlängerung ΔLt nicht auf Null zurück, sondern
es verbleibt eine plastische Probenverlängerung ΔLp . Die totale Längenänderung ΔLt un-
ter Zugbeanspruchung umfasst also einen elastischen Anteil ΔLe (1) (Abb. 23.1a) und einen
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 195
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
196 23 V23 Grundtypen von Zugverfestigungskurven
plastischen Anteil ΔLp (1) (Abb. 23.1a). Man spricht von elastisch-plastischer Beanspru-
chung, und es gilt allgemein
mit
ΔLe → für F → und ΔLp = L′0 − L0 > für F → . (23.3b)
Dabei ist L′ die nach Entlastung der Probe vorliegende Probenlänge.
Führt man mit Proben unterschiedlicher Abmessungen des gleichen Werkstoffes Zug-
versuche durch, so ergeben sich unterschiedliche Kraft-Totalverlängerungs-Kurven. Ab-
messungsunabhängigkeit erreicht man durch Einführung bezogener Größen. Die auf den
Probenanfangsquerschnitt S0 bezogene Zugkraft wird als Nennspannung
F
σn = , (23.4)
S0
die auf den jeweiligen Probenquerschnitt S bezogene Zugkraft wird als effektive oder wahre
Spannung
F
σ= (23.5)
S
bezeichnet. Die auf die Anfangsmesslänge bezogene totale Längenänderung
ΔLt Lt − L
εt = = (23.6)
L0 L0
23.1 Grundlagen 197
ΔLe ΔLp
εt = εe + εp = + (23.7)
L0 L0
σn σ ΔLe
≈ = εe = (23.8)
E E L0
FeS
ReS = (23.9)
S0
stellt den Werkstoffwiderstand gegen einsetzende plastische Dehnung dar. Solange σ n < ReS
ist, wird der Werkstoff praktisch nur elastisch beansprucht, und es ist εt = εe sowie εp ≈ 0.
Dabei werden die Atome jeweils soweit aus ihren Gleichgewichtslagen bewegt, wie es die
Bindungskräfte unter der wirksamen Nennspannung zulassen. Demgegenüber ist ein klei-
ner plastischer Verformungsanteil, der auf der Ausbauchung von Versetzungen (vgl. V2)
beruht, zu vernachlässigen. Erst bei σ n > ReS setzt makroskopische plastische Dehnung ein,
wobei sich innerhalb der Körner Gleitversetzungen in nicht mehr reversibler Weise über
größere Strecken bewegen. Die Zugfestigkeit
Fm
Rm = (23.10)
S0
F∣εp =, %
Rp0,2 = (23.12)
S0
198 23 V23 Grundtypen von Zugverfestigungskurven
ΔSu
Z= . (23.13)
S0
ΔLu = Lu − L0 , (23.14)
die einen Gleichmaßanteil ΔLg und einen Einschnüranteil ΔLe umfasst, auf die Anfangs-
messlänge L0 , so ergibt sich die Bruchdehnung
erfüllt ist.
Die den bisherigen Betrachtungen zugrunde gelegten Kraft-Totalverlängerungs- bzw.
Nennspannungs-Totaldehnungs-Kurven treten in dieser Form nur bei bestimmten Werk-
stoffen und bei bestimmten Werkstoffzuständen auf. Alle technisch interessanten metalli-
schen Werkstoffe besitzen einen mehr oder weniger ausgeprägten elastischen Dehnungs-
bereich mit werkstoffspezifischen Elastizitätsmoduln. Der Übergang in den elastisch-plas-
tischen Verformungsbereich erfolgt aber je nach Werkstofftyp und -zustand unterschied-
lich, und der sich anschließend einstellende Zusammenhang zwischen Nennspannung und
totaler Dehnung wird durch den Werkstoffzustand und die Verformungsbedingungen be-
einflusst. Insgesamt treten verschiedene Typen von Verfestigungskurven auf, von denen
die wichtigsten in Abb. 23.2 zusammengefasst sind.
Die Verfestigungskurve Typ I ist typisch für kfz-reine Metalle wie Aluminium, Kupfer,
Nickel und Silber sowie für austenitische Stähle und für relativ hoch angelassene Vergü-
tungsstähle (vgl. V35). Nach Erreichen von Rm ist der Nennspannungsabfall der Lokalisie-
rung der plastischen Verformung auf das Einschnürgebiet und der dadurch bedingten Ver-
minderung des tragenden Probenquerschnitts zuzuschreiben. Mit wachsender Einschnü-
rung sind zunehmend kleinere Nennspannungen zur Probenverlängerung erforderlich.
Die Typ II-Verfestigungskurve ist durch das Auftreten einer unteren Streckgrenze ReL
charakterisiert, die den Hookeschen Verformungsbereich abschließt und eine plastische
Dehnungszunahme εL ohne Nennspannungssteigerung einleitet. Die Dehnungszunahme
23.1 Grundlagen 199
Die Verfestigungskurve vom Typ III zeigt bei Erreichen von σ n = ReH (obere Streck-
grenze) einen abrupten Spannungsabfall auf ReL (untere Streckgrenze) und danach unter
Nennspannungskonstanz einen Lüdersdehnungsbereich εL . Nach Abschluss der inhomo-
genen Lüdersdeformationen nimmt die Nennspannung mit wachsender Totaldehnung zu,
bis sich die Probe nach Erreichen von σ n = Rm unter Nennspannungsabfall einschnürt und
zu Bruch geht. Derartige Verfestigungskurven werden bei unlegierten Stählen mit nicht zu
großen Kohlenstoffgehalten (vgl. V14) beobachtet.
Typ IV-Verfestigungskurven sind dadurch gekennzeichnet, dass sich an den elastischen
Verformungsbereich ein Bereich mit horizontalem Kurvenverlauf anschließt. Bis zum
Bruch wird also keine größere Nennspannung als ReS benötigt. Verfestigungskurven vom
Typ IV sind eine viel benutzte theoretische Abstraktion. Sie treten, zumindest näherungs-
weise, bei stark vorverformten Werkstoffzuständen und bei Hochtemperaturverformung
bestimmter Werkstoffe auf.
Charakteristisch für Typ V-Verfestigungskurven ist das Fehlen größerer plastischer
Dehnungen sowie eine Bruchausbildung mit sehr kleiner Bruchdehnung und -einschnü-
rung. Dieses Verhalten ist typisch für unlegierte und legierte Stähle im martensitischen
Zustand (vgl. V15).
Verfestigungskurven vom Typ VI sind durch einen meist partiell gezackten Kurven-
verlauf ausgezeichnet. Jede Zacke entspricht einem Nennspannungsabfall und damit einer
Reduzierung des gerade vorliegenden elastischen Dehnungsanteils. Gleichzeitig tritt ein
Zuwachs an plastischer Dehnung auf, und die Spannung wächst wieder an. Gezackte Ver-
festigungskurven können sehr unterschiedliche Formen besitzen. Sie treten am häufigsten
oberhalb Raumtemperatur auf und beruhen auf der Erscheinung der dynamischen Reckal-
terung (vgl. V27).
23.2 Aufgabe 201
23.2 Aufgabe
Von vorbereiteten Probestäben aus X2CrNiMo18-8-2, C10, CuZn28 und AlMg5 sind in ei-
ner elektromechanischen Zugprüfmaschine bei Raumtemperatur die Kraft-Verlängerungs-
Kurven aufzunehmen und daraus die Verfestigungskurven zu ermitteln. Vor Versuchsbe-
ginn sind die verschiedenen Möglichkeiten zur Registrierung von Kraft-Verlängerungs-
Diagrammen zu diskutieren. Die mechanischen Kenngrößen ReS , Rp0,2 , Rm , A und Z sind
zu bestimmen. Ferner ist in allen Fällen der Zusammenhang zwischen wahrer Spannung
und Totaldehnung zu berechnen.
23.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht eine ähnliche Zugprüfmaschine wie die in Abb. 23.4 gezeigte zur
Verfügung. Die Versuchsproben werden momentenfrei in die Fassungen eingespannt und
bei konstanter Traversengeschwindigkeit vc bis zum Bruch verformt.
Während des Zugversuches werden die Zugkraft über das Kraftmesssystem und die
Probentotalverlängerung mit Hilfe eines Aufsetz-Dehnungsaufnehmers registriert und auf
einem x-y-Schreiber gegeneinander aufgeschrieben (F-ΔLt -Kurve). Gleichzeitig wird mit
der an der Prüfmaschine vorhandenen Registriereinrichtung die Prüfkraft als Funktion der
Traversenverschiebung wegproportional (F-ΔZ-Kurve) bzw. mit einer Schreibergeschwin-
digkeit vs zeitproportional (F-t-Kurve) aufgezeichnet. In Abb. 23.5 ist die schematische
Form der Registrierdiagramme wiedergegeben.
Bei einer F-ΔLt -Kurve ist
xemax
xe = y, (23.19)
ymax
ΔLe xe
εe = = (23.20)
L α 1 L0
x max
εp = [xt − e y] . (23.21)
α1 L ymax
y
F= Fmax , (23.22)
ymax
23.3 Versuchsdurchführung 203
wenn F max zum Vollausschlag ymax führt. Somit wird die Nennspannung
y Fmax
σn = . (23.23)
y max S0
S ⋅ Lt = S ⋅ L0 (23.24)
y ⋅ Fmax
σ= ( + εt ) . (23.26)
ymax ⋅ S0
ΔLt ΔZt − Δs xt Δs
εt = = = − (23.30)
L L0 α 2 L0 L0
und ist nur bestimmbar, wenn Δs und somit die Nachgiebigkeit der Maschine bekannt ist.
Die plastische Dehnung ergibt sich jedoch zu
Weiterführende Literatur
[Mac78] Macherauch, E., Vöhringer, O.: Das Verhalten mechanischer Werkstoffe unter mechanischer
Beanspruchung. Z. Werkstofftechn. 9, 370–391 (1978)
[Dah76] Dahl, W., Rees, H.: Die Spannungs-Dehnungs-Kurve von Stahl. Stahleisen, Düsseldorf
(1976)
[Her95] Hertzberg, R.W.: Deformation and Fracture Mechanics of Engineering Materials, 4. Aufl.
Wiley & Sons, New York (1995)
[Aur78] Aurich, D.: Bruchvorgänge in metallischen Werkstoffen. WTV, Karlsruhe (1978)
[Dah83] Dahl, W.: Grundlagen der Festigkeit, der Zähigkeit und des Bruches. Stahleisen, Düsseldorf
(1983)
[Gas74] Gastberger, L., Vöhringer, O., Macherauch, E.: Der Einfluss von Verformungstemperatur
und Verformungsgeschwindigkeit auf die 0,2-Dehngrenzen homogener Kupfer-Aluminium-, Kup-
fer-Gallium- und Kupfer-Germanium-Legierungen. Z. Metallkde. 65, 17–26 (1974)
[DIN 50125:2009-07] Prüfung metallischer Werkstoffe – Zugproben
[DIN EN ISO 6892-1:2009-12] Metallische Werkstoffe – Zugversuch – Teil 1: Prüfverfahren bei
Raumtemperatur
V24 Temperatureinfluss auf die Streckgrenze
24
24.1 Grundlagen
Abb. 24.1 Geradlinige Gleitbänder bei CuAl8 (a) und wellige Gleitbänder bei kohlenstoffarmem
Eisen (b)
Abb. 24.2 Zusammenstellung von Verfestigungsmechanismen und der von ihnen bewirkten Werk-
stoffwiderstandsanteile und Oberflächenmerkmale
beruht darauf, dass Gleitversetzungen bei ihrer Bewegung die Eigenspannungsfelder an-
derer Versetzungen überwinden müssen. Dabei ist α 1 eine Konstante, G der Schubmodul
und b der Betrag des Burgersvektors. Die Korngrenzenverfestigung
k
ΔR2 = RKG = √ (24.4)
d
hat ihre Ursache darin, dass Korngrenzen unüberwindbare Hindernisse für die Gleitverset-
zungen eines Kornes darstellen. Hier ist d die Korngröße und k ist eine werkstoffabhängige
Konstante. Die als Folge gelöster Fremdatome auftretende Mischkristallverfestigung
beruht auf der elastischen Wechselwirkung von Gleitversetzungen mit Fremdatomen, die
in den Gleitebenen bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft der Gleitebenen im Kristallgitter
vorliegen. Dabei ist c der Fremdatomanteil in At.-% und 0,5 < n < 1,0 und α 2 eine Konstan-
te. Die Teilchenverfestigung besteht darin, dass kohärente, teilkohärente oder inkohären-
te Ausscheidungen bzw. Dispersionen als Hindernisse für die Gleitversetzungen wirksam
210 24 V24 Temperatureinfluss auf die Streckgrenze
rm
ΔR4(a) = RAus = α γeff
m
. (24.6)
l + r
γ eff ist dabei die beim Schneiden maßgebliche Grenzflächenenergie und α 3 eine Kon-
stante. Der Exponent m kann, je nach Anteil und Größe der Ausscheidungen, die Werte 1,5
oder 1,0 annehmen. Eine „geschnittene Ausscheidung“ kann wegen der mit dem Schneid-
prozess verbundenen Verkleinerung der wirksamen Hindernisfläche von nachfolgenden
Versetzungen in der gleichen Gleitebene leichter durchsetzt werden als in benachbarten
Gleitebenen. Die plastische Verformung konzentriert sich deshalb auf wenige Gleitebenen,
die relativ stark abgeschert werden. An der Oberfläche führt dies zu hohen Gleitstufen, die
einen relativ großen Abstand besitzen. Man spricht von Grobgleitung. Inkohärente Aus-
scheidungen bzw. Dispersionen, aber auch größere kohärente Ausscheidungen werden von
Gleitversetzungen nicht geschnitten, sondern umgangen. Dabei ist der Widerstand
Gb r
ΔR4(b) = RTeil = α ln (24.7)
l b
zu überwinden, wobei α 4 eine Konstante ist. Es werden Versetzungsringe erzeugt, die die
Teilchen umgeben und ihren freien Abstand l effektiv verkleinern. In der gleichen Gleit-
ebene nachfolgende Versetzungen erfahren dadurch einen größeren Widerstand als in be-
nachbarten Gleitebenen. Viele Gleitebenen werden aktiviert, jedoch vergleichsweise we-
nig abgeschert. Als Folge davon treten an der Oberfläche kleine Gleitstufen in geringem
Abstand zueinander auf. Man spricht von Feingleitung. Voneinander separierte Körner
(Teilchen) einer zweiten harten Phase wirken sich ebenfalls verfestigend und damit wi-
derstandserhöhend aus. Quantitativ gilt
k′
ΔR4(c) = Rp,k = √ , (24.8)
λ
wobei λ der mittlere freie Teilchenabstand und k′ eine Konstante ist. Voraussetzung für
die Gültigkeit dieser Beziehung ist, dass der Teilchendurchmesser um Größenordnungen
größer ist als bei der sonstigen Ausscheidungs- bzw. Teilchenverfestigung. Tritt die zwei-
te Phase in lamellarer Form auf, so bewirkt sie einen Widerstandsanteil gegen plastische
Verformung von
(d) α
ΔR4 = Rp,l = . (24.9)
λ
λ stellt dabei den mittleren Lamellenabstand und α 5 eine Konstante dar. Tritt schließlich
eine grobe Verteilung einer zweiten Phase B in einer weicheren Matrixphase A auf, so gilt
näherungsweise
ΔR4(e) = Rp,g = (RB − RA ) fB (24.10)
24.1 Grundlagen 211
mit f B als Volumenanteil der zweiten Phase. Dabei sind RB und RA die Verformungswi-
derstände der Phasen A und B, die sich aus den oben genannten Mechanismen ergeben
können. Sind die Phasenteilchen in körniger, lamellarer bzw. grober Ausbildung weniger
verformbar als die Matrix, so ist an der freien Oberfläche der Matrixkörner eine inhomo-
gene Verteilung der Gleitmerkmale zu erwarten.
Beim gleichzeitigen Auftreten verschiedenartiger Verfestigungsmechanismen kann in
vielen Fällen die sich einstellende Fließspannung näherungsweise auf Grund des Prinzips
der Additivität der Werkstoffwiderstandsanteile abgeschätzt werden. Für den Fall, dass nur
ein Widerstandsanteil j bei den Phasenverfestigungsmechanismen wirksam ist und keine
Textureinflüsse vorliegen, gilt beispielsweise für den athermischen Spannungsanteil
(j)
RG = ∑ ΔR i = RVers + RKG + RMK + ΔR4 . (24.11)
i=
Der thermische Fließspannungsanteil σ* = R* lässt sich unter Rückgriff auf die in die
Form
dεp ρgl b dL
= ε̇ = (24.12)
dt MT dt
umgeschriebene Gl. 24.2 quantitativ abschätzen. Dabei ist M T der Taylorfaktor, der den
Zusammenhang zwischen makroskopischer und mikroskopischer Verformung der Kör-
ner von Vielkristallen herstellt. Die makroskopische plastische Dehnungsänderung dεp im
Zeitintervall dt ist durch die während dt erfolgende Verschiebung von ρ gl Gleitversetzun-
gen um das mittlere Gleitwegintervall dL bestimmt. Das Zeitintervall dt umfasst einen
Anteil freier Laufzeit tL der Gleitversetzungen zwischen kurzreichenden Hindernissen so-
wie einen Anteil Wartezeit tW vor Hindernissen dieser Art. Verwendet man die Näherung
l∗
dL
dt
≈ tL −t W
unter der Verwendung des mittleren Abstands l* der kurzreichenden Hinder-
nisse, so wird
ρgl bl ∗
ε̇ = . (24.13)
MT tL + tW
Da zur Überwindung der kurzreichenden Hindernisse thermische Schwankungen bei-
tragen, ist die mittlere Wartezeit der Gleitversetzungen vor Hindernissen immer wesent-
lich größer als die Laufzeit zwischen den Hindernissen. Es gilt also tW ≫ tL . Die mittlere
Wartezeit ihrerseits ist durch die Wahrscheinlichkeit für das lokalisierte Auftreten einer
hinreichend großen Schwankung der freien Aktivierungsenthalpie ΔG gegeben, für die die
statistische Mechanik die Beziehung
kΔGT
tW = e B (24.14)
ν
212 24 V24 Temperatureinfluss auf die Streckgrenze
Abb. 24.3 F*-x-, σ*-x- bzw. R*-x-Kurven eines Versetzungshindernisses bei verschiedenen Tempe-
raturen
liefert. Dabei ist ν 0 die Debyefrequenz, kB die Boltzmannkonstante und T die absolute
Temperatur. Mit tW ≫ tL erhält man aus Gln. 24.13 und 24.14 für die Verformungsge-
schwindigkeit
− ΔG
ε̇ = ε̇ e kB T (24.15)
mit der Geschwindigkeitskonstanten ε̇ = ρ gl b l* ν 0 /M T .
Die anschauliche Bedeutung von ΔG geht aus Abb. 24.3 hervor. Dort sind für einen kurz
reichenden Hindernistyp Kraft-Abstands-Kurven wiedergegeben, wie sie Gleitversetzun-
gen bei verschiedenen Temperaturen in Hindernisnähe vorfinden. Es ist jeweils die lokal
zur Versetzungsbewegung erforderliche Kraft, die der thermischen Fließspannung σ* pro-
portional ist, in Abhängigkeit vom Ortsabstand x schematisch aufgezeichnet. Bei T = 0 K
muss die Kraft F 0 * bzw. Spannung σ 0 * zur Überwindung des Hinderniswiderstandes R0 *
aufgebracht werden, da am absoluten Nullpunkt keine thermischen Schwankungen auf-
treten. Bei den Temperaturen T 1 bzw. T 2 stehen endliche Beiträge ΔG1 bzw. ΔG2 an ther-
mischer Energie zur Hindernisüberwindung zur Verfügung, wobei wegen T 2 > T 1 auch
ΔG2 > ΔG1 ist. Die entsprechenden freien Enthalpien sind durch die schraffierten Bereiche
gekennzeichnet. Man sieht anschaulich, dass zur Überwindung der gleichen Hinderniswi-
derstände bei tieferen Temperaturen größere Kräfte F* bzw. Spannungen σ* erforderlich
sind als bei höheren. Man sieht ferner, dass mit Erreichen einer Temperatur T 0 die gesamte
Arbeit zur Hindernisüberwindung thermisch aufgebracht wird. Dann ist der thermische
Werkstoffwiderstand R* = 0 und damit auch F* = 0 bzw. σ* = 0. Die erforderliche freie Ak-
tivierungsenthalpie besitzt den Wert ΔG0 und ist für den vorliegenden Hindernistyp cha-
rakteristisch.
Aus Abb. 24.3 ist ersichtlich, dass ΔG durch F* bzw. σ* bzw. durch den thermischen
Werkstoffwiderstand R* bestimmt wird. Bei einer Reihe von metallischen Werkstoffen lässt
sich ΔG durch ein Potenzgesetz der Form
⎡
⎤n ⎡
⎤n
⎢ σ∗ m ⎥ ⎢ R∗ m ⎥
ΔG = ΔG ⎢ − ( ∗ ) ⎥ = ΔG ⎢ − ( ∗ ) ⎥
⎢ ⎥ ⎢
⎥ (24.16)
⎢ σ ⎥ ⎢ R ⎥
⎣ ⎦ ⎣ ⎦
24.1 Grundlagen 213
annähern. Für die Exponenten gilt beispielsweise m = n = 1 bei reinem Aluminium und
einigen reinen hexagonalen Metallen, m = 1/2 und n = 1 bei Titanlegierungen, m = 2 und
n = 1 bei reinem Eisen, m = 4 und n = 1 bei Kohlenstoffstählen sowie m = 2 und n = 2/3 bei
homogenen Kupferlegierungen. Setzt man Gl. 24.16 in 24.15 ein, so liefert die Auflösung
nach dem thermischen Fließspannungsanteil bzw. nach dem thermischen Werkstoffwider-
standsanteil für Temperaturen T < T 0
m
∗ T n
R = R ∗ [ − ( ) ] (24.17)
T
mit
ΔG
T = (24.18)
kB ln ε̇ε̇
und einem Werkstoffparameter R0 *. Die Zusammenfassung der Gln. 24.1 und 24.17 liefert
somit für T < T 0 als Summe des athermischen und thermischen Fließspannungsanteils
m
T n
R = RG + R ∗ [ − ( ) ] . (24.19)
T
24.2 Aufgabe
Mit vorbereiteten Zugproben aus normalisiertem C22 und rekristallisiertem CuSn2 sind
im Temperaturintervall 78 K < T < 300 K Zugversuche durchzuführen. Die Temperaturab-
hängigkeit der Streckgrenzen dieser Werkstoffe ist zu ermitteln und mit der zu vergleichen,
24.3 Versuchsdurchführung 215
24.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine Zugprüfmaschine mit einem Badkryostaten für die
Tieftemperaturverformungen zur Verfügung. Die Messanordnung hat den aus Abb. 24.6
ersichtlichen schematischen Aufbau. Das Kryostatgefäß (1) besteht aus Messing mit ein-
gelegten Kühlschlangen (2) aus Kupfer und ist außen wärmeisoliert. Die Kupferrohrleitung
wird von flüssigem Stickstoff durchströmt und kühlt das Kälteübertragungsmittel (3) und
damit die Zugprobe (4) im Behälterinneren. Die Temperaturregelung erfolgt über ein Ma-
gnetventil (5), welches bei Abweichung der über den Temperaturfühler (6) gemessenen
Isttemperatur von der Solltemperatur den Stickstoffstrom freigibt oder unterbricht. Zur
Vermeidung größerer Temperaturgradienten ist ein Rührwerk (7) tätig, welches mit der
eingesetzten Regeleinrichtung (8) die Badtemperatur auf ± 1 °C konstant hält.
Alle Versuche werden mit einer Dehnungsgeschwindigkeit ε̇ ≈ 1 ⋅ 10−4 s−1 entweder zeit-
oder wegproportional durchgeführt (vgl. V23). Die Auswertung der Maschinendiagramme
erfolgt wie in V23 beschrieben. Für den Vergleich und die Diskussion der Versuchsergeb-
nisse dienen die in Abb. 24.7a und b enthaltenen Angaben über die Temperaturabhängig-
keit der Streckgrenze der benutzten Werkstoffe.
Weiterführende Literatur
[Mac78] Macherauch, M., u. Vöhring, O.: Das Verhalten metallischer Werkstoffe unter mechanischer
Beanspruchung Zeitschrift für Werkstofftechnik 9, S. 370–391 (1978)
[Aur78] Aurich, D.: Bruchvorgänge in metallischen Werkstoffen. WTV, Karlsruhe (1978)
[Dah83] Dahl, W.: Grundlagen der Festigkeit, der Zähigkeit und des Bruches. Stahleisen, Düsseldorf
(1983)
[Gas74] Gastberger, L., Vöhring, O., Macherauch, M.: Der Einfluss von Verformungstemperatur und
Verformungsgeschwindigkeit auf die 0,2-Dehngrenzen homogener Kupfer-Aluminium-, Kupfer-
Gallium- und Kupfer-Germanium-Legierungen. Z. Metallkunde 65, 17–26 (1974)
[Got07] Gottstein, G.: Physikalische Grundlagen der Materialkunde. Springer-Verlag, Berlin (2007)
V25 Interferenzmikroskopie verformter
Werkstoffoberflächen 25
25.1 Grundlagen
Die Oberflächen von Proben und Bauteilen aus metallischen Werkstoffen sind nie voll-
kommen eben (vgl. V21). Der Unebenheitsgrad bzw. die Rauigkeit hängen entscheidend
von der Art der Umformung und der Endbearbeitung ab. So zeigt beispielsweise eine ge-
härtete Stahlprobe nach einer Schleifbehandlung eine andere Oberflächentopographie als
nach einer elektrolytischen Polierbehandlung (vgl. V7). Ein anderes Beispiel stellt die Ver-
änderung des Profils elektrolytisch polierter Proben durch plastische Verformung dar.
Die direkte Messung von Profilhöhen zwischen etwa 0,05 und 2 μm ist innerhalb klei-
ner Bereiche blanker Oberflächen mit Hilfe der Interferenzmikroskopie möglich. Dieses
Verfahren ist hochauflösend und daher für Detailuntersuchungen besser geeignet als zur
gewöhnlichen Gütebestimmung technischer Oberflächen (vgl. V21). Das Interferenzmi-
kroskop ist im Prinzip ein Zweistrahlinterferometer, bei dem zusätzlich eine Abbildung
der interessierenden Werkstoffoberfläche mit hoher Vergrößerung erfolgt. Abbildung 25.1
zeigt den optischen Aufbau eines solchen Gerätes.
Ein paralleles Lichtbündel der Wellenlänge λ fällt auf ein Scheideprisma S und wird
dort in zwei Strahlenbündel geteilt. Der eine Strahl durchsetzt das Objektiv O2 , in dessen
Brennebene sich ein Planspiegel S2 befindet, der das Licht mit einem Phasensprung von
λ/2 reflektiert und parallel zum Scheideprisma S zurückführt. Das zweite Strahlenbündel
fällt nach Durchlaufen des Objektivs O1 auf die in dessen Brennebene befindliche Objek-
toberfläche S1 . Es wird dort ebenfalls mit einem Phasensprung von λ/2 reflektiert, läuft
zum Scheideprisma zurück und interferiert mit dem vom Planspiegel reflektierten Bündel.
Das senkrecht nach oben laufende Parallelstrahlenbündel wird durch das Linsensystem L
in dessen Brennebene Z abgebildet, und zwar unter Knickung des Strahlenganges durch
das Prisma P2 . In der Brennebene überlagern „Interferenzstreifen gleicher Neigung“ das
Bild der Probenoberfläche, das mit dem Okular O1 beobachtet wird. Durch Herausdrehen
des Prismas P2 aus dem Strahlengang kann die Interferenzerscheinung im interessierenden
Oberflächenbereich auch photographisch festgehalten werden.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 219
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_25, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
220 25 V25 Interferenzmikroskopie verformter Werkstoffoberflächen
Die auftretenden Interferenzerscheinungen sind anhand von Abb. 25.2a und b zu ver-
stehen. Haben, wie in Abb. 25.2a angenommen, Objekt S1 und Spiegel S2 die Entfernungen
a1 und a2 vom Zentrum des Scheideprismas, so löschen sich die nach oben austretenden
Teilbündel bei
λ
a = a + i i = (, , , . . .) (25.1)
aus, und sie verstärken sich bei
λ
a = a + n n = (, , , . . .). (25.2)
Ändert man kontinuierlich a1 , so erscheint das Objekt im Gesichtsfeld abwechselnd
hell und dunkel, und zwar periodisch mit Δa = λ/4. Ersetzt man die bisher als eben und
25.1 Grundlagen 221
senkrecht zur optischen Achse vorausgesetzte Objektoberfläche durch eine schräg liegen-
de Oberfläche (wie in Abb. 25.2b gezeigt), so erfolgt der beschriebene Interferenzvorgang
nicht mehr zeitlich nacheinander, sondern örtlich versetzt zu gleicher Zeit. Bei a1 = a2 tritt
Verstärkung auf, bei a1 = a2 + λ/4 Auslöschung, bei a1 = a2 + 2λ/4 Verstärkung usw. Im Ge-
sichtsfeld entstehen dunkle Linien, die durch helle Streifen getrennt sind. Der Abstand der
Linien B entspricht Objektbereichen, die Höhenunterschiede von
λ λ
Δh = 2 = (25.3)
4 2
aufweisen. Arbeitet man beispielsweise mit dem grünen Licht einer Thalliumlampe mit
einer Wellenlänge von λ = 0,535 μm, so ist Δh = 0,268 μm. Man kann sich also die Inter-
ferenzstreifenentstehung so vorstellen, dass man sich senkrecht zur optischen Achse des
Mikroskops Niveauflächen im Abstand λ/2 denkt, die die Objektoberfläche in Schichtli-
nien schneiden. Die Form dieser Schichtlinien stimmt dann mit dem Verlauf der Interfe-
renzstreifen überein. In Abb. 25.3 wird dies für eine ebene und eine gefurchte Oberfläche
erläutert. Ist B die Streifenbreite und A die Streifenauslenkung an der Furchung, so ergibt
sich die Furchentiefe zu
A λ
t= ⋅ . (25.4)
B
In Abb. 25.4 sind für einen homogenen und einen heterogenen Werkstoff normale licht-
mikroskopische Aufnahmen desselben Oberflächenbereiches interferenzmikroskopischen
222 25 V25 Interferenzmikroskopie verformter Werkstoffoberflächen
gegenübergestellt. Die linken Bilder zeigen die Ausbildung von Gleitbändern in den Ober-
flächenkörnern von reinem Kupfer, das 5 % plastisch zugverformt wurde. Die rechten Teil-
bilder gehören zu einem 2 % zugverformten GJV-300 mit einem Mikrohärteeindruck in
einem ferritischen Werkstoffbereich.
25.2 Aufgabe 223
25.2 Aufgabe
Rekristallisierte und polierte Zugproben aus Cu, CuZn10, CuZn20 und CuZn30 werden
5 und 10 % plastisch gereckt und danach die im Inneren und an den Korngrenzen größe-
rer Körner auftretenden Gleitbandstrukturen untersucht. Der Zusammenhang zwischen
Gleitstufenhöhe, Verformungsgrad und Mikrohärte wird bei den einzelnen Werkstoffen
für das Innere und die Randbereiche größerer Oberflächenkörner ermittelt und diskutiert.
25.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Sch89] Schumann, H.: Metallographie, 12. Aufl. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig
(1989)
[Buc65] Buckle, E.: Mikrohärteprüfung und ihre Anwendung. Berliner Union, Stuttgart (1965)
[Tip98] Tipler, P.A.: Physik. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg (1998)
V26 Statische Reckalterung
26
26.1 Grundlagen
Unter Alterung wird bei metallischen Werkstoffen die zeit- und temperaturabhängige Än-
derung bestimmter Eigenschaften nach Verformungen sowie Wärme- und anderen Vor-
behandlungen verstanden. Man unterscheidet dabei oft zwischen natürlicher Alterung bei
Raumtemperatur und künstlicher Alterung bei höheren Temperaturen. Tritt ein Alterungs-
prozess nach Glühen und Abschrecken auf, so spricht man von Abschreckalterung. Alte-
rung nach Verformung wird als Reckalterung bezeichnet. Bei bestimmten Stählen werden
Streckgrenze, Zugfestigkeit, Bruchdehnung, Brucheinschnürung, Härte, Kerbschlagzähig-
keit, elektrische Leitfähigkeit sowie magnetische Kenngrößen wie Koerzitivkraft und Re-
manenz durch die Alterung verändert. Das Ausmaß der Änderungen hängt vom Stahltyp,
von der Auslagerungstemperatur, der Auslagerungszeit sowie bei der Abschreckalterung
von der Abschrecktemperatur und bei der Reckalterung vom Reckgrad ab. Im Folgenden
wird nur die Erscheinung der Reckalterung behandelt.
Werden unlegierte untereutektoide Stähle im normalgeglühten Zustand bei Raumtem-
peratur im Zugversuch verformt, so treten Verfestigungskurven vom Typ III (vgl. V23)
auf, die nach Überschreiten der Streckgrenze einen Lüdersbereich zeigen. Wird eine Zug-
probe über die inhomogene Lüdersdeformation hinaus verformt, entlastet und bei einer
Temperatur T größer als Raumtemperatur eine Zeit t ausgelagert, so setzt bei einer er-
neuten Zugverformung plastische Deformation erst bei einer um Δσ erhöhten Spannung
ein. Dabei kann es, wie in Abb. 26.1 angedeutet, wieder zur Ausbildung eines Lüders-
bereiches kommen. Wird dagegen nach plastischer Vorverformung entlastet und sofort
wiederbelastet, so beginnt die makroskopisch messbare plastische Verformung bei einer
etwas kleineren Spannung als der bei der Vorverformung erreichten. Es tritt kein Lüders-
bereich auf, und die Spannung nähert sich mit wachsender Verformung asymptotisch den
Werten, die sie auch ohne Versuchsunterbrechung erreicht hätte.
Trägt man die bei Raumtemperatur gemessenen Spannungserhöhungen Δσ für ver-
schiedene Alterungstemperaturen T als Funktion der Alterungszeit t auf, so erhält man
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 225
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_26, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
226 26 V26 Statische Reckalterung
ähnliche Kurven wie in Abb. 26.2. Bei kleinen Alterungstemperaturen steigt Δσ mit zu-
nehmender Alterungszeit umso stärker an, je größer T ist. Bei größeren Alterungstempe-
raturen wächst dagegen Δσ bis zu einem Höchstwert, um danach wieder abzufallen. Man
spricht von Überalterung. Dabei verschieben sich die Kurvenmaxima mit zunehmender
Alterungstemperatur zu kleineren Zeiten.
Die auftretenden Fließspannungserhöhungen beruhen auf dem vergrößerten Werk-
stoffwiderstand gegen Verformung infolge der elastischen Wechselwirkung zwischen den
im Ferrit vorhandenen Versetzungen und den interstitiell gelösten Kohlenstoff- (und Stick-
stoff-)Atomen. Im Ausgangszustand hat man davon auszugehen, dass im Verzerrungsfeld
der vorhandenen Versetzungen, insbesondere der Stufenversetzungen, alle energetisch
günstigen Plätze von Kohlenstoff- (und Stickstoff-)Atomen besetzt sind. Man spricht von
Fremdatom- oder Cottrellwolken. Sie blockieren die Versetzungen und erfordern eine
größere Spannung zur Versetzungsbewegung, als wenn sie nicht vorhanden wären. Zur
plastischen Verformung bei Raumtemperatur ist die Bewegung von Gleitversetzungen im
26.1 Grundlagen 227
Ferrit unerlässliche Voraussetzung. Dazu werden viele der blockierten Versetzungen von
ihren Fremdatomwolken losgerissen, jedoch auch neue Gleitversetzungen erzeugt. Nach
plastischer Verformung liegen also fremdatomwolkenfreie Versetzungen bei insgesamt
erhöhter Versetzungsdichte vor. Die Erhöhung des Verformungswiderstandes durch die
Alterungsbehandlung beruht dann darauf, dass sich um die Gleitversetzungen, die den
Deformationszuwachs erzeugt haben, durch Diffusion neue Cottrellwolken bilden. Ist n0
die Atomkonzentration der in der Matrix gelösten Atome und D = D0 exp(−QW /(kT)) ihr
Diffusionskoeffizient (vgl. Gl. 27.1), so wird für die Cottrell-Wolkenbildung um Stufenver-
setzungen der Dichte ρ ⊥ ein Zeitgesetz der Form
ADt
n (t) = αn ρ ( ) (26.1)
kT
erwartet. Dabei ist α eine Konstante, A eine die elastische Wechselwirkung zwischen
den gelösten Fremdatomen und den Stufenversetzungen charakterisierende Größe, k die
Boltzmannkonstante und T die absolute Temperatur. Die relative Konzentrationsände-
rung n(t)/n0 ist in erster Näherung dem zum Losreißen der Versetzungen erforderlichen
Spannungszuwachs Δσ proportional. Für ihn gilt mit α 1 als Konstante
ADt
Δσ = α ρ ( ) . (26.2)
kT
Bei konstanter Auslagerungstemperatur sollte Δσ linear mit t 2/3 , bei gleicher Auslage-
rungsdauer mit zunehmender Temperatur anwachsen. Nach Erreichen eines Sättigungs-
wertes kann es zur Bildung von Carbid- (bzw. Nitrid-)Ausscheidungen an den Versetzun-
gen kommen, die die Versetzungen nicht so stark wie die Kohlenstoff- (bzw. Stickstoff-)
Wolken verankern. Deshalb werden die Fließspannungsänderungen nach großen Alte-
rungszeiten wieder kleiner. Metallische Legierungselemente in Eisenbasislegierungen mit
hoher Affinität zu Kohlenstoff (und Stickstoff) beeinflussen die Alterungserscheinungen
entweder dadurch, dass sie Kohlenstoff (und Stickstoff) binden und damit dem Ferritgitter
entziehen oder dadurch, dass sie die Kohlenstoff- (und Stickstoff-)Diffusion verändern.
In Abb. 26.3 sind die Ergebnisse von Reckalterungsexperimenten mit einem Stahl
X12Ni18 wiedergegeben, der im martensitischen Zustand untersucht wurde. Wie man
sieht, ist bei den einzelnen Alterungstemperaturen die t 2/3 -Abhängigkeit gut erfüllt. Trägt
man die für Δσ = const. vorliegenden t-/T-Werte in einem log t−1/T-Diagramm auf,
gleicht sie linear aus und bestimmt die Aktivierungsenergie für den alterungsbestimmen-
den Prozess, so ergibt sich Q ≈ 83 kJ/mol = 0,86 eV. Dieser Wert entspricht etwa dem der
Diffusion von Kohlenstoffatomen über Oktaederlücken im krz-Gitter (vgl. V1 und V51)
des α-Eisens.
Reckalterung wird nicht nur bei Eisenbasislegierungen, sondern auch bei anderen me-
tallischen Werkstoffen beobachtet. So kann beispielsweise interstitiell gelöster Kohlenstoff
in Vanadium, Chrom, Molybdän und auch in Nickel, interstitiell gelöster Sauerstoff in
228 26 V26 Statische Reckalterung
Niob, Vanadium und Tantal sowie interstitiell gelöster Wasserstoff in Nickel Versetzungen
verankern. Aber auch substituierte Fremdatome können die Ursache von Alterungserschei-
nungen sein. Ein Beispiel stellt verformtes α-Messing dar, wo Zinkatome, die über Leer-
stellen zu Versetzungen diffundieren, diese blockieren und eine Fließspannungserhöhung
hervorrufen. Auch bei anderen Kupferbasislegierungen und bei bestimmten Aluminium-
basislegierungen werden statische Reckalterungserscheinungen beobachtet.
26.2 Aufgabe
Für Zugproben aus einem Baustahl S235JR, die verschieden weit über das Ende des Lüders-
bereiches hinaus verformt werden, sind die Fließspannungserhöhungen in Abhängigkeit
von der Auslagerungszeit für mehrere Auslagerungstemperaturen zu bestimmen.
26.3 Versuchsdurchführung
lange gealtert und anschließend bis zum Einsetzen merklicher plastischer Dehnung wei-
terverformt. Aus den dann wirksamen Zugkräften werden die zugehörigen Spannungen
berechnet und die gesuchten Δσ-Werte ermittelt. Δσ wird für verschiedene Auslagerung-
stemperaturen in Abhängigkeit von der Alterungszeit aufgetragen und diskutiert.
Weiterführende Literatur
27.1 Grundlagen
Die Verfestigungskurven bestimmter Werkstoffe (vgl. V23) zeigen bei höheren Tempera-
turen oberhalb einer kritischen plastischen Dehnung εI einen unregelmäßigen, gezack-
ten Verlauf. Als Beispiel sind in Abb. 27.1 für ferritisches Gusseisen mit Vermiculargra-
phit Verfestigungskurven mit versetztem Ordinatenmaßstab wiedergegeben, die bei un-
terschiedlichen Temperaturen und Verformungsgeschwindigkeiten ermittelt wurden. Man
sieht, dass sich der Einsatzpunkt (↓), ab welchem ein gezackter Kurvenverlauf auftritt, mit
sinkender Dehnungsgeschwindigkeit ε̇ und wachsender Temperatur T zu kleineren plasti-
schen Dehnungen verschiebt. Man bezeichnet diese Erscheinung als dynamische Reckalte-
rung oder nach ihren Entdeckern als Portevin-Le Chatelier-Effekt. Sie beruht auf der elas-
tischen Wechselwirkung von Gleitversetzungen mit diffundierenden Legierungsatomen.
Diese tritt besonders ausgeprägt auf, wenn die Diffusionsgeschwindigkeit vD der Atome,
die dem Diffusionskoeffizienten
−QW
D = D exp [ ] (27.1)
kT
v̄ = vD ∝ D (27.2)
ist. Soll bei der Zugverformung eine bestimmte plastische Dehnungsrate ε̇ von einer ver-
fügbaren Gleitversetzungsdichte ρ [cm−2 = cm/cm3 ] aufrechterhalten werden, so muss die
Bedingung
ε̇ ≈ ρv̄ (27.3)
Abb. 27.1 Zusammenhang zwischen Spannung und plastischer Dehnung für EN-GJV-300 bei ver-
schiedenen Temperaturen T (a) und verschiedenen Dehnungsraten ε̇ (b)
erfüllt sein. Aus Gln. 27.2 und 27.3 folgt somit als Voraussetzung für auftretende dynami-
sche Reckalterung
ε̇ ∝ ρD. (27.4)
Dann ist kurzzeitig die Konzentration der diffundierenden Atome um die Stufenantei-
le der Gleitversetzungen größer als im ungestörten Gitter. Die Versetzungen werden durch
diese „Konzentrationswolken“ verankert, so dass eine größere Spannung erforderlich wird,
um sie wieder loszureißen (vgl. V26). Ist dies erfolgt, so fällt die Spannung wieder ab. Der
kontinuierlichen Verfestigung, die zum Anstieg der Verfestigungskurve führt, überlagern
sich also einander abwechselnde „Losreiß- und Einfangprozesse“, an denen die diffusions-
fähigen Atome in der Nähe von Stufenversetzungen beteiligt sind.
Bei Interstitions- bzw. Einlagerungsmischkristallen, wo die Legierungsatome Gitter-
lückenplätze einnehmen (vgl. V2), lässt sich – wenn ρ ≈ ε β angenommen wird – die
Bedingung für den Beginn εi der dynamischen Reckalterung schreiben als
β −QW
ε̇ = c ρI D = c εI exp [ ]. (27.5)
kT
Dabei sind c1 und ß Konstanten. Durch Logarithmieren folgt aus Gl. 27.5
ln ε̇ = ln c + β ln εI − QW /(kT). (27.6)
Bestimmt man also aus Abb. 27.1 bei konstanter Temperatur T für verschiedene ε̇ und
bei konstanter Dehnungsrate ε̇ für verschiedene Temperaturen T die Einsatzdehnungen εI
27.1 Grundlagen 233
und trägt diese in ln εI − ln ε̇− und ln εI − /kT−Diagramme auf, so erhält man aus
∂ ln ε̇
∣ =β (27.7)
∂ ln εI T
und aus
∂ ln εI QW
∣ = , (27.8)
∂ (/(kT)) ε̇ β
woraus sich die Aktivierungsenergie QW für den einsetzenden dynamischen Reckalte-
rungsprozess berechnen lässt. Abbildung 27.2 zeigt die entsprechenden Auftragungen
für die Messdaten aus Abb. 27.1. Aus den Steigungen der Ausgleichsgeraden ergibt sich
β = 1,44 und QW /β = 0,68 eV und damit QW = 0,98 eV. QW liegt in der Größenordnung der
Aktivierungsenergie für die Diffusion der Kohlenstoffatome über Oktaederlücken in der
FeSi-Mischkristallmatrix des untersuchten Gusseisens mit Vermiculargraphit.
Bei Substitutions- bzw. Austauschmischkristallen kann die Diffusion der Legierungs-
atome nur über Leerstellen erfolgen (vgl. V2), so dass
−QW
D ≈ cL exp [ ] (27.9)
kT
−QB
cL,th ≈ exp [ ], (27.11)
kT
234 27 V27 Dynamische Reckalterung
QW
ln ε̇ = ln c + (m + β) εI − . (27.13)
kT
Jetzt sollten die Steigungen in ln εI -ln ε̇- und von ln εI -/kT-Diagrammen /(m + β)
bzw. QW /(m + β) liefern, woraus sich wiederum QW berechnen lässt. Beispiele zeigt
Abb. 27.3 für CuZn28 mit unterschiedlichen Korngrößen. Man sieht, dass εI und die Stei-
gungen der Ausgleichsgeraden mit wachsender Korngröße zunehmen. Diese Einflüsse
müssen durch verfeinerte Betrachtungen bei der quantitativen Behandlung der dynami-
schen Reckalterung in Substitutionsmischkristallen berücksichtigt werden.
27.2 Aufgabe
An Proben aus CuZn37 mit hinreichend kleiner Korngröße sind die zwischen 250 K und
310 K auftretenden dynamischen Reckalterungserscheinungen unter einachsiger Zugver-
formung zu untersuchen. Der für den Einsatzpunkt der dynamischen Reckalterung maßge-
bende Prozess ist durch seine Aktivierungsenergie zu charakterisieren und zu diskutieren.
27.3 Versuchsdurchführung 235
27.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine Zugprüfmaschine mit einem Badthermostaten zur
Verfügung (vgl. V24). Zunächst werden Zugversuche mit einer Dehnungsgeschwindigkeit
ε̇ ≈ − s− im angegebenen Temperaturintervall durchgeführt. Bei konstanter Temperatur
T = 0 °C (Eiswasser) werden anschließend mehrere Versuche mit abgestuften Dehnungs-
geschwindigkeiten zwischen − s− < ε̇ < − s− vorgenommen. Nach Ermittlung der
Einsatzdehnungen εI werden ln εI -ln ε̇ und ln εI -/(kT)-Diagramme erstellt und daraus
die zur Berechnung von QW erforderlichen Daten entnommen.
Weiterführende Literatur
28.1 Grundlagen
Abb. 28.1 Kenngrößen zur Erfassung des Bauschingereffekts bei einachsig homogener Verformung
28.2 Aufgabe
Der Bauschingereffekt ist bei Armcoeisen und Stahl C80 nach einachsiger Zug- und
anschließender Druckbeanspruchung für verschiedene Vorverformungsgrade zu untersu-
chen.
28.3 Versuchsdurchführung
an der Probe gemessen. Die Belastung erfolgt mit einer konstanten Traversengeschwin-
digkeit v = 1 mm/min zuerst in Zugrichtung bis zu einem vorgegebenen Totaldehnungs-
wert. Anschließend wird die Beanspruchungsrichtung gewechselt und die Probe bis zur
0,2 %-Stauchgrenze auf Druck beansprucht. Derartige Beanspruchungszyklen werden für
mehrere Vorverformungen wiederholt. Zur Kennzeichnung des Bauschingereffekts wer-
den zunächst die Stauchgrenzen Rp0,2 (d) bestimmt und als Funktion der totalen Zugvor-
verformung aufgetragen. Als weitere Kenngrößen werden die plastische Rückverformung
im entlasteten Zustand Δε∗p und der bezogene Sekantenmodul ES /E ermittelt und in Ab-
hängigkeit von der Vorverformung graphisch dargestellt. Die Versuchsergebnisse beider
Versuchswerkstoffe werden verglichen und Ursachen der auftretenden Unterschiede dis-
kutiert.
240 28 V28 Bauschingereffekt
Weiterführende Literatur
[Dah83] Dahl, W.: Grundlagen der Festigkeit, der Zähigkeit und des Bruchs. Stahleisen, Düsseldorf
(1983)
[Sch80] Scholtes, B.: Die Auswirkungen des Bauschingereffekts auf das Verformungsverhalten tech-
nisch wichtiger Vielkristalle, Dr.-Ing.-Diss., Universität Karlsruhe (1980)
Read More: http://www.hanser-elibrary.com/doi/ref/10.3139/146.110624
V29 Gusseisen unter Zug-
und Druckbeanspruchung 29
29.1 Grundlagen
Wird ein rekristallisierter, metallischer Werkstoff wie in Abb. 29.1 elastisch-plastisch ver-
formt und dann entlastet, so ist der durch die Steigung der Sekante durch den Lastum-
kehrpunkt U und den Entlastungspunkt 0 gegebene Sekantenmodul ES kleiner als der
bei rein elastischer Beanspruchung ermittelte Elastizitätsmodul E0 (Anfangsmodul). Verur-
sacht wird dieses Werkstoffverhalten durch plastische Rückverformungen beim Entlasten,
die auf dem Bauschingereffekt beruhen (vgl. V28). Bei Gusseisenwerkstoffen (vgl. V17) ist
die Abnahme von ES gegenüber E0 besonders stark. Verantwortlich hierfür sind Risse in
Graphitteilchen und Ablöseerscheinungen an den Grenzflächen Graphit/Matrix, die sich
während der Zugbeanspruchung bilden. Beim Entlasten schließen sich diese Hohlräume
teilweise und liefern damit zusätzliche Verformungsanteile, die ES verkleinern. Bei Druck-
beanspruchung können sich ebenfalls Ablösungen zwischen Graphit und Matrix bilden,
und zwar quer zur Beanspruchungsrichtung. Das Ausmaß dieser Erscheinungen ist jedoch
viel geringer als bei Zugbeanspruchung und die dadurch bedingte Herabsetzung von ES
entsprechend kleiner. Als Folge davon ist die Spannungsabhängigkeit des Sekantenmoduls
29.2 Aufgabe
29.3 Versuchsdurchführung
Zur Durchführung der Versuche steht eine Zugprüfmaschine ähnlich wie in V23 zur Ver-
fügung. Die Prüfkraft wird mit Hilfe einer Kraftmessdose und eines Kraftmessverstärkers,
die Dehnung mit Hilfe eines an die Probe angesetzten Verlängerungsaufnehmers und einer
Messbrücke bestimmt. Mit jeder Probe werden etwa 10 Be- und Entlastungen mit wachsen-
der Maximalkraft durchgeführt. Nach Beendigung der Experimente sind die Kraft-Verlän-
gerungs-Kurven in Spannungs-Dehnungs-Kurven umzurechnen und die Sekantenmodule
entsprechend Abb. 29.1 zu bestimmen. Anschließend wird ES als Funktion der positiven
und negativen Maximalspannung der Belastungszyklen aufgetragen.
Weiterführende Literatur
30.1 Grundlagen
Die bei Veränderungen der Temperatur durch Wärmeausdehnung oder durch Phasenum-
wandlung auftretenden Längenänderungen eines Werkstoffes lassen sich mit Hilfe eines
Dilatometers messen. Den prinzipiellen Aufbau eines solchen Gerätes zeigt Abb. 30.1.
Die Probe P mit definierten Abmessungen wird in ein Quarzrohr R eingeführt und
dort einseitig mit einem reibungsfrei gelagerten Quarzstab S verbunden. An der Probe ist
zur Temperaturmessung ein Thermoelement Th angebracht. Das Quarzrohr wird in einen
elektrischen Widerstandsofen W eingeschoben, wobei sich die entstehenden Längsabmes-
sungsänderungen der Probe auf den Quarzstab übertragen. Die Position eines festgelegten
Punktes x des Quarzstabes gegenüber einem Bezugspunkt 0 wird mechanisch, optisch bzw.
induktiv (vgl. V22) in Abhängigkeit von der Probentemperatur T als absolute Längenände-
rung ΔL der Probe gemessen. Dabei erfolgt die Registrierung des ΔL,T-Zusammenhanges
mit konstanter Aufheizgeschwindigkeit dT/dt der Probe. Die Eigendehnung des Quarz-
stabes kann wegen seines kleinen Ausdehnungskoeffizienten (α ≈ 5 ⋅ 10−7 K−1 ) bei vielen
Messungen unberücksichtigt bleiben. Liegt bei der Temperatur T 0 ein Stab der Länge L0
vor, so nimmt dieser bei Erhöhung der Temperatur auf T infolge der thermischen Ausdeh-
nung die Länge
L = L ( + αΔT + α ΔT + α ΔT ) (30.1)
an. α ist der lineare thermische Ausdehnungskoeffizient, α 1 und α 2 sind Ausdehnungs-
koeffizienten höherer Ordnung. Letztere sind bei nicht zu hohen Temperaturen bei vielen
metallischen Werkstoffen sehr klein. Dann gilt
L = L ( + αΔT) (30.2)
und es wird
L − L dL
α= = . (30.3)
L ΔT L dT
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 243
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_30, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
244 30 V30 Dilatometrie
Im Allgemeinen ist α keine Konstante, sondern nimmt mit der Temperatur zu. Meistens
lassen sich jedoch Temperaturintervalle abgrenzen, für die mit hinreichender Genauig-
keit von konstanten Ausdehnungskoeffizienten ausgegangen werden darf. Üblicherweise
werden für metallische Werkstoffe die zwischen 0 und 100 °C gültigen mittleren α-Werte
angegeben. Typische Zahlenwerte (in 10−6 K−1 ) für einige Metalle sind:
α Ag Al Cu Fe Mg Ni Sn Ti W Zn
10−6 /K 19,7 23,8 16,8 11,7 26,0 13,3 23,0 9,0 4,5 29,8
Bei der Untersuchung von Umwandlungsvorgängen überlagern sich die damit verbun-
denen Volumenänderungen jeweils den thermisch bedingten Abmessungsänderungen der
Versuchsproben. Während thermische Längenänderungen stetig verlaufende ΔL,T-Kur-
ven liefern, ergeben umwandlungsbedingte Längenänderungen unstetige. Abbildung 30.2
erläutert schematisch diesen Sachverhalt für Eisen-Kohlenstoff-Legierungen mit C-Gehal-
ten < 0,8 Masse-% (vgl. V14). Eine Reineisenprobe (Abb. 30.2a) verkürzt sich beim Über-
gang des α-Eisens in das γ-Eisen bei 911 °C sprunghaft um etwa 0,26 %. Dafür ist die
Umwandlung des kubisch-raumzentrierten α-Eisens mit einer atomaren Packungsdichte
von 68 % in das dichtest gepackte kubisch-flächenzentrierte γ-Eisen mit einer atomaren
Packungsdichte von 74 % verantwortlich (vgl. V1). Das oberhalb 911 °C stabile γ-Eisen be-
sitzt einen größeren thermischen Ausdehnungskoeffizienten (~ 20 ⋅ 10−6 K−1 ) als α-Eisen.
Bei untereutektoiden Stählen mit 0,02 < Masse-% C < 0,8 setzt, wie man dem Eisen-Eisen-
carbid-Diagramm (vgl. V14, Abb. 14.1) entnehmen kann, die γ-Umwandlung ab 723 °C
ein, ist aber je nach Kohlenstoffgehalt erst zwischen 723 °C < T < 911 °C abgeschlossen.
Dementsprechend beobachtet man Dilatometerkurven der in Abb. 30.2b schematisch wie-
dergegebenen Art. Der ΔL-Abfall bei 723 °C ist umso stärker, je mehr man sich der eutek-
toiden Legierungszusammensetzung nähert. Bei 0,8 Masse-% C zeigt die Dilatometerkurve
(Abb. 30.2c) nur noch bei 723 °C, wo die vollständige Umwandlung der gesamten Probe in
Austenit erfolgt, eine sprunghafte Längenänderung. Man ersieht aus diesen Beispielen, dass
sich die Begrenzungslinien der Zustandsfelder von Zustandsdiagrammen auf dilatometri-
schem Wege bestimmen lassen.
30.2 Aufgabe 245
Abb. 30.2 Längenänderung als Funktion der Temperatur bei Reineisen (a), unlegierten Stählen mit
C-Gehalten um 0,4 Masse-% (b) und eutektoidem Stahl (c)
30.2 Aufgabe
30.3 Versuchsdurchführung
Für die Messungen steht ein handelsübliches Dilatometer zur Verfügung. Bei dem in
Abb. 30.3 gezeigten Gerät besteht das Messsystem aus einem horizontalen Quarzrohr
mit einer seitlichen Öffnung, in die der zu untersuchende Werkstoff gelegt wird. Ein
Quarzstempel überträgt die Längenänderung der Probe einem Messsystem. Um Reibung
zwischen Quarzstempel und Quarzrohr zu vermeiden, liegt der Stempel frei im Quarzrohr
und wird an seinem hinteren Ende von einem Metallführungsstift aufgenommen, der
seinerseits in Kugellagern fast reibungslos läuft. Zur Temperaturmessung der Probe liegt
ein PtRh-Pt-Thermoelement so über dem Quarzrohr, dass es Kontakt mit der Probe hat.
Die Temperaturen werden an einem Millivoltmeter abgelesen. Um eine Verzunderung
(vgl. V66) der Probe bei höheren Temperaturen zu verhindern, ist das Messsystem durch
eine Quarz- und eine Glasglocke abgedichtet, die mit Hilfe einer Vakuumpumpe evaku-
iert werden. Die Aufheizung erfolgt mit konstanter Geschwindigkeit. Bei vorgeplanten
Temperaturen werden die Längenänderungen abgelesen und als Funktion der Temperatur
aufgetragen. Zur Bestimmung der α-Werte in den angegebenen Temperaturintervallen
246 30 V30 Dilatometrie
werden dort die durch die Messwerte gelegten Ausgleichskurven durch Geradenabschnitte
approximiert.
Weiterführende Literatur
[Guv83] Guv, A.G.: Metallkunde für Ingenieure, 4. Aufl. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt
(1983)
[Sch91] Schumann, H.: Metallographie, 13. Aufl. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig
(1991)
V31 Wärmespannungen und
Abkühleigenspannungen 31
31.1 Grundlagen
Abb. 31.1 Zur Entstehung von Wärmespannungen als Folge von Unterschieden in den Ausdeh-
nungskoeffizienten α 1 > α 2 eines Verbunds
Abb. 31.2 Zur Entstehung von Korn-Abkühleigenspannungen als Folge von Unterschieden in den
Ausdehnungskoeffizienten der Körner (α 1 > α 2 )
31.2 Aufgabe 249
31.2 Aufgabe
Von einem Verbundkörper aus Aluminium (α Al = 23,8 ⋅ 10−6 K−1 ) und Baustahl (α Fe =
11,7 ⋅ 10−6 K−1 ) ist der mittlere Ausdehnungskoeffizient ᾱ im Temperaturbereich zwischen
T 0 = −196 °C und T 1 . = 20 °C zu ermitteln. Die beim Übergang von T 0 auf T 1 auftretenden
Spannungen sind quantitativ abzuschätzen und zu erörtern.
31.3 Versuchsdurchführung
Die Versuche erfolgen mit dem in Abb. 31.4 skizzierten Versuchskörper. Er besteht aus ei-
nem mit zwei Schrauben verschlossenen Stahlzylinder, in dem ein Aluminiumzylinder der
Abb. 31.5 Zur Ableitung der Spannungs- und Dehnungsbeziehungen bei dem betrachteten Ver-
bundkörper
Länge L0 liegt. Durch Verstellen der Schrauben kann der Aluminiumzylinder leicht vorge-
spannt werden. Wird der Verbundkörper erwärmt, so dehnt er sich so aus, als ob er einen
mittleren Ausdehnungskoeffizienten ᾱ besäße. Hierbei entstehen Wärmespannungen. Die
Druckspannungen im Aluminium werden von Zugspannungen im Stahl kompensiert. Die
Längsspannungen berechnen sich im Aluminium zu
und im Stahlzylinder zu
σFe = EFe εFe . (31.2)
Dabei sind EAl und EFe die bei den jeweiligen Temperaturen gültigen Elastizitätsmo-
duln. Bei einer Temperaturänderung ΔT gegenüber dem spannungsfreien Ausgangszu-
stand ergeben sich als Dehnungen
L̄ − LAl
εAl = = (ᾱ − αAl ) ΔT (31.3)
L
und
L̄ − LFe
εFe = = (ᾱ − αFe ) ΔT. (31.4)
L
Die Bedeutung der Längen L0 − L, LAl und LFe geht aus Abb. 31.5 hervor. Wegen des
Kräftegleichgewichts muss im mittleren Teil des Versuchskörpers mit den Querschnittsan-
teilen AAl und AFe gelten
σAl AAl = −σFe AFe . (31.5)
31.4 Symbole, Abkürzungen 251
πd (D − d )
AAl = und AFe = π (31.7)
schließlich
αAl EAl d + αFe EFe (D − d )
ᾱ = . (31.8)
EAl d + EFe (D − d )
Zur Versuchsdurchführung wird der Verbundkörper in flüssigem Stickstoff auf −196 °C
abgekühlt. Nach hinreichender Zeit wird durch leichtes Anziehen einer Endschraube
Formschluss zwischen dem Stahlrahmen und dem Aluminiumbolzen hergestellt. Dann
wird der Verbundkörper aus dem Kühlbad genommen, auf ein vorbereitetes Messgestell
gelegt und seine Temperatur T 0 sowie seine Länge L0 gemessen. Dann werden in Abhän-
gigkeit von der Temperatur der Thermoelement-Messstelle Th mit Hilfe einer Messuhr
die Längenänderungen (ΔL (T) ≈ ΔL (T) = L(T) − L0 ) ermittelt. Der gefundene Zusam-
menhang zwischen ΔL und ΔT wird linear approximiert und daraus ᾱ bestimmt (vgl.
V30). Damit können nach Gln. 31.1–31.4 die bei verschiedenen Temperaturen wirksamen
Längsspannungen unter Zugrundelegung der aus Abb. 31.6 ersichtlichen Temperaturab-
hängigkeit der Elastizitätsmoduln von Eisen und Aluminium abgeschätzt werden.
Weiterführende Literatur
32.1 Grundlagen
gleich von Unterschieden in der lokalen chemischen Zusammensetzung erfordert ein hin-
reichend großes Diffusionsvermögen der gelösten Legierungselemente und damit langzei-
tiges Glühen bei relativ hohen Temperaturen. Carbide und andere bei diesen Temperaturen
noch quasi-stabile intermediäre Verbindungen (vgl. V34) verändern dabei ihre Form und
bilden abgerundete Teilchen. Wegen der hohen Glühtemperaturen ist Grobkornbildung
nicht zu vermeiden. Das Auftreten von Randentkohlung lässt sich durch Glühen unter
Schutzgas oder im Vakuum umgehen. Nach Abschluss der Diffusionsglühung kann die
Grobkörnigkeit durch ein Normalglühen beeinflusst werden. Das Diffusionsglühen wird
häufig bei Stahlformguss (Stahlgussteilen) angewandt, um lokale Konzentrations- und Ge-
fügeinhomogenitäten zu beseitigen.
Durch Grobkornglühen sollen kohlenstoffarme Stähle (insbesondere Einsatzstähle) ver-
besserte Zerspanungseigenschaften erhalten. Dies wird erreicht durch hinreichend langes
Glühen oberhalb A3 zwischen 900 und 1200 °C (vgl. Abb. 32.3) und anschließendes zu-
nächst langsames, unterhalb A1 schnelles Abkühlen auf Raumtemperatur. Die Wahl der
Glühtemperatur hängt von Menge und Art der vorliegenden nichtmetallischen Einschlüs-
se und Teilchen ab, die das angestrebte Wachstum der Austenitkörner beeinflussen. Das bei
der Abkühlung auf Raumtemperatur entstehende grobkörnige ferritisch-perlitische Gefü-
ge erleichtert zerspanende Fein- und Feinstbearbeitungen.
32.1 Grundlagen 255
Das Normalglühen wird angewandt, um die einem Stahl durch Vorbehandlungen (Gie-
ßen, Umformen, Bearbeiten, Fügen) oder Wärmebehandlungen (Diffusions- und Grob-
kornglühen) aufgeprägten Zustandsänderungen zu beseitigen. Dazu führt man untereu-
tektoide Stähle vollständig, übereutektoide teilweise in den austenitischen Zustand über
und lässt sie anschließend in ruhender Atmosphäre abkühlen. Auf diese Weise wird ein
als „Normalzustand“ ansprechbares Gefüge erreicht, das in reproduzierbarer Weise herge-
stellt werden kann. Untereutektoide Stähle werden zum Normalglühen etwa 30–50 K über
A3 (vgl. Abb. 32.4) gehalten. Dabei entstehen viele kleine Austenitkörner, woraus sich bei
der anschließenden Abkühlung auf Raumtemperatur durch Umwandlung ein feinkörni-
ges, gleichmäßiges Gefüge aus Ferrit und Perlit bildet (vgl. V14). Übereutektoide Stähle
werden dagegen zum Normalglühen nur über A1 erwärmt und damit nur teilweise auste-
nitisiert. Eine Haltetemperatur oberhalb SE würde vollständige Austenitisierung mit Grob-
kornbildung zur Folge haben. Die Glühung von etwa 50 K über der eutektoiden Tempe-
ratur führt dagegen zur Ausbildung eines vom Kohlenstoffgehalt abhängigen, feinkörni-
gen Austenitanteils mit eingelagerten Zementitteilchen. Gleichzeitig koaguliert vorhande-
256 32 V32 Wärmebehandlung von Stählen
Abb. 32.6 Schliffbild eines 100Cr6 mit lamellarer (a) und globularer (b) Zementitausbildung
32.1 Grundlagen 257
des Stahles. Bei hinreichend langer Glühdauer erfolgen plastische Verformungen, die zum
Abbau und schließlich zum Ausgleich der Makroeigenspannungen führen können. Mikro-
eigenspannungen als Folge der Versetzungsgrundstruktur sowie Mikroeigenspannungen
auf Grund der Unterschiede in den Ausdehnungskoeffizienten von Ferrit und Zementit
lassen sich durch derartige Glühbehandlungen grundsätzlich nicht beseitigen. Die Ab-
kühlung von der Haltetemperatur muss hinreichend langsam erfolgen, damit durch den
Abkühlprozess nicht neue Makroeigenspannungen entstehen.
32.2 Aufgabe
Von dem Werkstoff C10 sind durch Grobkornglühung bei verschiedenen Temperaturen,
Zustände mit unterschiedlicher Ferritkorngröße einzustellen. Vom Werkstoff C100 sollen
durch Veränderung der Abkühlgeschwindigkeit nach dem Normalglühen, Zustände mit
unterschiedlichen Abständen der Zementitlamellen sowie durch Weichglühen (Pendelglü-
hen) kugeliger Zementit erzeugt werden. Die Auswirkungen dieser Wärmebehandlungen
auf die ersten Bereiche der im Zugversuch mit dε/dt ≈ 10−4 s−1 aufgenommenen Verfesti-
gungskurven sind zu untersuchen und zu diskutieren.
32.3 Versuchsdurchführung
Die Zugproben aus C10 werden bei 950, 1000, 1100, 1200 und 1300 °C jeweils 1 h geglüht
und anschließend ofenabgekühlt. Das Normalglühen der Zugproben aus C100 erfolgt bei
800 °C mit anschließender Luft- und zwei unterschiedlich schnellen Ofenabkühlungen.
Das Weichglühen wird durch ein vierstündiges Pendelglühen zwischen 680 und 740 °C
durchgeführt. Von den einzelnen Wärmebehandlungszuständen werden Schliffe angefer-
tigt (vgl. V7). Bei den Proben aus C10 werden Korngrößenbestimmungen nach dem Kreis-
verfahren (vgl. V11) vorgenommen. Bei den Proben aus C100 werden die mittleren Ab-
stände der Zementitlamellen bestimmt. Danach werden Proben der einzelnen Zustände in
einer elektromechanischen Werkstoffprüfmaschine zugverformt. Die ersten Bereiche der
Verfestigungskurven (vgl. V23) werden quantitativ ermittelt und aus diesen die unteren
Streckgrenzen ReL bzw. Dehngrenze mit 0,2 % plastischer Verformung Rp0,2 sowie die Lü-
dersdehnungen εL entnommen. Diese Kenngrößen werden als Funktion der Korngröße
bzw. des Zementitlamellenabstandes (vgl. V24) aufgetragen und diskutiert.
32.4 Symbole, Abkürzungen 259
Weiterführende Literatur
[DIN EN 10052] DIN EN 10052: Begriffe der Wärmebehandlung von Eisenwerkstoffen (1993)
[Lie04] Liedtke, D., Jönsson, R.: Wärmebehandlung. Grundlagen und Anwendungen für Eisenwerk-
stoffe, 6. Aufl. Expert-Verlag, Renningen (2004)
[Eck71] Eckstein, H.-J.: Wärmebehandlung von Stahl. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1971)
[Eck76] Eckstein, H.-J.: Technologie der Wärmebehandlung von Stahl. VEB Grundstoffindustrie,
Leipzig (1976)
[Ben78] Benninghoff, H.: Wärmebehandlung der Bau- und Werkzeugstähle, 3. Aufl. BAZ, Basel
(1978)
[Tot06] Totten, G.E.: Steel Heat Treatment: Metallurgy and Technologies, 2. Aufl. CRC Press, Boca
Raton, USA (2006)
[Koh94] Kohtz, D.: Wärmebehandlung metallischer Werkstoffe: Grundlagen und Verfahren. VDI-
Verl., Düsseldorf (1994)
[Bar09] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde, 10. Aufl. Springer Verlag, Berlin (2009)
[Les81] Leslie, W.C.: The Physical Metallurgy of Steels. McGraw-Hill, New York (1981)
[Hab66] Habraken, L., de Brouwer, J.-L.: De Ferri Metallographia I. Presses Académiques Européen-
nes, Brüssel (1966)
[Schr66] Schrader, A., Rose, A.: Gefüge der Stähle De ferri metallographia, Bd. II. Verlag Stahleisen,
Düsseldorf (1966)
V33 ZTU-Schaubilder
33
33.1 Grundlagen
Die Gefügeausbildung und damit vor allem die mechanischen Eigenschaften von unlegier-
ten und legierten Stählen können in einem relativ starken Ausmaß durch unterschiedliche
Temperaturführungen bei der Wärmebehandlung beeinflusst werden. Hierbei ist zu beach-
ten, dass das in V14 besprochene Eisen-Eisencarbid-Diagramm streng nur für unendlich
langsame Aufheizung und Abkühlung gilt. Für die Beurteilung technischer Wärmebehand-
lungen ist es höchstens als Orientierungshilfe geeignet.
Zwischen der unendlich langsamen Abkühlung und dem anderen Extrem, der in V15
behandelten raschen Abschreckung, gibt es aber viele Varianten für die Abkühlung von
Stahlproben aus dem γ-Gebiet auf Raumtemperatur. Will man deren Auswirkung auf die
sich ausbildenden Gefügezustände genauer untersuchen, so hat man zunächst einen defi-
nierten Ausgangszustand durch hinreichend langes Glühen bei geeignet gewählter Tem-
peratur im γ-Gebiet zu erzeugen. Danach prägt man den Proben definierte Temperatur-
Zeit-Verläufe auf und verfolgt mit geeigneten Methoden Beginn, Ablauf und Ende der
Austenitumwandlung. Auf diese Weise erhält man Zeit-Temperatur-Umwandlungs-Schau-
bilder (ZTU-Schaubilder), die eine realistische Beurteilung des Umwandlungsgeschehens
ermöglichen. Man unterscheidet dabei zwischen isothermen und kontinuierlichen ZTU-
Schaubildern.
Zur Aufnahme eines isothermen ZTU-Schaubildes (vgl. Abb. 33.1 links) werden Stahl-
proben von der Austenitisiertemperatur T A rasch auf bestimmte Umwandlungstempera-
turen T U abgekühlt und dort gehalten. Die Prozesse können mittels Hochtemperaturmi-
kroskopie untersucht werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, nach unterschiedlich
langen Haltezeiten die Proben auf Raumtemperatur abzuschrecken und sie anschließend
metallographisch zu untersuchen. Das Ausmaß und die Art der Umwandlung können dann
in Abhängigkeit von der Haltezeit quantitativ erfasst werden. Von Beginn bzw. Ende der
Umwandlung wird gesprochen, wenn 2 Vol.-% bzw. 98 Vol.-% des Austenits umgewandelt
sind. Umwandlungsbeginn und -ende lassen sich auch mit den Hilfsmitteln der thermi-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 261
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_33, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
262 33 V33 ZTU-Schaubilder
Abb. 33.1 Versuchsführungen bei der Ermittlung isothermer (links) und kontinuierlicher (rechts)
ZTU-Umwandlungsschaubilder
schen Analyse (vgl. V6) und der Dilatometrie (vgl. V30) bestimmen. In einem Temperatur-
Zeit-Diagramm mit logarithmischer Zeitachse werden dann bei jeder Umwandlungstem-
peratur die für das Umwandlungsgeschehen wesentlichen Zeiten aufgetragen und mitein-
ander verbunden. Die nach Abschluss der isothermen Umwandlung vorliegenden Härte-
werte können im Diagramm vermerkt werden. Die gemessenen Härtewerte werden durch
Kreise gekennzeichnet.
Im Gegensatz zur isothermen Prozessführung werden beim kontinuierlichen ZTU-
Schaubild (vgl. Abb. 33.1 rechts) Stahlproben unter Einhaltung bestimmter nicht konstan-
ter Temperatur-Zeit-Verläufe von der Austenitisiertemperatur T A auf Raumtemperatur
abgekühlt und die dabei auftretenden Gefügeänderungen mit ähnlichen Methoden wie
bei der isothermen Umwandlung untersucht. Werden die einzelnen Abkühlungskurven in
einem T-log t-Diagramm eingezeichnet und in diesen die Anfangs- sowie die charakteristi-
schen Zwischen- und Endpunkte der Umwandlung markiert und miteinander verbunden,
so erhält man das gesuchte Schaubild. An den Enden der Abkühlkurven werden die bei
Raumtemperatur auftretenden Härtewerte notiert und mit Kreisen markiert. Zusätzlich
werden an kennzeichnenden Stellen des Diagramms die Mengenanteile des entstandenen
Gefüges vermerkt.
33.1 Grundlagen 263
Abb. 33.2 ZTU-Schaubild für isotherme Umwandlung eines unlegierten Stahles mit 0,45 Masse-%
Kohlenstoff (Austenitisiertemperatur T A = 880 °C)
Sowohl bei den isothermen als auch bei den kontinuierlichen ZTU-Schaubildern wer-
den die aus dem Zustandsdiagramm Fe-Fe3 C (vgl. V14, Abb. 14.1) entnehmbaren A1 - und
A3 -Temperaturen, die bei unendlich langsamer Abkühlung der eutektoiden Temperatur
bzw. den auf der GS-Linie liegenden Temperaturen entsprechen, als Parallelen zur Abszis-
se eingetragen. Außerdem werden auch die Martensitstarttemperaturen M S (vgl. V15) bis
zu den Zeiten vermerkt, bei denen noch Martensitbildung zu erwarten ist.
Als Beispiel ist zunächst in Abb. 33.2 das isotherme ZTU-Schaubild eines unlegierten
Stahles mit 0,45 Masse-% C wiedergegeben. Die diesem Schaubild zugrunde liegenden Ge-
setzmäßigkeiten sollen etwas ausführlicher erörtert werden. Bei höheren Umwandlungs-
temperaturen bildet sich zuerst Ferrit (voreutektoider Ferrit) durch heterogene Keimbil-
dung an Austenitkorngrenzen. Bei der später einsetzenden Perlitbildung wachsen dann,
ebenfalls von den Korngrenzen des Austenits ausgehend, abwechselnd Ferrit- und Zemen-
titlamellen in die Austenitmatrix hinein (vgl. V14). Je niedriger die Umwandlungstempe-
ratur ist, desto feinstreifiger werden die Ferrit- und Zementitlamellen und damit der Perlit.
Die Größe der Perlitbereiche nimmt mit kleiner werdender Austenitkorngröße ab.
Das isotherme ZTU-Schaubild in Abb. 33.2 weist eine charakteristische „Nase“ auf. Die
Ursache für die Ausbildung dieser „Nase“ liegt in zwei von der Temperatur gegenläufig
abhängigen Prozessen. Einmal nimmt mit wachsender Unterkühlung die Keimbildungs-
264 33 V33 ZTU-Schaubilder
geschwindigkeit c für die Perlitreaktion zu. Zum anderen nimmt der Diffusionskoeffizient
D und damit die Diffusionsfähigkeit des Kohlenstoffs mit sinkender Temperatur ab. Die
Umwandlungsgeschwindigkeit wird durch das Produkt c ⋅ D bestimmt und damit bei ei-
ner bestimmten Temperatur maximal. Bei dieser Temperatur setzt aus diesem Grund die
Umwandlung früher ein als bei größeren und kleineren Temperaturen.
Unterhalb der „Nase“ in Abb. 33.2 beginnt der Bainitbereich. Die Umwandlung wird
ebenfalls diffusionsgesteuert eingeleitet, weil bei den dort vorliegenden Temperaturen der
Kohlenstoff im Austenitgitter noch relativ beweglich ist. Lokal verringerte Kohlenstoff-
konzentrationen begünstigen die Umwandlung des Austenits durch diffusionslose Um-
klappvorgänge in einen martensitähnlichen Zwischenzustand. Dieser Prozess nimmt mit
sinkender Umwandlungstemperatur zu. Dabei bleiben bestimmte Orientierungsbeziehun-
gen zwischen dem Austenit und den neu entstandenen, an Kohlenstoff übersättigten und
deshalb verspannten Kristallen bestehen. Wegen der noch relativ hohen Bildungstempera-
turen und wegen der im Vergleich zum Austenit erheblich größeren Diffusionsgeschwin-
digkeit des Kohlenstoffs im Ferrit- bzw. Martensitgitter bildet sich anschließend Ferrit mit
Zementitausscheidungen. Da die Diffusionsgeschwindigkeit mit sinkender Temperatur ab-
nimmt, werden die Zementitausscheidungen mit abnehmender Temperatur immer feiner.
Insgesamt entsteht ein charakteristisches, teils nadeliges, teils plattenförmiges Gefüge aus
Ferrit und Carbid, das als Bainit bezeichnet wird. Der bei höheren Temperaturen erzeugte
Bainit besteht aus einer groben Anordnung von Ferrit und Carbid. Der bei tieferen Tempe-
raturen erzeugte Bainit besteht dagegen aus einer feineren Struktur aus Ferrit und Carbid.
Dementsprechend unterscheidet man zwischen oberem und unterem Bainit. In Abb. 33.3
ist eine transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme eines bainitischen Gefügebe-
reiches von 100Cr6 wiedergegeben.
Erfolgt hinreichend rasche Abkühlung auf Temperaturen unterhalb der Martensitstart-
temperatur, so setzt die in V15 schon ausführlich beschriebene diffusionslose Umwandlung
des Austenits in Martensit (martensitische Umwandlung) ein. Oft werden die einzelnen
Umwandlungsbereiche auch als Ferrit/Perlit-Stufe, Perlitstufe, Bainitstufe und Martensit-
stufe bezeichnet.
Wichtig ist, dass die Lage der Umwandlungslinien der isothermen ZTU-Diagramme
von der Wahl der Austenitisiertemperatur und der Austenitisierdauer sowie stark von den
Legierungselementen abhängt. Wie Abb. 33.4 im Vergleich zu Abb. 33.2 zeigt, führt bei
einem Stahl mit 0,45 Masse-% Kohlenstoff das Zulegieren von 3,5 Masse-% Chrom zu
einer stärkeren Trennung des Perlitbereiches vom Bainitbereich. Zwischen beiden Gefü-
gen existiert eine umwandlungsträge Temperaturzone. Gleichzeitig werden die Perlit- und
die Bainitumwandlung zu späteren Zeiten verschoben. Tendenzmäßig ähnlich wie Chrom
wirken die Legierungselemente Molybdän, Vanadium und Wolfram. Auch sie fördern die
Ausdehnung eines umwandlungsträgen Temperaturbereiches zwischen dem Perlit- und
dem Bainitbereich.
Ein Beispiel für ein kontinuierliches ZTU-Schaubild zeigt Abb. 33.5. Aufgrund der ein-
gangs getroffenen Festlegungen sind derartige Schaubilder längs der eingezeichneten Ab-
kühlungskurven zu lesen.
33.1 Grundlagen 265
Wiederum gilt, dass die Lage der Umwandlungsbereiche von den Austenitisierbedin-
gungen beeinflusst wird. Aus diesem Grund sind die Angaben bezüglich der Austenitisie-
rung neben der chemischen Zusammensetzung der untersuchten Stahlcharge Bestandteil
eines vollständigen ZTU-Schaubildes. Im Allgemeinen wird mit zunehmender Austenit-
korngröße, also wachsender Austenitisiertemperatur, die Perlitumwandlung und weniger
ausgeprägt die Bainitumwandlung verzögert. Die nach Abschluss der Umwandlungen bei
Raumtemperatur vorliegenden Härtewerte sind durch die in Kreise eingetragenen Zahlen
am Ende der Abkühlkurven vermerkt. Die an den Schnittpunkten der Abkühlungskur-
ven mit den temperaturmäßig unteren Begrenzungen der Umwandlungsbereiche ange-
schriebenen Zahlen geben den Volumenanteil des jeweils entstandenen Gefüges an. Ergibt
die Summe der Zahlenwerte längs einer Abkühlungskurve weniger als 100 Vol.-%, so ist
das restliche Werkstoffvolumen martensitisch umgewandelt. Der Werkstoff, der nach Ab-
kühlung auf Raumtemperatur z. B. 39 HRC besitzt, weist als Bestandteile 2 Vol.-% Ferrit,
58 Vol.-% Bainit und 40 Vol.-% Martensit auf. Im unteren Teil von Abb. 33.5 sind die bei
Raumtemperatur vorliegenden Gefügeanteile und Härten in Abhängigkeit von der Zeit
aufgezeichnet, die bei kontinuierlichen Abkühlungen zum Durchlaufen des Temperatu-
rintervalls zwischen 840 und 500 °C benötigt werden.
266 33 V33 ZTU-Schaubilder
Abb. 33.4 ZTU-Schaubild für isotherme Umwandlung eines Stahles mit 0,45 Masse-% Kohlenstoff
und 3,5 Masse-% Chrom. Austenitisiertemperatur 1050 °C
33.2 Aufgabe
Proben des legierten Stahles 51CrV4 werden bei drei verschiedenen Temperaturen ver-
schieden lang isotherm umgewandelt und danach auf Raumtemperatur abgeschreckt. Es
sind Schliffe anzufertigen und die Gefüge anhand des vorliegenden isothermen ZTU-Dia-
gramms zu beurteilen.
33.3 Versuchsdurchführung
Die Versuchsproben, deren isothermes ZTU-Schaubild vorliegt, werden 10 min bei 880 °C
austenitisiert. Proben der beiden ersten Serien werden rasch in neutralen Salzbädern
auf 680 bzw. 520 °C abgekühlt, dort 100 bzw. 2000 s gehalten und dann auf Raumtempe-
ratur abgelöscht. Proben der dritten Serie werden in einem Salzbad auf 600 °C abgekühlt,
dort 20, 100 und 400 s gehalten und dann auf Raumtemperatur abgeschreckt. Von allen
drei Probenserien werden Schliffe in der in V14 beschriebenen Weise hergestellt, mit
alkoholischer Salpeter- bzw. Pikrinsäure geätzt, mikroskopisch betrachtet und beurteilt.
33.4 Symbole, Abkürzungen 267
Abb. 33.5 Kontinuierliches ZTU-Schaubild von 41Cr4 sowie auftretende Gefügeanteile und HRC-
Werte bei Raumtemperatur als Funktion der Abkühlzeit von 840 auf 500 °C. M Martensit, B Bainit,
P Perlit, F Ferrit
Weiterführende Literatur
[Sch66] Schrader, A., Rose, A.: DeFerri Metallographia II. Stahleisen, Düsseldorf (1966)
[Gro81] Grosch, J.: Wärmebehandlung der Stähle. WTV, Karlsruhe (1981)
[Rit76] Pitsch, W.: Grundlagen der Wärmebehandlung von Stahl. Stahleisen, Düsseldorf (1976)
[Sen76] Benninghoff, H.: Wärmebehandlung der Bau- und Werkzeugstähle, 3. Aufl. BAZ, Basel
(1976)
[Hou76] Hougardy, H.P.: HTM 33, 63 (1978)
V34 Härtbarkeit von Stählen
34
34.1 Grundlagen
Die bei der martensitischen Härtung von Stählen (vgl. V15) erreichbaren Härte- und Fes-
tigkeitswerte sind von der Austenitisiertemperatur und -dauer, von der Abkühlgeschwin-
digkeit, der Stahlzusammensetzung und von den Werkstückabmessungen abhängig. We-
gen der über dem Werkstoffquerschnitt lokal unterschiedlichen Abkühlgeschwindigkeiten
treten – solange Vkrit überschritten wird – die martensitischen Umwandlungen zeitlich ver-
setzt auf und laufen – wenn die Abkühlgeschwindigkeiten zu klein werden – nicht mehr
vollständig bzw. überhaupt nicht mehr ab. Durchhärtung ist bei größeren Abmessungen
nur dann gewährleistet, wenn auch im Probeninnern eine größere Abkühlgeschwindigkeit
als die kritische erreicht wird. Letztere lässt sich durch bestimmte Legierungselemente in
weiten Grenzen beeinflussen.
Unter Härtbarkeit von Stählen versteht man das Ausmaß der Härteannahme nach Ab-
kühlung von Austenitisiertemperatur auf Raumtemperatur mit Abkühlgeschwindigkeiten,
die zur vollständigen oder teilweisen Martensitbildung führen. Als Aufhärtbarkeit bezeich-
net man dabei den an den Stellen größter Abkühlgeschwindigkeit erreichten Härtehöchst-
wert. Er wird bestimmt durch den bei der Austenitisiertemperatur gelösten Kohlenstoff-
gehalt. Als Einhärtbarkeit spricht man dagegen den Härtetiefenverlauf an, der mit dem
lokalen Erreichen der für die Martensitbildung erforderlichen kritischen Abkühlgeschwin-
digkeit auf das engste verknüpft ist und daher sowohl vom Kohlenstoffgehalt als auch von
allen anderen gelösten Legierungselementen in kennzeichnender Weise abhängt. Härtbar-
keit umfasst also die Begriffe Aufhärtbarkeit und Einhärtbarkeit und beschreibt von der
Oberfläche normal ins Innere des Werkstoffs fortschreitend die Beträge und die Vertei-
lung der durch Abschrecken erzeugten Härte. Im Einzelfall sind für die Härtbarkeit die
vorliegenden Abkühlbedingungen bestimmend, die ihrerseits von den Abmessungen, der
Form, der Oberflächenbeschaffenheit, dem Wärmeinhalt, der Wärmeleitfähigkeit des zu
härtenden Objektes und der wärmeentziehenden Wirkung des Kühlmittels, also der Wär-
meübergangszahl, abhängen.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 269
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_34, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
270 34 V34 Härtbarkeit von Stählen
Dabei ist α(dA ) ein von der mittleren Austenitkorngröße dA abhängiger Vorfaktor, der
mit dA anwächst. Zunehmende Austenitkorngröße senkt die Wahrscheinlichkeit für das
Auftreten der durch Korngrenzenkeimwirkung ausgelösten Perlitbildung und fördert da-
mit die martensitische Umwandlung (vgl. V14 und V15). Alle Legierungselemente außer
S, P und Co vergrößern bei FeC-Legierungen die ideal kritischen Durchmesser, weil sie die
kritische Abkühlgeschwindigkeit und die M S -Temperatur absenken. Es gilt
Φi = Φ ⋅ ( + ai Masse-% Xi ) , (34.2)
eine Stirnabschreckprobe aus Ck 45 (T A = 880 °C) der gemessene Härteverlauf der Gefü-
geausbildung gegenübergestellt. Man sieht in Abhängigkeit vom Stirnflächenabstand den
Übergang vom rein martensitischen Gefüge an der Stirnseite der Probe bis hin zum fer-
ritisch-perlitischen Gefüge am Probenende.
Bei der Härtung von Stählen ist die Ausbildung von Eigenspannungen (vgl. V75) unver-
meidlich. Da die mit einer Volumenvergrößerung verbundene martensitische Umwand-
lung des Austenits (vgl. V15) in den einzelnen Querschnittsbereichen zeitlich nacheinan-
der erfolgt, liegen nach der Härtung grundsätzlich neben Abkühleigenspannungen auch
Umwandlungseigenspannungen I. Art vor.
Der gesamte Eigenspannungszustand I. Art ist vom Stahltyp, von den Austenitisier- und
Abkühlbedingungen sowie von den Werkstückabmessungen abhängig. Daneben bilden
sich Mikroeigenspannungen aus als Folge der im Martensit in Nichtgleichgewichtskonzen-
tration gelösten Kohlenstoffatome (vgl. V15). Schließlich treten bei höher kohlenstoffhal-
tigen Stählen im Martensit und im Restaustenit Eigenspannungen II. Art mit unterschied-
lichen Vorzeichen auf.
274 34 V34 Härtbarkeit von Stählen
34.2 Aufgabe
34.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Eck76] Eckstein, H.J.: Technologie der Wärmebehandlung von Stahl. VEB Grundstoffindustrie,
Leipzig (1976)
[Ben76] Benninghoff, H.: Wärmebehandlung der Bau- und Werkzeugstähle, 3. Aufl. BAZ, Basel
(1976)
[Hor08] Hornbogen, E., Eggeler, G., Werner, E.: Werkstoffe: Aufbau und Eigenschaften von Kera-
mik-, Metall-, Polymer- und Verbundwerkstoffen, 9. Aufl. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg (2008)
[Ask96] Askeland, D. R.: Materialwissenschaften: Grundlagen, Übungen, Lösungen, Spektrum Aka-
demischer Verlag Heidelberg, Berlin, Oxford (1996)
V35 Stahlvergütung und Vergütungsschaubilder
35
35.1 Grundlagen
Eine für den praktischen Stahleinsatz besonders wichtige Wärmebehandlung stellt das
Vergüten dar. Es umfasst bei untereutektoiden unlegierten und niedriglegierten Stählen
(Vergütungsstählen) die im rechten Teil von Abb. 35.1 schematisch wiedergegebenen
Arbeitsschritte Glühen bei T A > A3 (Austenitisieren), martensitisches Härten durch hin-
reichend rasches Abschrecken auf T < M s (vgl. V15) und Anlassen der gehärteten Stähle
bei T An < A1 . Je nach Werkstoff sowie gewählter Anlasstemperatur und -dauer laufen beim
Anlassen unterschiedliche Vorgänge ab. Es werden sog. Anlassstufen unterschieden, de-
ren Temperaturbegrenzungen sich je nach Werkstoff und Anlassdauer zu höheren oder
niederen Temperaturen verschieben können:
Bei Temperaturen 80 °C schließen sich die im Martensit gelösten Kohlenstoffatome (vgl.
V15) unter Verringerung der Verzerrungsenergie des Gitters zu Clustern zusammen.
Im Temperaturbereich 80 °C < T An < 200 °C (1. Anlassstufe) entsteht aus dem Martensit
bei un- und niedriglegierten Stählen das sog. ε-Carbid (Fex C mit x ≈ 2,4) und ein Martensit
α ′ mit einem von der Gleichgewichtskonzentration des Ferrits abweichenden Kohlenstoff-
gehalt. Der Vorgang ist mit geringer Volumenzunahme und Härtesenkung verknüpft.
Die 2. Anlassstufe tritt bei unlegierten Stählen etwa zwischen 200 und 320 °C, bei nied-
riglegierten Stählen zwischen 200 und 375 °C auf. In diesen Temperaturintervallen zer-
fällt der als Folge der martensitischen Härtung (bei unlegierten Stählen nur bei C-Gehal-
ten > 0,5 Masse-%) entstandene Restaustenit. Neben Carbiden bilden sich Ferritbereiche
α ′′, die sich hinsichtlich ihres C-Gehaltes noch von den Gleichgewichtsphasen Fe3 C und α
(vgl. V14) unterscheiden. Bestimmte Legierungszusätze, wie z. B. Chrom, verschieben den
Restaustenitzerfall zu erheblich höheren Temperaturen.
Erst in der 3. Anlassstufe (320 °C < T An < 520 °C) stellt sich das Gleichgewichtsgefüge
aus Ferrit und Zementit ein, wobei die ablaufenden mikrostrukturellen Veränderungen die
Härte relativ stark erniedrigen.
Anlassen oberhalb 500 °C bewirkt eine zunehmende Einformung und Koagulation der
Zementitteilchen. Bei bestimmten Legierungszusammensetzungen können in der 2. und
3. Anlassstufe zusätzliche Entmischungs- und Ausscheidungsvorgänge ablaufen, die sich
mindernd auf die Kerbschlagzähigkeit (vgl. V46) auswirken (Anlassversprödung). In le-
gierten Stählen schließlich mit hinreichend großen Anteilen an Carbidbildenden Elemen-
ten wie V, Mo, Cr und W entstehen in einer 4. Anlassstufe etwa zwischen 450 und 550 °C
feinverteilte Sonder- und/oder Mischcarbide, die zu einem Wiederanstieg der Härte (Se-
kundärhärte, vgl. V39) führen.
Durch die Wahl der Anlassbehandlung nach dem martensitischen Härten werden ne-
ben der Härte auch die mechanischen Kenngrößen des Zugversuchs (vgl. V23) verän-
dert. Für viele Belange sind in der technischen Praxis solche Werkstoffzustände beson-
ders geeignet, die neben großen Streckgrenzen ReS und großen Zugfestigkeiten Rm auch
große Bruchdehnung A sowie große Brucheinschnürungen Z besitzen. Bruchdehnung und
Brucheinschnürung werden dabei oft als Zähigkeitsmaß benutzt. Vernünftiger ist es je-
doch, als Maß für die Zähigkeit eines Werkstoffes oder eines Werkstoffzustandes die im
Zugversuch bis zum Bruch geleistete plastische Verformungsarbeit pro Volumeneinheit
anzusehen. Sie ergibt sich bei einem σ,εp -Diagramm als die von der Verfestigungskurve
und von der Abszissenachse eingeschlossene Fläche. Durch Vergüten lassen sich bei hinrei-
chend großen Zugfestigkeiten Werkstoffzustände mit in diesem Sinne guten Zähigkeiten
erreichen. Ein Beispiel zeigt Abb. 35.2. Dort sind für Ck35 die Auswirkungen einer Ver-
gütungsbehandlung mit unterschiedlichen Anlasstemperaturen T An auf die Spannungs-
Dehnungskurven angegeben. Die unterste Kurve gilt für den normalisierten Werkstoffzu-
stand, der durch Luftabkühlung nach dem Austenitisieren erzielt wurde. Die schraffier-
te Fläche entspricht einer Verformungsarbeit von ~5950 J/cm3 . Der Werkstoffzustand ist
durch eine große Bruchdehnung sowie durch einen duktilen Bruch mit großer Bruchein-
schnürung gekennzeichnet. Demgegenüber kommt dem von der Austenitisiertemperatur
direkt auf Raumtemperatur abgeschreckten Werkstoffzustand nur eine Verformungsarbeit
von ~1700 J/cm3 zu. Die Bruchdehnung des nur gehärteten Werkstoffes ist sehr klein. Der
35.1 Grundlagen 279
Durch Zugabe geeignet gewählter und in ihrer Menge aufeinander abgestimmter Legie-
rungselemente lässt sich grundsätzlich die Härtbarkeit (vgl. V34) der Stähle und damit auch
die Vergütbarkeit in einem solchen Ausmaß verbessern, wie es technischen Erfordernissen
entspricht. DIN EN 10083-1 gibt eine Übersicht über die Vergütungsstähle, auf die bei der
Erfüllung bestimmter Abmessungs- und Festigkeitsforderungen zurückgegriffen werden
kann. Sind bei größeren Bauteilabmessungen Vergütungsbehandlungen beabsichtigt, die
bei guter Zähigkeit hinreichend hohe Festigkeit ergeben sollen, so ist der Rückgriff auf le-
gierte Stähle unerlässlich. Dabei führen, wie schon erwähnt, Legierungselemente wie Cr,
Mo, V und W während des Anlassens im Temperaturbereich zwischen etwa 450 und 550 °C
zu Carbidbildungen. Die damit verbundene „Anlassversprödung“ lässt sich durch Anlas-
sen bei Temperaturen außerhalb dieses kritischen Temperaturbereiches und anschließen-
des rasches Abschrecken in Öl vermeiden. Kleine Mo-Zusätze mindern beim Vorliegen
anderer carbidbildender Elemente die Anlassversprödung ab.
Als Vergütungsschaubild eines Stahles wird die Abhängigkeit der Streckgrenze ReS bzw.
der 0,2 %-Dehngrenze Rp0,2 , der Zugfestigkeit Rm , der Bruchdehnung A5 bzw. A10 und der
Brucheinschnürung Z von der Anlasstemperatur nach martensitischer Härtung bezeich-
net. In Abb. 35.4 ist als Beispiel ein solches Schaubild für 25CrMo4 wiedergegeben. Mit
der Anlasstemperatur nehmen ReS und Rm , ab, A und Z dagegen zu. Diese Tendenz gilt
nicht mehr bei Legierungen mit größeren Anteilen an sondercarbidbildenden Elementen.
Bei diesen bewirkt, wenn die Austenitisierung vorher zu einer weitgehenden Carbidauflö-
sung führte, die Sekundärhärtung beim Anlassen zwischen 450 und 550 °C eine Zunahme
von ReS und Rm sowie eine Abnahme von A und Z (vgl. V23) mit wachsender Anlasstem-
peratur.
35.2 Aufgabe
Von dem Vergütungsstahl 50CrMo4 ist das Vergütungsschaubild aufzustellen. Die Ver-
suchsproben sind 30 min bei 830 °C zu austenitisieren, danach in Öl von 20 °C abzuschre-
cken und anschließend bei 300, 400, 500 und 600 °C jeweils 1 h anzulassen. Die erforderli-
chen Zugversuche sind mit dεp /dt = 2 ⋅ 10−3 s−1 durchzuführen.
35.3 Versuchsdurchführung 281
35.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche stehen Zugproben zur Verfügung, deren Austenitisierung in einem Salz-
bad erfolgt. Bei der Abschreckung werden die Proben vertikal in das Ölbad eingeführt.
Die verschiedenen Anlassbehandlungen werden zweckmäßigerweise in einem schutzgas-
gespülten Ofen durchgeführt. Nach Luftabkühlung auf Raumtemperatur erfolgt die Zug-
verformung zur Ermittlung der erforderlichen Werkstoffkenngrößen in einer geeigneten
Zugprüfmaschine. Die Versuchsschriebe werden gemäß V23 ausgewertet.
Weiterführende Literatur
[DIN EN 10052] DIN EN 10052: 1993. Begriffe der Wärmebehandlung von Eisenwerkstoffen
[Lie04] Liedtke, D., Jönsson, R.: Wärmebehandlung. Grundlagen und Anwendungen für Eisenwerk-
stoffe, 6. Aufl. Expert-Verlag, Renningen (2004)
[Eck71] Eckstein, H.-J.: Wärmebehandlung von Stahl. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1971)
[Eck76] Eckstein, H.-J.: Technologie der Wärmebehandlung von Stahl. VEB Grundstoffindustrie,
Leipzig (1976)
[Ben78] Benninghoff, H.: Wärmebehandlung der Bau- und Werkzeugstähle, 3. Aufl. BAZ, Basel
(1978)
[Tot06] Totten, G.E.: Steel Heat Treatment: Metallurgy and Technologies, 2. Aufl. CRC Press, Boca
Raton, USA (2006)
[Koh94] Kohtz, D.: Wärmebehandlung metallischer Werkstoffe: Grundlagen und Verfahren. VDI-
Verlag, Düsseldorf (1994)
[Bar09] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde, 10. Aufl. Springer Verlag, Berlin (2009)
[DIN EN 10083-1] DIN EN 10083-1: Vergütungsstähle – Teil 1: Allgemeine technische Lieferbedin-
gungen (2006)
[DIN EN 10083-2] DIN EN 10083-2: Vergütungsstähle – Teil 2: Technische Lieferbedingungen für
unlegierte Stähle (2006)
[DIN EN 10083-3 DIN] EN 10083-3: Vergütungsstähle – Teil 3: Technische Lieferbedingungen für
legierte Stähle (2009)
V36 Härte und Zugfestigkeit von Stählen
36
36.1 Grundlagen
Die im Zugversuch (vgl. V23) ermittelten Werkstoffkenngrößen ReS , Rp0,2 und Rm sind
von großer praktischer Bedeutung, weil sie die Basis für die Dimensionierung statisch be-
anspruchter Bauteile liefern. Da der Zugversuch relativ aufwendig ist, liegt es nahe, nach
einfachen Abschätzungsmöglichkeiten für die Zahlenwerte dieser Werkstoffkenngrößen
zu suchen. Für den praktischen Werkstoffeinsatz ist es sehr wichtig, dass bei vielen Werk-
stoffen innerhalb gewisser Grenzen reproduzierbare Zusammenhänge zwischen
Dabei hat c die Dimension mm2 /N. Der bei normalisierten Stählen (vgl. V32) zwi-
schen Zugfestigkeit und den verschiedenen Härtearten bestehende Zusammenhang geht
aus Abb. 36.1 hervor. Auch für vergütete (vgl. V35) und gehärtete (vgl. V34) Stähle hat man
empirische Zusammenhänge zwischen Härte und Zugfestigkeit ermittelt und in Merkblät-
tern und Handbüchern für den praktischen Gebrauch zugänglich gemacht.
36.2 Aufgabe
Von mehreren unlegierten Stählen mit unterschiedlicher Vorbehandlung ist der Zusam-
menhang zwischen Brinellhärte und Zugfestigkeit zu ermitteln.
36.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen stehen eine Zugprüfmaschine und ein Brinellhärteprüfgerät (vgl.
V8) zur Verfügung. Vorbereitete Zugproben der zu untersuchenden Werkstoffe mit dem
Messquerschnitt A0 werden in die Zugmaschine eingespannt und mit einer Traversen-
geschwindigkeit von 0,6 mm/min momentenfrei bis zum Bruch verformt. Die Höchstlast
wird jeweils dem Maschinendiagramm entnommen und daraus
Fmax
Rm = (36.2)
A
Weiterführende Literatur
[Pin00] Pintat, T., Wellinger, K., Gimmel, P.: Werkstofftabellen der Metalle: Bezeichnung, Festigkeits-
werte, Zusammensetzung, Verwendung und Lieferquellen. Kröner, Stuttgart (2000)
[Hor08] Hornbogen, E., Eggeler, G., Werner, E.: Werkstoffe: Aufbau und Eigenschaften von Kera-
mik-, Metall-, Polymer- und Verbundwerkstoffen, 9. Aufl. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg (2008)
V37 Einsatzhärten
37
37.1 Grundlagen
Das Einsatzhärten von Stählen umfasst die Eindiffusion von Kohlenstoff (möglicherweise
zusätzlich Stickstoff; ein solcher Prozess wird als Carbonitrieren bezeichnet) in oberflä-
chennahe Werkstoffbereiche bei hinreichend hohen Temperaturen und die anschließende
martensitische Härtung, die entweder direkt oder nach geeignet gewählten Zwischenwär-
mebehandlungen erfolgt. Durch Einsatzhärten werden Werkstücke mit einer harten, ver-
schleißbeständigen Randschicht hoher Festigkeit sowie zähem Kernbereich erzeugt. Dabei
finden üblicher Weise sog. Einsatzstähle mit niedrigem Kohlenstoffgehalt (un- und nied-
riglegierte Stähle mit weniger als 0,25 Masse-% C) Anwendung. Zum „Einsetzen“ werden
diese bei Temperaturen oberhalb A3 einer Kohlenstoff liefernden Umgebung (Kohlenstoffs-
pender, Kohlungsmittel) ausgesetzt und Randkohlenstoffgehalte zwischen etwa 0,7 und
1,0 Masse-% angestrebt.
Als Kohlenstoffspender finden bei der Einsatzhärtung pulverförmige (Pulveraufkoh-
lung; nur noch selten), flüssige (Salzbadaufkohlung) und gasförmige Medien (Gasaufkoh-
lung) Anwendung. Von besonderer praktischer Bedeutung sind die Gasaufkohlungsver-
fahren, die in Atmosphären bei Normaldruck und zunehmend auch in Niederdruckatmo-
sphären angewendet werden. Übliche Aufkohlungstemperaturen liegen zwischen 880 und
1000 °C. Der bei der Aufkohlung eines Einsatzstahls ablaufende Stofftransport kann prin-
zipiell in fünf Teilstufen aufgegliedert werden:
• das Boudouard-Gleichgewicht,
• das Methan-Wasserstoff-Gleichgewicht,
CO + H ←→ [C] + H O (37.3)
Der Reaktionsablauf von links nach rechts liefert jeweils den benötigten Kohlenstoff.
Die bei diesen Reaktionen auftretenden gasförmigen Komponenten müssen in bestimmten
Volumenverhältnissen vorliegen, wenn bei einer bestimmten Temperatur ein bestimmter
Stahl aufgekohlt werden soll. In Abb. 37.1 ist als Beispiel gezeigt, wie sich die Gleichge-
wichtszusammensetzung für CO,CO2 -Gemische mit der Temperatur in Gegenwart von
Stählen mit unterschiedlichen Kohlenstoffgehalten ändert. Durchweg muss mit steigender
Temperatur der CO-Anteil erhöht werden, wenn eine Aufkohlung erfolgen soll. Unter den
vorliegenden Gleichgewichtsbedingungen stellt sich bei einem Stahl nach hinreichender
Zeit ein bestimmter Randkohlenstoffgehalt ein. Dieser wird Kohlenstoffpegel (C-Pegel, oft
fälschlicherweise auch Kohlenstoffpotenzial) genannt. Demgemäß spricht man auch vom
Kohlenstoffpegel des Aufkohlungsmediums. Es sei darauf hingewiesen, dass sich Aufkoh-
lungsprozesse in einer (nahezu sauerstofffreien) Niederdruckatmosphäre nicht auf diese
Weise regeln lassen, da es sich dort beim Übergang des Kohlenstoffs in die Bauteiloberflä-
che nicht um einen Gleichgewichtsprozess handelt.
Hat z. B. ein Kohlungsmittel bei einer bestimmten Temperatur einen Kohlenstoffpegel c0
von 0,7 Masse-% (vgl. Abb. 37.2), dann werden Eisen-Kohlenstoff-Legierungen sowie un-
legierte Stähle mit geringen Anteilen an Begleitelementen und Kohlenstoffgehalten kleiner
als 0,7 Masse-% aufgekohlt, während solche mit höheren Kohlenstoffgehalten als 0,7 Mas-
se-% entkohlt werden. Die praktische Bestimmung des Kohlenstoffpegels erfolgt mit Hilfe
dünner Reineisenfolien. Diese werden in das Kohlungsmedium eingebracht und nehmen je
nach Kohlungstemperatur innerhalb weniger als 20 min dessen Gleichgewichtskohlenstoff-
gehalt an. Danach kann durch übliche C-Analyse der Kohlenstoffpegel ermittelt werden.
Der Ablauf des Aufkohlungsvorgangs und das Ergebnis der Einsatzhärtung sind we-
sentlich davon abhängig, dass der dem gewünschten Randkohlenstoffgehalt entsprechende
37.1 Grundlagen 289
gegeben. Dabei ist β die sog. Kohlenstoffübergangszahl, die angibt, welche Menge Koh-
lenstoff in Gramm pro Quadratzentimeter und Sekunde bei der Aktivitätsdifferenz 1 vom
Aufkohlungsmedium zum Bauteil übergeht.
Die in der Entfernung x von der Oberfläche nach der Zeit t anzutreffende Kohlenstoff-
konzentration lässt sich näherungsweise mit Hilfe des 2. Fickschen Gesetzes zu
c x = c − (c − cK ) erf ϕ (37.5)
mit
x
ϕ= √ , (37.7)
Dt
D, der Volumendiffusionskoeffizient des Kohlenstoffs im γ-Eisen, ist in der Form
−Q
D = D e[ RT ] (37.8)
oder
t = n t . (37.10)
Soll also in einer um den Faktor n gegenüber einer Bezugstiefe größeren Probentie-
fe dieselbe Kohlenstoffkonzentration erzielt werden, so verlangt dies eine Ver-n2 -fachung
der Diffusionszeit (gilt bei T = const.). Andererseits wird an derselben Probenstelle eine
bestimmte Konzentration umso eher erreicht, je größer die Temperatur und damit der Dif-
fusionskoeffizient ist. Aus den Gln. 37.7 und 37.8 folgt:
( −Q )
t D D e RT
= = −Q
. (37.11)
t D D e( RT
)
Bei Erhöhung der Aufkohltemperaturen von T 1 auf T 2 können daher die Aufkohlzeiten
im Verhältnis der Diffusionskoeffizienten D1 /D2 verkleinert werden (D2 > D1 ).
Die Dicke der entstehenden Aufkohlschicht ist von der Aufkohlzeit, der Temperatur
und dem Aufkohlungsmittel abhängig (im Weiteren auch vom Legierungsgehalt des Ein-
satzstahls, sowie der daraus resultierenden, maximalen Löslichkeit des Austenits für Koh-
lenstoff). Sie wird üblicherweise nicht größer als 2 mm gewählt, im Großgetriebebau sind
allerdings auch deutlich größere Einsatzhärtungstiefen möglich. Die angestrebten Rand-
kohlenstoffgehalte liegen üblicherweise zwischen 0,7 und 1,0 Masse-%.
Die an die Aufkohlbehandlung anschließende Härtung kann sehr verschiedenartig
durchgeführt werden. In Abb. 37.6 sind mögliche Behandlungen zusammengestellt und
erläutert. In allen Fällen erfolgt nach dem Härten eine Anlassbehandlung, die dazu die-
nen soll, die Zähigkeit der gehärteten Randschicht zu verbessern. Erfahrungsgemäß wird
dadurch die bei der oft notwendigen Schleifnachbehandlung auftretende Schleifrissemp-
findlichkeit herabgesetzt. Das einfachste Verfahren, die Direkthärtung, findet heute bei
geeigneten Stählen aus Kostenersparnisgründen und wegen des relativ geringen Verzugs
37.1 Grundlagen 293
Abb. 37.6 Behandlungsfolgen bei der Einsatzhärtung (nach DIN 17 022). a Einsetzen, b Abkühlen,
1a Wasser oder Öl. 1c Salzbad, 2 Einsetzkasten, 3 Luft, c1 Härten in Wasser oder Öl, d Zwischenglü-
hen, e1 Härten in Wasser oder Öl, f Anlassen
breite Anwendung. Voraussetzung für die Direkthärtung sind legierte Stähle, die nach
dem Aufkohlen noch hinreichend feinkörnig bleiben. Stähle mit relativ großen Gehal-
ten an Cr, Mn und Ni, wie z. B. 18CrNi8, sind nicht direkthärtbar sofern nicht weitere
legierungstechnische Maßnahmen unternommen wurden.
Die Austenitisierungstemperaturen T A sind nach dem Aufkohlen wegen der unter-
schiedlichen Kohlenstoffgehalte für Probenkern und -rand verschieden. Als Folge der
Einsatzhärtung erwartet man einen über den Bauteilquerschnitt veränderlichen Koh-
lenstoff- und damit auch Härteverlauf, wie er schematisch in Abb. 37.7 gezeigt ist. Die
Gesamttiefe Gt der Aufkohlschicht ist durch den Oberflächenabstand gegeben, in dem
die Härte und/oder der Kohlenstoffgehalt die Werte des Werkstoffkernes annehmen. Da
Gt nicht eindeutig bestimmt werden kann, wurde die Einsatzhärtungstiefe Eht (neuere,
normgerechte Bezeichnung: CHD, engl.: case hardening depth) als Bewertungskriterium
festgelegt. Sie ist der senkrechte Abstand von der Oberfläche bis zu dem Punkt im In-
nern der Randschicht, bei dem die Grenzhärte von 550 HV auftritt. Als Aufkohlungstiefe
At wird der Abstand von der Oberfläche bis zu dem Punkt im Inneren der Randschicht
294 37 V37 Einsatzhärten
Abb. 37.7 Tiefenverteilung des Kohlenstoffs und der Härte bei einsatzgehärteten Bauteilen (sche-
matisch)
bezeichnet, bei dem ein Grenzkohlenstoffgehalt von üblicherweise 0,3 Masse-% vorliegt.
Dieser Kohlenstoffgehalt ergibt nach martensitischer Härtung und Anlassen bei den für
einsatzgehärtete Teile üblichen Anlasstemperaturen von 150–180 °C eine Härte von et-
wa 550 HV, so dass die Aufkohlungstiefe in etwa mit der Einsatzhärtungstiefe identisch
wird. Dies trifft jedoch nicht zu, wenn bei dickwandigen Teilen mit entsprechend gerin-
gerer Abkühlgeschwindigkeit und nicht ausreichendem Legierungsgehalt bei 0,3 Masse-%
Kohlenstoff keine vollständige Umwandlung in der Martensitstufe erfolgen kann (vgl.
V34). Die Einsatzhärtungstiefe ist dann geringer als die Aufkohlungstiefe. In Abb. 37.7 ist
ferner angedeutet, dass der Anlassvorgang die Härte der Randschicht kohlenstoffabhängig
absenkt. Schließlich ist vermerkt, dass der mit wachsendem Kohlenstoffgehalt zunehmen-
de Restaustenit einen weiteren Abfall der Härte in der äußeren Randschicht bewirkt. Bei
gegebenem Kohlenstoffgehalt steigern die Elemente Mo, Ni, Cr, V, Mn in der angegebenen
Reihenfolge den Restaustenitgehalt.
Der Härteverlauf nach der Einsatzhärtung ist von den Aufkohlungsbedingungen, der
gewählten Härtemethode (vgl. Abb. 37.6), der Stahlzusammensetzung sowie der Bauteil-
form und -größe abhängig. So führen z. B. die in Abb. 37.8 oben gezeigten Veränderun-
gen der Kohlenstoffkonzentrationsverteilung mit der Aufkohlungszeit und der Aufkoh-
lungstemperatur bei 16MnCr5 nach Einfachhärtung (vgl. Abb. 37.6) von 825 °C zu den in
Abb. 37.8 unten aufgezeichneten Härteverteilungen.
37.1 Grundlagen 295
Abb. 37.8 Aufkohlungskurven des Stahles 16MnCr5 nach Salzbadaufkohlung bei 900, 950 und
γ
1000 °C (oben) und Härtetiefenverteilungen nach Einfachhärtung von 825 °C in Öl (unten). CS Sät-
tigungskonzentrationen des Kohlenstoffs im Austenit
Außer einer hohen Oberflächenhärte, die meistens im Bereich von 60 HRC liegt, und
einer ausreichenden Einsatzhärtungstiefe werden an einsatzgehärtete Werkstücke die un-
terschiedlichsten Anforderungen hinsichtlich der Kernfestigkeit gestellt. Je nach der Ein-
härtbarkeit des Einsatzstahls, der Werkstückgröße und den Abschreckbedingungen wer-
den bei unlegierten Einsatzstählen Kernfestigkeiten von 400–700 MPa und bei legierten
Einsatzstählen bis zu 1500 MPa erreicht.
296 37 V37 Einsatzhärten
37.2 Aufgabe
Drei Proben aus einem Einsatzstahl sind verschieden lange aufzukohlen und direkt zu här-
ten. Der Härtetiefenverlauf von der Oberfläche zum Probenkern ist zu bestimmen und die
Einsatzhärtetiefe anzugeben. Ferner ist die Biegefestigkeit dieser Proben zu ermitteln.
37.3 Versuchsdurchführung
Drei Proben aus Ck15 mit quadratischem Querschnitt (10 × 10 mm2 ) werden 2 bzw. 4 bzw.
6 Stunden bei 930 °C aufgekohlt. Als aufkohlendes Mittel steht ein geeignetes Salzbad zur
Verfügung. Die Proben werden direkt aus dem Salzbad in Wasser gehärtet. Anschließend
werden von den Proben Endstücke von 10 mm Länge abgetrennt und die Probenquer-
schnitte geschliffen und metallographisch poliert (vgl. V7). Danach wird die Vickershärte
HV 0,5 (vgl. V8 und V25) in Abhängigkeit von der Oberflächenentfernung bestimmt.
In Randnähe sind die Messpunkte möglichst dicht zu legen. Die Auswertung der Mes-
sung erfolgt analog zu Abb. 37.7. Die Biegeversuche werden unter 3-Punkt-Belastung
(vgl. V44) durchgeführt. Dabei wird die Durchbiegung als Funktion der Belastung bis
zum Bruch ermittelt und mit den Messergebnissen des blindgehärteten Grundwerkstoffes
verglichen.
Weiterführende Literatur
38.1 Grundlagen
1000
900 910°C γ’
Fe4N
800
768
ξ
740°C
700
γ+ε ε ε+γ ’ ε Fe2N
γ 650°C Fe3N
Temperatur [°C]
hell. Sie wird Verbindungsschicht (VS) genannt und besteht vorwiegend aus den Eisenni-
triden ε- und γ ′ -Nitrid.
An die Verbindungsschicht schließt sich in Abb. 38.2 mit deutlich begrenztem Über-
gang die sog. Diffusionsschicht (DS) an, in der der dorthin eindiffundierte Stickstoff bei
der Behandlungstemperatur im Mischkristall interstitiell gelöst wird. Bei rascher Abküh-
lung (z. B. Abschrecken in Wasser) bleibt dieser Stickstoff im übersättigten Ferrit-Misch-
kristall erhalten (vgl. Abb. 38.3). Aus der Breite des dunkler anätzenden Bereichs kann
näherungsweise die Eindringtiefe des Stickstoffs abgeschätzt werden (vgl. Abb. 38.2). Die
Verbindungsschicht ist im äußeren Bereich in der Regel porös (vgl. Abb. 38.3).
Werden Eisenbasiswerkstoffe nitriert, die die eingangs erwähnten nitridbildenden Le-
gierungselemente enthalten, so bilden sich zusätzlich Nitride und Carbonitride dieser Ele-
mente in der Diffusionsschicht aus. Diese Sondernitride bewirken eine beträchtliche Er-
höhung der Härte. In Abb. 38.4 sind die Härtetiefenverlaufskurven verschiedener Ver-
38.1 Grundlagen 301
gütungsstähle aufgezeichnet. Die erreichbare Randhärte ist von der Art und Anzahl der
Legierungselemente des Grundwerkstoffes abhängig. Die größte Härtesteigerung wird bei
Cr-Al-Mo-legierten Stählen erreicht. Die Nitrierhärtetiefe (NHD, ehemals Nht) wird aus
dem Verlauf der Härte in Abhängigkeit von der Tiefe als charakteristischer Kennwert er-
mittelt. Gemäß DIN 50190-3 ist die Nitrierhärtetiefe derjenige senkrechte Oberflächen-
abstand, in dem die Härte noch 50 HV höher als die Kernhärte ist (vgl. Abb. 38.6). Bei
legierten Stählen muss beachtet werden, dass die Legierungselemente durch Bildung von
Sondernitriden die Ausbildung der Nitrierschicht verlangsamen, da der in Sondernitriden
gebundene Stickstoff nicht mehr für die Diffusion zur Verfügung steht. Abbildung 38.5 gibt
einige Anhaltspunkte für die Zeiten, die notwendig sind, um bei verschiedenen Stählen be-
stimmte Nitriertiefen (Dicke der Verbindungs- und Diffusionsschicht) zu erreichen.
C45
400
200
1,6
C15
0,4 Al-legiert
0,2
0
0 30 60 90 120 180 240 300 360
Behandlungsdauer [min]
Abb. 38.5 Nitriertiefe badnitrierter Vergütungsstähle (570 °C) in Abhängigkeit der Behandlungs-
dauer [Lie06]
38.2 Aufgabe
Proben aus Ck 15, GJS-600, l6MnCr5, 42CrMo4 und 34CrAl6 werden unterschiedlich
lange nitriert/nitrocarburiert. Danach wird das Gefüge der nitrierten Randschicht metal-
lographisch präpariert und mit Hilfe der Härteprüfung nach Vickers (HV 0,5) die Nitrier-
härtetiefe bestimmt.
38.3 Versuchsdurchführung
Von jedem Werkstoff werden zwei zylindrische Proben von 10 mm Durchmesser und
50 mm Länge unterschiedlich lange (90′ , 120′ und 180′ ) bei 570 °C im Gas oder im Plasma
38.4 Symbole, Abkürzungen 303
nitriert bzw. im Salzbad nitrocarburiert. Anschließend wird eine Probe in Wasser von 20 °C
abgeschreckt, die andere an Luft auf Raumtemperatur abgekühlt. Danach werden von den
Proben Zylinderscheiben abgetrennt und zur Präparation (vgl. V7) eingebettet. Nach der
Ermittlung der Härtetiefenverlaufskurven (vgl. V8) werden die Nitrierhärtetiefen gemäß
Abb. 38.6 bestimmt und zusammen mit den Schliffbildern diskutiert.
Literatur
Verwendete Literatur
[Lie06] Liedtke, D.: Wärmebehandlung von Eisenwerkstoffen: Nitrieren und Nitrocarburieren,
3. Aufl. expert-Verlag, Renningen (2006)
[Spi84] Spies, H.-J., Böhmer, S.: Beitrag zum kontrollierten Gasnitrieren von Eisenwerkstoffen. HTM
84(39), 1–6 (1984)
Weiterführende Literatur
[Lie05] Liedtke, D.: Merkblatt 447 Wärmebehandlung von Stahl – Nitrieren und Nitrocarburieren.
Stahl-Informations-Zentrum, Düsseldorf (2005)
[DIN 50190-3] Härtetiefe wärmebehandelter Teile – Ermittlung der Nitrierhärtetiefe
[DIN EN 10052] Begriffe der Wärmebehandlung von Eisenwerkstoffen (1993)
V39 Wärmebehandlung von
Schnellarbeitsstählen 39
39.1 Grundlagen
Werkzeugstähle sind Edelstähle, die zur Bearbeitung anderer Werkstoffe verwendet wer-
den. Sie müssen ihrem Einsatz entsprechend neben hinreichender Festigkeit und Zähigkeit
vor allem einen hohen Verschleißwiderstand sowie eine gute Anlassbeständigkeit besitzen.
Durch geeignete Wahl und Kombination bestimmter Legierungselemente sowie durch op-
timierte Wärmebehandlungen (Härten und Anlassen) sind diese Eigenschaften erreichbar
und gezielt veränderbar.
Unterteilt werden die Werkzeugstähle nach DIN EN ISO 4957 in unlegierte und legierte
Kaltarbeitsstähle, legierte Warmarbeitsstähle und Schnellarbeitsstähle.
Unlegierte Werkzeugstähle enthalten als wesentliches Legierungselement Kohlenstoff,
daneben in Grenzen Mangan und Silizium. Je nach Kohlenstoffgehalt finden sich unter-
schiedlichste Anwendungen:
ca. 0,5 bis ca. 0,8 % C: Handhämmer, Scheren, Messer, Döpper (Nietkopfsetzer), Pflug-
scharen, Messer, Handmeißel, Spitzeisen, Zahlenstempel, Kalt-
schlagwerkzeuge, Fließpresswerkzeuge, kleinere Ziehringe, Präge-
werkzeuge, usw.
ca. 1,0 bis 1,2 % C: einfache Bohrer und Fräser, Mähmaschinenmesser, Schnitt- und
Prägewerkzeuge, Holzbearbeitungswerkzeuge, Presswerkzeuge
usw.
bis 1,5 % C: Messer und Stichel für die Bearbeitung harter Stoffe, Gewindeboh-
rer, Ziehdorne, Feilen, usw.
Mit höherem C-Gehalt finden unlegierte Werkzeugstähle aufgrund der geringen Ein-
härtbarkeit häufig als „Schalenhärter“ Anwendung, wobei nur relativ dünne Randbereiche
martensitisch umwandeln. Hier werden hinsichtlich der Begleitelemente strenge Ober-
grenzen gesetzt.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 305
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_39, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
306 39 V39 Wärmebehandlung von Schnellarbeitsstählen
800
Temperatur in °C
Abkühlen an Luft
1. Anlassstufe 2. Anlassstufe 3. Anlassstufe
600 (≥ 2h) (≥ 2h) (≥ 2h)
Abschrecken
400
200 Anlassen
0
0 2 4 6 8 10 12
Zeit in h
Abb. 39.2 Temperatur-Zeit-Schaubild beim Härten von unlegierten Werkzeugstählen und Schnell-
arbeitsstählen
Infolge des hohen Anteils an gelöstem Kohlenstoff sind bei den Schnellarbeitsstählen die
Temperaturen, ab denen sich Martensit bildet (M s ), niedrig. Die Martensitbildung ist in der
Regel bei diesen Stählen erst bei einer Temperatur (M f ) unterhalb von Raumtemperatur ab-
geschlossen, so dass ein Anteil austenitisch bleibt. Das nach der Härtung vorliegenden Ge-
füge enthält etwa 60–70 % Martensit, 20–30 % Restaustenit und 10–20 % nicht aufgelöste
Carbide. Abbildung 39.3 zeigt als Beispiel für den Schnellarbeitsstahl HS6-5-2 C oben den
Einfluss der Härtetemperatur auf die Härte und den Restaustenitgehalt nach Abschrecken
auf Raumtemperatur. Werden derartige Werkstoffzustände einer anschließenden Anlass-
behandlung unterworfen, treten ähnliche Härte- und Restaustenitgehaltsänderungen auf,
wie sie in Abb. 39.3 unten für eine Härtetemperatur von 1220 °C dargestellt sind. Zunächst
nimmt die Härte mit der Anlasstemperatur kontinuierlich ab (vgl. V35), da sich aus dem
Martensit Carbide ausscheiden, wodurch die Gitterverzerrung reduziert wird. Die Härte
steigt dann aber oberhalb 400 °C wieder merklich an, durchläuft das Sekundärhärtema-
ximum (Sondercarbidbildung) und wird schließlich oberhalb 550 °C kontinuierlich mit
wachsender Temperatur kleiner. Dabei bleibt bis etwa 500 °C der Restaustenitgehalt kon-
stant und fällt dann auf kaum nachweisbar kleine Werte ab. Verantwortlich hierfür ist zum
einen die Ausscheidung von feinsten Carbiden aus dem Austenit (vgl. V41), zum anderen
die Bildung von Martensit aus dem Restaustenit, der infolge des reduzierten Kohlenstoffge-
haltes jetzt eine höhere M s hat. Der niedrigere C-Gehalt (erhöhtes M f ) erklärt auch, warum
nach dem Anlassen mit kontrollierter Geschwindigkeit möglichst auf niedrige Temperatu-
ren (<50 °C) abgekühlt werden muss.
Durch eine geeignete Wahl der Härtetemperatur und der Anlassbehandlung (Mehrfach-
anlassen) lässt sich die Sondercarbidausbildung und damit der gesamte Gefügezustand
so beeinflussen, dass sich eine optimale Kombination von Härte und Zähigkeit einstellt.
Dadurch erhält der Werkstoffzustand die angestrebte vorzügliche Schneidhaltigkeit. Abbil-
dung 39.4 zeigt für HS6-5-2 C, welch unterschiedliche Härtehöchstwerte erreicht werden
können, wenn nach Abschrecken von verschiedenen Härtetemperaturen angelassen wird.
Größte Verschleißwiderstände werden durch Anlassen bei der Temperatur erzielt, an der
das Sekundärhärtemaximum liegt. In der Regel wird jedoch bei etwas höherer Temperatur
als am Sekundärhärtemaximum angelassen, da dadurch eine verbesserte Zähigkeit erreicht
wird.
Gehärtete und angelassene Schnellarbeitsstähle sind sehr anlassbeständig. Sie behalten
ihre Härte bei Temperaturen knapp unter der höchsten Anlasstemperatur über längere
Zeit bei. Das erlaubt beim Zerspanen hohe Schnittgeschwindigkeiten (bei Kohlenstoffstäh-
len bis etwa 30 m/min), ohne dass die dabei auftretenden hohen Schneidtemperaturen das
Werkzeug zerstören.
39.2 Aufgabe
nen Temperaturen anzulassen. Die Rockwellhärte ist als Funktion der Anlasstemperatur
zu bestimmen und zu diskutieren.
39.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine ausreichende Zahl von Proben des Stahls HS6-5-2 C zur
Verfügung. Nach Anwärmen bei 450 °C im Schutzgasofen und jeweils 5-minütigem Auste-
nitisieren bei 1190 bzw. 1210 bzw. 1230 °C in einem Salzbad werden die Proben in Öl von
20 °C abgeschreckt. Alternativ kann eine Austenitisierung im Vakuumofen mit anschlie-
ßender Gasabschreckung erfolgen. Von jedem Härtungszustand wird die Ansprunghärte
mittels Härtemessung nach Rockwell (HRC) bestimmt. Anschließend wird je eine der ver-
schieden austenitisierten Proben 1 h bei 200, 300, 400, 500, 550, 600 und 650 °C in einem
Luftumwälzofen angelassen. Nach leichtem Abschleifen der Oberflächen wird die Härte
(HRC) der angelassenen Proben bestimmt und über der Anlasstemperatur aufgetragen.
Danach wird die Anlassbehandlung der einzelnen Proben wiederholt und erneut die Härte
Weiterführende Literatur 311
gemessen. Die erhaltenen Härtewerte werden dann mit denen der ersten Anlassbehand-
lung verglichen und diskutiert.
Weiterführende Literatur
[Ber06] Berns, H., Theisen, W.: Eisenwerkstoffe – Stahl und Gusseisen, 3. Aufl. Springer-Verlag, Ber-
lin Heidelberg (2006)
[Hau72] Haufe, W.: Schnellarbeitsstähle, 2. Aufl. Carl Hanser Verlag, München (1972)
[Lie07] Liedtke, D.: Wärmebehandlung von Eisenwerkstoffen I – Grundlagen und Anwendungen,
7. Aufl. Kontakt & Studium, Bd. 349. Expert Verlag, Renningen (2007)
[Ste83] von den Steinen, A., Schmidt, W., Dahl, W.: Grundlagen der Festigkeit, der Zähigkeit und des
Bruches. Stahleisen, Düsseldorf (1983)
V40 Thermo-mechanische Stahlbehandlung
40
40.1 Grundlagen
40.2 Aufgabe
Vom hochfesten Edelbaustahl X41CrMoV51, der das in Abb. 40.2 gezeigte ZTU-Schaubild
besitzt, sind nach verschieden großen Umformungen des metastabilen Austenits austenit-
formgehärtete Zustände zu erzeugen und deren mechanische Eigenschaften sowie deren
Anlassverhalten zu untersuchen.
40.3 Versuchsdurchführung
ЄW = h / h0 ⋅ 100 % = 40, 60 und 80 % (vgl. V9) abgewalzt. Dabei lässt sich die Walzfolge
so abstimmen, dass sich die Abkühlungen zwischen den Stichen etwa durch die Auf-
heizeffekte während der Umformung kompensieren. Zweckmäßigerweise wird auf der
Auslaufseite der Walzen mit einem Heiztisch mit einer Oberflächentemperatur von etwa
500 °C gearbeitet. Nach abgeschlossener Walzverformung werden die Proben in Öl von
Raumtemperatur abgeschreckt. Als einfachste mechanische Kenngröße wird von den aus-
tenitformgehärteten Proben die Vickershärte (vgl. V8) bestimmt, in Abhängigkeit vom
Walzgrad aufgetragen und unter Heranziehung von Härtewerten konventionell gehärte-
ter Proben diskutiert. Anschließend werden Anlassbehandlungen bei Temperaturen bis
T < 800 °C je 1 h lang vorgenommen und die danach bei Raumtemperatur vorliegenden
HV 50-Werte bestimmt. Die dabei ermittelten Messwerte werden mit den oben gefunde-
nen verglichen und erörtert.
316 40 V40 Thermo-mechanische Stahlbehandlung
Weiterführende Literatur
41.1 Grundlagen
Aluminium
AlCuMg
AlMgMn
AlZnMgCu
AlSiCu
i. Die GP-I-Zonen, nach ihren Entdeckern (Guinier und Preston) benannt, sind schei-
benförmige Ansammlungen von Kupferatomen in monoatomaren Schichten auf {100}-
Ebenen der Aluminium-Matrix mit einem Durchmesser von ca. 100 ⋅ 10−8 cm.
ii. Die GP-II-Zonen (vielfach auch θ ′′-Phase genannt) stellen eine abwechselnde Folge von
übereinander gelagerten monoatomaren Aluminium- und Kupferschichten in {100}-
Ebenen der Aluminiummatrix dar und sind mit einer tetragonalen Verzerrung des Git-
ters (a = 4,04 ⋅ 10−8 cm, c = 7,60 ⋅ 10−8 cm) verknüpft. Die Zonen erreichen Dicken bis zu
etwa 100 ⋅ 10−8 cm und Durchmesser bis zu etwa 1500 ⋅ 10−8 cm.
320 41 V41 Aushärtung einer AlCu-Legierung
Keimbildungsschwierigkeiten für die Gleichgewichtsphase sind der Grund für das Auf-
treten der genannten Nichtgleichgewichtszustände nach Auslagerung bei Raumtemperatur
oder erhöhten Temperaturen. So bilden sich in einer Aluminiumlegierung mit 4 Mas-
se-% Kupfer schon wenige Minuten nach dem Abschrecken auf Raumtemperatur GP-I-
Zonen. Wird die gleiche Probe weitere 5 Stunden bei 160 °C geglüht, so erhält man vor-
wiegend GP-II-Zonen, die sich unter gleich bleibenden Bedingungen über die θ ′-Phase
weiter dem Gleichgewichtszustand annähert. Erfolgt dagegen nach dem Abschrecken eine
24-stündige Glühung bei 240 °C, so stellt sich die θ ′-Phase ein. Erst nach Glühen oberhalb
von etwa 300 °C bildet sich die Gleichgewichtsphase θ (Al2 Cu) aus. Der im Ergebnis der
Warmauslagerung entstehende ausgehärtete Zustand ist ein metastabiler Zustand. Die Fes-
tigkeitssteigerung bleibt demnach nur bis zu der Temperatur längere Zeit bestehen, bei der
sich die Abstände der Teilchen durch Wachstum nicht stark vergrößern.
Im Gegensatz zu einer Warmauslagerung wird bei der so genannten Kaltauslagerung
(vielfach auch als natürliche Alterung bezeichnet) nicht die stabile Gleichgewichtsphase
erreicht. Bei dieser Art der Auslagerung liegen je nach Legierung Temperaturen zwischen
Raumtemperatur und etwa 80 °C vor und diese reichen lediglich aus, um die GP-I-Phase
zu bilden. Grund hierfür ist die für die Diffusion notwendige Energie, die bei den niedrigen
Temperaturen nicht ausreicht, um größere Diffusionswege zu überwinden. Als Folge liegen
auch die Härte- bzw. Festigkeitswerte einer kaltausgelagerten Al-Legierung unter jenen des
warmausgelagerten Werkstoffs.
Voraussetzung für die beschriebenen Ausscheidungsvorgänge ist eine hinreichend hohe
Leerstellenkonzentration, die eine Diffusion der Legierungsatome auch noch bei relativ
niederen Temperaturen ermöglicht. Diese Voraussetzung wird dadurch geschaffen, dass
die bei der Lösungsglühtemperatur vorliegende Leerstellenkonzentration durch das rasche
Abschrecken auf Raumtemperatur zunächst im „eingefrorenen Zustand“ vorliegt.
Bei der Beurteilung der Auswirkung von Ausscheidungen auf die mechanischen Ei-
genschaften einer aushärtbaren Legierung ist der Begriff der „Kohärenz“ von Bedeutung.
Man unterscheidet kohärente, teilkohärente und inkohärente Ausscheidungen (Abb. 41.4).
Bei einer kohärenten Ausscheidung korrespondiert das Kristallgitter mit dem der Matrix.
Die auftretenden Unterschiede in den Atomabständen der beiden Gitter führen zu so ge-
nannten Kohärenzspannungen. Besteht eine teilweise Kohärenz zwischen den Gittern der
Ausscheidung und der Legierungsmatrix, so spricht man von teilkohärenten Ausscheidun-
gen. Inkohärente Ausscheidungen besitzen stets eine von der Legierungsmatrix deutlich
verschiedene Gitterstruktur. In AlCu-Legierungen sind die GP-I- und GP-II-Zonen als ko-
härent, die θ ′ -Phase als teilkohärent und die θ-Phase als inkohärent anzusprechen.
41.1 Grundlagen 321
Abb. 41.5 Zugfestigkeit und Schneid- bzw. Umgehungswiderstände in Abhängigkeit von der Aus-
lagerungsdauer einer AlCu-Legierung mit Zuordnung der unterschiedlichen Phasen [Zsc96]
die Wechselwirkung zwischen Teilchen und Versetzungen sowohl durch den Schneideme-
chanismus als auch durch den Umgehungsmechanismus und die Versetzungsbewegung
wird maximal behindert. Sobald nur noch Ausscheidungen der θ ′-Phase vorliegen, ist der
überalterte Zustand erreicht. Die ungleichmäßige Verteilung dieser Phase führt zu einem
Rückgang der Dehngrenze.
Neben Temperatur und Auslagerungsdauer, hat auch der Kupfergehalt einen Einfluss
auf die erreichbare Festigkeit. Als Beispiel sind in Abb. 41.6 gemessene Härtewerte als
Funktion der Auslagerungsdauer (sog. Härte-Isothermen) für verschiedene AlCu-Legie-
rungen dargestellt, die nach verschieden langen Auslagerungen bei 130 °C und nachfolgen-
der Abschreckung auf Raumtemperatur ermittelt wurden. Vor der Aushärtungsbehand-
lung wurden alle Proben 20 min bei 550 °C lösungsgeglüht und anschließend in Wasser auf
20 °C abgeschreckt. Ergänzende röntgenographische bzw. elektronenmikroskopische Un-
tersuchungen ermöglichten die vorgenommene Zuordnung der einzelnen Ausscheidungs-
typen zu den jeweiligen Härte-Isothermen. Bei gegebener Legierungszusammensetzung
treten bei den gewählten Aushärtungstemperaturen unterschiedlich große Härtemaxima
nach unterschiedlichen Auslagerungsdauern auf.
41.2 Aufgabe 323
41.2 Aufgabe
41.3 Versuchsdurchführung
Literatur
Verwendete Literatur
[Ost07] Ostermann, F.: Anwendungstechnologie Aluminium, 2. Aufl. Springer-Verlag, Berlin (2007)
[Zsc96] Zschech, E.: Metallkundliche Prozesse bei der Wärmebehandlung aushärtbarer Aluminium-
legierungen. Härterei-Technische Mitteilungen 51(3), 137–144 (1996)
Weiterführende Literatur
[Nab79] Nabarro, F.R.M.: Dislocations in Solids Bd. 4. North-Holland, Amsterdam (1979)
[Kel71] Kelly, A., Nicholson, R.B.: Strengthening Methode in Crystals. Elsevier, Oxford (1971)
[Kam09] Kammer, C.: Aluminium-Taschenbuch, 16. Aufl. Alu Media GmbH, Düsseldorf (2009)
[Shi96] Shih, H.-C., Ho, N.-J., Huang, J.C.: Precipitation behaviors in Al-Cu-Mg and 2024 aluminium
alloys. Metallurgical and Materials Transactions 27 A(9), 2479–2494 (1996)
[Sta92] Starink, M.J., van Mourik, P.: Cooling and heating rate dependence of precipitation in an Al-
Cu alloy. Materials Science and Engineering 156 A, 183–194 (1992)
V42 Formzahlbestimmung
42
42.1 Grundlagen
Wird ein glatter, zylindrischer Stab wie in Abb. 42.1a durch äußere Kräfte F beansprucht, so
wirken in einer zur Kraftrichtung senkrecht liegenden Querschnittsfläche A0 , lokale Span-
nungen einheitlicher Größe und Richtung, die durch die Nennspannungen
F
σn = (42.1)
A
gegeben sind. Wirken die Kräfte parallel zur Probenlängsachse genau in den Flächen-
schwerpunkten der Stabenden, so liegt eine momentenfreie Beanspruchung vor. Betrag
und Richtung der Spannungen sind an allen Querschnittsstellen makroskopisch gleich.
Der Spannungszustand ist einachsig und homogen.
Wirken die gleichen äußeren Kräfte F auf einen gekerbten Rundstab, dessen Kerbgrund-
querschnitt (vgl. Abb. 42.1b) den gleichen Durchmesser hat wie der glatte Stab, so bil-
det sich im Kerbgrundquerschnitt ein rotationssymmetrischer dreiachsiger Spannungszu-
stand mit inhomogener Spannungsverteilung aus. Senkrecht zur Längs- oder Axialspan-
nung σ 1 (r) bilden sich Umfangs- oder Tangentialspannungen σ 2 (r) sowie senkrecht zu
σ 1 (r) und σ 2 (r) Radialspannungen σ 3 (r) aus. An der Kerbgrundoberfläche r = rK ist σ 3 = 0.
Die Längsspannung erreicht dort ihren Höchstwert σ 1 (r = rK ) = σ max , der größer als die
Nennspannung σ n ist. Aus Gleichgewichtsgründen muss in einer gewissen Entfernung vom
Kerbgrund die Längsspannung kleiner als die Nennspannung sein. Eine Betrachtung, die
sich bei gekerbten Proben nur auf die Nennspannung stützt, erfasst also nicht die tatsäch-
lich im Kerbgrundquerschnitt vorliegende Spannungsverteilung und die im Kerbgrund
auftretende Höchstspannung. Die Größe
σmax
αK = (42.2)
σn
42.2 Aufgabe
An einem beidseitig gekerbten Flachstab aus Stahl, dessen Kerbbereich die in Abb. 42.3 ge-
zeigte Form und Abmessungen hat, sind die Oberflächenlängs- und -querspannungen an
328 42 V42 Formzahlbestimmung
Abb. 42.3 Abmessungen des Kerbstabes mit Lage (•) der DMS
42.3 Versuchsdurchführung
Auf dem Kerbstab sind an den festgelegten Stellen (vgl. Abb. 42.3) Dehnungsmessstreifen
(DMS) für Längs- und Querdehnungsmessungen anzubringen (vgl. V22). Die so vorbe-
reitete Probe wird momentenfrei in einer geeigneten Zugprüfmaschine eingespannt. Die
Anschlüsse der einzelnen Dehnungsmessstreifen werden über Kabel einer Dehnungsmess-
brücke zugeleitet, an der die Dehnungswerte unmittelbar abzulesen sind. Unter mehreren
geeignet gewählten Belastungen (Nennspannungen) werden nacheinander die Dehnungs-
analysen an den einzelnen Messstellen vorgenommen. Aus den Messdaten werden unter
Zuhilfenahme der Gln. 42.5 und 42.6 die lokal vorliegenden Spannungen berechnet, in
Abhängigkeit vom Kerbgrundabstand aufgetragen und durch ausgleichende Kurven ausge-
mittelt. Die Messungen werden für mindestens drei verschiedene Nennspannungen durch-
geführt, die etwa das 0,3-; 0,4- und 0,5-fache der Streckgrenze des Versuchswerkstoffes
betragen sollten. Die Formzahl α K wird mit Hilfe von Gl. 42.2 aus den gewählten Nenn-
spannungen und aus den auf den Kerbgrund extrapolierten Spannungen σ 1 bzw. aus den
direkt im Kerbgrund gemessenen Spannungen σ 1 errechnet.
42.4 Symbole, Abkürzungen 329
Weiterführende Literatur
43.1 Grundlagen
Bei der Beanspruchung gekerbter Bauteile durch äußere Kräfte und/oder Momente treten
mehrachsige inhomogene Spannungszustände auf. Die Frage ist von zentraler Bedeutung,
unter welchen Bedingungen dabei plastische Verformung einsetzt und Bruch auftritt. Das
einfachste Modell eines gekerbten Bauteils ist ein zylindrischer Kerbstab, der nach Her-
stellung eigenspannungsfrei (vgl. V32) geglüht wurde. Führt man mit derartigen Stäben
Zugversuche durch, so lassen sich neben der verformenden Kraft F auch die in Bean-
spruchungsrichtung auftretenden Längenänderungen der Messstrecke 10 , die die Kerbe
einschließt (vgl. Abb. 43.1), relativ einfach erfassen.
Man erhält damit einerseits Nennspannungswerte σ n = F/AK , die Mittelwerte der sich
einstellenden inhomogenen Spannungsverteilungen sind. Andererseits kann man aus
der Längenänderung der Messstrecke formale Dehnungswerte berechnen, die ein Maß
für die insgesamt sich ausbildenden Abmessungsänderungen der Messstrecke sind. Viel-
fach spricht man als Kerbstreckgrenze den Werkstoffwiderstand gegenüber der auf den
Kerbgrundquerschnitt bezogenen Kraft an, die zum ersten Abweichen vom linearen An-
fangsteil der Kraft-Verlängerungskurve führt. Selbstverständlich ist diese Beanspruchung
nicht mit der Nennspannung identisch, bei der erstmals plastische Verformungen im
Kerbgrund auftreten. Will man daher zu genaueren Aussagen über die Kerbstreckgrenze
RK,eS (Widerstand gegen einsetzende plastische Verformung im Kerbgrund) und/oder
Kerbdehngrenzen RK,px gelangen, so sind genauere Dehnungsanalysen im Kerbgrund
unerlässlich. Dagegen lässt sich die Kerbzugfestigkeit
Fmax
RK,m = (43.1)
AK
in einfacher Weise aus dem Maximalwert F max des Kraftverlängerungsschriebes und der
Kerbgrundquerschnittsfläche AK ermitteln.
Wird ein gekerbter Zylinderstab auf Zug beansprucht, so bildet sich – wie in Abb. 43.1
schematisch angegeben – im Inneren des Kerbquerschnittes ein dreiachsiger, im Kerb-
grund ein zweiachsiger Kerbspannungszustand aus, dessen Spannungskomponenten
heißt Formzahl der Kerbe. Typisch für Kerbwirkungen ist somit – selbst bei einfachen
Beanspruchungsarten – das Auftreten mehrachsiger Spannungszustände. Eine Ausnahme
bilden gekerbte dünne Bleche, bei denen man im Kerbgrund von einachsigen Kerbwirkun-
gen ausgehen kann.
Liegt im Kerbgrund bei einachsiger Beanspruchung nur eine einachsige Kerbspan-
nungsverteilung vor, so setzt plastische Verformung dann ein, wenn die Kerbgrundspan-
nung σ 1,max die Streckgrenze ReS erreicht, also
ReS ()
σn = = RK,eS (43.6)
αK
()
heißt Kerbstreckgrenze. RK,eS fällt hyperbolisch mit wachsendem α K ab.
Bei einachsiger Beanspruchung mit zweiachsiger Kerbwirkung ergibt sich dagegen un-
ter Zugrundelegung der Gültigkeit der Gestaltänderungsenergiehypothese für einsetzende
plastische Verformung die Kerbstreckgrenze zu
() ReS
RK,eS = √ , (43.7)
αK + a − a
() ()
ReS > RK,eS > RK,eS . (43.8)
In Abb. 43.2 sind als Beispiel die an gekerbten Zylinderstäben aus 32NiCrMo14-5 expe-
rimentell ermittelten Kerbstreckgrenzen RK,eS , die Kerbdehngrenzen RK,px und die Kerb-
zugfestigkeiten RK,m als Funktion von α K wiedergegeben. Punktiert eingetragen ist der
Kerbstreckgrenzenverlauf, wie er bei einachsiger Kerbwirkung nach Gl. 43.6 erwartet wird.
Alle gemessenen Kerbstreckgrenzen sind größer als diese mit α K abnehmenden Grenzwer-
te. Die Kerbdehngrenzen für kleine plastische Verformungen fallen ebenfalls mit wachsen-
der Formzahl ab. RK,p0,2 und RK,p1,0 steigen dagegen zunächst mit der Formzahl an und
nehmen erst bei größeren Formzahlen wieder kleinere Werte an. Die Kerbzugfestigkeit
RK,m wächst dagegen im untersuchten Formzahlbereich mit α K kontinuierlich an. Die sich
in Abhängigkeit von α K in den Oberflächenbereichen des Kerbgrundes ausbildenden Ver-
festigungszustände und die Mehrachsigkeit des Spannungszustandes bewirken bei den RK -
α K -Kurven einen kontinuierlichen Übergang von negativen zu positiven Anfangssteigun-
gen.
Einige ergänzende Bemerkungen erfordert noch die α K -Abhängigkeit der Kerbzugfes-
tigkeit. Die obere Kurve in Abb. 43.2 zeigt, dass RK,m mit α K ansteigt. Das gilt generell für
duktile Werkstoffzustände, bei denen vor dem Bruchvorgang hinreichend große plastische
Verformungen auftreten. Gemäß Abb. 43.3, Kurve I, steigt dann das Verhältnis
RK,m
nK,m/m = (43.9)
Rm
ebenfalls mit α K an. Voraussetzung für den Bruch ist, dass sich, ausgehend vom Kerbgrund,
die plastische Verformung sukzessive weiter über den Kerbquerschnitt ausbreitet. Bei hin-
reichend spröden Werkstoffzuständen, bei denen ein Normalspannungskriterium für den
Bruch des Kerbstabes verantwortlich ist, fällt dagegen nK,m/m mit wachsender Formzahl
von Anfang an kontinuierlich ab, wie es Kurve III in Abb. 43.3 andeutet. Kurve III kann der
334 43 V43 Zugverformungsverhalten von Kerbstäben
durch 1/α K bestimmten punktierten Kurve recht nahe kommen. Zwischen den beschriebe-
nen Extremen liegen ähnliche nK,m/m -α K -Kurven wie Kurve II, die zunächst mit α K anstei-
gen, einen Maximalwert durchlaufen und dann wieder abfallen. Hier wirkt sich der mit α K
zunehmende gleichsinnige Mehrachsigkeitsgrad dahin gehend aus, dass bei größeren α K -
Werten die größte Hauptnormalspannung in zunehmendem Maße das Bruchgeschehen
kontrolliert, weil die Hauptschubspannungen mit wachsenden Beträgen des mehrachsigen
Spannungszustandes kleiner werden.
43.2 Aufgabe 335
43.2 Aufgabe
43.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche werden Kerbzugproben der in Abb. 43.4 gezeigten Form mit Kerbradi-
en ρ = 5,0; 2,0; 1,0 und 0,15 mm benutzt. Bei einem Teil der Proben sind im Kerbgrund
zur Anbringung von Dehnungsmessstreifen jeweils vier um 90° versetzte Längsfasen von
etwa 2,5 mm Breite eingefräst. Dadurch erhält der Kerbgrundquerschnitt das in Abb. 43.4
gezeigte nahezu regelmäßige Achtkantprofil. Auf den Fasen werden Mikrodehnungsmess-
streifen mit einem 0,6 mm breiten und 1,0 mm langen Messgitter aufgeklebt. Der Bestim-
mung der theoretischen Formzahlen α K wird bei den angefasten Proben der Äquivalent-
durchmesser √
dk = Ak /π (43.10)
zugrunde gelegt.
Die Zugversuche erfolgen mit einer elektromechanischen 100 kN-Zugprüfmaschine bei
Raumtemperatur. Um weitgehend einachsige und momentenfreie Beanspruchung zu er-
zielen, empfiehlt sich die Benutzung einer ähnlichen Spezialeinrichtung, wie sie Abb. 43.5
zeigt. Sie ermöglicht die zusätzliche induktive Vermessung der Verschiebung der Proben-
einspannköpfe als Funktion der Zugkraft. Die Probenverformung erfolgt mit einer Traver-
sengeschwindigkeit v = 0,5 mm/min. Aus den registrierten Kraft-Zeit-Schrieben werden
die Nennspannungen erster Abweichung von der Anfangsgeraden (vgl. V23)
FI
RK,I = (43.11)
AK
beim Auftreten erster Abweichungen von der Hookeschen Geraden im Kerbgrund sowie
der Kerbdehngrenzen
Fp,x
RK,px = (43.14)
AK
beim Erreichen bestimmter plastischer Längsdehnungen x im Kerbgrund. Die ermittelten
Kenngrößen werden als Funktion von α K aufgetragen, miteinander verglichen und disku-
tiert.
Weiterführende Literatur
44.1 Grundlagen
σ(z) Mb
ε(z) = = z. (44.2)
E E ⋅ Iy
h/
I y = ∫ z bdz (44.3)
−h/
das axiale Flächenträgheitsmoment bezüglich der y-Achse. In den Randfasern der Probe
(z = ± h/2) treten also die Randspannungen
Mb h/ Mb
σR = ± =± (44.4)
Iy Wb
Abb. 44.2 Spannungs- und Dehnungsverteilung über der Biegehöhe zwischen den Auflagern bei
elastischer 4-Punkt-Biegebeanspruchung
44.1 Grundlagen 341
Abb. 44.3 Spannungs- und Totaldehnungsverteilung über der Biegehöhe bei überelastischer Biege-
beanspruchung eines Werkstoffes mit einer Verfestigungskurve vom Typ I
auf. W b wird Widerstandsmoment gegen Biegung genannt. Wegen Gl. 44.3 ist W b von der
Form der Querschnittsfläche der Biegestäbe abhängig. Die Durchbiegung des Biegestabes
f in der Mitte zwischen den Auflagern mit dem Abstand l nimmt proportional zum dort
übertragenen Biegemoment und damit auch proportional zur dort auftretenden Randspan-
nung bzw. Randdehnung zu. Es gilt
l l
f =α σR = α ε R (44.6)
Eh h
mit α = 1/6 bei 3-Punkt-Biegung und α = 1/4 bei 4-Punkt-Biegung. Wird das Biegemoment
M b auf den Wert M eS (Streckgrenzenmoment) gesteigert, so erreicht die positive (negative)
Randspannung σ R die Streckgrenze ReS (Stauchgrenze RdeS ). Bei M b > M eS treten in den
Randfasern elastisch-plastische Dehnungen auf. Tiefer gelegene Fasern der Biegeproben,
in denen die Streck- bzw. Stauchgrenze noch nicht erreicht ist, verformen sich dagegen
rein elastisch. Um weitere Probenbereiche elastisch-plastisch zu verformen, ist eine Stei-
gerung des Biegemomentes erforderlich. Bei einem überelastisch beanspruchten Biegestab
mit einer Zugverfestigungskurve vom Typ I (vgl. V23) liegen die in Abb. 44.3 gezeigten
Spannungs- und Totaldehnungsverteilungen vor.
Sie sind bei gleichem Verfestigungsverhalten unter Zug- und Druckbeanspruchung
symmetrisch zur neutralen Faser. In der Probenmitte wachsen die Spannungsbeträge line-
ar mit der Entfernung von der neutralen Faser an. In den Probenrandbereichen stellen sich
die der jeweiligen Totaldehnung entsprechenden Fließspannungen ein. Dagegen bleibt bei
überelastischer Biegung die Totallängsdehnung
εt = εe + εp (44.7)
(εe elastischer, εp plastischer Dehnungsanteil) über der Biegehöhe linear verteilt, so wie
es der rechte Teil von Abb. 44.3 zeigt. Bis zu z = ± zeS ist εp = 0. Für |zeS | < |z| < |h/2| ist
εe = σ(z)/E. Da auch bei überelastischer Biegebeanspruchung (M b > M eS ) das Biegemo-
342 44 V44 Biegeverformung
Abb. 44.4 Verteilung der wahren und fiktiven Biegespannungen bei Belastung mit M b (links) sowie
der Eigenspannungen nach Entlastung auf M b = 0 (rechts) über der Höhe eines Biegestabes
ment
h/
ein Maß für die Beanspruchung des Biegestabes ist, hat es sich als zweckmäßig erwiesen,
weiterhin mit den unter diesen Bedingungen an sich nicht mehr gültigen Gln. 44.1 und 44.4
Spannungsverteilungen bzw. Randspannungen zu berechnen. Man ermittelt so bei elas-
tisch-plastischer Biegung eine fiktive lineare Spannungsverteilung σ * (z) mit den fiktiven
Randspannungen
Mb
σR∗ = ± (Mb > MeS ). (44.9)
Wb
Diese sind größer als die tatsächlich in den Randfasern wirksamen Spannungen. In
Abb. 44.4 (links) sind schematisch die fiktive und die wahre Spannungsverteilung über der
Biegehöhe eines elastisch-plastisch beanspruchten Biegestabes aufgetragen. Beide Span-
nungsverteilungen erfüllen die Bedingung
h/ h/
∗
∫ zσ(z) bdz = ∫ zσ (z) bdz. (44.10)
−h/ −h/
Den fiktiven Spannungen σ * (z) können unter formaler Zugrundelegung des Hooke-
schen Gesetzes fiktive elastische Dehnungen εe ∗ = σ * (z)/E zugeordnet werden. Bei der Ent-
lastung des Biegestabes von M b > M eS auf M b = 0 tritt eine elastische Rückverformung auf,
die der Belastung des Biegestabes mit dem Moment M b entspricht. Nach dem Entlasten
ergibt sich die in Abb. 44.4 (rechts) aufgezeichnete Spannungsverteilung σ ES (z), die sich
aus der Differenz von wahrer und fiktiver Biegespannung
berechnet. Die Spannungen σ ES (z) werden, da sie ohne äußere Kraftwirkung existieren,
Eigenspannungen genannt (vgl. V31 und V75). Man sieht, dass in den vorher zugbean-
spruchten Randfasern des Biegestabes Druckeigenspannungen und in den vorher druckbe-
anspruchten Randfasern Zugeigenspannungen entstehen. Insgesamt entwickelt sich über
der Biegehöhe eine Eigenspannungsverteilung, die durch dreimaligen Vorzeichen-Wechsel
charakterisiert ist.
Der Zusammenhang zwischen σ R bzw. σ R* und der elastischen Randdehnung εR,e bzw.
der totalen Randdehnung εR,t wird Biegeverfestigungskurve genannt. Sie wird durchweg
aus den Messdaten gewonnen, die im Stabbereich in der Mitte zwischen den Auflagern
anfallen. Abbildung 44.5 zeigt die Biegeverfestigungskurven von Werkstoffen, die im Zug-
versuch Verfestigungskurven vom Typ I bzw. Typ IV besitzen (vgl. V23).
Aus dem Anstieg des linearen Anfangsteils der Kurve berechnet sich der Elastizitäts-
modul des Werkstoffes mit Hilfe der Gln. 44.4 und 44.5. Die Biegestreckgrenze ReS , als
Widerstand des Biegestabes gegen einsetzende plastische Verformung in seinen Randfa-
sern, ergibt sich aus der ersten Abweichung der Verfestigungskurve von der Hookeschen
Anfangsgeraden. Als 0,2-%-Biegedehngrenze
∗ M ,
Rp, = (44.12)
Wb
festgelegt, der im Biegeversuch bei Erreichen der maximalen fiktiven Randspannung vor
Bruch des Biegestabes wirksam wird. Man sieht, dass Rm* über W b von der Querschnitts-
form des Biegestabes abhängig ist.
44.2 Aufgabe
Von schlanken Biegestäben mit quadratischem Querschnitt aus einem unlegierten Stahl im
normalisierten und vergüteten Zustand sind Kraft-Durchbiegungs-Kurven aufzunehmen.
Daraus sind unter der Annahme, dass Gl. 44.6 auch für εR,t gilt, die Anfangsteile der Biege-
verfestigungskurven zu erstellen. Als Werkstoffkenngrößen sind der Elastizitätsmodul E,
die Biegestreckgrenze ReS , die 0,2-%-Biegedehngrenze Rp0,2
* und die Biegefestigkeit Rm * zu
ermitteln. Diese sind mit den aus Zugversuchen vorliegenden Daten zu vergleichen und zu
bewerten.
44.3 Versuchsdurchführung
Für die Biegeversuche steht ein geeignetes Krafterzeugungssystem (z. B. eine Zugprüf-
maschine) mit eingebauter Biegevorrichtung für Dreipunktbelastung zur Verfügung. Die
Stützweite der Auflager, von denen eines beweglich ist, beträgt 150 mm. Biegestäbe mit
Querschnittsabmessungen von 20 × 20 mm werden benutzt. Die Kraftmessung erfolgt di-
rekt über das Kraftmesssystem der Prüfmaschine. Die Probendurchbiegung wird in der
Probenmitte mit Hilfe einer 1/1000 mm auflösenden Messuhr festgestellt. Auf Grund der
bekannten Zugfestigkeit der Probenwerkstoffe wird der Kraftbedarf abgeschätzt, wobei
von einer maximalen fiktiven Biegerandspannung σ R* ≈ 1,5 Rm ausgegangen wird. Dann
werden geeignet abgestufte Biegemomente erzeugt und die zugehörigen Durchbiegungen
gemessen. Aus dem erhaltenen M b -f -Zusammenhang werden mit Hilfe von Gln. 44.4 und
44.9 die jeweiligen Randspannungen und fiktiven Randspannungen sowie mit Hilfe von
Gl. 44.6 die Randdehnungen εR,e bzw. εR,t berechnet. Damit lässt sich die Biegeverfes-
tigungskurve aufzeichnen. Aus dem Kurvenverlauf werden die verlangten Kenngrößen
ermittelt.
44.4 Symbole, Abkürzungen 345
Weiterführende Literatur
[Pil08] Pilkey, W.D., Pilkey, D.F.: Peterson’s Stress Concentration Factors, 3. Aufl. John Wiley & Sons,
Hoboken (2008)
[DIN EN ISO 7500-1:2004-11] Metallische Werkstoffe – Prüfung von statischen einachsigen Prüf-
maschinen – Teil 1: Zug- und Druckprüfmaschinen – Prüfung und Kalibrierung der Kraftmesssein-
richtung
[Iss06] Issler, L., Ruoß, H., Häfele, P.: Festigkeitslehre – Grundlagen, 2. Aufl. Springer Verlag, Berlin
(2006)
V45 Spannungsoptik
45
45.1 Grundlagen
Die Spannungsoptik ist ein Teilgebiet der Optik. Mit dieser polarisationsoptischen Metho-
de lassen sich Aussagen über die Beanspruchung von Bauteilen gewinnen. Es werden Größe
und Richtung mechanischer Spannungen in lichtdurchlässigen Modellkörpern bestimmt.
Natürliches Licht setzt sich aus elektromagnetischen Wellen unterschiedlicher Frequenz
zusammen, wobei sich innerhalb der einzelnen Wellenzüge die elektrische Feldstärke E⃗
und die magnetische Feldstärke H ⃗ periodisch ändern. Elektrischer und magnetischer Vek-
tor stehen senkrecht zueinander und schwingen ihrerseits – wie in Abb. 45.1 angedeutet –
in Ebenen senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung des Lichtes. Man hat sich geeinigt, die
Schwingungsrichtung des elektrischen Vektors einer Lichtwelle als deren Schwingungs-
richtung festzulegen. Aus einem Gemisch von Lichtwellen, die regellos in allen möglichen
Richtungen schwingen, lassen sich mit Hilfe eines sog. Polarisators diejenigen Wellen her-
ausfiltern, bei denen die Schwingungen nur noch in einer bestimmten Ebene (Polarisati-
onsebene) auftreten. Die Beträge der Vektoren der elektrischen Feldstärke der polarisierten
Lichtwellen ändern sich zeitlich sinusförmig und schreiten in einer räumlich konstanten
Schwingungsebene mit konstanter Geschwindigkeit fort.
Vorrichtungen zur Untersuchung (vgl. Abb. 45.2) von polarisiertem Licht heißen Pola-
risationsapparate. Sie bestehen aus einem Polarisator P, der das Licht polarisiert, und einem
Analysator A, der den Polarisationszustand analysiert. Erscheint das durch den Polarisa-
tor dringende Licht hinter dem Analysator mit größter bzw. kleinster Intensität, dann sind
P und A parallel bzw. gekreuzt zueinander angeordnet. Im ersten Fall bilden die Polari-
sationsebenen miteinander den Winkel 0°, im zweiten Fall den Winkel 90°. Schließen die
Polarisationsebenen von P und A einen Winkel α ein, so ist die aus A austretende Lichtin-
tensität durch
I = Io cos α (45.1)
gegeben. I o ist die Austrittsintensität des Lichtes bei paralleler Stellung von P und A.
Abb. 45.2 Veranschaulichung der Wirkungsweise von Analysatoren A und Polarisatoren P in ver-
schiedenen Stellungen. (Die jeweilige Lage der Polarisationsebenen e ist durch Striche an den Kreisen
vermerkt.)
45.1 Grundlagen 349
sind, so wird das Bündel in zwei zueinander linear polarisierte Teilstrahlen zerlegt, deren
Schwingungsvektoren E⃗ und E⃗ mit der Richtung der Hauptspannungen übereinstimmen
und die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ν 1 und ν 2 die Platte durchsetzen. Ist ν 0
die Lichtgeschwindigkeit in dem unverspannten Plattenmaterial, so gilt
v = v + c σ − c σ (45.2)
und
v = v + c σ − c σ (45.3)
3
wobei c1 und c2 stoffspezifische Konstanten mit der Dimension mm /(Ns) sind. Die beiden
Teilstrahlen, die aus der Platte austreten, besitzen demnach einen Geschwindigkeitsunter-
schied
v − v = (c + c )(σ − σ ), (45.4)
aus dem sich durch Multiplikation mit
x
t= (45.5)
v
also der Zeit zum Durchlaufen der unbeanspruchten Platte, und Division durch λ die Ord-
nung
v − v v − v x g
n= t= = (45.6)
λ λ v λ
ergibt. Der Gangunterschied
g =n⋅λ (45.7)
stellt ein Vielfaches der benutzten Lichtwellenlänge dar. Aus Gln. 45.4 und 45.6 folgt somit
als Grundgleichung der Spannungsoptik
v − v λv n s
σ − σ = = = n. (45.8)
c + c c + c x x
350 45 V45 Spannungsoptik
Die Größe s ist die spannungsoptische Konstante. Durchsetzen die Teilstrahlen mit der
Ordnung n bzw. mit dem Gangunterschied g wie in Abb. 45.3 den gekreuzt zum Polarisator
P stehenden Analysator A, so lässt A nur die Vertikalkomponenten E⃗ sin φ und E⃗ cos φ
hindurchtreten. Diese interferieren und liefern als austretende Intensität
Der Index + soll auf die gekreuzte Stellung von A und P hinweisen, φ ist der Winkel
zwischen der Polarisationsebene des einfallenden Lichtes und der Ebene, in der in der Platte
die Hauptspannung σ 1 wirkt. Aus Gl. 45.10 folgt, dass an den Plattenpunkten Dunkelheit
auftritt, an denen entweder
sin πn = (45.10)
oder
sin φ = (45.11)
ist. Bei paralleler Anordnung von P und A (Index //) gilt dagegen
sin φ = (45.13)
und
sin πn = (45.14)
wird. Bringt man beiderseits des Objektes, also hinter dem Polarisator und vor dem Ana-
lysator, an den in Abb. 45.3 mit Λ bezeichneten Stellen jeweils noch eine λ/4-Platte an, so
vereinfacht sich Gl. 45.9 zu
I+ ∝ sin πn, (45.15)
und Gl. 45.10 liefert die Bedingung für Dunkelheit. Sie ist erfüllt, wenn die Ordnung n
ganzzahlig ist. Dann beträgt nach Gl. 45.8 der Gangunterschied ganzzahlige Vielfache der
Wellenlänge. Die Plattenpunkte, für die n = 0, 1, 2 usw. ist, liegen also auf dunklen Linien
und werden Isochromaten genannt. Sie sind nach Gl. 45.8 Stellen gleicher Hauptspan-
nungsdifferenz, deren Betrag mit wachsender Ordnung ansteigt. Ihr Name kommt daher,
weil bei spannungsoptischen Untersuchungen mit weißem Licht anstelle der dunklen Li-
nien farbige entstehen, und zwar mit der Farbe, die sich als Mischung aus allen nicht durch
Interferenz ausgelöschten Wellenlängen ergibt (Komplementärfarbe). Als Beispiel ist in
Abb. 45.4 die Isochromatenaufnahme eines belasteten 4-Punkt-Biegestabes (vgl. V44) wie-
dergegeben. Die Isochromatenanordnung wird für einen bestimmten Punkt durch Zäh-
len der dort bei Belastungssteigerung durchlaufenden Isochromaten ermittelt. Bei weißem
45.2 Aufgabe 351
45.2 Aufgabe
Ein 4-Punkt-Biegestab (vgl. V44) und zwei gekerbte Zugstäbe (vgl. V42) aus demselben
Modellwerkstoff werden in einer spannungsoptischen Apparatur beansprucht. Die entste-
henden Isochromaten werden zunächst qualitativ betrachtet und dann quantitativ ausge-
wertet. Für den Biegestab wird die spannungsoptische Konstante an Hand der innerhalb
des Bereichs konstanten Biegemomentes auftretenden Isochromaten bestimmt. Der dort
vorliegende Spannungszustand wird mit dem nahe der Auflagerstellen verglichen. An den
beiden Zugstäben, die einfache und mehrfache Randkerben besitzen, wird die Kerbwir-
kung und die Entlastungskerbwirkung untersucht und diskutiert.
352 45 V45 Spannungsoptik
45.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine ähnliche Einrichtung zur Verfügung, wie sie die Skiz-
ze in Abb. 45.3 zeigt. Zusätzlich ist eine Kamera vorhanden, mit der die spannungsopti-
schen Bilder photographisch festgehalten werden können. Das zu untersuchende Modell
wird zwischen den Polarisator und den Analysator gebracht, die objektseitig ein- bzw. aus-
schwenkbare λ/4-Blättchen enthalten. Es wird mit zirkular-polarisiertem Licht gearbeitet.
Als Lichtquelle dient eine Natriumdampflampe. Der Modellwerkstoff ist ein Kunstharz
mit einem Elastizitätsmodul E ≈ 3500 N/mm und einer Querkontraktionszahl ν ≈ 0,36.
Die Herstellung der Modellkörper erfolgt mit größter Sorgfalt ohne starke örtliche Verfor-
mungen oder Erwärmungen, damit Eigenspannungen vermieden werden, die sich lokal
ebenfalls spannungsoptisch bemerkbar machen. Auch die aus der Umgebungsatmosphäre
mögliche Wasseraufnahme der randnahen Modellbereiche kann die genaue Ermittlung der
Isochromatenordnung stören. Deshalb werden die fertig gestellten Modelle bis zum Ver-
suchsbeginn entweder in einem Exsikkator oder in einer Temperierkammer bei ~ 80 °C
aufbewahrt.
Abb. 45.5 Spannungsverteilung, Isochromatenbild und -ordnung bei unterschiedlich stark bean-
spruchten Biegestäben
45.3 Versuchsdurchführung 353
Weiterführende Literatur
[Blu86] Blumenauer, H.: Werkstoffprüfung, 4. Aufl. VEB Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig
(1986)
[Wol76] Wolf, H.: Spannungsoptik, 2. Aufl. Springer-Verlag, Berlin (1976)
V46 Kerbschlagbiegeversuch
46
46.1 Grundlagen
zerschlagen. Bei nicht gekerbten Prüfstäben spricht man von Schlagbiegeversuchen, die
besonders bei hochfesten Werkstoffen manchmal zur Charakterisierung eingesetzt wer-
den.
Der Pendelhammer bzw. die als Schneide ausgebildete Hammerfinne fällt mit vorge-
gebener kinetischer Energie auf die der Kerbe gegenüberliegende Seite einer Biegeprobe
auf und ruft im kerbgrundnahen Probenbereich mit großer Anstiegsgeschwindigkeit eine
mehrachsige Beanspruchung hervor. Eine Variation der Beanspruchungsgeschwindigkeit
ist durch Veränderung der Fallhöhe des praktisch reibungsfrei gelagerten Pendelhammers
möglich. Abbildung 46.2 zeigt ein Gerät für derartige Versuche.
Als Zähigkeitsmaß des zu untersuchenden Werkstoffes bzw. Werkstoffzustandes wird
die verbrauchte Energie angesehen, die zum Bruch der Kerbschlagbiegeprobe erforderlich
ist. Erreicht der in der Höhe H unter dem Winkel α 0 gegenüber der Ruhestellung ausgelöste
Pendelhammer mit dem Gewicht G = mg (m Hammermasse, g Erdbeschleunigung) nach
Zerschlagen der Probe die Endhöhe h unter dem (durch Schleppzeiger angezeigten) Winkel
α gegenüber der Ruhestellung, so entspricht sein durch
K = G ⋅ (H − h) (46.1)
gegebener Energieverlust der an der Probe geleisteten Kerbschlagenergie. Die auf den ge-
kerbten Probenquerschnitt AK bezogene Schlagenergie
K G
aK = = ⋅ (H − h) [J/cm ] (46.2)
AK AK
Wortes kann man also nur bei kleinen Kohlenstoffgehalten sprechen. In den einzelnen
Temperaturbereichen der α K ,T-Kurven beobachtet man unterschiedliche Bruchflächen-
ausbildung. In Abb. 46.6 sind von einem Baustahl, der bei unterschiedlichen Temperaturen
zerschlagen wurde, Bruchflächen gezeigt. In der Hochlage (25 und 0 °C) treten duktile Ver-
formungsbrüche, in der Tieflage (−196 °C) Trennbrüche auf. Im Bereich des Steilabfalls
(−17 °C) werden Mischbrüche beobachtet mit duktilen und spröden Bruchflächenanteilen.
Als charakteristisch für die Temperaturabhängigkeit der Kerbschlagzähigkeit derartiger
Stähle kann die Übergangstemperatur T Ü am Ende des Steilabfalls angesehen werden, bei
der α K einen Wert von 20 J/cm2 annimmt. Selbstverständlich kann die Übergangstem-
peratur auch in anderer Weise festgelegt werden, z. B. durch quantitative Bewertung der
Bruchflächen der zerschlagenen Proben hinsichtlich spröder und duktiler Bruchflächen-
anteile oder einfach in % des α K -Wertes der Hochlage. Als Beispiel zeigt Abb. 46.7, wie
die Korngröße von S235 die Temperatur beeinflusst, bei der noch 50 % der Kerbschlagzä-
higkeit der Hochlage auftritt. Mit kleiner werdender Korngröße nimmt die so festgeleg-
te Übergangstemperatur ab. Auch andere Kenngrößen des Werkstoffzustandes sowie die
Versuchsbedingungen beeinflussen die T Ü -Werte. Tabelle 46.1 fasst einige versuchs- und
werkstoffbedingte Einflussgrößen und deren Auswirkungen zusammen. Durch Wärmebe-
handlungen lässt sich die Übergangstemperatur eines Werkstoffes sowohl erhöhen als auch
erniedrigen. Beispiele für die unterschiedliche Auswirkung verschiedener Wärmebehand-
lungen auf die α K ,T-Kurven von C 15 zeigt Abb. 46.8.
Kerbschlagzähigkeits-Temperatur-Kurven vom Typ II (vgl. Abb. 46.4) sind durch sehr
kleine α K -Werte ausgezeichnet und lassen keine eindeutige Differenzierung zwischen
Hoch- und Tieflage mehr zu. Dieses Verhalten wird bei Werkstoffen angetroffen, bei de-
nen zum Bruch unter zügiger Beanspruchung nur kleine Verformungsarbeiten notwendig
sind. Typische Vertreter sind Gusseisen mit Lamellengraphit, hochfeste Stähle und marten-
360 46 V46 Kerbschlagbiegeversuch
sitisch gehärtete Werkstoffzustände. α K ,T-Kurven vom Typ III schließlich zeigen ebenfalls
keine Hoch- und Tieflagen, sind aber durch sehr große Kerbschlagzähigkeiten auch bei
tiefen Temperaturen ausgezeichnet. Werkstoffe, die sich so verhalten, nennt der Praktiker
kaltzäh. Dazu zählen reine kfz-Metalle und homogene Legierungen dieser Metalle sowie
austenitische Stähle.
Abschließend sei nochmals betont, dass die Kerbschlagenergie bzw. Kerbschlagzähig-
keit zwar ein nützliches Maß für die Sprödbruchanfälligkeit metallischer Werkstoffe ist, kei-
nesfalls aber Aussagen über mögliche Temperaturgrenzen für den Werkstoffeinsatz liefert.
Da die ermittelte Schlagenergie lediglich einen integralen Wert der verbrauchten Energie
darstellt, werden mit modernen sog. instrumentierten Pendelschlagwerken zeitaufgelöste
Verläufe der Kraft an der Hammerfinne während des Zerschlagens der Probe aufgenom-
men. Die aufgenommenen Kraft-Zeit-Verläufe lassen so unterschiedliches Werkstoffver-
halten bei nominell gleicher verbrauchter Schlagenergie weiter differenzieren.
46.2 Aufgabe 361
46.2 Aufgabe
An Proben aus S235, von denen ein Teil nach Normalisierungsglühung bei 900 °C luft-, der
andere Teil ofenabgekühlt wurde, ist die Temperaturabhängigkeit der Kerbschlagenergie zu
ermitteln und zu bewerten. Der beim benutzten Pendelschlagwerk zwischen α 0 , α, r, h und
H bestehende Zusammenhang ist abzuleiten.
46.3 Versuchsdurchführung
Es liegt eine größere Zahl vorbereiteter Kerbschlagproben mit dem Kurzzeichen ISO-V
nach DIN EN ISO 145-1 vor. Für die Kerbschlagbiegeversuche wird ein ähnliches Pen-
delschlagwerk wie das in Abb. 46.2 gezeigte benutzt. Bei den einzelnen Versuchen wird
362 46 V46 Kerbschlagbiegeversuch
α 0 so gewählt, dass der Hammer jeweils mit einer kinetischen Energie von 300 J auf die
zweipunktgelagerten Kerbschlagbiegeproben auffällt. Nach dem Zerschlagen der Probe
kann die Kerbschlagenergie direkt aus der Stellung des Schleppzeigers an der Anzeigeskala
abgelesen werden. Jeweils drei Proben werden in einem Bad aus flüssigem Stickstoff auf
78 K, in einem Eis-Kochsalz-Gemisch auf 260 K, in einem Eis-Wasser-Gemisch auf 273 K,
in Leitungswasser auf ~ 286 K und in beheizbaren Wasserbädern auf Temperaturen von
286 K ≤ T ≤ 373 K gebracht. Nach erfolgter Temperatureinstellung werden die Proben rasch
in das Pendelschlagwerk eingesetzt und zerschlagen. Die K,T-Kurven beider Werkstoffzu-
stände werden aufgezeichnet. Die bei den einzelnen Temperaturen auftretenden Bruch-
flächen werden hinsichtlich ihrer spröden und duktilen Anteile lichtmikroskopisch un-
tersucht und in geeigneter Weise quantitativ beurteilt. Möglichkeiten zur Festlegung von
Übergangstemperaturen werden diskutiert.
Weiterführende Literatur
47.1 Grundlagen
Der schematische Aufbau eines mit drei Elektronenlinsen bestückten REM ist in
Abb. 47.2 gezeigt. Das Gerät besteht aus der mit dem Evakuierungssystem gekoppelten
Mikroskopsäule (M) und den davon getrennten Mess- und Regeleinrichtungen. Die aus
der Elektronenquelle (EK) austretenden Primärelektronen (PE) werden durch eine regelba-
re Gleichspannung von bis zu 40 keV beschleunigt und durch die Elektronenlinsen (EL) zu
einem Elektronenstrahl mit einem Durchmesser kleiner 0,01 μm gebündelt. Über die vom
Ablenkgenerator (AG) gespeisten Ablenkspulen (AS) wird der Primärelektronenstrahl so
geführt, dass er einen begrenzten Bereich der Objektoberfläche (O) in z. B. 1000 Zeilen
punktweise nacheinander abrastert. Durch Wechselwirkung der energiereichen Primär-
elektronen mit dem Objekt werden Sekundärelektronen (SE), Rückstreuelektronen (RE),
absorbierte Elektronen (Probenstrom), Röntgenstrahlen, elektrische Ladungsverschie-
bungen zwischen verschiedenen Probenbereichen, Auger-Elektronen und sichtbares Licht
infolge Kathodolumineszenz am Auftreffpunkt erzeugt.
Die rasterelektronenmikroskopische Abbildung erfolgt durch Aufnahme der vom Ob-
jekt ausgehenden Signale in Form von Elektronen (SE und/oder RE) mit Hilfe geeigne-
ter Elektronendetektoren. Im oberen Teil von Abb. 47.2 ist ein sog. Everhart-Thornley-
47.1 Grundlagen 365
Detektor (ED) skizziert. Dieser umfasst einen Szintillator, der in einem durch ein Metall-
netz abgedeckten Kollektor sitzt, und einen Photomultiplier (PM). Der Szintillator wird
mit einem +10 kV Potential beaufschlagt, durch das die Sekundärelektronen beschleunigt
werden. Vor dem Szintillator ist ein Kollektornetz gespannt, welches durch eine positive
Spannung von einigen wenigen 100 V die niedrigenergetischen SE ansaugt. Im Szintilla-
tor werden diese Elektronen abgebremst und erzeugen dort Lichtquanten. Diese werden
über den Lichtleiter dem Photomultiplier zugeführt und lösen dort über den photoelektri-
schen Effekt Photoelektronen aus. Die Photoelektronen schließlich werden über Elektro-
nenstoßprozesse an mehreren Elektroden des PM vervielfacht, als elektrisches Signal dem
Videoverstärker (V) zugeführt, dort weiter verstärkt und schließlich als Nutzinformation
zur Intensitätssteuerung des Schreibstrahls der Bildröhre (B) benutzt. Der Ablenkgenerator
(AG) sorgt für die synchrone Steuerung der Lage von Primärelektronen- und Schreibstrahl.
Lokal unterschiedliche SE- und/oder RE-Ausbeuten führen zur Helligkeitsmodulation des
Schreibstrahles und damit zum Kontrast des REM-Bildes. Jedes der durch die Wechsel-
wirkung zwischen den Primärelektronen und der Probenoberfläche entstehenden Signale
besitzt eine oder mehrere Informationen über die Beschaffenheit der Probenoberfläche
und/oder des oberflächennahen Probenvolumens. Da alle Signale durch die Detektoren
in elektrische Spannungen umgewandelt werden, bestehen für sie zahlreiche Möglichkei-
ten der elektronischen Weiterverarbeitung. Sie reichen von der Variation der Verstärker-
charakteristiken, dem Mischen mehrerer Signale in beliebigen Verhältnissen, der gleich-
zeitigen Betrachtung von Bildern verschiedener Signale bis hin zur Möglichkeit der frei
programmierbaren rechnergestützten Auswertung der Signale. Die für Bruchflächenun-
tersuchungen wichtigen Signale sind die der Sekundärelektronen, der Rückstreuelektronen
366 47 V47 Rasterelektronenmikroskopie
und der Röntgenstrahlen, wobei für Rückstreuelektronen und die charakteristische Rönt-
genstrahlen spezielle Detektorsysteme zur Verfügung stehen.
Die Vielseitigkeit der Rasterelektronenmikroskopie bei Untersuchungen von Oberflä-
chen von Festkörpern, beruht drauf, dass viele verschieden Signale, wie die schon erwähn-
ten SE, RE und Röntgenstrahlen entstehen, wenn ein Elektronenstrahl mit einem Feststoff
wechselwirkt . Im Folgenden werden diese Signalarten näher betrachtet.
Als Sekundärelektronen (SE) werden die Elektronen definiert, die aus der Probeno-
berfläche austreten und eine Energie ≤ 50 eV besitzen. Abbildung 47.3 deutet an, dass die
langsamen SE nur in einer dünnen Oberflächenschicht (von t ≈ 1 − 10 ⋅ 10−7 m Dicke) er-
zeugt werden. Abhängig vom Erzeugungsmechanismus können SE außer am Auftreffpunkt
der PE (SE 1) auch 0,1 μm bis mehrere μm seitlich davon aus der Probenoberfläche austre-
ten (SE 3). Rückstreuelektronen (RE), welche die Wände der Probenkammer treffen, lösen
dort ebenfalls SE (SE 4) aus. Die SE 3 tragen somit Informationen über die Probenstelle in
einiger Entfernung von den auftreffenden PE, die SE 4 solche der Probenkammerwand. Die
Anzahl der SE 3 und SE 4 ergibt die „Hintergrundstrahlung“ und bewirkt eine Kontrast-
verschlechterung, die sich jedoch auf elektronischem Wege beseitigen lässt. Etwa die Hälfte
aller Sekundärelektronen wird in unmittelbarer Nähe des Auftreffpunktes des primären
Elektronenbündels erzeugt, so dass sich mit diesem Signal die beste laterale Punktauflö-
sung erzielen lässt. Die Anzahl der erzeugten SE ist umso größer, je größer der Winkel
zwischen der lokalen Oberflächennormalen der Objektstelle und der primären Elektro-
nenstrahlrichtung ist. Man spricht vom Neigungskontrast. Das SE-Signal umfasst also alle
wesentlichen Informationen über die Topographie und ergibt hochaufgelöste Bilder. Auf
Grund ihrer geringen Energie werden die SE durch elektrische und magnetische Felder an
der Probenoberfläche beeinflusst. Mit ihnen können daher auch magnetische Strukturen
oder elektrische Potentiale an der Probenoberfläche abgebildet werden. In der Praxis der
Bruchflächenuntersuchung metallischer Proben tauchen solche „Oberflächenpotenziale“
öfter auf. Sie entstehen durch elektrisch nichtleitende Einschlüsse oder Schmutzpartikel,
47.1 Grundlagen 367
die durch die Bestrahlung mit den PE auf Grund der mangelnden elektrischen Ableitung
der auftreffenden Ladungen elektrisch aufgeladen werden. Dies führt oft zu erheblichen
Bildstörungen, die durch Beseitigung der Potentiale oder durch Bedampfen der ganzen
Probe mit einem elektrisch leitenden Film beseitigt werden können.
Unter RE werden alle Elektronen verstanden, die aus der Probenoberfläche austreten
und eine Energie > 50 eV besitzen. In der Mehrzahl handelt es sich um an den Atomker-
nen reflektierte PE. Wie Abb. 47.3 andeutet, werden sie in einem größeren Bereiche um
den Auftreffpunkt der PE und in größeren Oberflächenentfernungen als die SE emittiert.
Die Abmessungen ihres Austrittsbereiches bestimmen die erzielbare Auflösung und hän-
gen von der Energie der PE und der Ordnungszahl des Probenmaterials ab. Wie bei den SE
ist die Ausbeute der RE ebenfalls vom Winkel zwischen Oberflächennormale und Strahl-
richtung abhängig. Zusätzlich entstehen durch die sich geradlinig ausbreitenden hochener-
getischen PE Abschattungseffekte durch Oberflächenrauigkeiten. Des Weiteren besteht –
im Gegensatz zu den SE – eine systematische Abhängigkeit von der Ordnungszahl des
Probenmaterials. Je nach Art des Detektorsystems (in Verbindung mit der elektronischen
Signalverarbeitung) kann somit ein Topographie oder Materialkontrast erzeugt werden.
Wegen ihrer hohen Energie (die maximale Energie der RE ist nur wenig kleiner als die der
PE) wirken sich magnetische und elektrische Felder nicht auf die RE aus. Es entstehen nur
selten Aufladungserscheinungen.
Das REM besitzt den großen Vorteil, dass alle Oberflächen die vakuumbeständig und
elektrisch leitend sind, ohne Präparation direkt und mit großer Schärfentiefe abgebildet
werden können. Nichtleitende Objekte können nach Aufbringen (Besputtern) einer dün-
nen elektrisch leitenden Schicht (z. B. Gold oder Kohlenstoff) ebenfalls untersucht werden.
Abbildung 47.4 zeigt als Beispiele Ausschnitte der Bruchflächen von Kerbschlagbiegepro-
ben aus 42CrMo4, die bei unterschiedlichen Temperaturen aufgenommen wurden. Es sind
sowohl SE-Bilder als auch RE-Bilder abgebildet.
Auch zur Bestimmung von Ausbildung und Form von Gefügebestandteilen bietet sich
das REM an. Dazu werden Schliffe hergestellt (vgl. V7) und geeignete Ätzungen vorgenom-
men. Als Beispiel ist in Abb. 47.5 ein Gefüge aus Perlit und Sekundärzementit zu sehen.
Durch die Wechselwirkung der PE mit den Atomen der Werkstoffoberfläche werden
auch Röntgenstrahlen erzeugt. Es tritt sowohl Bremsstrahlung als auch Eigenstrahlung
(Fluoreszenzstrahlung) auf (vgl. V5). Durch Messung der Intensität der Eigenstrahlung, die
für die emittierenden Atome einer Elementart charakteristisch ist, lässt sich mit Hilfe eines
geeigneten Detektorsystems die Werkstoffzusammensetzung von kleinen Probenbereichen
bis hin zum Volumen eines Würfels mit der Kantenlänge von 1 μm ermitteln. Man spricht
von der Röntgenmikroanalyse. Mit ihrer Hilfe können Elementverteilungen, Einschlüsse,
Ausscheidungen, Seigerungen u. a. m. erkannt und hinsichtlich ihrer chemischen Zusam-
mensetzung bestimmt werden. Nachweisgrenzen, Vollständigkeit und Genauigkeit solcher
Analysen sind in hohem Maße abhängig vom verwendeten Detektorsystem und den not-
wendigen Korrekturrechnungen. Alle REM lassen sich mit entsprechenden Zusatzeinrich-
tungen zur mikroanalytischen Bestimmung oberflächennaher Werkstoffzusammensetzun-
gen ausrüsten. Diese erlauben sowohl von lokalen Werkstoffbereichen Punktanalysen als
368 47 V47 Rasterelektronenmikroskopie
47.2 Aufgabe
Es werden Kerbschlagbiegeproben aus 42CrMo4 bereitgestellt. Mit diesen Proben wird ei-
ne Kerbschlagzähigkeits-Temperatur-Kurve (vgl. V46) aufgenommen. Die auftretenden
Unterschiede im Kurvenverlauf sind zu diskutieren. Die Bruchflächen von Proben, die
im Übergangsgebiet zwischen Hoch- und Tieflage zerschlagen wurden, sind rasterelektro-
nenmikroskopisch zu untersuchen und hinsichtlich ihrer spröden und duktilen Bruchflä-
47.3 Versuchsdurchführung 369
Abb. 47.5 Sekundärelektronenaufnahme eines C100, geätzt mit HNO3 in verschiedenen Vergröße-
rungen
47.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein Pendelschlagwerk (vgl. V46) zur Verfügung. Ferner ist
ein handelsübliches Rasterelektronenmikroskop mit Mikroanalysatorzusatz vorhanden.
Von den vorbereiteten Proben werden wie in V46 die aK ,T-Kurven ermittelt. Danach
werden von charakteristischen Probenhälften etwa 10 mm lange Stücke unter Einschluss
der Bruchfläche abgeschnitten und mit Hilfe eines magnetischen Wechselfeldes entma-
gnetisiert, mit Leitsilber auf dem Objektträger des REM fixiert und in das Mikroskop
eingeschleust. Nach Erreichen des Betriebsdruckes (10−4 mbar) werden verschiedene Be-
reiche der Bruchoberfläche bei unterschiedlichen Vergrößerungen beobachtet, fotografiert
und beurteilt. Die ausgewalzten Einschlüsse werden mikroanalytisch untersucht. Daraus
370 47 V47 Rasterelektronenmikroskopie
wird auf Grund des Werkstofftyps die vermutliche Einschlussart bestimmt. Der Einfluss
der Einschlüsse auf die Kerbschlagzähigkeit wird diskutiert.
Es wird ein geätzter metallografischer Schliff erstellt, bzw. zur Verfügung gestellt (vgl.
V7). Anhand von SE-Aufnahmen soll das vorliegende Gefüge bestimmt werden.
47.4 Symbole, Abkürzungen 371
Weiterführende Literatur
48.1 Grundlagen
Das ist die Folge der Schubspannungen τ(r), die in den senkrecht zur Zylinderachse
liegenden Querschnittsebenen wirksam sind. Auf Grund des Hookeschen Gesetzes gilt
τ = G ⋅ γ, (48.4)
48.1 Grundlagen 375
wobei G der Torsionsmodul (Schubmodul) ist. Aus Gln. 48.2 und 48.4 folgt
φ
τ = G r. (48.5)
L
Die Schubspannungen wachsen also ebenfalls linear über dem Probenradius an. Sie hal-
ten dem von außen wirksamen Torsionsmoment
R R
φ
Mt = ∫ rτ(r)πrdr = G π ∫ r dr (48.6)
L
das polare Flächenträgheitsmoment. Auf Grund des Gesetzes der zugeordneten Schub-
spannungen treten die Schubspannungen jeweils paarweise auf und haben die im rechten
Teil von Abb. 48.1 angegebenen Richtungen. Unter reiner Torsionsbeanspruchung liegt ein
zweiachsiger Spannungszustand mit den Hauptspannungen σ 1 und σ 3 (σ 1 = −σ 3 ) vor, die
unter 45° gegenüber der Längsachse des Zylinderstabes wirksam sind.
Von besonderem Interesse ist der am Rand des Stabes auftretende Zusammenhang zwi-
schen Schubspannung und Scherung. Aus Gln. 48.5–48.7 ergibt sich für r = R
Mt
τR = R. (48.8)
I
I
Wt = (48.9)
R
ein, so folgt für die Randschubspannung
Mt
τR = . (48.10)
Wt
τ R wächst proportional zu M t an und bewirkt nach Gl. 48.4 eine umso größere Rand-
scherung γ R , je kleiner der Schubmodul ist.
Die bisher angegebenen Beziehungen gelten streng nur für rein elastische Beanspru-
chung. Wird M t gesteigert bis auf den Wert M t = M eS , so wird τ R = RτeS , und am Zylin-
derrand setzt plastische Scherung ein. RτeS heißt Torsionsgrenze. Wird in den randnahen
Bereichen des zylindrischen Stabes RτeS überschritten, so liegt dort ein elastisch-plastischer
Verformungszustand vor, während weiterhin die inneren Probenpartien noch rein elastisch
beansprucht werden. Erfahrungsgemäß bleiben auch dann noch die Totalscherungen
γt = γe + γp (48.11)
376 48 V48 Torsionsverformung
Je nach Werkstoffzustand tritt bei Erreichen der Torsionsfestigkeit ein duktiler oder ein
spröder Bruch mit charakteristischer Bruchgeometrie auf. In Abb. 48.5 sind die Bruch-
flächenausbildungen bei einem spröd gebrochenen (Normalspannungsbruch) und einem
duktil gebrochenen (Schubspannungsbruch) Zylinderstab gezeigt. Bei einem spröden Tor-
sionsbruch (vgl. Abb. 48.5, links) treten unter 45° zur Stablängsachse gelegene Teilbruch-
flächen auf. Ein duktiler Torsionsbruch (vgl. Abb. 48.5, rechts) dagegen ist durch eine senk-
recht zur Stablängsachse liegende Bruchfläche charakterisiert.
48.2 Aufgabe
An Zylinderproben aus reinem Kupfer und aus einem Baustahl sind die Zusammenhän-
ge zwischen Torsionsmoment M t und Torsionswinkel φ zu bestimmen und daraus die
Torsionsverfestigungskurven zu berechnen. Als Werkstoffkenngrößen sind der Torsions-
48.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht eine ähnliche Versuchseinrichtung wie die in Abb. 48.6 gezeigte
Torsionsprüfmaschine zur Verfügung. Nach Festklemmen der Proben wird ein Einspann-
kopf verdreht und tordiert die Probe. Mittels einer elektronischen Messdatenerfassung ist
die kontinuierliche Registrierung des Torsionsmoments M t und des Verdrehwinkels φt
möglich. Die Berechnung der Torsionsverfestigungskurve aus dem M t ,φt -Zusammenhang
erfolgt unter Zugrundelegung der sorgfältig ermittelten Probenabmessungen mit Hilfe der
Gln. 48.3 und 48.4. Die Größen G, RτeS , Rτ0,4
* und Rτm * werden der Torsionsverfestigungs-
kurve entnommen.
48.4 Symbole, Abkürzungen 379
Weiterführende Literatur
[Ric06] Richard, H.A., Sander, M.: Technische Mechanik, Festigkeitslehre, 1. Aufl. Vieweg+Teubner,
Wiesbaden (2006)
[Das06] Da Silva, V.D.: Mechanics and Strength of Materials. Springer, Berlin/Heidelberg (2006)
V49 Schubmodulbestimmung aus
Torsionsschwingungen 49
49.1 Grundlagen
Nach V48 besteht bei einem einseitig eingespannten Zylinder des Durchmessers 2R und
der Länge L zwischen Torsionsmoment M t und Torsionswinkel φ der Zusammenhang
R
φ πGR
Mt = G ∫ r πrdr = φ. (49.1)
L L
Ist der Zylinder sehr lang gegenüber seinem Durchmesser (Draht) und wird sein unte-
res Ende wie in Abb. 49.1 mit einer zylindrischen Scheibe A verbunden, so führt das ganze
System nach Wegnahme des äußeren Momentes Drehschwingungen aus. Es liegt ein Tor-
sionspendel vor. Ist θ 0 das Massenträgheitsmoment des Systems bezüglich der Drahtachse
und ist die Systemdämpfung hinreichend klein, so lautet die Bewegungsdifferentialglei-
chung
πGR
Θ φ̈ = −Mt (φ) = − φ = −Dφ (49.2a)
L
bzw.
φ̈ = −ω φ. (49.2b)
Dabei ist D das sog. Direktionsmoment und ω die Kreisfrequenz des schwingungsfähi-
gen Systems. Die Lösung dieser Differentialgleichung lautet
t
φ = φ cos ωt = φ cos πνt = φ cos π (49.3)
t
Somit ergibt sich bei bekannten L, R und θ 0 durch Messung von t0 der Schubmodul zu
πLΘ
G= . (49.5)
R t
Θ = Θ + Θ (49.7)
π π
t − t = (Θ − Θ ) = Θ. (49.9)
D D
Daraus folgt mit D aus Gln. 49.2a und 49.6
πm (R + R ) L
G= . (49.10)
(t − t ) R
49.2 Aufgabe 383
49.2 Aufgabe
49.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine ähnliche Einrichtung wie in Abb. 49.1 zur Verfügung.
Etwa 100 cm lange Drähte, deren Durchmesser zunächst sehr genau vermessen werden,
werden an der einen Seite in eine Klemmfassung eingespannt und an der anderen Sei-
te mit der selbstfassenden Zylinderscheibe A versehen. Danach wird die freie Länge des
eingespannten Drahtes ermittelt und das ganze System von Hand zu Drehschwingungen
angeregt. Die Scheibe A trägt eine Marke (1), deren relative Lageänderung bezüglich einer
Schneide (2) leicht beobachtet werden kann. Die Schwingungsdauer t0 wird aus den Koin-
zidenzen von Marke und Schneide bestimmt. Dazu wird die für 50 Schwingungen erforder-
liche Zeit gemessen. Dies wird viermal wiederholt. Danach wird die teilbare Lochscheibe
B gewogen und vermessen und bündig auf die Scheibe A aufgesetzt. Die Schwingungsdau-
er t1 des nunmehr veränderten Systems wird ebenfalls durch Messung der Zeit von etwa
50 Schwingungen ermittelt. Aus den Messwerten werden mit Hilfe von Gl. 49.10 die vor-
liegenden Schubmoduln berechnet, miteinander verglichen und auf Grund der bekannten
Vorgeschichte bewertet.
Weiterführende Literatur
[Arm71] Armstrong, P.E.: Measurements of Elastic Constants. In: Techniques of Metals Research,
Bd. V, S. 123–156. Interscience, New York (1971)
V50 Elastische Moduln und Eigenfrequenzen
50
50.1 Grundlagen
c = λf (50.2)
Tab. 50.1 Werte K n 2 bei einem transversal schwingenden Stab in Abhängigkeit der Ordnung n und
des Frequenzverhältnisses der Eigenschwingungen f n /f 1
Ordnung n 1 2 3 4
f n /f 1 1,00 2,78 5,46 9,01
freier Stab
K 2n 492 3798 14.641 39.976
einseitig f n /f 1 1,00 8,98 24,95 48,95
eingespannter Stab K 2n 6,1 492 3797 14.641
schnittsform unabhängig und eindeutig durch den Elastizitätsmodul E [MPa] und die
Dichte ρ [g/cm ] bestimmt. Es ist
√
E
c = , ⋅ . (50.4)
ρ
Aus Gln. 50.3 und 50.4 folgt somit als Zusammenhang zwischen Eigenfrequenz f n,long
und Elastizitätsmodul E
L ρ
E = − ( f n,long ) . (50.5)
n
Bei Kenntnis der Länge L und der Dichte ρ des angeregten Stabes lässt sich also der Elas-
tizitätsmodul E des Werkstoffes aus den Eigenfrequenzen der Longitudinalschwingungen
f n,long ermitteln.
Bei transversal schwingenden Stäben liegen kompliziertere Verhältnisse vor. Die Aus-
breitungsgeschwindigkeit c elastischer Transversalschwingungen ist sowohl von der Form
der Proben als auch von der Frequenz f abhängig. Deshalb sind hier die Frequenzen der
Oberschwingungen keine ganzzahligen Vielfachen der Frequenz der Grundschwingungen
mehr. Als Zusammenhang zwischen dem Elastizitätsmodul E und den Eigenfrequenzen
der Transversalschwingungen (f n,trans ) ergibt sich bei schlanken Rundstäben (o) der Länge
L [mm] und des Durchmessers d [mm]
L π ρ − o
Eo =
( f n,long ) . (50.6)
Kn d
Bei schlanken Rechteckstäben (◻) der Länge L [mm] mit der Querschnittsseite a [mm]
parallel zur Schwingungsrichtung ist dagegen
L π ρ − ◻
E◻ =
( f n,long ) . (50.7)
Kn a
Sowohl die Transversal- als auch die Longitudinalwellen erzeugen lokal elastisch ver-
dichtete und dilatierte Werkstoffbereiche. Es treten daher periodische Volumenänderun-
gen auf, die mit Temperaturänderungen verknüpft sind. Wegen der Schnelligkeit der Vor-
gänge ist ein Temperaturausgleich innerhalb einer Schwingungsperiode unmöglich, so dass
adiabatische Verhältnisse vorliegen. Daher wird über Eigenfrequenzmessungen der soge-
nannte adiabatische Elastizitätsmodul Ead ermittelt. Dieser ist immer größer als der isother-
me Elastizitätsmodul Eis , der z. B. im Zug- oder Biegeversuch (vgl. V23 und V44) ermittelt
werden kann. Zwischen beiden Moduln besteht die Beziehung
Ead
Eis =
, (50.8)
( + α ρc
TE ad
p
)
wobei G der Schubmodul [MPa] und ρ wiederum die Dichte [g/cm3 ] ist. Wie bei Longitu-
dinalschwingungen sind auch hier die Gln. 50.1, 50.2 und 50.3 gültig, und es folgt die zu
Gl. 50.5 analoge Beziehung
L ρ
G = − ( f n,long ) . (50.10)
n
Weil bei der Torsionswellenausbreitung keine Volumenänderungen auftreten, gilt
Abbildung 50.1 gibt den bei reinen Metallen bestehenden Zusammenhang zwischen
dem Schubmodul und dem isothermen Elastizitätsmodul wieder. In vielen Fällen ist in
guter Näherung der Zusammenhang G = 3/8 E erfüllt.
50.2 Aufgabe
Für verschiedene Werkstoffe sind bei Raumtemperatur mit Hilfe von Eigenfrequenzmes-
sungen der adiabatische Elastizitätsmodul Ead und der Schubmodul G zu ermitteln. Die
Versuchsergebnisse sind zu diskutieren und mit den zur Verfügung gestellten isothermen
Elastizitätsmoduln zu vergleichen. Die Querkontraktionszahlen der Versuchswerkstoffe
sind anzugeben.
388 50 V50 Elastische Moduln und Eigenfrequenzen
Abb. 50.1 Zusammenhang zwischen dem Schubmodul G und dem isothermen Elastizitätsmodul
Eis reiner Metalle
50.3 Versuchsdurchführung
Als Versuchsapparatur steht ein Elastotron 2000 der Fa. Reetz GmbH, mit dem die Bestim-
mung des elastischen Elastizitätsmoduls bis Temperaturen von 1900 °C möglich ist, oder
ein vergleichbares Gerät zur Verfügung.
Die prinzipielle Messanordnung ist in Abb. 50.2 dargestellt. Die Probenanregung ist
z. B. mit Hilfe eines piezoelektrischen Kristalls möglich, dessen Schwingungen dem Prüf-
stab einseitig aufgeprägt werden. Durch geeignete Anbringung des Ankoppeldrahtes lassen
sich Longitudinal-, Transversal- und Torsionsschwingungen erregen. Am anderen Ende
des Stabes werden über einen zweiten Kopplungsdraht die elastischen Objektschwingun-
gen einem zweiten piezoelektrischen Kristall zugeführt und in elektrische Schwingungen
umgewandelt. Das Messsignal wird verstärkt und der Messeinheit zugeführt. Bei Variation
der Erregerfrequenz lässt sich der Resonanzfall – die Amplitude der Probenschwingung
erreicht ein Maximum – erkennen.
Bei ferromagnetischen Werkstoffen können Longitudinal- und Transversalschwingun-
gen auch mit Hilfe einer Spule, die ein magnetisches Wechselfeld hervorruft, erzeugt wer-
den. In günstigen Fällen gelingt dies auch bei nichtmagnetischen Proben durch dort indu-
zierte Wirbelströme.
50.3 Versuchsdurchführung 389
Tab. 50.2 Eigenfrequenzen 1. Ordnung zylindrischer Stäbe mit L = 100 mm, d = 10 mm aus ver-
schiedenen Metallen bei unterschiedlichen Schwingungsarten
Werkstoff f 1,long [Hz] f 1,trans [Hz] f 1,tors [Hz]
Aluminium 25.625 4562 15.658
Eisen 25.895 4610 16.114
Kupfer 19.035 3389 11.614
Nickel 24.935 4439 15.751
Silber 13.980 2489 8467
Titan 23.795 4236 14.433
Zink 18.025 3209 11.469
Zirkonium 16.130 2872 9730
Für die Untersuchungen finden zylindrische Probestäbe von 100 bis 200 mm Länge
und 8 bis 20 mm Durchmesser Anwendung. Als Richtwerte für die Eigenfrequenzen erster
Ordnung bei Stäben von 100 mm Länge und 10 mm Durchmesser können die in Tab. 50.2
aufgeführten Werte gelten. Die Messung der nicht ferromagnetischen Versuchsproben er-
folgt mit piezoelektrischen, die der ferromagnetischen Versuchsproben mit magnetischen
Erreger- und Empfängersystemen. Es werden jeweils Longitudinal- und Torsionsschwin-
gungen angeregt und die ersten 3 Ordnungen der Eigenfrequenzen bestimmt. Daraus wer-
den die gesuchten Moduln mit Hilfe von Gl. 50.5 bzw. Gl. 50.10 berechnet. Die auftretenden
Unterschiede zwischen den adiabatischen und den isothermen Elastizitätsmoduln werden
mit der theoretischen Erwartung verglichen und diskutiert. Die erhaltenen (E/G)is -Werte
werden den Angaben in Abb. 50.1 gegenübergestellt. Mit Hilfe der elastizitätstheoretischen
Beziehung
E
G= (50.12)
( + ν)
werden die Querkontraktionszahlen ν berechnet.
390 50 V50 Elastische Moduln und Eigenfrequenzen
Literatur
Verwendete Literatur
[Mös10] Möser, M., Kropp, W.: Körperschall: Physikalische Grundlagen und technische Anwendun-
gen, 3. Aufl. Springer-Verlag, Berlin (2010)
Weiterführende Literatur
[DIN EN 843-2] Hochleistungskeramik – Mechanische Eigenschaften monolithischer Keramik bei
Raumtemperatur – Teil 2: Bestimmung des Elastizitätsmoduls, Schubmoduls und der Poissonzahl
(2006)
[ASTM E 1875] Standard Test Method for Dynamic Young’s Modulus, Shear Modulus, and Poisson’s
Ratio by Sonic Resonance (2008)
[För37] Förster, F.: Ein neues Messverfahren zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls und der Dämp-
fung. Z. Metallkd. 29, 109 (1937)
V51 Anelastische Dehnung und Dämpfung
51
51.1 Grundlagen
Die Bewegung von Atomen innerhalb des Kristallgitters der Körner oder längs der Korn-
grenzen eines metallischen Werkstoffs nennt man Diffusion. Atomare Platzwechsel inner-
halb eines Kristallgitters sind nur möglich, wenn freies Gittervolumen existiert. In reinen
Metallen oder in Substitutionsmischkristallen sind dazu Leerstellen (vgl. V2) erforderlich,
die sich in jedem Kristall als punktförmige Gitterstörungen mit einer von der Temperatur
abhängigen Konzentration ausbilden.
Bei Interstitionsmischkristallen, in denen die Legierungsatome Gitterlückenplätze be-
setzen, ist immer freies Gittervolumen vorhanden, weil nie alle Gitterlücken besetzt sind.
Deshalb sind dort stets Diffusionsbewegungen möglich. Dabei kann selbstverständlich der
Weg, den ein einzelnes Interstitionsatom wählt, nicht vorausgesagt werden. Für eine räum-
liche Zufallsbewegung in der Zeit t liefert die statistische Mechanik als mittleres Verschie-
bungsquadrat des Weges
X̄ n = d νt. (51.1)
Dabei ist d der bei einem Sprung zurückgelegte Weg und ν die mittlere Sprungfrequenz
eines Interstitionsatoms. Die Größe
D = dν (51.2)
wird Diffusionskoeffizient genannt. Ist n die Zahl der in gleicher Entfernung befindlichen
Gitterlücken, so gilt für die mittlere Sprungfrequenz
ΔG W
ν = ν ne− kT . (51.3)
Dabei ist ν 0 ≈ 1014 s−1 die Debye-Frequenz, die die obere Grenzfrequenz der Gitter-
schwingungen bestimmt und ΔGW die freie Enthalpie, die zum Sprung des Atoms von
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 391
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_51, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
392 51 V51 Anelastische Dehnung und Dämpfung
einer Gitterlücke zu einer benachbarten erforderlich ist. Bei konstanter Temperatur ist auf-
grund allgemeiner thermodynamischer Prinzipien gemäß
eine Änderung von ΔGW mit einer Enthalpieänderung ΔH W und einer Entropieänderung
ΔSW verknüpft. Damit folgt aus den Gln. 51.2–51.4
Δ SW Δ HW QW
D= d nν e k e− k T = D e− k T , (51.5)
spruchungsrichtung. Hält man die Beanspruchung konstant, so wird sich nach hinreichend
langer Zeit ein Sättigungszustand an besetzten z-Lagen ergeben.
Entscheidend ist, dass sich dem elastischen Dehnungsanteil εe ein zeitabhängiger, an-
elastischer Dehnungsanteil εa aufgrund der Sprünge der interstitiellen Atome auf die be-
vorzugten Gitterplätze überlagert. Es gilt also
mit
εa (t) = εa∞ ( − e− τ ) .
t
(51.7)
Dabei ist εa∞ der Dehnungswert, der sich nach ∞ langer Wartezeit einstellen würde,
und τ die Relaxationszeit des Vorganges. Schematisch liegen die in Abb. 51.3 links skiz-
zierten Verhältnisse vor. Wird zur Zeit t1 der Werkstoff belastet, so stellt sich spontan die
elastische Dehnung εe ein und mit wachsender Zeit nimmt wegen des asymptotisch an-
wachsenden anelastischen Dehnungsanteils die gesamte Dehnung ε zu. Nach Wegnahme
der Spannung zur Zeit t2 geht die elastische Dehnung sofort auf den Wert Null zurück. Die
Gesamtdehnung wird dann durch den anelastischen Dehnungsanteil εa (t2 ) bestimmt. Mit
394 51 V51 Anelastische Dehnung und Dämpfung
Abb. 51.3 Die Zeitabhängigkeit des Dehnungsverhaltens bei σ = const. und ihre Auswirkung auf
den Elastizitätsmodul
wachsender Zeit fällt dieser asymptotisch auf Null ab. Führt man zu verschiedenen Zei-
ten Elastizitätsmodulbestimmungen durch, so würde sich, wie aus dem rechten Teil von
Abb. 51.3 ersichtlich, unmittelbar nach Belastung der unrelaxierte Modul EU = σ/εe und
nach ∞ langer Zeit der relaxierte Modul ER = σ/(εe + εa∞ ) ergeben.
Als Konsequenz der zeitabhängigen anelastischen Dehnungsanteile ergibt sich bei pe-
riodischer mechanischer Beanspruchung eine Phasenverschiebung zwischen Spannung σ
und gesamter Dehnung ε. In einem solchen Falle beschreibt das Hookesche Gesetz (vgl.
V22)
σ
εe = (51.8)
E
das Werkstoffverhalten nicht mehr ausreichend. Man ist auf ein komplizierteres Stoffgesetz
mit zeitabhängigen Gliedern in der Form
σ + τ ε σ̇ = ER (ε + τ σ ε̇) (51.9)
angewiesen, das sowohl Dehnungsrelaxationen (bei konstanter Spannung) als auch Span-
nungsrelaxationen (bei konstanter Dehnung) einschließt. Dabei haben τ ε bzw. τ σ die Be-
deutung sogenannter Relaxationszeiten der Spannung bzw. Dehnung bei konstanter Deh-
nung bzw. Spannung.
Für den oben betrachteten Fall σ = const. führt Gl. 51.9 mit σ̇ = auf die Differential-
gleichung
σ = ER (ε + τ σ ε̇) (51.10)
51.1 Grundlagen 395
ωτ EU − ER
tan(δ) = √ . (51.12)
+ ω τ EU ER
EU − ER
E(ω) = EU [ − ]. (51.13)
EU ( + ω τ )
Wegen der zwischen σ und ε bestehenden Phasenverschiebung ergibt sich für den
Spannungs-Dehnungszusammenhang eine Ellipse (vgl. Abb. 51.4), bei der die Neigung der
großen Halbachse gegenüber der ε-Achse ein Maß für den dynamischen Elastizitätsmodul
E(ω) ist. Die Ellipsenfläche ergibt die pro Schwingung dissipierte Energie ΔU = ∮ σdε.
Der während einer Schwingung maximal aufgenommene Wert der Verformungsenergie ist
U = σ ε/2. Als Dämpfung wird der auf 2π bezogene relative Energieverlust pro Schwingung
ΔU ωτ EU − ER
Q − = = √ (51.14)
π U + ω τ EU ER
Q − = tan(δ) (51.15)
In Abb. 51.5 ist Q−1 bzw. tan(δ) und E(ω) als Funktion von ωτ aufgetragen. Die Dämp-
−
√
fung nimmt ihren Maximalwert Q max = (EU − ER )/ EU ER für ωτ = 1 an und verschwin-
det bei sehr großen und sehr kleinen Werten von ωτ. E(ω)nähert sich für ωτ ≪ 1 dem Wert
ER und für ωτ ≫ 1 dem Wert Eu an und wird bei ωτ = 1 zu (ER + EU )/2. Da es leichter ist,
das Maximum als den Wendepunkt einer Funktion zu bestimmen, bietet der Q−1 -ωτ-Zu-
sammenhang eine einfache Möglichkeit zur Ermittlung der Relaxationszeit τ. Dazu ist eine
Variation der Kreisfrequenz ω = 2πν erforderlich. Ist jedoch – wie häufig festzustellen – die
Relaxationszeit temperaturabhängig, so kann man auch bei konstanter Frequenz unter Va-
riation der Temperatur die Dämpfungskurve durchlaufen und den bei ωτ = 1 auftretenden
Maximalwert von Q−1 ermitteln.
Sind – wie eingangs vorausgesetzt – die anelastischen Dehnungserscheinungen durch
atomare Platzwechsel- und damit durch Diffusionsvorgänge bestimmt, so muss offenbar
zwischen Relaxationszeit τ und Diffusionskoeffizient D ein einfacher Zusammenhang be-
stehen. Im besprochenen Fall des krz-α-Eisens mit gelösten C- oder/und N-Atomen sind
die Interstitionsatome auf die 6 Oktaederlücken pro Elementarzelle mit gleicher Wahr-
scheinlichkeit verteilt. Bei Belastung in z-Richtung sind die z-Lagen energetisch bevorzugt,
und es erfolgen Sprünge aus besetzten x- und y-Lagen in unbesetzte z-Lagen. Die Sprung-
weite ist dabei jeweils d = a0 /2 (vgl. Abb. 51.2). Da die Sprünge zwischen den x- und den y-
Lagen nicht zur Anelastizität beitragen, gilt τ = 3/2 ⋅ τ S . wobei τ S die effektive (zur Anelasti-
zität beitragende) Relaxationszeit darstellt. Theoretisch ergibt sich somit nach Gl. 51.2 mit
ν = 1/τ und unter Berücksichtigung des Gewichtsfaktors von τ = 3/2 ⋅ τ S und ωmax ⋅ τ S = 1
für den Diffusionskoeffizienten
a a a a
D = dν = ν = = = ω max , (51.16)
τ τS
51.2 Aufgabe
An Draht aus einer Eisenbasislegierung mit etwa 0,05 Masse-% C ist nahe Raumtemperatur
der Diffusionskoeffizient der Kohlenstoffatome mit einem Torsionspendel zu bestimmen.
Durch Variation der Versuchsfrequenz sind Aussagen über die Aktivierungsenergie des
Diffusionsvorgangs zu gewinnen.
51.3 Versuchsdurchführung
Für die Messungen steht eine ähnliche Messeinrichtung zur Verfügung, wie die in Abb. 51.6
skizzierte. Der Versuchsdraht hat einen Durchmesser von etwa 1 mm und eine Länge von
etwa 300 mm. Er wird über ein Kupplungsstück mit dem Torsionsschwinger verbunden,
der seinerseits an einem Torsionsfaden aufgehängt ist. Der Torsionsschwinger trägt an
seinen horizontalen Pendelarmen Massen, durch deren Lageänderung das Trägheitsmo-
ment und damit die Schwingungsfrequenz (vgl. V49) des Systems zwischen 0,5 und 2,5 Hz
verändert werden kann. Ferner sind dort Weicheisenplättchen so angebracht, dass sie Elek-
tromagneten gegenüberstehen. Kurzzeitiges Einschalten der Elektromagnete bewirkt die
Auslenkung der Pendelarme in entgegengesetzte Richtungen und damit die Anregung der
Torsionsschwingungen. Im Zentrum trägt der Torsionsschwinger einen Spiegel. Über die-
sen wird ein Lichtzeiger auf eine Skala abgebildet, so dass leicht die Zeiten der Umkehr-
punkte der Torsionsschwingungen ermittelt werden können. Der eigentliche Messraum ist
von einem Ofen sowie von einem Gefäß zur Aufnahme von Kühlflüssigkeit umgeben, so
dass sowohl Messungen oberhalb als auch unterhalb Raumtemperatur erfolgen können.
Außerdem ist das ganze System evakuierbar, so dass eine äußere Dämpfung des Systems
durch Luftreibung entfällt.
Die Dämpfung wird anhand der abklingenden Torsionsschwingungen ermittelt. Aus
dem Verhältnis zweier aufeinander folgender Amplituden Ai und Ai+1 nach der gleichen
Seite bestimmt sich das logarithmische Dekrement zu
Ai
Λ = ln ( ). (51.17)
A i+
Da die Amplituden sich bei aufeinander folgenden Schwingungen nur relativ wenig än-
dern, wird zweckmäßigerweise die Zeit t1/2 oder t1/n ermittelt, in der die Amplitude auf die
Hälfte oder den n-ten Teil ihres Ausgangwertes abgefallen ist. Es gilt
ln () ln (n)
Λ= = , (51.18)
νt / νt /n
wobei ν die Frequenz der gedämpften Schwingung ist, die hinreichend genau mit der des
ungedämpften Systems übereinstimmt. Λ ist mit der hier interessierenden Dämpfungsgrö-
398 51 V51 Anelastische Dehnung und Dämpfung
Dämpfung und der zugehörige Diffusionskoeffizient ermittelt. Die Auftragung von ln(D)
über 1/kT max sollte nach Gl. 51.5 einen linearen Zusammenhang ergeben, dessen Anstieg
durch die Aktivierungsenergie QW für die Wanderung der Interstitionsatome bestimmt
ist.
Weiterführende Literatur
52.1 Grundlagen
Viele Bauteilbrüche lassen sich auf Risse zurückführen, die als Folge der Herstellung
und/oder der Nachbehandlung der benutzten Werkstoffe entstanden sind. Risse sind
unerwünschte Werkstoffdiskontinuitäten. Sie stellen im Idealfall eben begrenzte Werk-
stofföffnungen endlicher Länge dar, deren Begrenzungsflächen (Rissflächen) einen atomar
kleinen Abstand und deren Enden (Rissspitzen) einen Krümmungsradius mit atomaren
Abmessungen haben. Die Bruchmechanik geht von der Existenz rissbehafteter Konstrukti-
onswerkstoffe aus und hat Kriterien dafür entwickelt, wie sich Risse unter der Einwirkung
äußerer Kräfte aufweiten, vergrößern und schließlich zu völliger Werkstofftrennung füh-
ren.
Als Ausgangspunkt für die theoretische Behandlung eines von äußeren Kräften F be-
anspruchten rissbehafteten Körpers bietet sich (vgl. Abb. 52.1 oben) eine unendlich ausge-
dehnte Platte der Dicke B mit einer zentralen elliptischen Öffnung (Achsen 2a > 2b) an. An
den Scheiteln der großen Ellipsenachse tritt dann jeweils der Krümmungsradius
b
ρ= (52.1)
a
auf. Legt man als Ursprung eines xy-Koordinatensystems auf der großen Ellipsenachse den
Punkt fest, der um ρ/2 vom Ellipsenscheitel entfernt ist, so ergibt sich in Scheitelnähe an
Die Größe
√
K = σ πa (52.3)
52.1 Grundlagen 403
auf, so dass sich als Formzahl (vgl. V42) der schlanken elliptischen Kerbe
√
σmax a
αK = = (52.5)
σ ρ
√
lim ( αK σ πρ) = K. (52.6)
ρ→
Die Spannungsintensität K lässt sich also als der dem Rissproblem angepasste Grenzwert
der elastischen Kerbwirkung interpretieren. Mit ρ → 0 verschwinden aber in den Gl. 52.2
die zweiten Terme, und man erhält daher für das rissspitzennahe Spannungsfeld
⎧
⎪ θ θ θ ⎫
⎪
⎪
⎪ cos ( − sin sin )⎪ ⎪
⎪
⎪
⎪ ⎪⎪
⎪
σx x ⎫
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪ ⎪
⎪ θ θ θ ⎪
⎪
⎪
⎪ ⎪
⎪ cos ( + sin sin )⎪
⎪
σy y ⎪
⎪ K ⎪ ⎪ ⎪
⎪
⎬= √ ⎨ ⎬
σzz ⎪⎪
⎪ πr ⎪
⎪
⎪ ∗ θ ⎪
⎪
⎪ (52.7)
⎪
⎪
⎪ ⎪
⎪
⎪ ν cos ⎪
⎪
⎪
τx y ⎪
⎪
⎭
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪ θ θ θ ⎪
⎪
⎪
⎪
⎪ cos sin cos ⎪
⎪
⎩ ⎭
τ yz = τ zx = .
⎧
⎪ ⎫
⎪ (χ − ) cos θ − cos θ ⎪
√ ⎪
u⎫
⎪
⎪ K( + ν) r ⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎪
⎬= ⎨ ⎬
⎪
v⎪ E π ⎪⎪ (χ − ) sin θ − sin θ ⎪
⎪ ⎪
⎪
⎭ ⎪
⎪ ⎪ (52.8)
⎩ ⎪
⎭
z K z θ
w = −σzz = −ν ∗ √ cos
E E πr
mit χ = (3 − ν)/(1 + ν) und ν* = 0 bei ESZ sowie χ = (3 − 4ν) und ν* = ν beim EDZ. E ist
der Elastizitätsmodul. Aus Gl. 52.8 folgt u = w = 0 für θ = ± π, so dass sich die Rissufer nur
404 52 V52 Risszähigkeit
πσ a
Uel = U0 − B (52.11)
E∗
ab. Der dabei erzeugten Rissfläche kommt eine Oberflächenenergie
Γ = ⋅ aBγ (52.12)
zu. Dabei ist γ die spez. Oberflächenenergie. Eine Rissverlängerung um d(2a) erfordert
also eine Energiefreisetzung dU el und bewirkt einen Oberflächenenergiezuwachs dΓ. Die
Größe
dUel πσ a
G=− = (52.13)
B d(a) E∗
mit der Dimension [N mm/mm ] nennt man daher anschaulich auch Rissverlängerungs-
kraft (Energiefreisetzungsrate) und die Größe
dΓ
R= = γ (52.14)
B d(a)
mit der gleichen Dimension Risswiderstandskraft. Soll Rissverlängerung auftreten, so
muss, wie in Abb. 52.2 angedeutet, die Bedingung
G≥R (52.15)
52.1 Grundlagen 405
erfüllt sein. Aus den Gln. 52.13–52.15 folgt somit als Instabilitätsbedingung
πσ a K
G= = ∗ ≥ γ. (52.16)
E∗ E
Dabei ist wieder E* = E beim ESZ und E* = E/(1 − ν ) beim EDZ. In Abb. 52.3 sind die
vorliegenden energetischen Verhältnisse erläutert. Dort sind die auf die Probendicke B be-
zogenen Energiebeträge als Funktion der Risslänge 2a aufgetragen. Die dünne horizontale
Linie bestimmt U 0 /B. Die dick gestrichelte Gerade gibt Γ/B wieder. Kurz gestrichelt ge-
zeichnet ist U el /B. Die Gesamtenergie des Systems U ges /B ist durch die dick ausgezogene
Kurve gegeben. Man sieht, dass die Gesamtenergie ihren Maximalwert erreicht, wenn der
Anstieg der Γ/B,2a-Kurve gleich dem negativen Anstieg der U el /B,2a-Kurve ist. Dann ist
instabiles Gleichgewicht erreicht, und es tritt Rissverlängerung unter Absenkung der Ge-
samtenergie des Systems auf.
Die den Gleichheitszeichen in Gl. 52.16 entsprechenden Größen G und K werden beim
EDZ als
GIc und K Ic
Gc und K c
Dabei ist rpl ein Maß für die Abmessung der plastischen Zone an der Rissspitze. Man er-
reicht dadurch, dass außerhalb der plastischen Zone (x > a + rpl ) nur elastisch beanspruchte
Werkstoffbereiche vorliegen, auf die die oben beschriebenen Grundgleichungen weiterhin
angewandt werden können. Eine exakte Berechnung von rpl ist nur näherungsweise mög-
lich, weil elastisch-plastische Spannungs- und Verformungszustände unter Einschluss der
Werkstoffverfestigung berücksichtigt werden müssen. Alle Abschätzungen führen aber auf
Beziehungen der Form
K
rpl = α( ) , (52.18)
ReS
wobei α von den zugrunde gelegten Modellvorstellungen sowie vom Beanspruchungszu-
stand abhängt. Das Quadrat des Verhältnisses von Spannungsintensität K und Streckgrenze
52.1 Grundlagen 407
ReS bestimmt das Ausmaß der plastischen Verformung vor der Rissspitze. Unter einem
EDZ treten kleinere plastische Zonen auf als unter einem ESZ. Sind somit die Abmessun-
gen der plastischen Zone vor der Rissspitze hinreichend klein, dann können die gleichen
energetischen Überlegungen wie oben angestellt werden, wenn nur berücksichtigt wird,
dass bei der Rissverlängerung lokale plastische Deformationen auftreten, die sich formal
als vergrößerte Oberflächenenergie und damit als erhöhte Risswiderstandskraft auswirken.
Die Erfahrung zeigt, dass in dicken angerissenen Proben die Bedingungen des EDZ in
Rissspitzennähe als Folge der starken Querdehnungsbehinderung (Є zz = 0) gut erfüllt sind.
An den Oberflächen ist stets σ zz = 0, so dass dort grundsätzlich ein ESZ vorliegt. Mit ab-
nehmender Probendicke B wird also der unter dem EDZ stehende innere Probenteil der
Dicke B′ relativ kleiner. Infolgedessen ist die Unterdrückung der Ausbildung der plasti-
schen Zone bei dicken Proben insgesamt größer als bei dünnen, und man erwartet eine
entsprechende Auswirkung auf die Rissverlängerungskraft und auf die sich tatsächlich ein-
stellende Bruchart. Abbildung 52.4 fasst das grundlegende Ergebnis schematisch für mit
Innenriss versehene Proben zusammen, bei denen die Risse, ausgehend von symmetrisch
zu einer zentralen Bohrung gelegenen Sägeschnitten, durch Zugschwellbeanspruchung er-
zeugt wurden. Im oberen Teil des Bildes ist die Bruchflächenausbildung je einer Proben-
hälfte skizziert. Die durch Rissverlängerung entstandenen Bruchflächen ändern sich in cha-
rakteristischer Weise mit der Probendicke. Überwiegender Trennbruch mit Bruchflächen
senkrecht zur Beanspruchungsrichtung tritt nur bei großen B-Werten auf. Bei mittleren
Probendicken werden Mischbrüche mit Scherlippen in den oberflächennahen Probenbe-
reichen beobachtet. Kleine Probendicken sind ausschließlich durch Scherbrüche charak-
terisiert. K c wächst mit abnehmender Probendicke an und durchläuft ein Maximum, wo
erstmals reine Scherbrüche auftreten. Das B′ /B-Verhältnis steigt oberhalb der zum ma-
ximalen K c -Wert gehörigen Probendicke kontinuierlich an und nähert sich dem Wert 1
bzw. 100 % bei großen Probendicken. Als wichtiges Ergebnis dieser Betrachtungen ergibt
sich, dass erst oberhalb einer bestimmten Probendicke ein konstanter und B-unabhängiger
K Ic -Wert gemessen wird. Die vorliegende Dickenabhängigkeit der K c -Werte ist von großer
praktischer Bedeutung. Aus dem Gesagten geht einerseits klar hervor, dass nur K Ic -Werte
Werkstoffkenngrößen sind. Andererseits haben aber K c -Werte offenbar für die Beurteilung
dünnwandiger Bauteile erhebliche Bedeutung. Eine wichtige Konsequenz des geschilder-
ten Dickeneinflusses ist die Festlegung bestimmter Mindestabmessungen für Proben, an
denen Risszähigkeiten bestimmt werden sollen. Man geht heute davon aus, dass zur hin-
reichenden Realisierung linear-elastischen Werkstoffverhaltens für die Probendicke B und
die unangerissene Probenabmessung W − a (vgl. Abb. 52.5) die Bedingung
KIc
B, (W − a) ≥ , ( ) (52.19)
ReS
einsetzt. Dazu ist im Idealfall die Kraft zu messen, bei der die angerissene Probe plötzlich
bricht. In der Mehrzahl der Fälle werden jedoch Proben vermessen, die nicht mehr instabil
brechen. Dabei setzt bei einer kritischen Spannungsintensität zunächst stabile Rissverlän-
gerung ein als Folge des nicht 100 %-igen EDZ über der gesamten Probendicke. Man muss
daher zur Ermittlung der Risszähigkeit den Beginn der stabilen Rissverlängerung mög-
lichst eindeutig feststellen. Das kann mit entsprechendem Aufwand in unterschiedlicher
Weise erfolgen, z. B. durch
Abb. 52.5 Häufig benutzte Standardproben zur Ermittlung von Risszähigkeiten (vgl. ASTM E 399-
90)
52.2 Aufgabe
Für unterschiedlich angelassene Proben aus 50CrV4 ist die Risszähigkeit bei Raumtempe-
ratur mit Hilfe von Kraft-Rissöffnungs-Messungen zu bestimmen. Der Einfluss der Wär-
mebehandlung auf die Messwerte ist darzulegen und zu erörtern.
410 52 V52 Risszähigkeit
52.3 Versuchsdurchführung
Die Untersuchungen erfolgen mit RCT-Proben. Bei diesen besteht zwischen Spannungs-
intensität K Q , belastender Kraft F Q und den Probenabmessungen der Zusammenhang
FQ a
KQ = √ f ( ) , mit
B W W
(52.20)
a ( + a
W
) {, Wa − , ( Wa ) + , ( Wa ) + , ( Wa ) }
f( ) = .
W ( − )
a
W
nicht überschreiten. Die Aufweitung der Rissufer für die Risszähigkeitsbestimmung erfolgt
mit einer Geschwindigkeit von 5 μm/s. Anstelle der Aufweitungsgeschwindigkeit könnte
auch eine Kraftanstiegsgeschwindigkeit innerhalb der Grenzen
, ≤ F ≤ , kN/s (52.23)
gewählt werden. Die Verschiebung der Aufhängepunkte v(F) wird mit Hilfe eines kapa-
zitiven Wegaufnehmers ermittelt. Bei derartigen Untersuchungen treten die in Abb. 52.6
aufgezeichneten Grundtypen von F,v-Kurven auf, die mit Hilfe des Sekantenverfahrens
ausgewertet werden. Dazu werden in die Messschriebe Sekanten S gelegt, die gegenüber
den linearen Anfangsteilen der F,v-Kurven (den Anfangstangenten T) eine um 5 % ge-
ringere Steigung besitzen. Der Schnittpunkt der Sekante mit der Originalkurve wird F x
genannt. Auf diese Weise kann man neben F x auch die Kraft F = 0,8 F x und die Rissauf-
weitungszunahmen Δvx und Δv bestimmen. Dem Kurvenverlauf lassen sich unmittelbar
Ḟ und F max entnehmen. Schließlich ermittelt man an der gebrochenen Probe die zu Ver-
suchsbeginn vorgelegene Risslänge
a = (a + a + a ). (52.24)
52.3 Versuchsdurchführung 411
Dazu werden, wie in Abb. 52.7 dargestellt, die Risslängen a1 , a2 und a3 bei 1/4, 1/2 und
3/4 der Probendicke gemessen. Stets muss
ai ≥ ,a (52.25)
412 52 V52 Risszähigkeit
sein.
In Abb. 52.8 sind die Bruchflächen einer CT-Probe wiedergegeben. Die gekrümmte Be-
grenzung des durch Ermüdung erzeugten Anrisses ist deutlich zu erkennen.
Der endgültigen K Ic -Bestimmung werden dann die folgenden weiteren Auswertungs-
schritte zugrunde gelegt:
4) Kontrolle, ob √
B
KQ ≤ ReS (52.29)
,
erfüllt ist.
5) Sind die Gln. 52.27, 52.28 und 52.29 erfüllt, dann ist
KQ = KIc . (52.30)
6) Sind die Gln. 52.27, 52.28 und 52.29 nicht erfüllt, dann ist
KQ ≠ KIc (52.31)
und der Versuch muss mit größerer Probendicke wiederholt werden. Für alle drei
Proben sind die Ergebnisse in eine Tabelle einzutragen. Die F,v-Kurven und die Er-
gebnisse sind zu vergleichen und im Hinblick auf eine sinnvolle Wärmebehandlung
zu bewerten.
Weiterführende Literatur
[Dah83] Dahl, W.: Grundlagen der Festigkeit, der Zähigkeit und des Bruches. Stahleisen, Düsseldorf
(1983)
[Mac77] Macherauch, E.: Gefüge und Bruch. Bornträger, Stuttgart (1977)
[Sch80] Schwalbe, K.H.: Bruchmechanik metallischer Werkstoffe. Hanser, München (1980)
[Blu86] Blumenauer, H., Pusch, G.: Technische Bruchmechanik, 2. Aufl. VEB Grundstoffindustrie,
Leipzig (1986)
[Hec91] Heckel, K.: Einführung in die technische Anwendung der Bruchmechanik, 3. Aufl. Hanser,
München (1991)
V53 Compliance angerissener Proben
53
53.1 Grundlagen
In Abb. 53.1 sind ein rissfreier und ein rissbehafteter Probenkörper gezeichnet, deren un-
tere Enden (Probenquerschnitt Ag , Probenlänge l0 , Risslänge 2a) starr fixiert und deren
obere Enden mit einer Zugkraft F beaufschlagt sind. Bei der rissfreien Probe besteht zwi-
schen Probenverlängerung Δ1 und Zugkraft F der Zusammenhang
Δl = c ⋅ F, (53.1)
l
c = (53.2)
E ⋅ A
ist. Bei der rissbehafteten Probe gilt dagegen
Δl = c ⋅ F, (53.3)
wobei sich c auf Grund der Proben- und Rissgeometrie sowie der elastischen Probeneigen-
schaften zu
l
c= f (a) (53.4)
E ⋅ A
ergibt. c ist die reziproke Federkonstante des Systems und wird Nachgiebigkeit oder Com-
pliance der angerissenen Probe genannt. c wächst mit der Risslänge an. Die sich ergebenden
F, Δl-Zusammenhänge sind im unteren Teil von Abb. 53.1 schematisch wiedergegeben.
Solange keine Rissverlängerung auftritt, ist die reversibel von der Probe aufnehmbare Ver-
formungsarbeit durch
Δl
(Δl)
Uel = ∫ Fd(Δl) = FΔl = F c = (53.5)
c
gegeben. Verlängert sich der Riss bei einer bestimmten Beanspruchung um d(2a), so lassen
sich die Veränderungen des Systems auf Grund der total differenzierten Gl. 53.3
beurteilen. Da man für d(2a) > 0 sowohl eine Probenverlängerung d(Δl) > 0 als auch eine
Kraftabnahme dF < 0 erwarten kann, muss stets dc > 0 sein. Die Nachgiebigkeit nimmt also
mit der Rissverlängerung zu. Wenn sich der Riss verlängert, ändert sich auf jeden Fall die
elastisch in der Probe gespeicherte Energie. Ist damit eine Verlagerung der Kraftangriffs-
punkte verbunden, so ändert sich zusätzlich die potentielle Energie des Systems um den
Betrag, der dem Produkt aus Kraftangriffspunktverlagerung und Kraft entspricht.
Bei der Betrachtung von Rissverlängerungen ist es zweckmäßig, die Grenzfälle konstan-
ter Kraft und konstanter Probenlänge zu unterscheiden. Sie sind in Abb. 53.2 schematisch
aufgezeichnet. Bei Δ1 = const. tritt keine Arbeit (dA = 0) der belastenden Kraft F auf. Die
elastische Energieänderung, durch den schraffierten Bereich in Abb. 53.2 (links) gegeben,
berechnet sich aus Gl. 53.5 in der hier ausreichenden Näherung zu
(Δl)
dUel = − dc = − F dc. (53.7)
c
Die elastisch gespeicherte Energie nimmt also mit der Rissverlängerung ab. Die Ände-
rung der gesamten potentiellen Energie des Belastungszustandes ist somit durch
d(A + Uel ) = − F dc (53.8)
53.1 Grundlagen 417
Abb. 53.2 Auswirkung der Rissverlängerung bei konstanter Probenlänge bzw. konstanter Proben-
last auf das F,Δ1-Diagramm
gegeben. Bei F = const. tritt dagegen eine zusätzliche Arbeit der belastenden Kraft und
damit eine Abnahme der ihr zukommenden potentiellen Energie auf, die durch den recht-
eckig begrenzten, schräg schraffierten Bereich in Abb. 53.2 (rechts) bestimmt und daher
durch
dA = −F d(Δl) = −F dc (53.9)
gegeben ist. Gleichzeitig nimmt die elastische Energie der Probe um
dUel = F d(Δl) = F dc (53.10)
zu, was dem schraffierten Zwickel in diesem Bild entspricht. Die Änderung der gesamten
potentiellen Energie ist also
d(A + Uel ) = −F dc + F dc = − F dc (53.11)
und somit ebenso groß wie im Falle konstanter Probenlänge.
Während also die elastische Energie der Probe mit der Rissverlängerung bei Δ1 = const.
abfällt, wächst sie bei F = const. mit der Rissverlängerung an. Bei Δ1 = const. liefert die bei
der Rissverlängerung frei werdende Energie des elastischen Spannungsfeldes der Probe die
zur Rissverlängerung erforderliche Energie. Bei F = const. wird die zur Rissverlängerung
erforderliche Energie dagegen von der Reduzierung der potentiellen Energie des wirksa-
men Lastsystems geliefert. Wesentlich ist aber, wie die Gln. 53.8 und 53.11 zeigen, dass die
mit der Rissverlängerung verbundenen energetischen Änderungen – wenn man kineti-
sche Energieanteile vernachlässigt – unabhängig von den betrachteten Versuchsführungen
418 53 V53 Compliance angerissener Proben
sind. Diese Aussage darf auch auf andere Versuchsführungen übertragen werden, so dass
der Beanspruchungsfall konstanter Probenlänge als für alle anderen Fälle hinreichend re-
präsentativ angesehen werden kann. Dann lässt sich (vgl. V52) als Energiefreisetzungsrate
pro Rissflächenzuwachs allgemein als
d(A + Uel )
G=− (53.12a)
B d(a)
F d ( F )
Δl
F dc
G= = , (53.13)
B d(a) B d(a)
53.2 Aufgabe
Über Compliancemessungen ist für CT-Proben aus AlZnMgCu 0,5 der Zusammenhang
zwischen Rissöffnung und belastender Kraft bei verschiedenen a/W-Verhältnissen zu be-
stimmen und mit rechnerischen Lösungen zu vergleichen. Ferner sind die bei einsetzender
instabiler Rissausbreitung vorliegenden Energiefreisetzungsraten anzugeben und mit den
aus den Risszähigkeiten berechneten zu vergleichen.
53.3 Versuchsdurchführung
Es liegen fünf CT-Proben aus AlZnMgCu 0,5 der Dicke B = 25 mm mit den a/W-Verhält-
nissen 0,350; 0,375; 0,400; 0,425 und 0,450 vor (vgl. Abb. 52.5 in V52). Zur Vermessung
werden die einzelnen Proben jeweils über ein Bolzengestänge in eine Zugprüfmaschine
eingespannt. Dann wird, wie aus Abb. 53.3 ersichtlich, die Rissöffnung v (vgl. V52) und
die Verschiebung der Lastangriffspunkte Δl als Funktion der belastenden Kraft F gemes-
sen. Aus den F, Δ1-Kurven werden die für die einzelnen Proben gültigen Compliances
Δl/ΔF = c entnommen, als Funktion von a/W aufgetragen und durch eine Ausgleichskur-
ve angenähert. Der Kurvenverlauf wird mit der Beziehung
a a a a
c= [, − , + ( ) − ,( ) + ( ) ] (53.14)
EB W W W W
53.4 Symbole, Abkürzungen 419
verglichen, die als gute Näherung für CT-Proben angesehen werden kann. Danach werden
die Proben bis zum Bruch durch Rissausbreitung belastet. Dabei ergeben sich F,v-Kurven
vom Typ I (vgl. Abb. 52.6 in V52). Daraus werden nach dem Sekantenverfahren die F Q -
Werte entnommen. Mit F Q = F und den empirisch erhaltenen Änderungen der Compliance
mit der Risslänge wird die Energiefreisetzungsrate nach Gl. 53.13 berechnet. Ferner werden
mit den F Q -Werten nach V52 die Risszähigkeiten K Ic bestimmt und daraus die zugehörigen
spez. Rissenergien GIc ermittelt. Die Ergebnisse werden verglichen und erörtert.
Weiterführende Literatur
[Mac77] Macherauch, E.: Grundprinzipien der Bruchmechanik. In: Maurer, K.L., Fischmeister, H.
(Hrsg.) Gefüge und Bruch, Berichte über Fortschritte in der Werkstoffprüfung, S. 3–77. Gebrüder
Borntraeger, Berlin, Stuttgart (1977)
[Sch80] Schwalbe, K.-H.: Bruchmechanik metallischer Werkstoffe. Hanser, München (1980)
[Bür05] Bürgel, R.: Festigkeitslehre und Werkstoffmechanik Bd. 2. Vieweg+Teubner, Wiesbaden
(2005)
[Ric09] Richard, H.A., Sander, M.: Ermüdungsrisse, 1. Aufl. Vieweg+Teubner, Wiesbaden (2009)
V54 Zeitstandversuch (Kriechen)
54
54.1 Grundlagen
Die aus dem Zugversuch ermittelten Kennwerte genügen dem Anspruch nicht, alle in der
Praxis auftretenden Werkstoffbeanspruchungen zu simulieren. In vielen Fällen werden
Bauteile auch langzeitigen konstanten Beanspruchungen unterworfen. Der Zeitstandver-
such nach DIN EN ISO 204:2009-10 dient dazu, experimentell das Werkstoffverhalten bei
erhöhten Temperaturen zu untersuchen. Bei höheren Temperaturen verlieren metallische
Werkstoffe mehr und mehr ihre Fähigkeit, statische Beanspruchungen rein elastisch zu
ertragen. Unter der Wirkung hinreichend großer Nennspannungen treten zeitabhängige
plastische Deformationen auf. Man spricht vom „Kriechen“ des Werkstoffs. Der bei gege-
bener Nennspannung und Temperatur bestehende Zusammenhang zwischen totaler bzw.
plastischer Dehnung und Zeit wird als Kriechkurve bezeichnet. Mit Kriechdehnungen in
technisch interessantem Ausmaße muss unter statischer Beanspruchung bei Temperaturen
T ≥ , ⋅ TS (54.1)
gerechnet werden, wenn T S die Schmelztemperatur des Werkstoffes in Kelvin ist. Aus
Abb. 54.1 sind für einige reine Metalle die Schmelztemperaturen und die zugehörigen 0,4-
T S -Werte zu entnehmen.
Bei einem mit der Zugspannung σ n nach Gl. 54.2 beaufschlagten Werkstoff stellt sich
bei gegebener Temperatur und definierten sonstigen Umgebungsbedingungen zwischen
der plastischen Dehnung εpl nach Gl. 54.3 und der Zeit t der in Abb. 54.2 schematisch
aufgezeichnete Zusammenhang ein.
F
σn = (54.2)
A
σn
εpl = εt − εe = εt − (54.3)
E
54.1 Grundlagen 423
Abb. 54.3 lg ε̇S , lg σn - und lg (ε̇S /D ), lg σn -Diagramme für den stationären Kriechbereich
mit εt totale Dehnung, εe elastische Dehnung und E Elastizitätsmodul. Dabei ist angenom-
men, dass nach Aufprägung der Zugspannung σ n eine plastische Anfangsdehnung εpl0 auf-
tritt. Diese kann Null sein, wenn mit so kleinen Zugspannungen gearbeitet wird, dass nach
Belastungseinstellung zunächst nur elastische Dehnungen vorliegen. Bei dem betrachteten
Beispiel nimmt im Zeitintervall 0 < t < t1 , dem primären Kriechbereich (I), die plastische
Dehnung anfangs schneller, später langsamer zu. Die Kriechgeschwindigkeit ε̇pl = dεpl /dt
fällt kontinuierlich ab. Im Zeitintervall t1 < t < t2 , dem sekundären Kriechbereich (II), än-
dert sich die plastische Dehnung linear mit der Beanspruchungszeit. Die Kriechgeschwin-
digkeit ε̇pl = ε̇S ist konstant. Im Zeitintervall t2 < t < tB , dem tertiären Kriechbereich (III),
nehmen die plastische Dehnung und die Dehnungsgeschwindigkeit stetig zu, bis bei t = tB
nach Erreichen eines bestimmten Dehnungswertes εpl = δ die Probe unter Einschnürung
zu Bruch geht. Da die Verformungsprozesse im Kriechstadium III sehr rasch ablaufen kön-
nen, sind sie experimentell vielfach nicht sehr genau erfassbar.
Das Auftreten von Bereichen konstanter Kriechgeschwindigkeit in den Kriechkurven
deutet auf ein dynamisches Gleichgewicht zwischen verfestigend und entfestigend wirken-
den strukturmechanischen Prozessen in den Körnern der Kriechproben hin. Für die Be-
wertung des Langzeitverhaltens unter gegebenen Beanspruchungsbedingungen stellt daher
ε̇S die wesentliche Werkstoffreaktion dar. In vielen Fällen besteht zwischen ε̇S und Bruchzeit
tB ein empirischer Zusammenhang der Form ε̇S ~ 1/tB . Bei einer Reihe von Aluminium-,
Kupfer-, Eisen- und Nickelbasislegierungen ist die Beziehung
mit 0,77 < m < 0,93 und 0,48 < const. < 1,3 erfüllt.
424 54 V54 Zeitstandversuch (Kriechen)
Die vorliegenden empirischen Daten vieler Werkstoffe zeigen, dass bei höheren Tempe-
raturen die Selbstdiffusion der Atome die den Kriechprozess kontrollierende oder zumin-
dest die dafür wesentliche Werkstoffkenngröße ist. Ähnliche Versuchsergebnisse wie die in
Abb. 54.3 schematisch wiedergegebenen dienen als Beleg für diese Feststellung. Im linken
Teilbild sind doppelt-logarithmisch die mit Proben gleicher Korngröße bei verschiedenen
Temperaturen gewonnenen ε̇S -Werte als Funktion der Spannung aufgetragen. Bezieht man
die ε̇S -Werte auf die bei den einzelnen Temperaturen gültigen Diffusionskoeffizienten D,
so ordnen sie sich in einem lg (ε̇S /D )-lgσ n -Diagramm längs einer einzigen Ausgleichs-
geraden an. Die Spannungsabhängigkeit der sekundären Kriechgeschwindigkeit kann mit
Gl. 54.5 beschrieben werden. Die Spannungs- und Temperaturabhängigkeit der sekun-
dären Kriechgeschwindigkeit wird mit der Gl. 54.6 beschrieben.
Q
ε̇S (σ , T) = c ⋅ σnq ⋅ D = c ⋅ σnq ⋅ exp (−
) (54.6)
RT
wobei Q die Aktivierungsenergie für die Selbst- bzw. Fremdatomdiffusion, R die Gaskon-
stante und T die absolute Temperatur ist. c0 , c1 , c2 , q und Q sind werkstoffabhängig. q-
Werte zwischen 1 und 8 werden beobachtet. Bei hohen Spannungen ist der das exponenti-
elle Anwachsen von ε̇S mit der Temperatur bestimmende strukturmechanische Prozess das
spannungs- und diffusionskontrollierte Klettern von Stufenversetzungen. Dieses wird bei
tieferen Temperaturen durch Diffusion der Gitteratome längs der Versetzungslinien, bei
höheren Temperaturen durch Volumendiffusion gesteuert. Je größer die Spannung, desto
ausgeprägter läuft bei gegebener Temperatur der Kletterprozess ab und umso mehr Gleit-
versetzungen sind verfügbar. Man spricht von Versetzungs- oder Potenz-Gesetz-Kriechen.
Die Abhängigkeiten nach den Gln. 54.5 und 54.6 sind in Abb. 54.3 dargestellt.
Bei kleinen Spannungen werden Kriechprozesse wirksam, die auf der spannungsindu-
zierten Diffusion von Gitteratomen zu den senkrecht zur Beanspruchungsrichtung orien-
tierten Korngrenzen eines Vielkristalls beruhen. Die physikalische Ursache dafür ist die
erleichterte Leerstellenbildung in Bereichen gedehnter gegenüber kontrahierter Werkstoff-
volumina. Als Folge davon entsteht ein Leerstellenstrom von senkrecht zu parallel zur Be-
anspruchungsrichtung orientierten Korngrenzen. Der damit verbundene Gitteratomtrans-
port in entgegengesetzter Richtung führt zur makroskopischen Verlängerung der Kriech-
probe. Dabei werden die Kriechdehnungen bei Temperaturen nahe des Schmelzpunktes
durch spannungsgesteuerte Diffusionsprozesse in korngrenzennahen Werkstoffvolumen-
bereichen (sog. Herring-Nabarro-Kriechen) bewirkt. Für die Kriechgeschwindigkeit gilt
σn ⋅ D V
ε̇S = c ⋅ , (54.7)
d
wobei DV der Volumendiffusionskoeffizient und d der mittlere Korndurchmesser ist. Auch
bei schmelzpunktferneren Temperaturen wird eine mit σ n anwachsende Kriechgeschwin-
digkeit beobachtet. Dann bestimmen jedoch spannungsgesteuerte Diffusionsprozesse
54.1 Grundlagen 425
σn ⋅ DKG
ε̇S = c ⋅ (54.8)
d
54.2 Aufgabe
Für einen austenitischen Stahl ist das Kriechverhalten im Temperaturintervall T 1 < T < T 2
zu untersuchen. Sechs Kriechkurven, die zur Ergänzung bereits vorliegender Versuchser-
gebnisse dienen, sind durch weitere Messwerte zu ergänzen. Das zwischen Bruchzeit und
sekundärer Kriechgeschwindigkeit gültige Potenzgesetz ist zu ermitteln. Für drei Tempe-
raturen sind Zeitstanddiagramme zu erstellen. Die für t = 103 h bestehende Temperaturab-
hängigkeit der Zeitstandfestigkeit und der 1 %-Zeitdehngrenze ist anzugeben.
428 54 V54 Zeitstandversuch (Kriechen)
54.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Ble075] Bleck, W.: Werkstoffprüfung im Studium und Praxis, 14. Aufl. Verlagshaus Mainz GmbH,
Aachen (2007)
[Bei00] Beiss, P.: Werkstoffkunde I, Vorlesungsmanuskript, Institut für Werkstoffanwendungen im
Maschinenbau der RWTH Aachen (2000)
[Her76] Hertzberg, R.W.: Deformation and Fracture of Engineering Materials. Verlag J. Wiley & Sons,
New York (1976)
[Ils73] Ilschner, B.: Hochtemperatur-Plastizität. Springer, Berlin (1973)
[Die78] Dienst, W.: Hochtemperaturwerkstoffe. WTU, Karlsruhe (1978)
[NN] Das Verhalten thermisch beanspruchter Werkstoffe und Bauteile, VDI-Bericht 302,VDI, Düs-
seldorf (1977)
[NN] DIN EN ISO 204:2009-10: Metallische Werkstoffe – Einachsiger Zeitstandversuch unter Zug-
beanspruchung – Prüfverfahren
V55 Schwingfestigkeit
55
55.1 Grundlagen
Zyklische Belastungen führen bei metallischen Werkstoffen auch dann noch zum Bruch,
wenn die Spannungsamplitude deutlich unterhalb der Zugfestigkeit liegt. In vielen Fällen,
z. B. bei normalisierten, unlegierten Stählen, versagen zug-druck-wechselbeanspruchte
Proben selbst dann noch, wenn die Spannungsamplitude kleiner als die Streckgrenze
der Werkstoffe ist. Das Werkstoffverhalten wird also durch die Spannungsamplitude und
die Häufigkeit ihrer Wiederholung bestimmt. Daneben wirken sich die Mittelspannung,
die Beanspruchungsart, die Umgebungsbedingungen und die Probengeometrie auf die
Schwingfestigkeit aus. Diese Feststellungen führen zur Notwendigkeit, bestimmte Kenn-
größen zur Beurteilung des mechanischen Verhaltens zyklisch beanspruchter Werkstoffe
zu ermitteln. Das geschieht in Dauerschwingversuchen mit geeigneten Schwingprüfma-
schinen und im einfachsten Fall durch Aufnahme einer Spannungs-Wöhlerkurve [Rad07].
Wird einem Werkstoff der in Abb. 55.1 skizzierte Spannungs-Zeit-Verlauf aufgeprägt, so
gilt für die Spannungsamplitude
σo − σu
σa = (55.1)
für die Mittelspannung
σo + σu
σm = (55.2)
und für das sog. Spannungsverhältnis
σu
R= . (55.3)
σo
55.2 Aufgabe
Für einen Baustahl E360 mit einer unteren Streckgrenze Rel = 360 MPa und einer Zugfes-
tigkeit Rm = 640 MPa ist die Spannungs-Wöhlerkurve bei Zug-Druck-Beanspruchung und
konstanten Mittelspannungen σ m = 0; 100 und 200 MPa zu ermitteln. Der grundsätzliche
Mittelspannungseinfluss auf die Dauerfestigkeit ist zu diskutieren (vgl. V57).
55.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht eine Zug-Druck-Schwingprüfmaschine mit dem in Abb. 55.3a dar-
gestellten Krafterzeugungsprinzip oder eine geeignete andere Maschine zur Verfügung.
Den schematischen Aufbau eines derartigen Pulsators zeigt Abb. 55.5. Die Belastung der
Proben wird über einen Exzenter eingestellt und bleibt während des Versuches konstant.
Die Messung der Kraft erfolgt über einen mit Dehnungsmessstreifen versehenen Messbü-
gel. Proben liegen in hinreichender Zahl mit vergleichbarer Oberflächengüte vor. Bereits
vorhandene Versuchsergebnisse sollen mit Versuchen bei σ m = 0 auf mehreren Spannungs-
horizonten ergänzt werden. Anschließend wird aus den Ergebnissen eine Spannungswöh-
lerlinie generiert.
55.4 Symbole, Abkürzungen 435
Literatur
Verwendete Literatur
[Rad07] Radaj, D.: Ermüdungsfestigkeit. Springer, Berlin (2007)
Weiterführende Literatur
[Gro96] Gross, D.: Bruchmechanik. Springer, Berlin (1996)
[Gün73] Günther, W.: Schwingfestigkeit. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1973)
[Hai06] Haibach, E.: Betriebsfestigkeit. Springer, Berlin (2006)
[Mun71] Munz, D., Schwalbe Mayr, P.: Dauerschwingverhalten metallischer Werkstoffe. Vieweg,
Braunschweig (1971)
[Sch85] Schott, G.: Werkstoffermüdung, 3. Aufl. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig, Ermüdungsfes-
tigkeit, Springer, Berlin (1985)
V56 Vereinfachte statistische Auswertung von
Dauerschwingversuchen für Werkstoffe mit 56
Typ-I-Verhalten
56.1 Grundlagen
Abb. 56.2 Empirische Beispiele für die Dichtefunktion der Normal- (symmetrisch bzgl. Maximum)
und Weibull-Verteilung (asymmetrisch bzgl. Maximum)
T ist der Lageparameter der Kurve für eine Bruchwahrscheinlichkeit von 63 % (PB =
1 − e−1 ). Der Parameter m der Funktion kann als „Steigung der Kurve“ am Lagepunkt T
interpretiert werden. Mit steigendem m nimmt die Streuung der Messwerte ab, und die S-
förmige Kurve in Abb. 56.3 wird steiler. Liegt Versagen aufgrund von Ermüdung vor, so
ist m erfahrungsgemäß größer 1. Liegt eine Reihe von Messwerten vor und soll für diese
Reihe die Weibullverteilung ermittelt werden, so muss die Kombination der Parameter m
und T bestimmt werden, welche alle Messwerte möglichst gut beschreibt. Mit Hilfe zweier
mathematischer Verfahren, die ein ähnliches Ergebnis liefern, kann dieses Problem gelöst
werden.
Die Modellparameter T und m können auf einfache Weise durch Linearisierung der
Weibullfunktion gefunden werden. Durch 2-faches Logarithmieren lässt sich Gl. 56.1 in
Gl. 56.2 überführen.
ln ln ( ) = m ln(t) − m ln(T) (56.2)
− PB
Gleichung 56.2 kann nach Gl. 56.3 als Geradengleichung interpretiert werden.
y = mx + a (56.3)
Die Korrelation zwischen Gln. 56.2 und 56.3 erfolgt durch Substitution gemäß den
Gln. 56.4–56.6.
y = ln ln ( ) (56.4)
− PB
x = ln (t) (56.5)
440 56 V56 Vereinfachte statistische Auswertung von Dauerschwingversuchen
Abb. 56.3 Empirische Normal- und Weibullverteilung. Die Mediane (F (Median) = 0,5) der beiden
Verteilung sind gleich gewählt (Median = 500)
a = −m ln (T) (56.6)
Wird die Gl. 56.4 der y-Achse und die Gl. 56.5 der x-Achse in einem x-y-Diagramm hin-
terlegt, so müssen die Messwerte, wenn sie der Weibullverteilung folgen, auf einer Geraden
liegen. Die Steigung Geraden aus Gl. 56.3 entspricht dem Streuparameter m der Weibullver-
teilung. Die Bestimmung der Steigung kann aus zwei wählbaren Punkten auf der Geraden
nach Gl. 56.7 erfolgen. Der Funktionsparameter T ergibt sich aus dem Schnittpunkt der
Geraden mit der x-Achse (y = 0) im Diagramm als Ablesewert. Die Begründung hierfür
56.1 Grundlagen 441
sortiert und mit einem Laufindex i, beginnend bei 1, versehen. Die Sortierung der Mess-
werte ist nötig, da für die Zuordnung einer Wahrscheinlichkeit auch die Position der Probe
in der Messreihe entscheidend ist. Außerdem sollte sichergestellt sein, dass mit steigender
Lebensdauer die Bruchwahrscheinlichkeit zunimmt. Die Sortierung und Verknüpfung der
Messwerte mit einem Laufindex stellt dies sicher, da der Laufindex die Position eines Mess-
wertes innerhalb der Messreihe angibt. Mit Hilfe des Laufindexes können unterschiedliche
Schätzformeln für die Wahrscheinlichkeiten einer kontinuierlichen Messgröße angegeben
werden. Gl. 56.10 zeigt ein bewährtes Beispiel.
i
PB (N i ) = (56.10)
n+
Der Laufindex i entspricht der Anzahl der Proben, die bis zu der zugehörigen Schwing-
spielzahl gebrochen sind. Die Bruchwahrscheinlichkeit für die i-te Probe ergibt sich durch
Beziehen des Laufindexes auf die Gesamtanzahl n der auf dem gleichen Lasthorizont ge-
prüften Proben plus 1. Die virtuelle Erhöhung der Gesamtzahl um eine Probe bewirkt, dass
für i = n nicht die Grenze für die Bruchwahrscheinlichkeit von 1 erreicht wird.
Durch Zusammenführen der Schätzung der Wahrscheinlichkeiten und der oben dar-
gestellten Auswertemethoden kann nun die Auswertung eines Wöhlerversuchs erfolgen.
Liegen für einstufig, zyklisch belastete Proben mehrere Messwerte im Zeitfestigkeits- und
Dauerfestigkeitsgebiet vor, so stellt sich die Frage, welche charakteristischen Größen an-
hand der Messwerte ermittelt werden können. Im Laborbereich hat sich hierfür die Er-
mittlung des Streubandes auf der Grundlage der Bruchwahrscheinlichkeiten für PB = 10 %,
PB = 50 % und PB = 90 % bewährt.
Für die Auswertung des Zeitfestigkeitsgebiets (nur Brüche) wird für jeden Hori-
zont eine Weibullverteilung ermittelt, und die Werte N B (PB = 10 %), N B (PB = 50 %) und
N B (PB = 90 %) werden bestimmt. Wird davon ausgegangen, dass die gemessenen Lebens-
dauern einer Weibullverteilung folgen, kann Gl. 56.1 in Gl. 56.11 umgeschrieben werden.
Die Parameter N 0 und m sind auf der Basis der Messwerte zu ermitteln.
m
−( NN )
PB (N) = − e (56.11)
Tabelle 56.1 zeigt hierfür beispielhaft die Vorgehensweise. Die Schwingspielzahlen wer-
den aufsteigend sortiert, und anschließend wird die zugehörige Bruchwahrscheinlichkeit
nach Gl. 56.10 geschätzt (Tab. 56.1). Die Parameter N 0 und m können dann gemäß Vari-
ante 1 durch Linearisierung der Weibullverteilung oder gemäß Variante 2 durch die Mini-
mierung der Fehlerquadrate ermittelt werden. Nach Variante 1 sollten die Messpunkte in
einem x-y-Diagramm, bei dem auf der y-Achse die Bruchwahrscheinlichkeit nach Gl. 56.4
und auf der logarithmischen x-Achse die Schwingspielzahl hinterlegt ist, auf einer Geraden
liegen (Abb. 56.6). Die Parameter N 0 und m werden, wie oben beschrieben, bestimmt. Für
die Auswertung gemäß Variante 2 sind nach der Schätzung der Bruchwahrscheinlichkei-
ten die Einzelfehlerquadrate Q1 bis Qn nach Tab. 56.1 zu bilden. Die Einzelfehlerquadrate
56.1 Grundlagen 443
müssen dabei über die Parameter N 0 und m verknüpft sein, so dass bei einer Änderung
von einem der Parameter sich alle Einzelfehlerquadrate ändern. Die Einzelfehlerquadrate
sind zu summieren, und das Minimum der Summe ist zu ermitteln. Wird ein Tabellen-
kalkulationsprogramm verwendet, so kann dies über die Solver-Funktion geschehen. Die
Verteilungsfunktion für den ausgewerteten Horizont ist nun vollständig bestimmt, so dass
die Schwingspielzahlen für eine 10 %-, 50 %- und 90 %-ige Bruchwahrscheinlichkeit ermit-
telt werden können. Dies kann entweder nach Variante 1 durch Ablesen der Schwingspiel-
zahlen im Wahrscheinlichkeitsnetz bei den y-Werten −2,25 (PB = 10 %), −0,37 (PB = 50 %)
und 0,83 (PB = 90 %) oder direkt durch Einsetzen der Wahrscheinlichkeiten und Lösen der
Weibullfunktion erfolgen.
Als Maß für die Streuung der Schwingspielzahlen bei einer Spannungsamplitude wird
häufig neben dem Parameter m der Wert T N gemäß Gl. 56.12 angegeben.
N
TN = ∶ ( ) (56.12)
N
das Vorgehen.
m
−( σσa )
PB (σa ) = − e (56.13)
Für die Linearisierung der Verteilung wird ein x-y-Diagramm erstellt, auf dessen linea-
rer y-Achse die Bruchwahrscheinlichkeit nach Gl. 56.4 und dessen logarithmischer x-Achse
die Spannungsamplitude aufgetragen wird. Die Funktionsparameter σ 0 und m werden, wie
oben beschreiben, aus der einzuzeichnenden Ausgleichsgeraden ermittelt. Bei der Auswer-
temethode nach Variante 2 sind, wie Tab. 56.2 zeigt, die Einzelfehlerquadrate zu bilden. Die
56.1 Grundlagen 445
Summe der Fehlerquadrate ist wiederum als Funktion der Parameter σ 0 und m zu mini-
mieren. Ist die Verteilungsfunktion für das Gebiet der Dauerfestigkeit bestimmt, können
die Spannungswerte für σ a (PB = 10 %), σ a (PB = 50 %), σ a (PB = 90 %), wie bei der Auswer-
tung des Zeitfestigkeitsgebiets gezeigt, abgelesen oder berechnet werden.
Um mehrere Werkstoffchargen miteinander zu vergleichen, werden häufig die Vertei-
lungsfunktionen der Dauerfestigkeitsgebiete gegenübergestellt. Der Vorteil besteht darin,
dass mögliche Überlappungen der Verteilungsfunktionen besser abgeschätzt werden kön-
nen. Des Weiteren sind bei einer PB -lgσ a -Auftragung Verteilungen mit gleicher Streubreite
jedoch mit unterschiedlichem Lageparameter T parallel verschoben. In der Laboranwen-
dung ist der wichtigste Wert, der sich bei der Auswertung ergibt, der Median (PB = 50 %)
der Verteilung, da konventionsgemäß die zugehörige Spannungsamplitude als Dauerfes-
tigkeit bezeichnet wird.
Neben dem Parameter m kann als Angabe für die Breite des Streubandes der Dauerfes-
tigkeit die Größe T σ gemäß Gl. 56.14 angegeben werden.
σa,
Tσ = ∶ ( ) (56.14)
σa,
56.2 Aufgabe
56.3 Versuchsdurchführung
Literatur
Verwendete Literatur
[Bas10] Basquin, O.H.: The exponential law of endurance tests. American Society For Testing Mate-
rials Proc. Thirteenth Annual Meeting. (1910)
Weiterführende Literatur √
[Den75] Dengel, D.: Die arcsin P-Transformation – ein einfaches Verfahren zur grafischen und
rechnerischen Auswertung geplanter Wöhlerversuche. Zeitschrift für Werkstofftechnik 6(8), 253–
288 (1975)
[Mun71] Munz, D., Schwalbe, K., Mayr, P.: Dauerschwingverhalten metallischer Werkstoffe. Vieweg,
Braunschweig (1971)
[Sch01] Schott, G.: Werkstoffermüdung – Ermüdungsfestigkeit, 4. Aufl. Deutscher Verlag für Grund-
stoffindustrie, Leipzig (2001)
[Küh01] Kühlmeyer, M.: Statistische Auswertungsmethoden für Ingenieure. Springer-Verlag, Berlin,
Heidelberg, New York (2001)
448 56 V56 Vereinfachte statistische Auswertung von Dauerschwingversuchen
[Wil04] Wilker, H.: Weibull-Statistik in der Praxis – Leitfaden zur Zuverlässigkeitsermittlung tech-
nischer Produkte Bd. 3. Books on Demand GmbH, Norderstedt (2004)
[Rad07] Radaj, D., Vormwald, M.: Ermüdungsfestigkeit – Grundlagen für Ingenieure, 3. Aufl. Sprin-
ger-Verlag, Berlin (2007)
V57 Dauerfestigkeits-Schaubilder
57
57.1 Grundlagen
Der bei einer Mittelspannung σ m = 0 und einer beliebig oft aufprägbaren Spannungsampli-
tude σ a wirksame Werkstoffwiderstand gegen Ermüdungsbruch wird bei Werkstoffen, die
Wöhlerkurven vom Typ I besitzen, als Wechselfestigkeit σ W bezeichnet (vgl. V55 Schwing-
festigkeit). Weniger präzise nennt man auch einfach die unter σ m = 0 beliebig oft gerade
noch ohne Bruch ertragbare Spannungsamplitude Wechselfestigkeit. Analog wird meist
auch die bei σ m ≠ 0 gerade noch ohne Bruch ertragbare Spannungsamplitude als Dauerfes-
tigkeit σ D bezeichnet. Erfahrungsgemäß führen positive (negative) Mittelspannungen zu
Dauerfestigkeiten, die kleiner (größer) als die Wechselfestigkeit sind. Durchweg werden bei
spannungskontrollierten Versuchen mit σ m = const. die dauerfest ertragbaren Spannungs-
amplituden innerhalb bestimmter Grenzen mit algebraisch abnehmender Mittelspannung
erhöht (vgl. Abb. 57.1 links).
Das Spannungsverhältnis R bezeichnet das Verhältnis von Oberspannung σ O zu Unter-
spannung σ U :
σU
R= . (57.1)
σO
Durch die Angabe von R ist der Beanspruchungsbereich (vgl. V55 Schwingfestigkeit)
eindeutig definiert (vgl. Abb. 57.2).
Bei spannungskontrollierten Versuchen mit konstantem Spannungsverhältnis im Be-
reich −1 < R < +1 liefern algebraisch abnehmende R-Werte ebenfalls erhöhte Dauerfestig-
keiten (vgl. Abb. 57.1 rechts).
Da in der technischen Praxis häufig die Überlagerung einer zeitlich konstanten mit einer
periodisch veränderlichen Spannung vorliegt (z. B. in Schraubenverbindungen), kommt
dem Werkstoffverhalten unter Schwingbeanspruchung mit Mittelspannung erhebliche Be-
deutung zu.
Der Praktiker bewertet derartige Beanspruchungsfälle anhand sog. Dauerfestigkeits-
Schaubilder. In den gängigsten Schaubildern wird meist einzig der Zusammenhang
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 449
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_57, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
450 57 V57 Dauerfestigkeits-Schaubilder
Abb. 57.1 Mittelspannungseinfluss (links) bzw. R-Einfluss (rechts) auf die Lage der Spannungs-Wöh-
lerkurven (schematisch)
σO
σO
+σ
σO
σO
σO R= 0
0
R = -1 R = - 0,3 σU Zeit
R = -3 σU
R = -∞ σU
-σ
σU
σU
zwischen den positiven Mittelspannungen und den dabei dauerfest ertragbaren Span-
nungsamplituden σ a = ±σ D (σ m ) beschrieben. Der Bereich mit negativer Mittelspannung
ist häufig nicht abgebildet. Die wichtigsten Dauerfestigkeits-Schaubilder sind das Smith-
Diagramm und das Haigh-Diagramm.
Im Smith-Diagramm (vgl. Abb. 57.3 und 57.4 oben) werden die den jeweils dauerfest er-
tragbaren Oberspannungen bzw. Unterspannungen entsprechenden Werkstoffwiderstän-
de, die „Oberspannungsdauerfestigkeit“ σ DO
σDO = σm + σD (57.2)
σDU = σm − σD (57.3)
R legen jeweils innerhalb der getönten Bereiche die zugehörigen dauerfest ertragbaren
Kombinationen aus Mittelspannung und Spannungsamplitude fest.
Bei dem im unteren Teil von Abb. 57.4 gezeigten Haigh-Diagramm ist die Dauerfes-
tigkeit σ D direkt als Funktion der Mittelspannung σ m aufgetragen. Auch hier erfolgt eine
Begrenzung der Amplituden durch σ D (σ m ) ≤ ReS , um makroskopische plastische Verfor-
mungen auszuschließen. Dies glaubt man bei größeren Mittelspannungen durch Vorgabe
der sog. Streckgrenzengerade
σD Grenze = ReS − σm (57.4)
zu erreichen, die im unteren Teil von Abb. 57.4 gestrichelt eingezeichnet ist. Das Haigh-
Diagramm kann man sich anschaulich durch Projektion des oberen Teils des Smith-Dia-
gramms auf die horizontale x-Achse verdeutlichen. Gegenüber dem Smith-Diagramm bie-
tet das Haigh-Diagramm dem Konstrukteur den Vorteil, dass zu gegebenen σ m -Werten
unmittelbar die zugehörigen Dauerfestigkeiten abgelesen werden können.
Der zwischen Smith- und Haigh-Diagramm bestehende Zusammenhang geht unmit-
telbar aus der Gegenüberstellung beider Schaubilder in Abb. 57.4 hervor. Alle dauerfest
ertragbaren Kombinationen aus Oberspannungen (bzw. Unterspannungen) und positiven
Mittelspannungen sowie Spannungsamplituden und positiven Mittelspannungen befinden
sich innerhalb der getönten Bereiche. Im Smith-Diagramm liegen die bestimmten R-Wer-
452 57 V57 Dauerfestigkeits-Schaubilder
ten zukommenden σ O ,σ m -Kombinationen auf den dünn ausgezogenen Geraden, die durch
−R
σO = σm + σa = [ ] ⋅ σm (57.5)
+R
−R
σa = [ ] ⋅ σm (57.6)
+R
beschrieben.
57.2 Aufgabe 453
Es gibt nur wenige Werkstoffe bzw. Werkstoffzustände, für die die Grenzlinien des
Smith- bzw. Haigh-Diagramms hinreichend genau ermittelt wurden. Selbstverständlich
müssten eigentlich alle für die Erstellung von Dauerfestigkeits-Schaubildern benutzten
Messwerte statistisch abgesichert sein (vgl. V56 Statistische Auswertung von Dauer-
schwingversuchen). Da der dazu erforderliche experimentelle Aufwand aber sehr groß
ist, informiert man sich oft nur stichprobenartig über den vorliegenden Mittelspannungs-
einfluss. Dazu werden z. B. nur die Wechselfestigkeit σ W sowie die Dauerfestigkeit σ D
bei einer (mehreren) geeignet gewählten Mittelspannung(en) σ m bestimmt und daraus
Rückschlüsse auf die Mittelspannungsempfindlichkeit M gezogen. (Die Mittelspannungs-
empfindlichkeit ist definiert als die Steigung einer Sekante der Dauerfestigkeitslinie im
Bereich im Bereich −1 < R < 0). Meist werden jedoch allein mit Hilfe der Wechselfestigkeit
σ W , der Streckgrenze ReS und der Zugfestigkeit Rm die Grenzlinien der Dauerfestigkeits-
schaubilder festgelegt. Erfahrungsgemäß liegen nämlich
bei vielen Werkstoffen im Beanspruchungsbereich R > −1 die von den Mittelspannun-
gen abhängigen Dauerfestigkeiten innerhalb der Grenzen, die durch die sog. Goodman-
Gerade
σm
σD Goodmann = σW [ − ] (57.7)
Rm
und die sog. Gerber-Parabel
σm
σD Gerber = σW [ − ( ) ] (57.8)
Rm
erfüllt.
Ist dies der Fall, so können die obere und die untere Grenzlinie des Smith-Diagramms
sowie der dauerfest ertragbare Beanspruchungsbereich des Haigh-Diagramms in konser-
vativer Weise mit Hilfe des Goodman’schen Ansatzes berechnet werden, wenn vom Ver-
suchswerkstoff die Wechselfestigkeit, die Streckgrenze und die Zugfestigkeit bekannt sind.
57.2 Aufgabe
Für den Baustahl S355JR mit einer Streckgrenze ReS = 355 N/mm2 und einer Zugfestig-
keit Rm = 630 N/mm2 ist zunächst die Wechselfestigkeit σ W zu bestimmen. Dann sind für
σ m = +l00 N/mm2 , +200 N/mm2 und +300 N/mm2 die Dauerfestigkeiten σ D zu ermitteln.
Die Messwerte von σ D sind mit den nach Goodman und Gerber berechneten zu verglei-
chen. Für das Untersuchungsmaterial sind das Smith- und das Haigh-Diagramm anzuge-
ben.
454 57 V57 Dauerfestigkeits-Schaubilder
Abb. 57.5 Haigh-Diagramm im Bereich −1 < R < +1 mit Goodmann-Gerade, Gerber-Parabel, sche-
matischer Dauerfestigkeitslinie und Mittelspannungsempfindlichkeit M
57.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
58.1 Grundlagen
Nach V43 ist bei zügiger Beanspruchung die Zugfestigkeit gekerbter duktiler Proben stets
größer als die glatter. Erfahrungsgemäß ergibt sich dagegen bei zyklischer Beanspruchung,
dass gekerbte gegenüber glatten Proben eine kleinere Wechselfestigkeit besitzen. Die vor-
liegenden Verhältnisse sind in Abb. 58.1 schematisch durch die Spannungs-Wöhlerkurven
(vgl. V55) glatter und gekerbter Proben desselben Werkstoffzustandes bei reiner Wech-
selbeanspruchung dargestellt. Dabei ist Rm die Zugfestigkeit, RKm die Kerbzugfestigkeit,
σ W die Wechselfestigkeit und σ KW die Kerbwechselfestigkeit. Im Zeitfestigkeitsgebiet besit-
zen gekerbte Proben eine kleinere Lebensdauer als ungekerbte, im Kurzzeitfestigkeitsgebiet
kehren sich diese Verhältnisse um. Die Wechselfestigkeit gekerbter Proben nimmt i. Allg.
umso stärker mit der Formzahl α K ab, je größer die Zugfestigkeit und damit die Härte
(vgl. V36) des Werkstoffes ist. Als Beispiel sind in Abb. 58.2 die Biegewechselfestigkeiten
für mehrere Stähle mit verschiedenen Formzahlen in Abhängigkeit von der Härte wieder-
gegeben. Es wird deutlich das, bei α K = const., die Kerbempfindlichkeit bei schwingender
Beanspruchung mit zunehmender Härte steigt. Bei großen Formzahlen wird aber – un-
abhängig von Stahltyp und Ausgangshärte – praktisch die gleiche Biegewechselfestigkeit
beobachtet.
Hinsichtlich der Beeinflussung der Wechselfestigkeit glatter Werkstoffproben durch
Kerben der Formzahl α K lassen sich grundsätzlich die in Abb. 58.3 dargestellten Fälle
unterscheiden:
1) Die Kerbe hat keinen Einfluss auf die Wechselfestigkeit, dann ist σ KW = σ W . Ein Bei-
spiel für derartiges Verhalten stellt Gusseisen mit Lamellengraphit dar.
2) Die Kerbe hat einen geringeren Einfluss auf die Wechselfestigkeit, als ihrer Formzahl
α K entspricht. Dann lässt sich die wirksame Spannungsamplitude im Kerbgrund durch
σa = β K ⋅ S a (58.1)
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 457
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_58, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
458 58 V58 Kerbwirkung bei Schwingbeanspruchung
σW
σKW = . (58.2)
βK
σW
σKWmax = . (58.4)
αK
Die Größe
σW
βK = (58.5)
σKW
wird als Kerbwirkungszahl, die Größe
βK −
ηK = (58.6)
αK −
als Kerbempfindlichkeitszahl bezeichnet. Ist die Kerbe unwirksam (Fall 1), so ist β K = 1
und ηK = 0. Bei voller Wirksamkeit der Kerbe (Fall 3) wäre dagegen β K = α K und ηK = 1.
Bei abgeschwächter Kerbwirkung schließlich (Fall 2) wird 1 < β K < α K und 0 < ηK < 1. Im
Gegensatz zur Formzahl ist β K stark vom untersuchten Werkstoff und der Oberflächengüte
abhängig. Bei vorgegebenem Werkstoff und einheitlichen Versuchsbedingungen ermögli-
chen β K und ηK die formale Erfassung der Kerbwirkung bei Wechselbeanspruchung.
In Abb. 58.4 sind als Beispiel die bei einer abgesetzten Welle aus dem Baustahl E295, mit
unterschiedlichen Ausrundungsradien ρ und damit Formzahlen α K , unter Wechselbiege-
beanspruchung beobachteten ηK und β K wiedergegeben. Beide Größen, deren werkstoff-
mechanische und metallphysikalische Bedeutung weiterer Untersuchungen bedarf, steigen
mit wachsendem α K an. Gelegentlich werden die Gln. 58.1 und 58.2 auch auf zeitfest er-
tragene Spannungsamplituden angewandt (vgl. V55). Dann wird β K lastspielzahlabhängig
und kann auch größere Werte als α K annehmen.
460 58 V58 Kerbwirkung bei Schwingbeanspruchung
Abb. 58.4 ηK und β K als Funktion der Formzahl α K bei einem wechselbiegebeanspruchten Well-
absatz aus E295
58.2 Aufgabe
58.3 Versuchsdurchführung
ηK möglich. Ferner werden den Wöhlerkurven die Kurzzeit- und Zeitfestigkeiten für die
Bruchlastspielzahlen 10, 102 , 103 , 104 und 105 entnommen und diesen formale β K - und
ηK -Werte zugeordnet.
Weiterführende Literatur
[Fro74] Frost, N.E., Marsh, K.J., Pook, L.J.: Metal Fatigue. Clarendon Press, Oxford (1974)
[Gro96] Gross, D.: Bruchmechanik. Springer, Berlin (1996)
[Hai06] Haibach, E.: Betriebsfestigkeit. Springer, Berlin (2006)
[Mun71] Munz, D., Schwalbe Mayr, P.: Dauerschwingverhalten metallischer Werkstoffe. Vieweg,
Braunschweig (1971)
[Rad07] Radaj, D., Vormwald, M.: Ermüdungsfestigkeit. Springer, Berlin (2007)
[Sch97] Schott, G.: Werkstoffermüdung – Ermüdungsfestigkeit, 4. Aufl. Grundstoffindustrie, Leipzig
(1997)
V59 Wechselverformung unlegierter Stähle
59
59.1 Grundlagen
welche die pro Lastspiel an der Probe geleistete plastische Verformungsarbeit pro Volumen-
einheit darstellt. Die Totaldehnung εt umfasst zu jedem Zeitpunkt einen elastischen Anteil
εe und einen plastischen Anteil εp . Dieser plastische Anteil εp , bei σ = 0, bestimmt die halbe
Breite der Hysteresisschleife und wird als plastische Dehnungsamplitude εa,p bezeichnet.
Treten während einer Wechselbeanspruchung im Werkstoff Vorgänge auf, die zu Verände-
rungen des σ-εt -Zusammenhanges führen, so sind die Hysteresiskurven nicht geschlossen
und ändern mit der Lastspielzahl ihre Form.
Bei Dauerschwingversuchen sind grundsätzlich drei verschiedene Versuchsdurchfüh-
rungen möglich, je nachdem, ob die Spannungsamplitude σ a , die Totaldehnungsamplitu-
de εa,t oder die plastische Dehnungsamplitude εa,p während der Schwingbeanspruchung
konstant gehalten wird. In Abb. 59.2 sind schematisch die bei diesen Versuchsführungen
vorliegenden Verhältnisse dargestellt. Nimmt mit der Lastspielzahl bei εa,t = const. bzw.
εa,p = const. die Spannungsamplitude zu (ab) zeigt der Werkstoff ein wechselverfestigendes
(wechselentfestigendes) Verhalten. Dagegen handelt es sich bei einer spannungskontrol-
lierten Versuchsführung mit σ a = const. um eine Wechselverfestigung (Wechselentfesti-
gung), wenn die plastische Dehnungsamplitude εa,p mit der Lastspielzahl abnimmt (zu-
nimmt). In der letzten Spalte von Abb. 59.2 sind jeweils die für Wechselverfestigung typi-
schen Reaktionsgrößen in Abhängigkeit vom Logarithmus der Lastspielzahl aufgezeichnet.
Diese Zusammenhänge heißen Wechselverformungskurven.
In Abb. 59.3 ist für Ck 45 im normalisierten Zustand das Ergebnis von Zug-Druck-
Dauerschwingversuchen mit verschiedenen konstanten Spannungsamplituden, σ a = const.
< ReL , wiedergegeben. Dargestellt ist jeweils die plastische Dehnungsamplitude als Funk-
tion der Lastspielzahl. Es wird deutlich, dass die plastische Verformung mit steigender
Spannungsamplitude bei kleinerer Lastspielzahl einsetzt. Die anfängliche Zunahme der
εa,p -Werte ist mit inhomogenen Verformungserscheinungen in Form von Ermüdungslü-
dersbändern verknüpft. Die spätere Abnahme der εa,p -Werte ist der Ausbildung spezieller
Versetzungsstrukturen zuzuordnen. Der Messwertanstieg vor dem jeweiligen Probenbruch
(↑) ist auf eine Anrissöffnung zurückzuführen. Für vergleichbare Ermüdungszustände kön-
nen derartigen Wechselverformungskurven die plastischen Dehnungs- und Spannungs-
amplituden entnommen und gegeneinander aufgetragen werden. Auf diese Weise kann die
zyklische Spannungs-Dehnungs-Kurve des untersuchten Werkstoffs bzw. Werkstoffzustan-
59.2 Aufgabe 465
Abb. 59.2 Auswirkung unterschiedlicher Versuchsführung bei Untersuchungen der anrissfreien Er-
müdungsphase metallischer Werkstoffe. Die angegebenen Hysterisisschleifen und die zugehörigen
Wechselverformungskurven sind typisch für wechselverfestigende Werkstoffzustände
des ermittelt werden. Dabei ist in bestimmten Fällen der Rückgriff auf die Zahlenwerte, die
bei Rissbildung oder bei N = N B /2 vorliegen, in strukturmechanischer Hinsicht sinnvoll.
Abbildung 59.4 zeigt die zyklischen Spannungs-Dehnungs-Kurven einiger normalisier-
ter unlegierter Stähle.
59.2 Aufgabe
59.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Dah78] Dahl, W.: Verhalten von Stahl bei schwingender Beanspruchung. Verlag Stahleisen, Düssel-
dorf (1978)
[Hai06] Haibach, E.: Betriebsfestigkeit. Springer, Berlin/Heidelberg (2006)
[Rad07] Radaj, D., Vormwald, M.: Ermüdungsfestigkeit. Springer, Berlin/Heidelberg (2007)
[VDI76] Werkstoff- und Bauteilverhalten unter Schwingbeanspruchung, VDI-Bericht 286, VDI,
Düsseldorf (1976)
V60 Zyklisches Kriechen
60
60.1 Grundlagen
Für das Ermüdungsverhalten metallischer Werkstoffe während der anrissfreien Phase (vgl.
V63) sind strukturelle Veränderungen typisch, die sich innerhalb des Probenvolumens
als Folge plastischer Verformungsvorgänge ausbilden. Sie lassen sich pauschal an Hand
der während der einzelnen Schwingspiele auftretenden Spannungs-Dehnungs-Zusam-
menhänge (Hysteresisschleifen) beurteilen (vgl. V59). Werden spannungskontrollierte
Ermüdungsversuche (σ a = const.) mit konstanter Mittelspannung σ m durchgeführt, so
können ähnliche Hysteresisschleifen auftreten wie in Abb. 60.1. Als Kenngrößen einer
solchen Hysteresisschleife sind die Mitteldehnung εm sowie die totale und die plastische
Dehnungsamplitude εa,t und εa,p anzusehen. Während der Schwingbeanspruchung tritt in
Abhängigkeit von der Schwingspielzahl N eine Änderung der plastischen Dehnungsam-
plitude εa,p und damit – bei konstant gehaltenem Mittelspannungswert – eine Änderung
der Breite der Hysteresisschleife auf. Wird εa,p über lgN aufgetragen, so ergibt sich die
für die gewählte σ a ,σ m -Kombination gültige Wechselverformungskurve. Daneben kön-
nen während der mittelspannungsbeaufschlagten Schwingbeanspruchung entweder durch
zyklische Erwärmung oder durch gerichtete plastische Deformationsprozesse Mitteldeh-
nungsänderungen auftreten. Der zuletzt angesprochene Prozess wird zyklisches Kriechen
(Ratcheting) genannt. Der grundsätzliche Befund wird durch Abb. 60.2 belegt. Dort ist im
linken Teilbild für 42CrMo4 im normalgeglühten Zustand die Wechselverformungskurve
aufgezeichnet, die sich bei einer Mittelspannung σ m = 20 MPa und einer Spannungsam-
plitude σ a = 295 MPa ergibt. Im unteren Teilbild ist die Mitteldehnung aufgetragen, die
die Probe während der Schwingbeanspruchung erfährt. Nach 3 ⋅ 104 Schwingspielen hat
sich unter den vorliegenden Bedingungen die Probe um etwa 0,6 % verlängert. Die untere
Streckgrenze des untersuchten Werkstoffzustandes lag bei ~ 345 MPa.
Im unteren Teil von Abb. 60.3 sind als weiteres Beispiel die bei normalgeglühtem Ck 45
unter verschiedenen Mittelspannungen bei einer Spannungsamplitude von 320 MPa auf-
tretenden Mitteldehnungen wiedergegeben. Die Mitteldehnungen nehmen umso rascher
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 469
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_60, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
470 60 V60 Zyklisches Kriechen
größere Werte an, je größer die Mittelspannung ist. Die zugehörigen Wechselverformungs-
kurven im oberen Teil von Abb. 60.3 sind praktisch unabhängig von der Mittelspannung.
Diesen Abmessungsinstabilitäten bei nicht mittelspannungsfreier Ermüdung kommt ei-
ne grundsätzliche Bedeutung zu und das macht eine Modifizierung der bekannten Dauer-
festigkeits-Schaubilder (vgl. V57) notwendig, wenn diese – wie in der Praxis üblich – auch
auf zeitfest ertragene Spannungsamplituden erweitert werden. Dabei wird implizit stets da-
von ausgegangen, dass bei schwingender Beanspruchung solange keine makroskopischen
plastischen Verformungen auftreten, wie die Oberspannung kleiner bleibt als die Streck-
grenze. Nach Abb. 60.2 und 60.3 können aber bei Beanspruchungskombinationen, die nach
den heute üblicherweise zur zeitfesten Dimensionierung verwandten Smith- bzw. Haigh-
Dauerfestigkeitsschaubildern durchaus zulässig sind, erheblich größere Abmessungsän-
derungen als 0,2 % auftreten. Es scheint daher sinnvoll, das Versagenskriterium „Ermü-
dungsbruch“ durch das Versagenskriterium bleibende „Kriechdehnung“ zu ergänzen. Ab-
bildung 60.4 zeigt ein erweitertes Haigh-Diagramm, in dem Wechselverformungs- und
die zyklischen Kriechdehnungen (Mitteldehnungen) bei konstanten Schwingspielzahlen
N i bzw. Anrissschwingspielzahlen N A als Funktion der Spannungsamplitude σ a , und der
zugehörigen Mittelspannung σ m für normalisierten Ck 45 aufgetragen sind.
Man sieht, dass in dem durch die gestrichelte Streckgrenzengerade σ a + σ m = ReL (vgl.
V57) abgegrenzten Diagrammbereich viele Kombinationen von Spannungsamplitude und
Mittelspannung existieren, die auf z. T. beträchtliche Mitteldehnungen und damit makro-
skopische Probenabmessungsänderungen führen. Alle diese Beanspruchungskombinatio-
nen liefern Anrissschwingspielzahlen N A < 2 ⋅ 106 .
60.2 Aufgabe 471
60.2 Aufgabe
60.3 Versuchsdurchführung
ten) biegefrei mit hydraulischen Fassungen eingespannt. Die Dehnungsmessung erfolgt mit
einem kapazitiven Dehnungsaufnehmer, der mit einer Klemmvorrichtung an den Schul-
tern der zylindrischen Proben befestigt wird. Die Probe wird mit einer Spannungsampli-
tude σ a = 320 MPa und einer Mittelspannung σ m = 15 MPa bis zum Bruch beansprucht.
Die Spannungs- und Dehnungswerte werden gemessen und von einem Messwertrech-
ner aufgezeichnet. Mit der vergüteten Probe aus 42CrMo4 (850 °C 3 h/Öl 20 °C / 570 °C
4 h/Ofenabkühlung) wird in gleicher Weise verfahren. Als Beanspruchungsgrößen werden
σ a = 550 MPa und σ m = 350 MPa gewählt. Die Umrechnung der vom Rechner während
60.3 Versuchsdurchführung 473
Weiterführende Literatur
[Pil78] Pilo, D., Reik, W., Mayr, P., Macherauch, E.: Zum Mittelspannungseinfluß auf das Wechsel-
verformungsverhalten unlegierter Stähle. Archiv für das Eisenhüttenwesen 49(1), 31–36 (1978)
[Pil79] Pilo, D., Reik, W., Mayr, P., Macherauch, E.: Makroskopische Längenänderung als Folge von
Mittelspannungswechseln bei Zug-Druck-Wechselverformung von Ck 45. Archiv für das Eisenhüt-
tenwesen 50(10), 439–442 (1979)
[Pil80] Pilo, D., Reik, W., Mayr, P., Macherauch, E.: Makroskopische Längenänderung unter schwin-
gender Beanspruchung beim Stahl Ck 45 im normalgeglühten und im gereckten Zustand. Archiv für
das Eisenhüttenwesen 51(4), 155–157 (1980)
V61 Verformung und Verfestigung bei
Wechselbiegung 61
61.1 Grundlagen
Mb,a
σR,a = ± (61.1)
Wb
∗ Mb,a
σR,a =± (Mb,a > MeS ) (61.2)
Wb
Dabei ist W b das Widerstandsmoment gegen Biegung. Die Amplitude der Randspan-
nung σ R , die Fläche der Hysteresisschleife nach Gl. 61.3
A = ∮ σR dεR,t (61.3)
und die plastische bzw. bleibende Randdehnungsamplitude εR,p nach Entlasten auf M b = 0
ändern sich mit der Schwingspielzahl in kennzeichnender Weise. Die Wechselverfestigung
bewirkt, dass sich die Hysteresisschleifen mit wachsender Schwingspielzahl aufrichten.
M b,a und damit σ R,a werden dabei größer, und die plastische Randdehnungsamplitude
fällt ab. M b,a = f (lgN) bzw. σ R,a = f (lgN) werden als Biegewechselverfestigungskurven
bezeichnet.
In Abb. 61.2 sind Wechselverformungskurven von reinem Nickel gezeigt, das in der
Reihenfolge 1 bis 5 mit zunehmender konstanter Randtotaldehnungsamplitude biegewech-
selbeansprucht wurde. Man sieht, dass sich umso größere Randspannungsamplituden ein-
stellen, je größer die Randtotaldehnungsamplitude ist. Die Wechselverformungskurven des
Werkstoffs sind durch rasche Anfangsverfestigung und die Einstellung eines von der Total-
dehnungsamplitude abhängigen Sättigungswertes der Amplitude der Randspannung (bzw.
der Amplitude des Biegemomentes) charakterisiert. Die Sättigungsspannung wird umso
früher erreicht, je größer die Randtotaldehnungsamplitude ist. Nach Erreichen der Sät-
tigung ist in den Oberflächenkristalliten der ermüdeten Proben Mikrorissbildung (vgl.
V63) nachweisbar. Werden die Spannungsamplituden der Sättigungszustände über den
zugehörigen Randtotaldehnungsamplituden aufgetragen, so erhält man die zyklische Ver-
festigungskurve (vgl. V59).
61.2 Aufgabe
61.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Sch97] Schott, G.: Werkstoffermüdung – Ermüdungsfestigkeit, 4. Aufl. Deutscher Verlag für Grund-
stoffindustrie, Leipzig (1997)
[Har63a] Hartmann, R.J., Macherauch, E.: Die Veränderung von Röntgeninterferenzen, Hysterese
und Oberflächenbild bei ein- und wechselsinniger Beanspruchung von Messing, Nickel. Teil 2: Wech-
selverfestigung von reinem Nickel. Zeitschrift für Metallkunde 54(4), 197–206 (1963)
[Har63b] Hartmann, R.J., Macherauch, E.: Die Veränderung von Röntgeninterferenzen, Hysterese
und Oberflächenbild bei ein- und wechselsinniger Beanspruchung von Messing, Nickel und Stahl.
Teil 3: Röntgenographische und mechanische Untersuchungen zur Biegewechselfestigkeit von Arm-
coeisen und 25CrMo4-Stahl. Zeitschrift für Metallkunde 54(4), 282–286 (1963)
V62 Dehnungs-Wöhlerkurven
62
62.1 Grundlagen
auf, so ergeben sich für beide Anteile näherungsweise lineare Zusammenhänge. Für das
Verhältnis von elastischer zu plastischer Dehnungsamplitude gilt:
N ü wird als Übergangslastspielzahl bezeichnet. Quantitativ gilt für die plastische Deh-
nungsamplitude
εa,p = εf ⋅ NB−α (62.2)
und für die elastische Dehnungsamplitude
σf −β
εa,e = ⋅ NB . (62.3)
E
Dabei ist εf der Ermüdungsduktilitätskoeffizient, σ f der Ermüdungsfestigkeitskoeffizi-
ent und E der Elastizitätsmodul. Die Exponenten α und β heißen Ermüdungsduktilitäts-
und Ermüdungsfestigkeitsexponent. Die umgestellte Gl. 62.2
62.2 Aufgabe
Für C60 sind im normalisierten Zustand (850 °C 30′ /Luftabkühlung) und im vergüteten
Zustand (850 °C 30′ /Öl 20 °C / 500 °C 2 h) totaldehnungsgesteuerte Dauerschwingversu-
che durchzuführen. εf , σ f , α und β sind zu bestimmen. In beiden Fällen kann von einem
Elastizitätsmodul E = 210.000 MPa ausgegangen werden.
62.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht eine servohydraulische Prüfmaschine (vgl. V59 Wechselverformung
unlegierter Stähle) zur Verfügung. Zu vorliegenden Messdaten sind durch Versuche, die
auf Bruchlastspielzahlen von etwa N B ≈ 104 führen, bei beiden Wärmebehandlungszustän-
den weitere Ergebnisse beizusteuern. Hierzu werden vorbereitete Proben eingespannt und
mit Dehnungsaufnehmern versehen. Die bei der Beanspruchung auftretenden Probendeh-
nungen werden erfasst und zur Regelung der Prüfmaschine verwendet (Totaldehnungsre-
62.4 Symbole, Abkürzungen 483
Weiterführende Literatur
[Rie79] Rie, K.-T., Haibach, E.: Kurzzeitfestigkeit und elasto-plastisches Werkstoffverhalten. DVM,
Berlin (1979)
[Mun71] Munz, D.: Dauerschwingverhalten metallischer Werkstoffe. Vieweg, Braunschweig (1971)
[Scho97] Schott, G.: Werkstoffermüdung – Ermüdungsfestigkeit, 4. Aufl. VEB Verlag für Grund-
stoffindustrie, Leipzig (1997)
V63 Strukturelle Zustandsänderungen bei
Schwingbeanspruchung 63
63.1 Grundlagen
Rissbildungsbereich B über. Dabei erfolgt gleichzeitig eine Verlagerung der für den Er-
müdungsvorgang wesentlichen plastischen Verformungen vom gesamten verformbaren
Probenvolumen hin zu den oberflächennahen Probenteilen. Das weitere Ermüdungsge-
schehen konzentriert sich dabei zunehmend auf relativ kleine Probenvolumina in unmit-
telbarer Nähe der Spitzen der Mikrorisse (siehe auch V52 Risszähigkeit). Von diesen Rissen
breitet sich dann meist einer, und zwar der normalspannungsmäßig bevorzugte, dominant
aus und entwickelt sich zum Makroriss. Danach finden alle weiteren Ermüdungsprozes-
se überwiegend in der plastischen Zone vor der Rissspitze dieses Risses statt. Man befindet
sich im Rissausbreitungsbereich C. Die streng lokalisierte Rissausbreitung erfolgt stabil mit
einem definierten Risslängenzuwachs pro Lastspiel über einen relativ großen Lebensdau-
erbereich (vgl. V64 Ausbreitung von Ermüdungsrissen). Ist eine hinreichend große Quer-
schnittsfläche vom Ermüdungsriss durchlaufen, so reicht schließlich das erste Viertel eines
weiteren Lastwechsels aus, um den Ermüdungsbruch D durch instabile Rissausbreitung zu
erzwingen. Der Ermüdungsvorgang metallischer Werkstoffe umfasst also vier Stadien, die
in Abb. 63.3 für eine mittlere Beanspruchungsamplitude schematisch angegeben sind.
Bei der Wechselbeanspruchung bilden sich infolge plastischer Mikroverformungen,
die eine notwendige Voraussetzung für die Ermüdung metallischer Werkstoffe sind,
charakteristische Versetzungsanordnungen in den verformungsfähigen Körnern der Viel-
kristalle aus. Bei kfz-Metallen und homogenen Legierungen werden diese stark von
der Stapelfehlerenergie γ beeinflusst (vgl. V2 Gitterstörungen), die die Aufspaltungs-
weite der Versetzungen in Teilversetzungen bestimmt. Bei großer Stapelfehlerenergie
bilden sich unter kleinen Beanspruchungsamplituden Versetzungsstränge und unter
488 63 V63 Strukturelle Zustandsänderungen bei Schwingbeanspruchung
Erhebungen (Extrusionen) und Vertiefungen (Intrusionen), die nach Abpolieren bei wei-
terer Wechselbeanspruchung immer an denselben Stellen auftreten. Deshalb werden diese
Ermüdungsgleitbänder auch persistente Gleitbänder (PSB) genannt.
Für die Rissbildung sind der oberflächennahe Werkstoffzustand sowie die sich während
der Anfangsphase der Ermüdung ausbildende Oberflächenstruktur von ausschlaggeben-
der Bedeutung. Ermüdungsrisse werden nahe von Ermüdungsgleitbändern, in und nahe
Korngrenzen, in und nahe zweier Phasen, in und nahe Einschlüssen sowie in ausgepräg-
ten Tälern der Oberflächentopographie beobachtet. Die Anrissart wird durch den Prozess
bestimmt, der am leichtesten erfolgen kann. Die besprochene Konzentrierung der Ab-
gleitprozesse bei homogenen Vielkristallen mit nicht zu kleiner Stapelfehlerenergie auf die
Ermüdungsgleitbänder führt beispielsweise als Folge nicht vollständig reversibler Abgleit-
prozesse zur Ausbildung mehr oder weniger ausgeprägter Erhebungen und Vertiefungen
490 63 V63 Strukturelle Zustandsänderungen bei Schwingbeanspruchung
Abb. 63.8 Beispiele für Gleitbandanriss (links) [Bom85], Korngrenzenanriss (Mitte) [Bom85] und
Einschlussanriss (rechts) [Bur02]
63.2 Aufgabe 491
63.2 Aufgabe
63.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche stehen zwei mit Mikroskopen versehene Kleinpulsatoren (vgl. Abb. 63.9
und V55 Schwingfestigkeit) zur Verfügung. Die elektrolytisch polierten Flachproben wer-
den sorgfältig bei der Exzenterstellung Null mittelspannungsfrei in die Klemmbacken ein-
gespannt. Lokalisierte Bereiche der Probenoberfläche werden dann mit 50-, 100- oder 250-
facher Vergrößerung beobachtet und fotografiert. Die Werkstoffe besitzen etwa gleiche
Wöhlerkurven, sodass eine Spannungsamplitude von 150 MPa auf N B ∼ 104 führt. Die dazu
erforderliche Kraft wird berechnet und mit Hilfe der Eichkurven am Exzenter eingestellt.
Beim anschließenden ersten Lastwechsel wird der Exzenter zur Kontrolle der Kraftein-
stellung langsam um 360° gedreht. Danach erfolgt die erneute lichtmikroskopische Be-
trachtung der fixierten Oberflächenbereiche. Weitere Beobachtungen schließen sich nach
geeignet erscheinenden Lastspielintervallen an. An Hand der auf den Fotografien doku-
mentierten Verformungsmerkmale sowie weiterer bereits vorliegender Versuchsergebnisse
mit anderen Amplituden wird der oberflächennahe Ermüdungsvorgang diskutiert.
492 63 V63 Strukturelle Zustandsänderungen bei Schwingbeanspruchung
Literatur
Verwendete Literatur
[Bom85] Bomas, H., Mayr, P.: Einfluß der Wärmebehandlung auf die Schwingfestigkeitseigenschaf-
ten der Legierung AlMgSi0,7. Zeitschrift für Werkstofftechnik 16, 88–94 (1985)
[Bur02] Burkart, K., Gaudig, W., Krämer, D., Weber, U., Bomas, H., Roos, E.: Experimentelle Untersu-
chung und kristallplastische Simulation des Verhaltens kurzer Ermüdungsrisse in der ausgehärteten
Aluminiumknetlegierung AlMgSi1 mit dem Ziel der Lebensdauervorhersage. Materialwissenschaft
und Werkstofftechnik 33, 252–253 (2002)
[Wal90] Walla, J., Bomas Mayr, H.P.: Schädigung von Ck 45 N durch eine Schwingbeanspruchung
mit veränderlichen Amplituden. Härterei-Technische Mitteilungen 45, 30–37 (1990)
Weiterführende Literatur
[Bür05] Bürgel, R.: Festigkeitslehre und Werkstoffmechanik Bd. 2. Vieweg Verlag, Wiesbaden (2005)
[Ost07] Ostermann, F.: Anwendungstechnologie Aluminium. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg
(2007)
[Bec93] Becker, M., Eifler, D., Macherauch, E.: Wechselverformungskurven und Mikrostruktur
bei spannungskontrollierter Zug-Druck-Wechselbeanspruchung von Ck 45 im Temperaturbereich
295 K ≤ T ≤ 873 K. Materialwissenschaft und Werkstofftechnik 24, 57–64 (1993)
[Mac77] Macherauch, E., Mayr, P.: Strukturmechanische Grundlagen der Werkstoffermüdung. Zeit-
schrift für Werkstofftechnik 8, 213–224 (1977)
[ASM79] Fatigue and Microstructure, ASM-Seminar, ASM, Metals Park (1979)
[Mug60] Mughrabi, H.: In Strength of Metals and Alloys. In: Proc. ICSMA 5, Bd. 3, S. 1615. Pergamon,
Oxford (1960)
[May78] Mayr, P.: Habilitationsschrift, Universität Karlsruhe (1978)
V64 Ausbreitung von Ermüdungsrissen
64
64.1 Grundlagen
sich die Rissausbreitung so, dass während der folgenden Belastungszyklen Rissöffnungen
und -schließungen unter energetisch günstigster Rissuferbewegung möglich werden. Da
sich bei homogenen Werkstoffen mit wachsender Amplitude die Rissbildung mehr und
mehr zu den Korn- bzw. Zwillingsgrenzen verlagert, kommt bei der Rissausbreitung von
Anfang an Stadium II zunehmend zur Geltung. Bei heterogenen Werkstoffen wird das
Stadium I der Rissausbreitung nur in den oberflächennahen Körnern der verformungsfä-
higen Phase beobachtet. Ferner wird die Rissbildung durch Spannungskonzentrationen an
Korn- und/oder Phasengrenzen sowie nahe von intermetallischen und/oder intermedi-
ären Verbindungen sowie Einschlüssen begünstigt. Zudem sind bei den in der technischen
Praxis benutzten Werkstoffen und Werkstoffzuständen auch beim Fehlen makroskopischer
Kerben die mikroskopischen Bearbeitungsmerkmale viel bestimmender für die Rissbil-
dung und die anfängliche Rissausbreitung als submikroskopische Strukturdetails, so dass
auch hier im Allgemeinen kein Stadium I der Rissausbreitung beobachtet wird. Allgemein
gilt, dass der größte Teil der sich ausbildenden Ermüdungsbruchfläche eine im Rissaus-
breitungsstadium II geschaffene makroskopische Rissfläche ist. Alle folgenden Angaben
beziehen sich auf Rissausbreitung im Stadium II.
Da die Bildung und anfängliche Ausbreitung von Ermüdungsrissen zufällige lokale Er-
eignisse sind, werden quantitative Rissausbreitungsuntersuchungen durchweg mit ange-
kerbten Proben durchgeführt, bei denen vorab durch eine geeignete Schwingbeanspru-
chung im Kerbgrund Risse erzeugt wurden. Quantitative Messungen zur Rissausbreitung
können beginnen, wenn sich ein bei geringer lichtmikroskopischer Vergrößerung deut-
lich erkennbarer Riss der Länge a0 gebildet hat. Die Risslänge a bzw. die Rissverlänge-
rung da = a − a0 wird dann für mehrere konstante Lastamplituden in Abhängigkeit von
der Lastspielzahl N entweder lichtoptisch oder über Widerstandsmessungen verfolgt. Das
grundsätzliche Ergebnis solcher Experimente zeigt der linke Teil von Abb. 64.2. Die Riss-
länge nimmt mit wachsender Lastspielzahl zu, und zwar umso stärker, je größer die Last-
schwingbreite ΔF ist. Bei gleicher Risslänge wächst der Kurvenanstieg da/dN mit ΔF an.
Die Rissausbreitung erfolgt makroskopisch quasi-eben und kristallographisch weitgehend
undefiniert. Die Rissfront durchläuft bevorzugt eine Ebene senkrecht zur größten loka-
len Zugspannung. Offensichtlich wird dabei das kontinuums (mechanische) Verhalten der
Kristallite durch das in Rissspitzennähe vorliegende Spannungsfeld bestimmt. Dieses lässt
sich auf Grund allgemeiner bruchmechanischer Prinzipien (vgl. V52) durch die von der
64.1 Grundlagen 495
Abb. 64.2 Risslänge a in Abhängigkeit von der Lastspielzahl N bei verschiedenen Lastschwingbrei-
ten (links) und zugehöriges lg da/dN, lg ΔK-Diagramm (rechts)
aufgetragen. Wie man sieht, ergibt sich – unabhängig von den bei den Einzelversuchen
benutzten Lastschwingbreiten – ein einheitlicher linearer Zusammenhang. Die Rissaus-
breitungsgeschwindigkeit ist also eindeutig durch die positive Schwingbreite der Span-
nungsintensität vor der Rissspitze bestimmt und lässt sich durch ein Potenzgesetz der Form
da m
= c(ΔK) (64.3)
dN
beschreiben, wobei c und m Konstanten sind. Dieser grundlegende Zusammenhang hat
sich bei vielen Rissausbreitungsstudien mit der Einschränkung bestätigt, dass er bei großen
und kleinen ΔK-Werten zu modifizieren ist. Für lastgesteuerte Versuche mit unterschied-
lichen Spannungsverhältnissen χ (vgl. V55) fasst Abb. 64.3 die bei der Rissausbreitung
496 64 V64 Ausbreitung von Ermüdungsrissen
da
lim ( ) → ∞. (64.4)
K O →K C dN
Da aber
K U σU
χ= = (64.5)
K O σO
und daher auch
KU
− χ =− (64.6)
KO
64.1 Grundlagen 497
ist, wird
ΔK
KO = . (64.7)
( − χ)
Somit lässt sich nach Gl. 64.4 auch schreiben
da
lim ( ) → ∞. (64.8)
ΔK→K C (−χ) dN
Nähert sich also ΔK dem Wert K C (1 − χ), so beginnt instabile Rissausbreitung und die
lg da/dN, lg ΔK-Kurven biegen nach oben ab. Das modifizierte Rissausbreitungsgesetz
m
da c(ΔK)
= (64.9)
dN KC ( − χ) − ΔK
trägt diesem Gesichtspunkt Rechnung. Andererseits ist bei kleinen ΔK-Werten zu erwar-
ten, dass es einen unteren Schwellwert ΔK → ΔK th (th = threshold) gibt, bei dessen Un-
terschreitung zyklische Beanspruchung zu keiner messbaren Rissausbreitung mehr führt.
Man weiß heute zweifelsfrei, dass bei vielen Werkstoffen solche Grenzwerte existieren.
ΔK th wird umso kleiner, je größer χ ist. Bei vielen normalisierten und nach der martensi-
tischen Härtung hoch angelassenen Stählen liegen für 0,05 < χ < 0,3 diese Grenzwerte im
Intervall
√ √
MPa m ≤ ΔKth ≤ MPa m. (64.10)
da ΔK
= c(ΔK − ΔKth ) [ + ] (64.11)
dN KC − KO
auf alle drei Bereiche der Makrorissausbreitung anwendbar. Abbildung 64.4 zeigt experi-
mentelle und nach Gl. 64.11 berechnete Rissgeschwindigkeitskurven für AlCu4Mg1.5 und
X5CrNiMo18-10.
64.2 Aufgabe
a a a
Y = , + , [ ] − , [ ] + , [ ] (64.12)
W W W
64.3 Versuchsdurchführung
Vorbereitete Flachproben der in Abb. 64.5 gezeigten Form werden in einer geeigneten
Schwingprüfmaschine (vgl. V55) zugschwellbeansprucht, bis sich beidseitig Risse einer
Länge a0 (Gesamtrisslänge 2a0 ) gebildet haben. Die Schwingprüfmaschine verfügt über
eine mikroskopische Messvorrichtung zur hinreichend genauen Risslängenbestimmung.
Einen möglichen Versuchsaufbau zeigt Abb. 64.6. Zunächst wird für die vorliegende Pro-
benbreite W für mehrere angenommene Risslängen 2a der Geometriefaktor Y(2a/W) be-
rechnet und als Funktion von a aufgezeichnet. Anschließend wird, ausgehend von 2a0 ,
unter den gewählten Beanspruchungsbedingungen die gesamte Risslänge 2a in Abhän-
gigkeit von der Lastspielzahl N gemessen. Diese Messungen werden an drei Proben mit
verschiedenen konstanten Oberlasten durchgeführt. Dann werden die Logarithmen der
halben Gesamtrisslängen als Funktion der Lastspielzahl aufgetragen.
Diese lg a, N-Diagramme liefern für verschiedene N als Kurvenanstiege
d lg a d lg a da d ln a da da
∣ = ⋅ ∣ = lg e ⋅ ∣ = lg e ∣ . (64.13)
dN N da dN N da dN N a dN N
Mit lg e = 0,434 folgt für die Rissausbreitungsgeschwindigkeiten
da a d lg a
∣ = ∣ . (64.14)
dN N , dN N
Die zu den verschiedenen N gehörigen Schwingbreiten ΔK des Spannungsintensitäts-
faktors berechnen sich nach Gln. 64.2 und 64.12 aus dem beobachteten a(N), den Pro-
benabmessungen, dem Geometriefaktor und der Probennennbelastung. Nach doppeltlo-
garithmischer Auftragung von da/dN über ΔK und Ausgleich der Messpunkte durch eine
Gerade ergibt deren Steigung für den Exponenten m in Gl. 64.3
d lg da/dN
m= . (64.15)
d lg ΔK
Extrapolation der Ausgleichsgeraden auf ΔK = 1 liefert den Wert der Konstanten c.
Weiterführende Literatur
[Her96] Hertzberg, R.W.: Deformation and Fracture of Engineering Materials, 4. Aufl. Wiley, New
York (1996)
[Sch80] Schwalbe, K.H.: Bruchmechanik metallischer Merkstoffe. Hanser, München (1980)
[Hec91] Heckel, K.: Einführung in die technische Anwendung der Bruchmechanik, 3. Aufl. Hanser,
München (1991)
[Rit79] Ritschie, R.O.: International Metals Reviews 4, 205–230 (1979)
[Met77] Metal Science, 11 (1977), 274–438. Special Issue, Conference Proceedings, Fatigue 1977,
University of Cambridge, 28–30 March 1977
V65 Ermüdungsbruchflächen
65
65.1 Grundlagen
Das letzte Stadium der Ermüdung stellt die instabile, zum Bruch führende Rissausbreitung
dar. Vorausgegangen sind die Stadien der Ver- und/oder Entfestigungsvorgänge, der Riss-
bildung und der stabilen Rissausbreitung (vgl. V64). Der lebensdauermäßige Anteil dieser
drei Stadien an der Bruchschwingspielzahl hängt von den mechanischen Werkstoffeigen-
schaften, von der Probengeometrie, von der Rissgröße und von den Beanspruchungsbe-
dingungen ab. Abbildung 65.1 zeigt als typisches Beispiel die Ermüdungsbruchfläche eines
künstlich angerissenen Flachstabes aus Reinaluminium. In den einzelnen Bereichen der
makroskopischen Bruchflächen liegen unterschiedliche Mikromorphologien vor, wie die
beigefügten rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen erkennen lassen.
In allen Fällen lag eine Stadium-II-Rissausbreitung vor (vgl. V64). Trotzdem ist die
Bruchfläche in verschiedenen Probenteilen unterschiedlich gegenüber der Richtung der
wirksam gewesenen Zug-Druck-Wechselbeanspruchung geneigt. Bei kleinen Risslängen
und damit kleinen Spannungsintensitäten liegt nur eine kleine plastische Zone vor, und es
überwiegt ein ebener Dehnungszustand (vgl. V52). Als Folge davon tritt eine 90°-Bruch-
fläche (Modus A) senkrecht zur Beanspruchungsrichtung auf. Wächst mit zunehmender
Risslänge die Spannungsintensität und damit die Größe der plastischen Zone an, so wirkt
sich zunehmend der ebene Spannungszustand aus, und es tritt eine unter 45° zur Bean-
spruchungsrichtung geneigte makroskopische Scherbruchfläche (Modus B) auf. Zwischen
der 90°- und der 45°-Bruchfläche besteht ein Übergangsgebiet mit unterschiedlich großen
Anteilen an beiden Bruchflächenarten. Im Modus B kann sich an Stelle einer einzigen
Scherfläche auch ein von zwei Scherflächen gebildetes Dachprofil entwickeln. Bei dem in
Abb. 65.1 betrachteten duktilen Flachstab aus Reinaluminium schließt sich an den Modus
B wieder eine 90°-Bruchfläche an, in der dann auch der Restbruch (Gewaltbruch) verläuft.
Bereits die ersten systematischen rasterelektronenmikroskopischen Untersuchungen
von Ermüdungsbruchflächen enthüllten ein breites Spektrum an Details, wobei oft deut-
lich und klar begrenzte Streifungen senkrecht zur Rissausbreitungsrichtung auffielen.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 501
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_65, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
502 65 V65 Ermüdungsbruchflächen
Derartige Schwingstreifen (auch striations genannt), die die Bruchfläche in nahezu glei-
chen Abständen durchsetzen, zeigt der untere Teil von Abb. 65.2. Der Pfeil gibt die
Rissausbreitungsrichtung an. Man weiß heute, dass Schwingstreifen nur bei mittleren Riss-
ausbreitungsgeschwindigkeiten von etwa 10−5 mm bis etwa 10−3 mm auftreten. Im oberen
Teil von Abb. 65.2 ist ein unter den gleichen Beanspruchungsbedingungen im Hochva-
kuum erzeugter Ermüdungsbruchflächenanteil zu sehen. Er zeigt keinerlei Streifungen.
Man ersieht daraus, dass die Bruchflächenausbildung stark von den Versuchsbedingun-
gen abhängig ist. Das Fehlen von Schwingstreifen auf einer Bruchfläche spricht also nicht
gegen eine wirksam gewesene Schwingbeanspruchung. Schwingstreifen wurden inzwi-
schen auf den Ermüdungsbruchflächen vieler Werkstoffe nachgewiesen, so z. B. bei Al,
Cu, Ni, Ti, Mg, Zn, Cr, Ta, Fe und bei Legierungen dieser Metalle. Identifiziert man die
65.1 Grundlagen 503
Schwingstreifenbreite mit dem Risszuwachs pro Schwingspiel – was bei den o. g. mittleren
Rissausbreitungsgeschwindigkeiten (vgl. V64) möglich ist –, dann lässt sich bei bekannter
Frequenz aus dem gemessenen Streifenabstand die lokal vorliegende Rissausbreitungsge-
schwindigkeit abschätzen.
Bei Konstruktionswerkstoffen kann die lokale Schwingstreifenlage mehr oder weniger
stark von der makroskopischen Rissausbreitungsrichtung abweichen und z. B. durch Ein-
schlüsse erheblich beeinflusst werden. Bei heterogenen Werkstoffen schließlich bilden sich
Schwingstreifen nur in der verformungsfähigen Phase aus. Als Beispiel zeigt Abb. 65.3 die
Beeinflussung der Schwingstreifen im Aluminiumgrundgefüge der Druckgusslegierung
EN AC-AlSi11Mg mit freigelegten Mg2 Si Ausscheidungen.
Bei Ermüdungsbrüchen von Bauteilen zeigen die Bruchflächen – mit Ausnahme der
Rest- oder Gewaltbruchflächenanteile – keine Bereiche, die auf größere plastische Verfor-
mungen hinweisen. In vielen Fällen, insbesondere bei sehr lange im Einsatz gewesenen
Teilen, kann die Bruchfläche charakteristische Streifungen aufweisen, die oft mit bloßem
Auge oder schon bei schwacher Vergrößerung erkennbar sind. Man spricht von sog. Rast-
linien. Sie entstehen bei verschieden lang einwirkender Beanspruchung unterschiedlicher
Größe als Folge charakteristischer Rissausbreitungs- und damit Bruchflächenmorpholo-
gien mit jeweils typischer Oxidations- und/oder Korrosionsanfälligkeit. Die sich farblich
unterscheidenden Bänder sind jeweils der Rissausbreitung während einer größeren Anzahl
von Schwingspielen zuzuordnen. In Abb. 65.4 ist als typisches Beispiel die Bruchfläche ei-
ner Fahrradpedalkurbel aus einer geschmiedeten Aluminiumknetlegierung (Kurbelbreite
24 mm) zu sehen. Die unterschiedliche Krümmung der Rastlinien erlaubt eine Lokalisie-
rung des Rissbeginns. Die Bruchflächenanteile, die dem Ermüdungs- bzw. dem Gewalt-
bruch zukommen, sind deutlich zu erkennen. Eine durch Schwingbeanspruchung unter
Laborbedingungen erzeugte Bruchfläche zeigt Abb. 65.5. Die Probe wurde bei kleinen Fre-
quenzen mehrfach mit unterschiedlich langen Folgen kleiner und großer Spannungsampli-
tuden im Zug-Druck-Wechselbereich (vgl. V55) beansprucht. Die Belastungsfolgen bilden
sich deutlich auf der Bruchfläche ab. Der Ermüdungsanriss wurde durch eine Ankerbung
an Position 0 der radial umlaufenden Winkelskala induziert. Nur der relativ kleine untere
Teil der Bruchfläche mit deutlich andersartiger Strukturierung ist dem Gewaltbruch zuzu-
schreiben.
Es liegt nahe, die bei einfachen Geometrien, einfachen Beanspruchungsarten und un-
terschiedlichen Beanspruchungshöhen auftretenden makroskopischen Ermüdungsbruch-
flächen zu systematisieren. In Abb. 65.6 sind im oberen Teil für ungekerbte und gekerbte
Rundstäbe die sich bei unterschiedlichen Schwingbeanspruchungen mit hohen und nied-
rigen Nennspannungen ausbildenden Ermüdungsbruchflächen schematisch aufgezeich-
net. Die hellen Bruchflächenbereiche sollen dabei den Ermüdungsbruchflächenanteil, die
dunklen Bruchflächenbereiche den Gewaltbruchanteil kennzeichnen. Im unteren Bildteil
sind entsprechende Angaben für Flachstäbe wiedergegeben. Durch Vergleich realer Bruch-
flächen mit den Angaben in Abb. 65.6 kann qualitativ auf Beanspruchungsart und -höhe
rückgeschlossen werden.
65.2 Aufgabe 505
65.2 Aufgabe
An einer Probe und zwei Bauteilen, die als Folge schwingender Beanspruchung zu Bruch
gingen, sollen Bruchflächenuntersuchungen vorgenommen werden. Bei der Probe aus der
Aluminiumlegierung AlCuMg1 soll die vorliegende Schwingstreifenstruktur quantitativ
bewertet werden. Bei den Bauteilen aus den Stählen 34CrMo4 und 16MnCr5 soll auf Grund
der Bruchflächenausbildung auf die vorangegangenen Beanspruchungsarten geschlossen
werden.
65.3 Versuchsdurchführung
nahme von Abb. 65.6 zunächst makroskopisch beurteilt. Danach werden mikroskopische
Details an Hand der REM-Aufnahmen erörtert.
Literatur
[Hen90] Henry, G., Horstmann, D.: DeFerri Metallographia V. Verlag Stahleisen, Düsseldorf (1990)
[Mit78] Mitsche, R.: Anwendung des Rasterelektronenmikroskopes bei Eisen- und Stahlwerkstoffen.
Radex Rundschau 3/4, 575–890 (1978)
[Poh60] Pohl, E.: Das Gesicht des Bruches metallischer Werkstoffe, München und Berlin Bd. 1–3.
Allianz Versicherungs-AG, München, Berlin (1960)
V66 Verzunderung
66
66.1 Grundlagen
Die Oxidation der Metalle ist dadurch gekennzeichnet, dass im Laufe derselben an der
Oberfläche der Metallphase eine Schicht des festen Reaktionsproduktes gebildet wird. Die-
se Reaktionen, die bei hohen Temperaturen dickschichtige Oxidationsprodukte bilden, be-
zeichnet man als Verzunderung. Da die Mechanismen der Hochtemperaturkorrosion sehr
kompliziert sind, werden hier nur reine Metalle Me oder ausgewählte Zweistofflegierungen
betrachtet. Die Verzunderung lässt sich allgemein in der Form
x
Me + O ⇌ Me x O y (66.1)
y y
schreiben (vgl. Abb. 66.1), wobei x und y ganze Zahlen sind. Der Prozess verläuft bei ge-
gebener Temperatur spontan von links nach rechts ab, wenn sich dabei die freie Enthalpie
des Reaktionsproduktes
GR = (H − T S)R (66.2)
gegenüber der der Ausgangsstoffe
GA = (H − T S)A (66.3)
ΔG = GR − GA = ΔH − TΔS (66.4)
negativ wird (H Enthalpie, S Entropie). ΔG0 > 0 bedeutet Reaktionsablauf von rechts nach
links. ΔG0 = 0 stellt den Fall des chemischen Gleichgewichts dar. ΔG0 wird, wenn ein Sau-
erstoffdruck pO = bar vorliegt, freie Standardbildungsenthalpie genannt.
In Abb. 66.1 ist für einige Oxidationsreaktionen die Temperaturabhängigkeit von
ΔG0 , wiedergegeben, wie sie sich auf Grund vorliegender thermodynamischer Daten
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 507
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_66, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
508 66 V66 Verzunderung
über ΔH(T) und ΔS(T) berechnen lässt. Liegt bei der Temperatur T ein Sauerstoffdruck
p O ≠ bar vor, so gilt für die die Oxidationsreaktion charakterisierende freie Bildungsent-
halpie
ΔG = ΔG − RT ln pO . (66.5)
Abbildung 66.1 zeigt, dass bei allen betrachteten Metallen, außer bei Silber (Ag), nur ne-
gative ΔG0 -Werte auftreten, die mit wachsender Temperatur algebraisch zunehmen. Die
einzelnen ΔG0 , T-Kurven verlaufen nahezu parallel zueinander und besitzen etwa den
gleichen Anstieg. Im Falle von Silber wird ΔG0 = 0 bei 190 °C erreicht. Dann besteht Gleich-
gewicht zwischen Ag, O2 und Ag2 O. Der Zersetzungsdruck von Ag2 O erreicht den voraus-
gesetzten Sauerstoffdruck von 1 bar. Bei höheren Temperaturen wird der Zersetzungsdruck
von Ag2 O größer, und das Metall bildet sich zurück. Insgesamt folgt, dass die angespro-
chenen Metalle außer Silber im betrachteten Temperaturbereich vollständig in ihre Oxide
übergehen müssten. Da aber die Oxidation an der Oberfläche einsetzt und die entstehende
Oxidschicht die Reaktionspartner Metall/Sauerstoff trennt, wird der zeitliche Oxidations-
verlauf werkstoffspezifisch beeinflusst. Als Zusammenhang zwischen Oxidationsschichtdi-
cke y und Oxidationszeit t werden bei niederen Temperaturen und dünnen Schichten das
logarithmische Zeitgesetz
y = A ln t, (66.6)
das invers logarithmische Zeitgesetz
= A − B ln t (66.7)
y
66.1 Grundlagen 509
y = A [ − e −B t ]
beobachtet, wobei A, A1 und A2 sowie B1 , und B2 Konstanten sind. Bei höheren Tempera-
turen erweist sich entweder das parabolische Zeitgesetz
y = A t (66.8)
Zum Wachsen der Oxidschicht ist es notwendig, dass entweder die Metallionen zu den
Sauerstoffionen oder umgekehrt die Sauerstoffionen zu den Metallionen diffundieren und
sich unter Ladungsausgleich im lonengitter zusammenschließen können. Damit keine
Raumladungen entstehen, die eine weitere Ionisation von Metallatomen und Reduktion
von Sauerstoffatomen verhindern würden, müssen Elektronen und Elektronenlöcher mit-
einander rekombinieren. Das Oxid muss also entweder ein Elektronenleiter (n-Typ) oder
ein Defektelektronenleiter (p-Typ) sein.
Da die Elektronen- bzw. Defektelektronen um einige Größenordnungen beweglicher
sind als die Ionen, ist der geschwindigkeitsbestimmende Prozess für das Wachstum der
510 66 V66 Verzunderung
Oxidschicht die Diffusion der Ionen. Die treibende Kraft ist dabei das für die wandernde
lonenart über der Oxidschicht vorliegende Konzentrationsgefälle. Nach dem 1. Fickschen
Gesetz ist die Dickenzunahme dy der Oxidschicht in dem Zeitintervall dt dem Konzentra-
tionsgradienten dc/dy proportional, so dass sich
dc dc
∼ (66.12)
dt dy
ergibt. Da ferner
dc
∼ (66.13)
dy y
ist, folgt aus Gln. 66.12 und 66.13
dy
∼ (66.14)
dt y
oder
y ∼ t. (66.15)
Für eine durch lonendiffusion kontrollierte Verzunderung gilt also ein parabolisches
Zeitgesetz. Die Diffusion der Ionen geschieht dabei über die Gitterfehlordnung in der
Oxidschicht. Entweder sind dort Gitterplätze unbesetzt (Leerstellen, z. B. in Kupfer(I)-
66.1 Grundlagen 511
oxid Cu2 O) oder zwischen den normalen Gitterplätzen sind zusätzlich Ionen eingela-
gert (Zwischengitteratome, z. B. in Zinkoxid ZnO). In einer Oxidschicht aus Kupfer(I)-
oxid sind für die fehlenden Cu+ -Ionen (vgl. Abb. 66.3) aus Gründen der elektrischen
Neutralität Cu2+ -lonen im Gitter eingebaut. Diese chemisch induzierte Fehlordnung ist
bei Kupfer(I)-oxid besonders groß, da es nicht in der stöchiometrischen Zusammenset-
zung als Cu2 O, sondern als Cu1,8 O vorliegt. In der Oxidschicht wandern die Kupferionen
entsprechend dem Konzentrationsgradienten durch Leerstellendiffusion zur Grenzfläche
Metalloxid/Sauerstoff. Gleichzeitig wandern die Cu2+ -Ionen durch Ladungswechsel zwi-
schen den ein- und zweiwertigen Kupferionen (was als Wanderung von Defektelektronen
beschrieben werden kann) von der Oxidoberfläche zur Phasengrenze Metall/Metalloxid.
Die Zunderschicht eines reinen Metalls ist nur dann einheitlich aufgebaut, wenn es mit
einer einzigen chemischen Wertigkeit auftritt. Kommen mehrere Wertigkeiten vor, dann
bilden sich von innen nach außen Schichten mit steigender Wertigkeit des Oxids. Bei Kup-
fer kann sich deshalb an Cu2 O außen noch eine Schicht aus CuO anschließen, die für
Kupferionen praktisch undurchlässig ist. Die Verzunderung kommt zum Stillstand. Le-
gierungselemente beeinflussen die Bildung von Oxidschichten. Bei Kupfer erhöhen z. B.
Al-Zusätze die Zunderbeständigkeit. Zunächst oxidiert Kupfer zu Cu2 O. Dann diffundiert
Al zur Grenzschicht Metall/Cu2 O und bildet nach einiger Zeit eine geschlossene Al2 O3 -
Schicht, die praktisch keine Kupferionen mehr durchlässt. Die Verzunderung kommt zum
Stillstand. Anschließend wird dann Cu2 O weiter zu CuO oxidiert.
512 66 V66 Verzunderung
Von besonderem Interesse ist die komplizierte Oxidation von Eisen in Luft. Dabei tre-
ten oberhalb 570 °C 3-schichtige Zunderschichten aus FeO, Fe3 O4 und Fe2 O3 auf. Ab-
bildung 66.4 zeigt schematisch die Zunderbildung nach einer 5-stündigen Glühung bei
1000 °C. Die Oxidphase mit der größten Bildungsgeschwindigkeit (FeO) besitzt die größte
Schichtdicke. Die Grafik zeigt die schichtbestimmenden Ionen- und Elektronenbewegun-
gen. Die FeO- und die Fe3 O4 -Schichten wachsen über nach außen gerichtete Wanderung
von Fe3+ - bzw. Fe2+ - und Fe3+ -lonen und Elektronen. An der Grenzfläche FeO/Fe3 O4 bil-
det sich FeO durch Phasenumwandlung. In Fe2 O3 (Hämatit) besitzen die Fe3+ - und O2− -
Ionen etwa gleiche Beweglichkeit, so dass die Hämatitschicht sowohl durch nach innen
wandernde O2− als auch nach außen wandernde Fe3+ -Ionen wächst. Unterhalb 570 °C zer-
fällt Wüstit (FeO) gemäß
FeO → Fe O + Fe (66.16)
in Magnetit (Fe3 O4 ) und Eisen. Auch bei Eisen lässt sich durch geeignete Zusätze die Ver-
zunderungsneigung beeinflussen. Dabei sind z. B. Ni und Co nur wenig, Cr, Si und Al
dagegen stark wirksam. In den entstehenden Zunderschichten bilden sich Cr-, Si- und Al-
oxide, die Diffusionsbarrieren für die Metall- und Sauerstoffionen bilden.
Abbildung 66.5 zeigt, wie Cr-Zusätze die Verzunderung (gemessen in mm Zunder-
schichtdicke/Jahr) bei den angegebenen Temperaturen beeinflussen. Bei hitzebeständigen
Stählen wird die größte Zunderbeständigkeit durch Chromzusätze von 6–30 Masse-%
unter gleichzeitigem gezieltem Zusatz von Aluminium und/oder Silizium erreicht.
66.2 Aufgabe 513
66.2 Aufgabe
Das Oxidationsverhalten von reinem Kupfer und CuAl5 ist bei 850 °C zu untersuchen. Als
Maß für die Oxidschichtausbildung ist dabei die Massenzunahme der Werkstoffe zu ermit-
teln. Die auftretenden Zeitgesetze sind zu diskutieren.
66.3 Versuchsdurchführung
Metallstreifen aus Kupfer und aus CuAl5 werden durch Eintauchen in Salzsäure von mög-
lichen Deckschichten befreit und danach in senkrecht stehende, auf 850 °C aufgeheizte
Rohröfen eingebracht. Die Proben hängen frei Luft an zunderfesten Drähten, die ihrer-
seits an den Balken von Analysenwaagen mit digitaler Messwertanzeige befestigt sind. Das
Gewicht der Proben wird zu Versuchsbeginn jede Minute und nach 10 min nur noch al-
le 5 min ermittelt. Die Messdaten werden in einem doppelt-logarithmischem Diagramm
erfasst, ausgewertet und diskutiert.
514 66 V66 Verzunderung
66.4 Symbole
Weiterführende Literatur
[Pfe63] Pfeifer, H., Thomas, H.: Zunderfeste Legierungen. Springer-Verlag, Berlin (1963)
[Kub67] Kubaschewski, O., Hopkins, B.E.: Oxidation of Metals and Alloys. Butterworths, London
(1967)
V67 Elektrochemisches Verhalten unlegierter
Stähle 67
67.1 Grundlagen
schreiben lässt. Die kathodische Teilreaktion ist stets die Reduktion (Elektronenaufnahme)
eines Oxidationsmittels. Diese ist je nach Elektrolyt verschieden. Erfolgt die Korrosion bei-
spielsweise (unter Lufteinwirkung) in einem sauerstoffhaltigen alkalischen, neutralen oder
schwach sauren Elektrolyten, so ist der gelöste Sauerstoff das Oxidationsmittel (Sauerstoff-
korrosionstyp) und der kathodische Reduktionsprozess ist durch
O + e− + H O → OH− (67.2)
bestimmt. Bei der Korrosion in Säuren mit pH < 5 wirken dagegen bei Abwesenheit zu-
sätzlicher oxidierender Substanzen die H+ -Ionen als Oxidationsmittel (Wasserstoffkorro-
sionstyp) und die kathodische Teilreaktion ist durch
Tab. 67.1 Potenziale in Volt (V) für einige Metalle in Lösungen ihrer Salze
Me/Mez+ Normalpotential U 0 für a = 1 mol/l Potential U für a = 10−6 mol/l
Na/Na+ −2,713 −3,061
Mg/Mg2+ −2,375 −2,549
Al/Al3+ −1,662 −1,778
Ti/Ti2+ −1,630 −1,804
Mn/Mn2+ −1,190 −1,364
Cr/Cr3+ −0,744 −0,860
Fe/Fe2+ −0,440 −0,614
Ni/Ni2+ −0,230 −0,404
Sn/Sn2+ −0,136 −0,310
Fe/Fe3+ −0,036 −0,152
H/H+ 0,000
Cu/Cu2+ +0,337 +0,163
Cu/Cu+ +0,522 +0,174
Ag/Ag+ +0,799 +0,451
Au/Au3+ +1,498 +1,382
U = −, V + , ⋅ − lg − V = −, V − , V = −, V. (67.5)
Entsprechende Werte für andere Metalle sind in der dritten Spalte von Tab. 67.1 aufge-
führt. Taucht somit ein Stück Eisen in einen Elektrolyten mit der Fe2+ -Ionenkonzentration
von 10−6 mol/1, so wird es bei einer Potenzialdifferenz U > −0,614 Volt gegenüber der Was-
serstoffnormalelektrode in Lösung gehen. Das gilt unabhängig vom pH-Wert der Lösung
so lange, bis das Löslichkeitsprodukt der Reaktion
überschritten wird. Trägt man also die Potenzialdifferenz über dem pH-Wert auf, so wird,
wie in Abb. 67.2, ein Bereich der Immunität (U < −0,614 V) von einem Bereich der Kor-
rosion (U > −0,614 V) durch eine Gerade parallel zur Abszisse getrennt. Im Punkt A ist
die (OH− )-Konzentration so groß geworden, dass gemäß Gl. 67.6 als weitere feste Phase
Fe(OH)2 auftritt und sich eine schützende Deckschicht auf der Eisenprobe ausbilden kann
518 67 V67 Elektrochemisches Verhalten unlegierter Stähle
(Deckschichtpassivität). Bei A besteht also ein Gleichgewicht zwischen Fe, Fe(OH)2 und
Fe2+ -Lösung. Neben Fe(OH)2 trägt bei größeren Potenzialdifferenzen in Gegenwart von
Sauerstoff auch die Bildung von Fe2 O3 und Fe3 O4 zur Deckschichtpassivität bei. Im Bereich
sehr großer pH-Werte tritt Korrosion unter Ferratbildung (FeO2 H− ) auf. Im schraffierten
Gebiet des U, pH-Diagramms ist das Eisen zwar thermodynamisch instabil, korrodiert
jedoch nur sehr langsam. Man spricht vom Passivitätsbereich (vgl. V68). Abbildung 67.2
wird Pourbaix-Diagramm genannt. Es gibt die thermodynamische Beständigkeit eines Me-
talls und die seiner Korrosionsprodukte in Abhängigkeit vom pH-Wert und vom Potenzial
gegenüber der Wasserstoffnormalelektrode wieder. Normalerweise sind in den Pourbaix-
Diagrammen die Begrenzungen der Zustandsfelder für mehrere Aktivitäten der gelösten
Metallionen eingezeichnet.
Durch elektrochemische Maßnahmen ist es möglich, bei einem System Stahl/Elektrolyt
den Bereich der Immunität (vgl. Abb. 67.2) gezielt einzustellen. Dazu wird das zu schützen-
de Objekt (Rohrleitung, Schiffskörper) zur Kathode des Korrosionselementes gemacht. Ein
solcher kathodischer Schutz kann mit galvanischen Anoden oder mit Hilfe eines Fremd-
stromes in einfacher Weise (vgl. Abb. 67.3) erreicht werden. Im ersten Fall ist mit einer
gegenüber Eisen unedleren Anoden zu arbeiten, die ggf. über einen einstellbaren Wider-
stand mit dem zu schützenden Objekt verbunden werden. Als Anodenmaterial werden
üblicherweise Mg, MgA16Zn3 oder Zn benutzt. Die Schutzwirkung ist mit einer Aufzeh-
rung der Anode (Opferanode) gemäß der durch Gl. 67.1 gegebenen Reaktion verbunden.
Die Dauerschutzwirkung hängt somit von der eingesetzten Masse der Opferanode ab. Bei
Magnesiumanoden werden Stromausbeuten von etwa 1200 A h/kg erreicht. Schutzstrom-
dichten für Stahl in Sand- und Lehmböden liegen im Bereich von 10 bis 50 mA/m2 .
67.2 Aufgabe 519
Beim kathodischen Schutz durch Fremdstrom (der z. B. über Gleichrichter dem Netz
entnommen wird) besteht die Schutzanode aus Eisen oder Gusseisen mit etwa 15 Mas-
se-% Si, meist jedoch aus Graphit. Der Anodenverbrauch bei in Koks eingebettetem Eisen
beträgt etwa 1 g/A h, bei Graphit dagegen nur etwa 0,1 g/A h. Mit Hilfe eines solchen fremd-
stromgespeisten Systems ist es z. B. je nach Isolationszustand, Objektabmessungen und
Einspeisepotenzial möglich, Rohrleitungssysteme bis etwa 50 km Länge zu schützen.
67.2 Aufgabe
67.3 Versuchsdurchführung
Für die Messungen steht eine Kalomel-Vergleichselektrode zur Verfügung. Sie besteht aus
Quecksilber, das mit Kalomel (Quecksilber(I)-chlorid) und einer gesättigten KCl-Lösung
bedeckt ist. Gegenüber einer Wasserstoffnormalelektrode besitzt sie ein Potenzial von
Weiterführende Literatur
[DIN EN ISO 8044:1999-11] Korrosion von Metallen und Legierungen – Grundbegriffe und Defini-
tionen (ISO 8044:1999); Dreisprachige Fassung EN ISO 8044:1999
[DIN 50905-1:2009-09] Korrosion der Metalle – Korrosionsuntersuchungen – Teil 1: Grundsätze
[DIN 50980] Prüfung metallischer Überzüge, Auswertungen zu Korrosionsprüfungen
[Kae79] Kaesche, H.: Die Korrosion der Metalle, 3. Aufl. Springer, Berlin (1990)
[Rah77] Rahmel, A., Schwenk, W.: Korrosion und Korrosionsschutz von Stählen, 18. Aufl. Verlag
Chemie, Weinheim (1977)
[Fon71] Fontana, M.G., Staehler, R.W.: Advances in Corrosion Science. Plenum Press, New York
(1971–1973)
V68 Stromdichte-Potenzial-Kurven
68
68.1 Grundlagen
Die elektrochemische Korrosion von Metallen beruht auf der anodischen Metallauflösung,
beispielsweise die anodische Auflösung von Eisen gemäß
Dabei gehen positiv geladene Metallionen von der Metalloberfläche in den umgebenden
wässrigen Elektrolyten über. Die von den Metallatomen abgegebenen Elektronen verblei-
ben im Metall und laden es negativ auf. Die positiv geladenen Metallionen werden von
dem negativ geladenen Metall angezogen und bilden deshalb im Elektrolyt unmittelbar
vor der Metalloberfläche eine Ionenschicht (vgl. Abb. 68.1). Diese elektrochemische Dop-
pelschicht hat üblicherweise eine Ausdehnung von 1 bis 10 nm. Das elektrische Feld in der
elektrischen Doppelschicht führt zu einer Potenzialdifferenz zwischen dem Metall und der
Lösung (vgl. Abb. 68.1).
Eine fortschreitende Korrosion erfolgt nur dann, wenn die im Metall verbliebenen Elek-
tronen durch Reduktionsreaktionen an anderer Stelle wieder verbraucht werden. Bei der
Säurekorrosion erfolgt dieser Elektronenverbrauch durch die kathodische Wasserstoffab-
scheidung gemäß Gl. 68.2. Bei der Korrosion durch gelösten Sauerstoff erfolgt der Elektro-
nenabbau durch die Sauerstoffreduktionsreaktion gemäß Gl. 68.3:
Arbeits- und Bezugselektrode (vgl. Abb. 68.2) auftretende Ist-Spannung U ist mit einer
vorgegebenen Soll-Spannung U soll . Zum Erreichen der gewünschten Soll-Spannung wird
der Strom an der Stromquelle im Potenziostaten zwischen Arbeits- und Gegenelektrode
solange automatisch verändert, bis die gemessene Ist-Spannung U ist vor Arbeitselektrode
mit der Soll-Spannung U soll übereinstimmt. Diese Veränderung des Elektrodenpotenzials
durch einen äußeren Strom wird als elektrochemische Polarisation bezeichnet.
Der Verlauf der Stromdichte-Potenzial-Kurve kann für die verschiedenen Korrosionsar-
ten (vgl. V67) durch Betrachtung der jeweils ablaufenden Teilreaktionen berechnet werden.
Die Bruttoreaktion für eine gleichmäßige Säurekorrosion in einem sauerstofffreien sauren
Elektrolyten lässt sich für ein z-wertiges Metall Me allgemein in der Form
schreiben. Diese Reaktion setzt sich aus den folgenden vier Teilreaktionen zusammen:
Die Gesamtstromdichte is ergibt sich aus der Summe der Teilstromdichten der vier Teil-
reaktionen
is = i + i + i + i (68.6)
Der geschwindigkeitsbestimmende Prozess bei den durch die Reaktionsgln. 68.5a–d ge-
gebenen Teilreaktionen ist jeweils ein thermisch aktivierter Durchtritt von Metallionen
bzw. Elektronen durch die elektrochemische Doppelschicht mit Überwindung der entspre-
chenden Potenzialbarriere U (vgl. Abb. 68.1). Für die einzelnen Teilstromdichten ergeben
sich deshalb die folgenden Boltzmann-Terme:
U
i = BMe exp [ ] (68.7a)
bMe
524 68 V68 Stromdichte-Potenzial-Kurven
U
i = −AMe exp [− ] (68.7b)
aMe
U
i = −AH exp [− ] (68.7c)
aH
und
U
i = BH exp [ ] (68.7d)
bH
U U
is ≈ i + i = BMe exp [ ] − AH exp [− ] (68.8)
bMe aH
ergibt. Die Stromdichte-Potenzial-Kurve der Säurekorrosion setzt sich, wie in Abb. 68.3
skizziert, additiv aus zwei Teilzweigen zusammen, dem Zweig der anodischen Metallauflö-
sung (i1 ) und dem Zweig der kathodischen Wasserstoffabscheidung (i3 ). Das Potenzial, bei
dem die Summenstromdichte iS = 0 wird, wird als Ruhepotenzial U R bezeichnet. Es liegt ty-
pischerweise in einem Bereich von −800 mV bis +200 mV. Beim Ruhepotenzial heben sich
68.1 Grundlagen 525
die Teilstromdichte der anodischen Metallauflösung und die Teilstromdichte der kathodi-
schen Wasserstoffabscheidung exakt auf. Obwohl die äußere Summenstromdichte gleich
null ist, findet beim Ruhepotenzial Korrosion statt, da die Teilstromdichten nicht null sind.
Der Betrag der entgegengesetzt gleichen Teilstromdichten der anodischen Metallauflösung
und der kathodischen Wasserstoffabscheidung am Ruhepotenzial
UR UR
iK = BMe exp [ ] = AH exp [− ] (68.9)
bMe aH
wird als Korrosionsstromdichte iK bezeichnet. Die Korrosionsstromdichte ist ein Maß für
die Korrosionsgeschwindigkeit des frei im Elektrolyten korrodierenden Metalls.
Mit Gl. 68.9 können die Konstanten BMe und AH aus Gl. 68.8 substituiert werden und
es ergibt sich die Butler-Volmer-Gleichung (Durchtrittsstrom-Spannungs-Gleichung)
U − UR U − UR
is = iK {exp [ ] − exp [− ]} . (68.10)
bMe aH
U − UR
is ≈ i = iK exp [ ]. (68.11a)
bMe
Für U ≪ U R kann der erste Term von Gl. 68.10 vernachlässigt werden, so dass
U − UR
is ≈ i = −iK exp [− ]. (68.11b)
aH
Bei U = U R ergibt sich für die beiden Tafel-Funktionen 68.11a und b jeweils die Korro-
sionsstromdichte ± iK . Durch Logarithmieren und Differenzieren ergibt sich die Steigung
der Tafel-Geraden zu
d ln ∣i ∣
= und (68.12a)
dU bMe
d ln ∣i ∣
=− . (68.12b)
dU aH
Die linke Tafel-Gerade (i3 ) in Abb. 68.4 beschreibt die kathodische Wasserstoffabschei-
dung, die rechte Gerade (i1 ) beschreibt die anodische Metallauflösung.
Der Reziprokwert der Steigung der Stromdichte-Potenzial-Kurve (dU/diS ) (vgl.
Abb. 68.3) an der Stelle U = U R wird als Polarisationswiderstand RP [Ω cm2 ] bezeich-
net. Die Ableitung der Butler-Volmer-Gleichung (Gl. 68.10) an der Stelle U = U R ergibt
diS
∣ = iK { + }= . (68.13)
dU U=UR bMe aH RP
Aus den Steigungen der Tafel-Geraden können die Konstanten aH und bMe ermittelt
und mit Gl. 68.13 der Polarisationswiderstand RP berechnet werden.
Eine weitere wichtige Korrosionsart neben der Säurekorrosion (pH < 5) ist die Korro-
sion durch gelösten Sauerstoff in neutralen und alkalischen Lösungen (vgl. V67). Als Ge-
genreaktion zur anodischen Metallauflösung (vgl. Gl. 68.5a) erfolgt hierbei die kathodische
Sauerstoffreduktionsreaktion (vgl. Gl. 68.3). Analog zur Säurekorrosion wird nun der Ver-
lauf der Stromdichte-Potenzial-Kurve für die Sauerstoffkorrosion berechnet. Vorausset-
zung für den Ablauf der Sauerstoffreduktionsreaktion ist die Diffusion des im Elektrolyten
gelösten Sauerstoffs zur Elektrodenoberfläche. Die Teilstromdichte i3 der Sauerstoffreduk-
tionsreaktion ist hierbei durch die Diffusionsgeschwindigkeit der gelösten Sauerstoffmo-
leküle betragsmäßig begrenzt, so dass die Stromdichte-Potenzial-Kurve den in Abb. 68.5
dargestellten Verlauf hat. Auch hier berechnet sich der Polarisationswiderstand RP aus der
reziproken Steigung der Stromdichte-Potenzial-Kurve am Ruhepotenzial U R . In diesem
Fall ist die Korrosionsstromdichte iK gegeben durch
iK = bMe . (68.14)
RP
68.1 Grundlagen 527
reichs ein starker Stromdichteanstieg auftritt (vgl. Abb. 68.7). In sauren chlorid- und ni-
trathaltigen Elektrolyten kann neben dem unteren Lochfraßpotenzial U L noch ein oberes
Lochfraßpotenzial U LO auftreten, oberhalb dessen eine Repassivierung der Löcher einsetzt.
Von großer praktischer Bedeutung ist, dass sich die Korrosionsstromdichte iK und damit
die Korrosionsgeschwindigkeit durch Zugabe von Zusatzstoffen in Form sog. Inhibito-
ren stark reduzieren lässt. Als Adsorptionsinhibitoren werden Substanzen bezeichnet, die
auf der Metalloberfläche adsorbiert werden und die Korrosion stark vermindern. Je nach-
dem, ob der benutzte Inhibitor bevorzugt die anodische oder die kathodische Teilreaktion
hemmt, spricht man von anodisch oder kathodisch wirksamen Inhibitoren. Zusätze, die
zur Ausbildung von passivierenden Deckschichten führen heißen Passivatoren.
68.2 Aufgabe
68.3 Versuchsdurchführung
Δm MFe g
= ⋅ iK [ ], (68.15)
A ⋅ Δt z ⋅ F m
wobei M Fe der Molmasse für Eisen von 55,85 g/mol entspricht. Die Faraday-Konstante
F = 9,6485 × 104 A s/mol entspricht der Ladung von 1 mol Elektronen und z = 2 ist die Wer-
tigkeit der Fe2+ Eisenionen.
530 68 V68 Stromdichte-Potenzial-Kurven
Weiterführende Literatur
[Rah77] Rahmel, A., Schwenk, W.: Korrosion und Korrosionsschutz von Stählen, 18. Aufl. Verlag
Chemie, Weinheim/New York (1977)
[Hei83] Heitz, E., Henkhaus, R., Rahmel, A.: Korrosionskunde im Experiment, 2. Aufl. Verlag Che-
mie, Weinheim/New York (1983)
[Gel81] Gellings, P.J.: Korrosion und Korrosionsschutz von Metallen, 8. Aufl. Hanser Verlag, Mün-
chen, Wien (1981)
[Kae79] Kaesche, H.: Die Korrosion der Metalle, 3. Aufl. Springer, Berlin (1990)
V69 Spannungsrisskorrosion
69
69.1 Grundlagen
Als Spannungsrisskorrosion (SRK) oder Stress Corrosion Cracking (SCC) wird die Bil-
dung und Ausbreitung von Rissen in deckschichtbehafteten metallischen Werkstoffen wäh-
rend zügiger Beanspruchung durch Last- und/oder Eigenspannungen in einem spezifi-
schen Korrosionsmedium bezeichnet. Dabei erfolgen die Rissbildungen bei glatten Pro-
ben lokalisiert an Stellen relativer Spannungskonzentrationen und/oder relativ erhöhter
korrosionschemischer Empfindlichkeit. Bei gekerbten Proben entwickeln sich die SRK-
Risse vom Kerbgrund ausgehend. Je nach Werkstoff und Korrosionsmedium wachsen die
Risse inter- oder transkristallin, durchsetzen unter Verzweigungen das Werkstoffvolumen
und führen schließlich zu einer solchen Querschnittsschwächung, dass Werkstoffversagen
durch Gewaltbruch einsetzt. Bei Aluminiumlegierungen wird meist interkristalline SRK,
bei Magnesiumlegierungen dagegen überwiegend transkristalline SRK beobachtet. In Kup-
ferbasis- und Eisenbasislegierungen treten je nach Korrosionsmedium beide SRK-Arten
auf. Austenitische CrNi-Stähle zeigen bei erhöhten Temperaturen in chloridhaltigen und
stark alkalischen Lösungen transkristallines SRK-Verhalten. Bei den gleichen Werkstoffen
tritt nach einer Sensibilisierungsglühung zwischen 450 °C und 750 °C, die zur Ausschei-
dung von Chromcarbiden auf den Korngrenzen führt, interkristalline SRK auf. Bei α-Mes-
sing wird in neutralen und stark alkalischen ammoniakhaltigen CuSO4 -Lösungen inter-
kristalline SRK beobachtet, in schwach alkalischen Lösungen dagegen transkristalline. Als
Beispiele sind in Abb. 69.1 links transkristalline SRK-Erscheinungen bei X10CrNiTi18-9
und rechts interkristalline SRK-Erscheinungen bei einem Gewindestück aus Messing wie-
dergegeben.
Eine einfache Prüfmöglichkeit der Lebensdauer begrenzenden Wirkung der SRK bietet
der Zeitstandversuch unter konstanter Zuglast bei Einwirkung des Korrosionsmediums.
Interessante Befunde derartiger Untersuchungen sind in Abb. 69.2 und Abb. 69.3 gezeigt.
In Abb. 69.2 sind für Eisen mit unterschiedlichen aber kleinen Kohlenstoff- und Stickstoff-
gehalten die Standzeiten in heißer Ca(NO3 )2 -Lösung als Funktion der auf die spezifische
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 531
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_69, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
532 69 V69 Spannungsrisskorrosion
Abb. 69.1 Transkristalline SRK bei X10CrNiTi18-9 unter Einwirkung chloridhaltiger Lösung (links)
und interkristalline SRK bei einem Gewindestück aus Messing unter Einwirkung von Brauchwasser
(rechts)
Korngrenzenfläche S bezogenen Masse-% von Fe3 C und Fe4 N wiedergegeben. Der Gehalt
an Kohlenstoff und Stickstoff wächst in der Reihenfolge 1 bis 20 an. Bei den Standversu-
chen wurde mit Zugspannungen von 0,8 Rm gearbeitet. Der monotone Abfall der Standzei-
ten wird von der mit wachsenden C- und N-Gehalten zunehmenden Belegungsdichte der
Korngrenzen mit Fe3 C und Fe4 N bestimmt. Abbildung 69.3 zeigt als weiteres Beispiel den
Spannungseinfluss auf die Standzeiten einer warmausgehärteten AlZn5Mg3-Legierung mit
einer 0,2 %-Dehngrenze von 410 MPa und einer Zugfestigkeit von 500 MPa. Offensichtlich
lassen sich die Standzeiten t in ausreichender Näherung durch eine auch in anderen SRK-
Fällen häufig beobachtete Beziehung
Abb. 69.2 Standzeiten von Eisen mit C-Gehalten < 0,110 und N-Gehalten < 0,014 Masse-% in hei-
ßer Ca(NO3 )2 -Lösung als Funktion der auf die Korngrenzenflächendichte bezogenen Fe3 C- und
Fe4 N-Anteile
an der Rissspitze erzeugten Oberflächen erfolgen und erst durch deren Aufreißen wieder
SRK möglich würde. Man neigt heute ferner zu der Auffassung, dass als Folge der Wasser-
stoffentwicklung während der Rissspitzenkorrosion lokale Wasserstoffversprödungen (vgl.
V70) die Vorgänge bei der Rissausbreitung mit beeinflussen.
Es liegt nahe, außer mit glatten und gekerbten auch mit angerissenen Proben ei-
nes Werkstoffes SRK-Experimente durchzuführen und diese nach bruchmechanischen
Gesichtspunkten zu beurteilen. Beaufschlagt man entsprechende Proben mit Anfangs-
534 69 V69 Spannungsrisskorrosion
Spannungsintensitäten, die erheblich kleiner als die Risszähigkeit K Ic (vgl. V52) sind, so
gehen diese trotzdem zu Bruch. Trägt man die Anfangs-Spannungsintensitäten K 0 als
Funktion des Logarithmus der Standzeit auf, so ergeben sich ähnliche Abhängigkeiten,
wie sie schematisch Abb. 69.5 zeigt. Offenbar treten drei Belastungsbereiche auf. K Ic ist
die Grenze spontaner instabiler Rissausbreitung. Die normalen bruchmechanischen In-
stabilitätsbedingungen bestimmen das Geschehen. Unter den Belastungsbedingungen
K IScc < K 0 < K Ic setzt spannungskorrosionsinduziertes Risswachstum ein, und die Probe
geht umso früher zu Bruch, je größer die Anfangs-Spannungsintensität ist. Man erwartet,
dass zunächst eine stabile Rissverlängerung auftritt, bis der effektiv wirksame K-Wert sich
der Risszähigkeit K Ic nähert. Bei K 0 < K IScc werden keine Brüche mehr beobachtet. K IScc ist
daher der Werkstoffwiderstand gegen die Ausbreitung eines Risses unter den vorliegenden
Belastungs- und Umgebungsbedingungen. Er wird Spannungskorrosionsrisswiderstand
genannt.
Ein relativ einfaches Verfahren zur K IScc -Bestimmung mit Hilfe nur einer Probe be-
nutzt die in Abb. 69.6 gezeigte Probenform. Der mit einem Ermüdungsriss (vgl. V64) der
69.1 Grundlagen 535
Länge a0 versehenen Probe wird mit Hilfe der Schrauben eine bestimmte Anfangsspan-
nungsintensität K 0 aufgeprägt, die sich aus der Rissöffnung v und der Risslänge a0 ergibt.
K 0 wird so gewählt, dass unter der Einwirkung eines Umgebungsmediums Risswachs-
tum, aber kein SRK-Bruch auftritt. Der Riss wächst unter Verringerung der wirksamen
Spannungsintensität, bis sich ein konstanter Endwert aScc oder eine sehr kleine Rissaus-
breitungsgeschwindigkeit (bei verschiedenen Al-Basislegierungen < 10−8 cm/s) eingestellt
hat. Der dem zugehörigen K-Wert entsprechende Werkstoffwiderstand wird K IScc genannt.
Er lässt sich mit Hilfe von Eichkurven direkt aus der Endrisslänge ermitteln.
Weitergehende Kenntnisse über das Risswachstum unter SRK-Bedingungen werden
durch direkte Messungen der Rissausbreitungsgeschwindigkeit da/dt in Abhängigkeit von
der wirksamen Spannungsintensität erhalten. Grundsätzlich bestehen die aus Abb. 69.7
ersichtlichen Zusammenhänge. Man hat drei unterschiedliche Risswachstumsbereiche zu
unterscheiden. Im Bereich I steigt da/dt mit wachsendem K an. Ist bei kleinem K der
Kurvenanstieg sehr groß, so nähert sich dort die lg da/dt, K-Kurve asymptotisch K IScc .
Diesem Anfangsbereich ansteigender Rissausbreitungsgeschwindigkeit schließt sich ein
Bereich II an, in dem da/dt nahezu unabhängig von K ist. Sowohl im Bereich I als auch
im Bereich II ist die Rissausbreitungsgeschwindigkeit sehr stark von Art, Temperatur und
Druck des Umgebungsmediums sowie von Art und Festigkeit des untersuchten Werkstof-
fes abhängig. Im Bereich III schließlich wächst da/dt mit K wieder stark an. Für K → K Ic
setzt die zum Bruch der Probe führende instabile Rissausbreitung ein. Weiterführende
Untersuchungen haben für diesen Bereich ergeben, dass wegen der großen Rissausbrei-
tungsgeschwindigkeiten nur noch ein geringer Einfluss des Umgebungsmediums besteht.
Der untere Teil von Abb. 69.7 zeigt, dass sich die Zeit zum Erreichen einer bestimmten
Risslänge bei gegebenem K in eine Inkubationszeit ti und eine Rissausbreitungszeit ta
aufteilt. Man sieht, dass mit wachsendem K und damit wachsender Rissausbreitungsge-
schwindigkeit der Anteil der Inkubationszeit kleiner wird.
536 69 V69 Spannungsrisskorrosion
69.2 Aufgabe
Biegeproben aus TiAl6V4, deren K Ic -Wert bekannt ist, werden mit einer V-Kerbe versehen
und zur Risseinleitung biegeschwellbeansprucht. An den angerissenen Proben wird in ei-
ner wässrigen 3%igen NaCl-Lösung die Rissausbreitungsgeschwindigkeit unter konstanten
Belastungsbedingungen in Abhängigkeit von der Zeit gemessen. K IScc ist abzuschätzen.
69.3 Versuchsdurchführung
Bei der Versuchseinrichtung (vgl. Abb. 69.8) erfolgt die Belastung über einen Behälter, der
ventilgesteuert mit Wasser gefüllt werden kann. Damit ist die Belastungsgeschwindigkeit
bis zum Erreichen des vorgesehenen K 0 -Wertes einstellbar. Zunächst erfolgt die Eichung
der Anlage. Dazu werden von vier vorbereiteten Proben mit unterschiedlicher Risslänge
a0 ohne Elektrolyteinwirkung F,v-Kurven (vgl. V53) ermittelt. Die erhaltene Kurvenschar
liefert für F = const. den Zusammenhang zwischen a0 und v. Dieser dient zur Umrechnung
der bei den Korrosionsversuchen zu bestimmenden v,t-Kurven in a,t-Kurven.
69.3 Versuchsdurchführung 537
Zur Rissausbreitungsmessung wird der Versuchsprobe die in Abb. 69.9 gezeigte „Kor-
rosionskammer“ aufgeklebt. Sie enthält eine Hilfselektrode und eine Luggin-Kapillare
für (hier nicht interessierende) potentiostatische und elektrochemische Messungen. Die
Schlauchverbindung dient zum Verbund der Kapillare mit einem Bezugshalbelement (vgl.
V68). Vor Beginn der Belastung wird der Korrosionsmittelbehälter mit der 3%igen NaCl-
Lösung gefüllt und an der Seitenfläche der Probe ein Rissöffnungsmesser (vgl. V52) auf-
gesetzt. Die K 0 -Einstellung erfolgt durch entsprechende Füllung des Wasserbehälters.
Zwischen Spannungsintensität K, belastender Kraft F, Hebelarm X, Risslänge a, Proben-
dicke B und Probenhöhe W gilt der Zusammenhang
FX √ a a a a
K= a {, − , ( ) + , ( ) − , ( ) + , ( ) } . (69.2)
BW W W W W
538 69 V69 Spannungsrisskorrosion
Kraft F und Rissöffnung v werden als Funktion der Zeit bis kurz vor einsetzendem
Probenbruch registriert. Nach Umrechnung der v,t-Kurve in eine a,t-Kurve werden aus
letzterer für verschiedene a die Rissausbreitungsgeschwindigkeiten entnommen und den
momentanen K-Werten zugeordnet. Die Versuchsergebnisse von mehreren Proben wer-
den diskutiert und zur Abschätzung von K Iscc benutzt.
Weiterführende Literatur
70.1 Grundlagen
wobei die Eisen(III)oxid-Schicht in Form von Fe3+ Ionen in Lösung geht. An Fehlstellen in
der Zunderschicht oder nach längerem Beizen kommt es zu einem Säureangriff (vgl. V67,
V68) auf das unter der Zunderschicht liegende metallische Eisen gemäß
Neben einer korrosiven Unterwanderung führt der Säureangriff auf das metallische
Eisen auch zu einem mechanischen Absprengen der darüber liegenden Zunderschicht
durch Wasserstoffentwicklung. Jede Form der Säurekorrosion an Metallen kann in die
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 539
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_70, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
540 70 V70 Wasserstoffschädigung in Stahl
Had → Had
→ H ↑ (70.3c)
Bei der Wasserstoffaufnahme aus der Gasphase wird zunächst molekularer Wasserstoff
an der Stahloberfläche adsorbiert (H2 ad ), wo er durch katalytische Aufspaltung in atomaren
Wasserstoff dissoziiert (Had ) und anschließend als atomarer Wasserstoff (H) in die Stahl-
oberfläche eindiffundiert und im ferritisch-martensitischen Eisengitter interstitiell gelöst
wird. Atomarer Wasserstoff hat im Ferrit (α-Eisen) nur eine geringe Löslichkeit (< 1 ppm),
dafür aber eine sehr große Beweglichkeit. So ist die Diffusionsgeschwindigkeit der Was-
serstoffatome im Ferrit bei Raumtemperatur etwa 1012 mal größer als die von Kohlenstoff
und Stickstoff (vgl. V51). Die Wasserstoffatome bewegen sich dabei besonders schnell ent-
lang von Korngrenzen, Versetzungslinien und anderen Gitterstörungen (vgl. V2). Unter
Absenkung der freien Enthalpie des α-Mischkristalls können sich die H-Atome zu plat-
tenförmigen Wasserstoffclustern zusammenlagern.
Häufig übersteigt die gemessene Wasserstoffkonzentration in Stählen ein Vielfaches
der theoretischen Löslichkeit von atomarem Wasserstoff im Ferrit. Grund hierfür ist,
dass sich Wasserstoffatome an inneren Grenzflächen und Hohlräumen im Werkstoff sam-
meln und dort wieder zu molekularem Wasserstoff rekombinieren. Die Rekombination
erfolgt dabei bevorzugt an Mikrorissen, Phasengrenzflächen, Mikroporen, Einschlüssen
sowie an Versetzungen. Der Gesamtwasserstoffgehalt in Stählen setzt sich somit aus in-
terstitiell gelöstem atomarem Wasserstoff und molekularem Wasserstoff zusammen, der
sich an Grenzflächen und in Hohlräumen im Werkstoff sammelt. In den lokalen Was-
serstoffansammlungen können sehr hohe Drücke bis 104 bar erreicht werden, da der
thermodynamische Gleichgewichtsdruck der Wasserstoffrekombinationsreaktion (vgl.
Gl. 70.3c) sehr hohe Werte annehmen kann. Die hohen Drücke führen lokal zu hohen
mechanischen Spannungen im Werkstoff und werden als Hauptursache für die auftre-
tende Werkstoffversprödung angesehen. Der in den Hohlräumen gesammelte molekulare
Wasserstoff kann nur über Redissoziationsvorgänge entweichen.
Das nachfolgende Beispiel zeigt die Wirkung einer Wasserstoffaufnahme aus der Gas-
phase auf die mechanischen Eigenschaften von Stahlproben. Abbildung 70.1 zeigt entspre-
70.1 Grundlagen 541
eigenschaften verändern. Beispielsweise erfolgt durch die Reaktion mit Wasserstoff bei
niedrig legierten Stählen eine Zersetzung des Zementits unter Bildung von Methan
was zu einer Entkohlung der Randzone führt. Durch Zugabe von Legierungselementen
mit hoher Kohlenstoffaffinität wie Chrom, Molybdän, Wolfram oder Vanadium kann der
Effekt der Randentkohlung deutlich reduziert werden. Das Diagramm in Abb. 70.5 zeigt
die kritischen Temperaturen für Wasserstoffversprödung und Randentkohlung für unter-
schiedliche Legierungszusammensetzungen als Funktion des Wasserstoffpartialdrucks.
70.2 Aufgabe
Abb. 70.5 Grenztemperaturen für die Wasserstoffversprödung (durchgezogene Linien) und die
Randentkohlung (gestrichelte Linien) für Stähle unterschiedlicher Legierungszusammensetzung in
Abhängigkeit des Wasserstoffpartialdrucks
70.3 Versuchsdurchführung
Aus den Schäften der vorliegenden Schrauben werden 6 schlanke Zugproben mit einem
Durchmesser von 4 mm herausgearbeitet. Drei dieser Proben werden im Ausgangzustand
ohne Wasserstoffbeladung mit Dehngeschwindigkeiten von ~ 10−2 , 10−3 und 10−4 s−1
verformt und dabei die auftretenden Spannungs-Dehnungs-Diagramme (vgl. V23) aufge-
zeichnet und ausgewertet. Die restlichen Proben werden mit der in Abb. 70.6 schematisch
gezeigten Versuchseinrichtung für 1,5 h in einer 4%igen H2 SO4 -Lösung mit 0,1 % As2 O3 -
Zusatz bei einer Stromdichte von ca. 3 × 10−3 A/cm2 kathodisch mit Wasserstoff beladen.
Danach werden die Zugproben unmittelbar in eine Zugprüfmaschine eingespannt und mit
den oben aufgeführten Verformungsgeschwindigkeiten bis zum Bruch verformt. Aus den
aufgezeichneten Spannungs-Dehnungs-Diagrammen (vgl. V23) werden die Streckgren-
ze Rp0,2 , die Zugfestigkeit Rm und die prozentuale Brucheinschnürung 100⋅(Ao − AB )/Ao
ermittelt. Abschließend erfolgt eine mikroskopische Begutachtung der Bruchflächen (vgl.
V47).
546 70 V70 Wasserstoffschädigung in Stahl
Weiterführende Literatur
71.1 Grundlagen
An Bleche und Bänder für Tiefzieharbeiten werden hohe Anforderungen in Bezug auf ihre
Kaltverformbarkeit gestellt, weil sie relativ große plastische Verformungen ohne Anriss-
bildung ertragen müssen. Werkstoffe gleicher chemischer Zusammensetzung können sich
dabei je nach Gleichmäßigkeit des Gefüges, Vorgeschichte und Wärmebehandlung, Betrag
und Abmessungskonstanz der Blech- bzw. Banddicke sowie der Oberflächenqualität ver-
schieden verhalten. Für die Prüfung von plattenförmigen Blechen (Ronden), aus denen
Hohlkörper gefertigt werden, haben sich Standardprüfmethoden herausgebildet, mit de-
nen die in der Praxis auftretenden Beanspruchungen weitgehend simuliert werden sollen.
Die Tiefungsprüfung nach Erichsen erfolgt mit der in Abb. 71.1 skizzierten Vorrich-
tung. Die zu untersuchende Blechronde (a) wird an die Matrize (b) angelegt und durch
einen halbkugelig abgerundeten Stempel (c) bis zum Bruch beansprucht. Die Probe wird
dabei durch einen Niederhalter (d) am Ausbeulen gehindert. Die beim Bruch festgestellte
Tiefung in mm wird als Maß für die Tiefziehfähigkeit angegeben. Liegt eine gleichmäßig
starke Blechverwalzung in Längs- und Querrichtung vor, so stellt sich beim Prüfling ein
kreisförmig verlaufender Riss ein. Wird dagegen bei der Herstellung des Bleches eine Walz-
richtung bevorzugt, was eine zeilige Gefügeausbildung und ausgeprägte Texturen (vgl. V18
und V10) begünstigt, so reißt das Blech beim Tiefungsversuch geradlinig ein. Die Rauigkeit
der Oberfläche des tiefgezogenen Blechteiles (vgl. V21) ist je nach Ausgangskorngröße ver-
schieden. Bei den vorliegenden Beanspruchungen wächst die Tiefung mit der Blechdicke
an.
In Abb. 71.2 ist für verschiedene Werkstoffe, die für Tiefzieharbeiten geeignet sind, der
Zusammenhang zwischen Erichsen-Tiefung und Blechdicke wiedergegeben. Bei größeren
Blechdicken wird nach dem gleichen Prinzip wie in Abb. 71.1 gearbeitet, nur mit verän-
derten Abmessungen der Prüfeinrichtung.
Ein Prüfverfahren, bei dem die in der Praxis des Tiefziehens vorliegenden Beanspru-
chungsverhältnisse besser angenähert werden als bei der Erichsen-Tiefung, stellt der
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 547
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_71, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
548 71 V71 Tiefziehfähigkeit von Stahlblechen
Tiefziehversuch dar. Den schematischen Aufbau der Versuchseinrichtung zeigt Abb. 71.3.
Blechronden mit verschiedenen Durchmessern D werden mit einem zylindrischen Bolzen,
der den Durchmesser d1 besitzt, durch eine Matrize gezogen (Tiefziehen im Anschlag). Die
so erhaltenen Näpfchen werden ohne thermische Zwischenbehandlung mit einem Bolzen
des Durchmessers d2 < d1 und einer zugehörigen Matrize erneut tiefgezogen, so dass Hohl-
körper mit einem Durchmesser d = d2 entstehen (Tiefziehen im Weiterschlag). Gesucht
wird das Durchmesserverhältnis (D/d)max , bei dem der erste Anriss eintritt. Dazu wird bei
einer Messserie der Rondenaußendurchmesser D schrittweise soweit vergrößert, bis bei
der Herstellung des zweiten Näpfchens ein Anriss eintritt. Anstelle der Größe (D/d)max ,
die auch Grenztiefziehverhältnis genannt wird, kann zur Beurteilung einer Blechqualität
auch die gesamte Tiefung benutzt werden, die bei der Näpfchenherstellung zu Anrissen
führt.
Zur Beurteilung der Tiefziehfähigkeit von Blechen findet schließlich noch der Tiefzieh-
Lochaufweitungsversuch Anwendung. Dabei benutzt man Blechronden, in die mittig ein
Loch mit Durchmesser d0 gestanzt wird. Diese Ronden werden – wie in Abb. 71.4 skiz-
ziert – fest zwischen Halter und Matrize eingespannt, so dass bei der Ziehbewegung des
zylindrischen Stempels nur der außerhalb der Einspannung liegende Blechwerkstoff ver-
formt wird. Ist der nach der Verformung rissfrei erreichte Durchmesser des Loches dB , so
ist die Aufweitung des Loches
dB − d
Δ= (71.1)
d
ein Maß für die Tiefziehfähigkeit des Blechwerkstoffes.
550 71 V71 Tiefziehfähigkeit von Stahlblechen
71.2 Aufgabe
71.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
72.1 Grundlagen
Durch Kaltumformung von Feinblechen aus Stahl und Nichteisenmetallen werden in der
technischen Praxis die verschiedenartigsten Bauteile hergestellt. Die wichtigsten Kaltum-
formverfahren sind das Tiefziehen und das Streckziehen (vgl. Abb. 72.1). Die dabei ablau-
fenden Verformungsprozesse versucht man unter labormäßigen Bedingungen nachzuvoll-
ziehen, um zu praxisorientierten Bewertungskriterien für das Verhalten der umzuformen-
den Bleche zu gelangen (vgl. V71). Die Übertragung der Befunde derartiger Modellversu-
che auf Umformvorgänge mit veränderten geometrischen Anordnungen und andersarti-
gen Reibungsverhältnissen ist nur bedingt möglich. Deshalb besteht ein großes Interesse
an Kenngrößen, die – unabhängig von den im Einzelfall vorliegenden Verformungsbedin-
gungen – die Kaltumformbarkeit von Feinblechen hinreichend charakterisieren.
Der Beschreibung des Umformverhaltens von Feinblechen kann man i. Allg. keine iso-
tropen bzw. quasiisotropen Werkstoffzustände zugrunde legen. Die zur Blechherstellung
erforderlichen plastischen Walzverformungen (vgl. V9) führen als Folge der elementaren
Abgleitprozesse in den Körnern zu Orientierungsänderungen und damit zur Ausbildung
typischer Walztexturen (vgl. V10). Je nach Werkstoffzustand und vorangegangenen Um-
formbedingungen ist zudem mit „Gefügezeiligkeiten“ (vgl. V18) zu rechnen. Insgesamt
liegt daher in den Blechen keine statistisch regellose Verteilung der Kornorientierungen
und der Kornformen vor. Als Folge davon werden die makroskopischen mechanischen Ei-
genschaften der Bleche richtungsabhängig. Für Kaltumformverfahren sind die Werkstoffe
bzw. Werkstoffzustände besonders geeignet, bei denen die mit wachsender plastischer Ver-
formung auftretenden Querschnittsänderungen ohne anisotrope Formänderungen sowie
ohne abrupte Querschnittsreduzierungen und Rissbildung ertragen werden. Man benötigt
deshalb quantitative Daten über das Längs- und Querdehnungsverhalten sowie über das
Verfestigungsverhalten der Bleche, und es liegt nahe, diese unter einachsiger Beanspru-
chung von Blechstreifen in einem Zugversuch (vgl. V23) zu ermitteln.
Betrachtet man wie in Abb. 72.2 den durch die Abmessungen L0 , B0 und D0 gegebenen
Bereich eines Blechstreifens, so nimmt dieser nach Einwirkung einer hinreichend großen,
zu L0 parallelen Zugnennspannung σ n = F/A0 = F/B0 D0 die Abmessungen L, B und D an.
Die Probe hat sich plastisch verlängert (L > L0 ) und ihre Querabmessungen haben sich
plastisch verkürzt (B < B0 , D < D0 ). Da die plastische Verformung unter Volumenkonstanz
erfolgt, gilt
L ⋅ B ⋅ D = L ⋅ B ⋅ D (72.1)
oder
L B D
ln + ln + ln = . (72.2)
L B D
72.1 Grundlagen 555
Die Größen
L
L dL
φ L,p = ln =∫ , (72.3)
L L
L
B
B dB
φ B,p = ln =∫ (72.4)
B B
B
und
D
D dD
φ D,p = ln =∫ (72.5)
D D
D
L − L
ε L,p = (72.6)
L
und der durch Gl. 72.3 gegebenen log. plastischen Längsdehnung φL,p besteht der Zusam-
menhang
φ L,p = ln (ε L,p + ) . (72.7)
Trägt man die wahre Zugspannung σ = F/BD als Funktion von φL,p auf, so ergibt sich
ein Zusammenhang, den die Umformtechniker als Fließkurve bezeichnen. In vielen Fäl-
len (nicht z. B. bei metastabilen austenitischen Stählen) lässt sich dabei der Kurvenverlauf
durch die Ludwik’sche Beziehung
σ = σ ⋅ φ nL,p (72.8)
annähern, n wird Verfestigungsexponent genannt. Bei einem sich verfestigenden Werkstoff
ist die log. Gleichmaßdehnung erreicht, wenn Einschnürung und damit ein Höchstwert der
belastenden Kraft auftritt. Mit
F =σ ⋅A (72.9)
und
dF = σdA + Adσ (72.10)
gilt dann die Bedingung
dF = (72.11)
und somit
dσ dA
=− . (72.12)
σ A
556 72 V72 r- und n-Werte von Feinblechen
Abb. 72.3 σ-φL,p -Verlauf (links) und lg σ-lg φ L,p -Verlauf (rechts) von C10 bei einer Dehnungsge-
schwindigkeit ε̇ = , ⋅ − s −
d (BD) dA dL
− =− = = dφ L,p , (72.13)
BD A L
so dass sich aus Gln. 72.12 und 72.13 ergibt
dσ
σ= ∣ . (72.14)
dφ L,p φ L,p =φgleich
σ ⋅ φgleich
n
= σ ⋅ n ⋅ φgleich
n−
. (72.15)
in denen die größten r-Werte vorliegen. Zipfelbildung erfolgt in 0°- und 90°-Richtung (45°-
Richtung), wenn sich nach Gl. 72.21 ein positiver (negativer) Δr-Wert ergibt. Da die Zip-
felbildung unerwünscht ist, erfordert ein gutes Tiefziehvermögen einen großen rm -Wert,
der möglichst wenig von den Einzelwerten r0° , r45° und r90° abweicht.
In Abb. 72.6 sind für unberuhigte und Al-beruhigte Stahlbleche (~ 0,07 Masse-% C;
0,35 Masse-% Mn) die rm -Werte als Funktion des Kaltverformungsgrades gezeigt. Bei den
unberuhigten Blechen treten nur bei mittleren Umformgraden rm -Werte größer 1,0 auf.
Im Vergleich dazu erreichen die beruhigten Bleche rm -Werte bis 1,4; in anderen Fällen
bis 1,8. Große rm -Werte liefern, wie Abb. 72.7 zeigt, große Grenztiefziehverhältnisse, wor-
unter man das experimentell bestimmte größte Verhältnis (D/d)max aus dem Durchmesser
D der Ronden zum Durchmesser d der fehlerfrei tiefgezogenen Näpfchen versteht (vgl.
V71). Das Grenztiefziehverhältnis wächst auch bei anderen Werkstoffen mit rm an. Das
Tiefziehvermögen von Blechen wird u. a. vom Gehalt an Legierungselementen beeinflusst.
Abbildung 72.8 zeigt rm - und Δr-Werte von gehaspelten und bei 550 °C geglühten Stahl-
blechen mit unterschiedlichen Mangangehalten. Man sieht, dass sowohl rm als auch Δr
oberhalb 0,05 Masse-% mit wachsendem Mangananteil kontinuierlich abfallen.
72.2 Aufgabe 559
72.2 Aufgabe
72.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Beh10] Behrens, B.-A., Doege, E.: Handbuch Umformtechnik, 2. Aufl. Springer Verlag, Berlin (2010)
[Str73] Straßburger, Ch., Müschenborn, W., Robiller, G.: Prüfverfahren zur Ermittlung der Kaltum-
formbarkeit. In: Neuzeitliche Verfahren zur Werkstoffprüfung. Stahleisen, Düsseldorf (1973)
Weiterführende Literatur 561
[Mes76] Messien, P., Greday, T.: Texture and planar anisotropy of low carbon steels. In: Texture and
Properties of Materials. Met. Soc. (1976). Oxford
[Fri10] Fritz, A.H., Schulze, G. (Hrsg.): Fertigungstechnik. Springer, Heidelberg (2010)
[Wil69] Wilson, D.C.: Controlled directionality of mechanical properties in sheet metals. Met. Rev.
14, 175–188 (1969)
V73 Ultraschallprüfung
73
73.1 Grundlagen
x
η = ηa sin [π (νt − )] (73.1)
λ
beschreiben. Dabei ist ηa die Amplitude der Auslenkung, ν die Frequenz, λ die Wellenlänge
und t die Zeit. Durch Differentiation nach der Zeit ergibt sich aus Gl. 73.2 die Teilchenge-
schwindigkeit zu
dη x
v= = πνηa cos [π (νt − )] . (73.2)
dt λ
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 563
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_73, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
564 73 V73 Ultraschallprüfung
Die Größe
va = πνηa (73.3)
wird als Schallschnelle bezeichnet. Mit der Schallausbreitung ist der Aufbau eines orts- und
zeitabhängigen Druckfeldes verbunden, das durch
x
p = p + va cL ρ cos [π (νt − )] (73.4)
λ
gegeben ist. Dabei ist p0 der herrschende Druck ohne akustische Schwingung, ρ die Dichte
und cL die longitudinale Schallgeschwindigkeit. Das Produkt
p a = va cL ρ (73.5)
Abb. 73.1 Auffallen einer Schallwelle auf eine Grenzfläche Eisen/Luft (pd (x) stark vergrößert)
Für die Longitudinalwelle Lr und Transversalwelle T r sind die sich einstellenden Aus-
breitungsrichtungen α 1 und β 1 gemäß
sin α cL,I
= (73.11)
sin β cT,I
566 73 V73 Ultraschallprüfung
sin α cL,I
= (73.12)
sin α cL,II
wobei cL,I und cL,II die zugehörigen Schallgeschwindigkeiten in den Medien I und II sind.
Für die transversalen und longitudinalen Schallwellen im Medium II ergibt sich
sin α cL,II
= . (73.13)
sin β cT,II
Ld parallel zur Grenzfläche, und es breitet sich im Medium II nur noch die Transversal-
welle T d aus. Dies wird bei der Ultraschallprüfung durch Schrägeinschallung mit Hilfe
sogenannter Winkelprüfköpfe realisiert.
Von den verschiedenen Ultraschallverfahren, die in der Werkstoffprüfung Anwen-
dung finden, wird besonders häufig das Impulslaufzeitverfahren benutzt, dessen Prinzip
Abb. 73.3 wiedergibt. Darüber hinaus existieren Durchschallungsverfahren, die jedoch den
Nachteil haben, dass die Tiefenlage des Fehlers nicht bestimmt werden kann. Beim Impuls-
Echo-Verfahren erzeugt ein Impulsgenerator Spannungsimpulse von sehr kurzer Dauer
(1–10 μs), die vom Schwingkristall in akustische Signale umgewandelt und über ein Kopp-
lungsmedium (z. B. Glyzerin) auf das Werkstück übertragen werden. Als Schwingkristalle
finden piezoelektrische Substanzen wie z. B. Quarz (SiO2 ), Bariumtitanat (BaTiO3 ) oder
Lithiumtantalat (Li2 TaO3 ) Anwendung. Die Impulsfolge wird auf den Prüfwerkstoff ab-
gestimmt, die Impulsdauer umfasst einige Schwingungsperioden. Die an der Rückseite
und an eventuellen Grenzflächen im Inneren des Prüfstücks reflektierten Wellen werden
von dem gleichzeitig als Empfänger wirkenden Schwingkristall in elektrische Impulse zu-
rückverwandelt und als Echosignale in einem Verstärker soweit verstärkt, dass sie auf dem
Bildschirm eines Oszillographen sichtbar werden. Mit Hilfe einer Gleichrichterschaltung
werden die Echosignale einseitig senkrecht zur Nulllinie ausgelenkt. Der dem Oszillo-
graphen ebenfalls zugeleitete Sendeimpuls stellt dort als sogenanntes Eingangsecho den
Bezugspunkt für die Bewertung der Echosignale dar. Die Horizontalauslenkung des Elek-
tronenstrahls erfolgt mit Hilfe eines Kippgenerators. Die zeitliche Abstimmung zwischen
Horizontalauslenkung und Sendeimpuls wird durch ein Synchronisierglied erreicht. Bei
bekannter Auslenkgeschwindigkeit des Elektronenstrahls in horizontaler Richtung kann
jedem Echosignal eine bestimmte Laufzeit der Schallwelle zugeordnet werden. Bei bekann-
ter Schallgeschwindigkeit lassen sich somit die Abstände der Echos auf dem Bildschirm
des Oszillographen in Entfernungen von der Probenoberfläche umrechnen.
568 73 V73 Ultraschallprüfung
73.2 Aufgabe
Es liegen verschiedene Bauteile mit künstlich eingebrachten Fehlern vor. Der Oberflächen-
abstand sowie die flächenhafte Erstreckung der Fehler sind zu ermitteln.
73.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Bar09] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde, 10. Aufl. Springer, Berlin (2009)
[DIN EN 10160:1999-09] Ultraschallprüfung von Flacherzeugnissen aus Stahl mit einer Dicke größer
oder gleich 6 mm (Reflexionsverfahren), Beuth Verlag, Berlin (1999)
[DIN EN 1330-4:2010-05] Zerstörungsfreie Prüfung – Terminologie – Teil 4: Begriffe der Ultraschall-
prüfung; Dreisprachige Fassung EN 1330-4:2010, Ersatz für DIN 54119, Beuth Verlag, Berlin (2010)
[DIN EN 583 Teil 1-6:97-09] Zerstörungsfreie Prüfung – Ultraschallprüfung – Teil 1–6, Ersatz für
DIN 54126-1 und DIN 54126-2, Beuth Verlag, Berlin (1997–2009)
[Dub07] Dubbel, H.: Dubbel. Taschenbuch für den Maschinenbau, 22. Aufl. Springer, Berlin (2007)
[Gev06] Gevatter, H.-J., Grünhaupt, J.: Handbuch der Mess- und Automatisierungstechnik in der
Produktion, 2. Aufl. Springer, Berlin (2006)
[Ils05] Ilschner, B., Singer, R.F.: Werkstoffwissenschaften und Fertigungstechnik: Eigenschaften, Vor-
gänge, Technologien, 4. Aufl. Springer, Berlin (2004)
[Wei07] Weißbach, W.: Werkstoffkunde. Strukturen, Eigenschaften, Prüfung, 16. Aufl. Vieweg, Wies-
baden, S. 398–400 (2007)
V74 Magnetische und magnetinduktive
Werkstoffprüfung 74
74.1 Grundlagen
Neben Röntgen- und γ-Strahlen (vgl. V78) sowie Ultraschallwellen (vgl. V73) lassen sich
auch magnetische und magnetinduktive Wechselwirkungen zur zerstörungsfreien Werk-
stoffprüfung ausnutzen. Man unterscheidet dabei die auf der magnetischen Kraftwirkung
beruhenden Verfahren von den die Induktionswirkung ausnutzenden Wirbelstromverfah-
ren. Die magnetinduktiven Prüfmethoden zeichnen sich durch große Prüfgeschwindig-
keiten sowie relativ einfache Automatisierbarkeit aus und haben daher ein breites Anwen-
dungsspektrum vor allem in der Qualitätsprüfung gefunden.
Bei den Rissprüfverfahren mit Kraftwirkung wird in ferromagnetischen Prüfkörpern
ein magnetisches Feld erzeugt, wobei die in Abb. 74.1 skizzierten Methoden Anwendung
finden. Im Allgemeinen ist im Prüfkörper eine relative Permeabilität μr > 100 erforderlich,
um eine ausreichende Magnetisierung zu erreichen. Die Joch- bzw. Spulenmagnetisierung
durch Gleichstrom bewirkt eine Längsmagnetisierung, die Durchflutungsmagnetisierung
durch Wechselstrom eine Kreismagnetisierung. Dabei wird eine gleichmäßige Ausbildung
der magnetischen Kraftlinien angestrebt. Die magnetischen Feldlinien werden durch Risse
im Werkstoff gestört, da über und seitlich davon als Folge der gegenüber dem ungestörten
Messobjekt erhöhten magnetischen Widerstände magnetische Streufelder auftreten, über
deren Detektion auf die Existenz der Fehler geschlossen werden kann.
Ein Riss kann umso besser nachgewiesen werden, je näher er zur Oberfläche liegt, je
größer sein Tiefen/Breiten-Verhältnis ist, je höher die Magnetisierungsfeldstärke gewählt
wird und je genauer er senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien orientiert ist. Da die
Streufeldbreite die wahre Rissbreite erheblich übertrifft, sind Risse mit Breiten von 1 μm
durchaus noch nachweisbar. Der Streufeldnachweis kann mit Magnetpulver, mit einem
Magnetband oder mit einer Magnetfeldsonde (Förstersonde) erfolgen.
Während oder nach der Magnetisierung erfolgt die Benetzung mit einer Flüssigkeit
(meist Öl oder Wasser), in der sehr feines ferromagnetisches Pulver (Korngröße kleiner
10 μm) suspendiert ist. Die Streufelder in der Umgebung von oberflächennahen Rissen füh-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 571
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_74, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
572 74 V74 Magnetische und magnetinduktive Werkstoffprüfung
ren dort zur Anhäufung der Pulverteilchen. Feine Pulver und niedrigviskose Flüssigkeiten
verbessern die Anzeigeempfindlichkeit. Den Partikeln anhaftende fluoreszierende Zusätze
erleichtern bei ultravioletter Lichteinstrahlung die Direktbeobachtung der Pulveranhäu-
fungen und damit der Lage der Risse. Mit Hilfe der Durchflutungsmagnetisierung werden
Längsrisse nachgewiesen. Meistens schließt sich an die Sichtprüfung eine Entmagnetisie-
rungsbehandlung der geprüften Teile an.
Abbildung 74.2 zeigt ein automatisches Rissprüfgerät, welches zwei getrennt wirksa-
me Magnetisierungskreise (Durchflutungs- und Jochmagnetisierung) zur Erkennung von
Längs- und Querrissen besitzt.
Moderne Magnetpulverprüfanlagen können vollautomatisch arbeiten, inklusive Bau-
teilzu- und abfuhr, Bauteilreinigung und Entmagnetisierung bis hin zur optischen Defek-
terkennung mittels digitaler Bilderkennung.
Bei den Verfahren mit Induktionswirkung werden durch hochfrequente Wechselströme
in den Prüfkörpern Wirbelströme induziert und zum Fehlernachweis ausgenutzt. Dabei
unterscheidet man das Durchlauf-, das Innen-, das Last- und das Gabelspulen-Verfahren,
74.1 Grundlagen 573
deren Prinzipien aus Abb. 74.3 hervorgehen. Bei allen vier Methoden wird der Prüfling
in den Wirkungsbereich einer wechselstromdurchflossenen Prüfspule (Magnetisierungs-
spule) gebracht. Das magnetische Wechselfeld der Prüfspule erzeugt im Messobjekt Wir-
belströme, die ihrerseits ein elektromagnetisches Wechselfeld hervorrufen, das auf Grund
der Lenzschen Regel dem von der Prüfspule erzeugten Feld entgegengesetzt gerichtet ist.
Somit stellt sich im Bereich der Prüfspule oder einer geeignet angebrachten Messspule
ein resultierendes elektromagnetisches Wechselfeld ein, das den Wechselstromwiderstand
(Impedanz) der Prüfspule oder der Messspule verändert.
Die auftretenden Änderungen sind von der Messanordnung, von der Frequenz des
Wechselfeldes, von den Abmessungen der Prüfspule, von dem Abstand zwischen Prüfspu-
le und Prüfkörper sowie von der elektrischen Leitfähigkeit, der magnetischen Permeabilität
und den Abmessungen des Prüfkörpers abhängig. Da Risse, Poren, Lunker und Einschlüs-
se die lokale Wirbelstromausbildung beeinflussen, sind sie in der geschilderten Weise über
die magnetinduktive Rückwirkung auf die Prüf- bzw. Messspule nachweisbar.
Abhängig von den vorgegebenen Werkstoffeigenschaften existiert eine bestimmte Fre-
quenz, die die größte magnetinduktive Rückwirkung zur Folge hat. Demzufolge sind Ge-
räteeinstellungen (im Bereich einiger MHz) und Tastspulen an den Werkstoff anzupassen
(z. B. Leichtmetalle, ferromagnetische Materialien, Austenite usw.). Auch ist zur quantitati-
ven Rissdetektion eine Kalibrierung mit Standardproben notwendig. Damit kann auch der
Verschleiß, dem der Tastkopf ausgesetzt sein kann, kompensiert werden. Abbildung 74.4
zeigt ein Wirbelstromprüfgerät für das Tastspulenverfahren bei der Vermessung einer Tur-
binenschaufel und eines Zylinderkopfes. Oberflächenfehler werden vom Messgerät durch
maximalen Ausschlag angezeigt, wenn sie sich zentrisch unterhalb der Tastspule befinden.
Zusätzlich kann durch akustische Signale auf den Defekt hingewiesen werden. Neben die-
574 74 V74 Magnetische und magnetinduktive Werkstoffprüfung
sen ambulant verwendeten Geräten werden im Bereich der Aus- und Eingangsprüfung
derartige Messungen ähnlich den Magnetpulverprüfungen auch automatisiert, wofür ge-
eignete Werkstück- und Tastkopfführungen nebst Protokolliereinrichtungen kombiniert
werden.
74.2 Aufgabe
Bauteile aus bekannten Werkstoffen und mit bekannter Vorgeschichte sind mit einem Tast-
spulgerät auf Oberflächenrisse zu untersuchen. Die Messbefunde sind unter Berücksichti-
gung der Festigkeitseigenschaften, der Vorgeschichte und der Bauteilgeometrie zu disku-
tieren. Vor der Messung werden für die Bauteile Prüfpläne erstellt, in denen die Befunde
später eingetragen werden.
74.3 Versuchsdurchführung
Für die Messungen steht ein Wirbelstromprüfgerät mit Handtaster (Prüfspule) zur Verfü-
gung. Das Messgerät wird an Hand der Bedienungsanleitung betriebsbereit gemacht. Der
eigentliche Messvorgang besteht darin, dass die Oberflächen der zu untersuchenden Bau-
teile nach einer zu erstellenden Prüfstrategie mit der Prüfspule abgetastet werden. Unter
74.4 Symbole, Abkürzungen 575
der Prüfspule liegende Risse werden vom Messgerät registriert und am Display und mittels
akustischen Signals angezeigt.
Vor Beginn der eigentlichen Messungen wird das Messgerät mit Hilfe von Proben kali-
briert, die bekannte Risstiefen enthalten. Beim Arbeiten mit der Prüfspule ist zu beachten,
dass Randeffekte das Messergebnis beeinflussen, und zwar umso stärker, je weiter sich die
Prüfspule den Objektkanten nähert. Daher ist zu Beginn der Untersuchungen an einer feh-
lerfreien Probe zunächst nachzuprüfen, bis zu welchen Randentfernungen die Prüfspule
ohne Ausschlag des Anzeigeinstrumentes betrieben werden kann.
Weiterführende Literatur
[Hei03] Heine, B.: Werkstoffprüfung. Fachbuchverlag Leipzig im Carl Hanser Verlag, München Wien
(2003)
[Hep65] Heptner, H., Stroppe, H.: Magnetische und magnetinduktive Werkstoffprüfung. VEB
Grundstoffindustrie, Leipzig (1965)
[Hor02] Hornbogen, E.: Werkstoffe, 7. Aufl. Springer, Berlin (2002)
[DIN 54130: 1974-04] Zerstörungsfreie Prüfung; Magnetische Streufluss-Verfahren, Allgemeines
(auch in DIN-Taschenbuch 370, Materialprüfnormen für metallische Werkstoffe 4 Zerstörungsfreie
Prüfung – Allgemeine Regeln – Oberflächenverfahren und andere Verfahren. 1. Auflage, Beuth Ver-
lag, Berlin (2006))
[DIN EN ISO 9934-1,-2,-3 2003-3] Zerstörungsfreie Prüfungen – Magnetpulverprüfung. (auch in
DIN-Taschenbuch 370, Materialprüfnormen für metallische Werkstoffe 4 Zerstörungsfreie Prü-
fung – Allgemeine Regeln – Oberflächenverfahren und andere Verfahren. 1. Auflage, Beuth Verlag,
Berlin (2006))
V75 Röntgenographische
Eigenspannungsbestimmung 75
75.1 Grundlagen
matisches Beispiel. Für die Darstellung ist eine Werkstoffoberfläche als Zeichenebene
(x, y) gewählt. Betrachtet werden nur die y-Komponenten des Eigenspannungszustandes.
Der eingetragene Eigenspannungsverlauf stellt die y-Komponenten der „wahren örtlichen
Eigenspannungen“ längs der im unteren Teilbild angenommenen x-Achse dar.
Eine wichtige Methode zur Eigenspannungsbestimmung stellt die röntgenographische
Spannungsmessung (RSM) dar. Sie beruht auf der Ermittlung von Gitterdehnungsvertei-
lungen, denen mit Hilfe des verallgemeinerten Hookeschen Gesetzes Spannungen zuge-
ordnet werden.
Im Gegensatz zu den Makrodehnungsmessungen (vgl. V22) bei der üblichen Span-
nungsanalyse erfolgen bei der RSM Gitterdehnungsmessungen. Dabei werden die unter
Einwirkung von Spannungen in einzelnen oberflächennahen Körnern eines vielkristalli-
nen Werkstoffs auftretenden Abstandsänderungen bestimmter Gitterebenen {hkl} gemes-
sen (vgl. V1).
Abbildung 75.2 erläutert den Unterschied zwischen Makrodehnungen (links) und Git-
terdehnung en (rechts) für einen oberflächennahen Werkstoffbereich mit den Abmessun-
gen X 0 und Z0 . Im rechten Teil des Bildes sind zwei Körner betrachtet, bei denen die
Normalen von Gitterebenen {hkl} unter den Winkeln ψ = 0 und ψ gegenüber dem Oberflä-
chenlot liegen. Im spannungsfreien Zustand sind die Netzebenenabstände Dψ = 0 und Dψ
gleich D0 . Unter der Einwirkung einer Kraft F ändern sich die makroskopischen Abmes-
sungen des oberflächennahen Werkstoffbereiches von X 0 in X und von Z0 in Z sowie die
75.1 Grundlagen 579
Abstände der betrachteten Gitterebenen von D0 in Dψ = 0 bzw. Dψ . Misst man diese Grö-
ßen, so erhält man in der angegebenen Weise Makrodehnungen und Gitterdehnungen.
Gitterdehnungen können, wie in Abb. 75.3 schematisch angegeben, aus den Braggwin-
keländerungen dθ = θ − θ 0 ermittelt werden, die ein an den Gitterebenen {hkl} abgebeugter
monochromatischer Röntgenstrahl (vgl. V5) erfährt, wenn sich der Netzebenenabstand
von D0 auf D ändert. Auf Grund der Braggschen Gleichung (vgl. V16) gilt
D − D
dθ = θ − θ = − tan θ ( ). (75.1)
D
580 75 V75 Röntgenographische Eigenspannungsbestimmung
Abb. 75.4 Die bei Gitterdehnungsmessungen an Eisen mit verschiedenen Röntgenwellenlängen un-
ter ψ = 0° erfassten Tiefenbereiche
Bei gegebener Gitterdehnung dD/D0 ist dθ umso größer, je größer der Beugungswinkel
θ 0 ist. Deshalb führt man Gitterdehnungsmessungen meistens im so genannten Rück-
strahlbereich mit 50° < θ < 85° aus. Dehnungsmessrichtung ist immer die Normale auf den
vermessenen {hkl}-Ebenen der erfassten Körner. Fällt ein primärer Röntgenstrahl kon-
stanter Wellenlänge λ mit der Intensität I 0 schräg zur Oberfläche eines spannungsfreien
Vielkristalls ein und liegen im bestrahlten Werkstoffvolumen hinreichend viele statistisch
regellos orientierte Körner vor, so tritt ein zum Primärstrahl symmetrischer Interferenz-
kegel auf (vgl. V16). Bei den zur Interferenz beitragenden Körnern liegen die Normalen
gleicher Gitterebenen {hkl} ebenfalls auf einem zum Primärstrahl symmetrischen Kegel. Ist
der erfasste Werkstoffbereich verspannt, so treten unsymmetrische Interferenz- und Nor-
malenkegel bezüglich des Primärstrahls auf. Das Prinzip der Messung und die Messtechnik
ist die gleiche wie im V16 beschrieben.
Je nach benutzter Röntgenwellenlänge enthält die abgebeugte Röntgenintensität Infor-
mationen aus unterschiedlichen Tiefenlagen des vermessenen Werkstoffs. Als Beispiel sind
in Abb. 75.4 für Eisen die bei verschiedenen Wellenlängen aus den Oberflächenentfernun-
gen z zur abgebeugten Intensität beitragenden relativen Intensitätsanteile
Iz μz
= exp (− ) (75.2)
I cos ψ
75.1 Grundlagen 581
Zur Bestimmung von Spannungen ist eine Verknüpfung der gemessenen Gitterdehnun-
gen mit elastizitätstheoretischen Aussagen über den vorliegenden Spannungszustand er-
forderlich. Bei dreiachsigen Eigenspannungszuständen gilt die allgemeine Grundgleichung
der röntgenographischen Spannungsanalyse. Meistens können jedoch biaxale Spannungs-
zustände angenommen werden, da an der freien Oberfläche die Spannung senkrecht zur
Oberfläche null betragen muss und somit vernachlässigt werden kann.
Unter Zugrundelegung des Koordinatensystems in Abb. 75.5 liefert die lineare Elastizi-
tätstheorie für einen durch die oberflächenparallelen Hauptspannungen σ 1 und σ 2 sowie
die Hauptdehnungen ε1 , ε2 und ε3 gegebenen Beanspruchungszustand als Dehnung ε φ,ψ
in der durch den Azimutwinkel φ gegenüber σ 1 und den Verkippungswinkel ψ gegenüber
ε3 gegebenen Richtung
ν
ε = (σ − νσ ) , ε = (σ − νσ ) , ε = (σ + σ ) (75.4)
E E E
ν+ ν
ε φ,ψ = (σ cos φ + σ sin φ) sin ψ − (σ + σ ) . (75.5)
E E
ν+
s = (75.7)
E
und
ν
s = − (75.8)
E
folgt aus den Gln. 75.5 und 75.6
ε φ,ψ = s σφ sin ψ + s (σ + σ ) . (75.9)
75.1 Grundlagen 583
dD D φ,ψ − D
ε φ,ψ = ( ) = = − cot θ dθ φ,ψ . (75.10)
D φ,ψ D
1. Unabhängig vom Azimut φ sind die Gitterdehnungen stets linear über sin ψ verteilt.
2. Der Anstieg der ε φ,ψ − sin ψ-Geraden in einer Ebene φ = const
∂ε φ,ψ
mφ = = s σφ (75.12)
∂sin ψ
ist durch das Produkt aus den Elastizitätskonstanten 1/2 s2 und der im Azimut φ wirk-
samen Spannungskomponente σ φ gegeben.
3. Der Ordinatenabschnitt der ε φ,ψ sin ψ-Geraden in einer Ebene φ = const
ist durch das Produkt aus der Elastizitätskonstanten s1 und der Summe der Hauptspan-
nungen (σ 1 + σ 2 ) bestimmt.
4. Der Abszissenschnittpunkt der ε φ,ψ ,-sin ψ-Geraden in einer Ebene φ = const
s σ + σ ν σ + σ
sin ψ ∗ = − = (75.14)
s σφ + ν σφ
stellt die spannungsfreie Richtung dar und wird durch die Querkontraktionszahl ν und
den Spannungszustand festgelegt.
584 75 V75 Röntgenographische Eigenspannungsbestimmung
Man ersieht daraus, dass aus der Gitterdehnungsverteilung, die bei einem ebenen
Spannungszustand in einer Azimutebene φ = const vorliegt, die Hauptspannungssumme
(σ 1 + σ 2 ) und die azimutale Spannungskomponente σ φ bestimmt werden können, wenn
die Elastizitätskonstanten bekannt sind.
Bei Gitterdehnungsmessungen mit dem Diffraktometerverfahren wird das Messobjekt
im Zentrum des Diffraktometerkreises angebracht, auf dessen Umfang sich der Röntgen-
röhrenfokus F oder der Eintrittsspalt der Röntgenstrahlen sowie ein Strahlungsdetektor D
(Szintillationszähler, Ortsempfindlicher Detektor (vgl. V16)) befinden. Während der Re-
gistrierung der abgebeugten Strahlungsintensität bewegt sich der Strahlungsdetektor mit
der doppelten Winkelgeschwindigkeit der Probe P. Man arbeitet heute entweder mit sog.
χ- oder ω-Diffraktometern, die sich in der Anordnung und Drehung der Proben bei der
Einstellung bestimmter Messrichtungen ψ unterscheiden. Die ψ-Einstellung erfolgt beim
χ-Diffraktometer (vgl. Abb. 75.7 rechts) unter Drehung der Probe um eine in der Diffrak-
tometerebene liegende Achse, die senkrecht auf der θ-Achse der Bragg-Winkelmessung
steht. Die L,σ-Ebene steht senkrecht zur Diffraktometerebene. Im ω-Diffraktometer (vgl.
Abb. 75.7 links) erfolgt dagegen die Drehung der Probe um eine Achse senkrecht zur Dif-
fraktometerebene, die mit der θ-Achse der Bragg-Winkelmessung identisch ist. Die L,σ-
Ebene liegt in der Diffraktometerebene. Bei diesem Verfahren beträgt der Winkel ω nicht
mehr dem halben Beugungswinkel 2θ wie bei der Phasenanalyse (vgl. V16), sondern wird
variiert. Die Berechnung der ψ-Winkel erfolgt dann nach Gl. 75.15.
θ
ψ= −ω (75.15)
75.1 Grundlagen 585
Bei einem zweiachsigen Spannungszustand sind also die 2θ φψ -Werte linear über sin ψ
verteilt. Ihr Anstieg Nφ bestimmt die Spannungskomponente
cot θ
(σ + σ ) = − (θ φ,ψ= − θ ) = K (θ φ,ψ= − θ ) . (75.19)
s
75.2 Aufgabe
Ein normalisierter Flachstab aus 42CrMo4 mit den Abmessungen 150 × 15 × 10 mm wird
im 4-Punkt-Biegeversuch mit einem Biegemoment M > M eS bis zu einer Randtotaldeh-
nung von etwa 3 % verformt und anschließend entlastet (vgl. V44). Die zu erwartende
Eigenspannungsverteilung über der Biegehöhe ist zu diskutieren und stichprobenweise
durch röntgenographische Spannungsmessungen zu überprüfen. Doch bevor diese Mes-
sungen durchgeführt werden, soll eine Eisenpulverprobe, welche Eigenspannungen nur
leicht unterschiedlich von 0 aufweisen darf, gemessen werden. Nachdem die Kontrolle des
Diffraktometers mittels Eisenpulver erfolgreich abgeschlossen ist, können die Messungen
an dem Stab durchgeführt werden.
75.3 Versuchsdurchführung 587
75.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht ein χ-Diffraktometer der in Abb. 16.3 (V16) gezeigten Bauart zur
Verfügung. Die verformte Biegeprobe wird zunächst mit einem räumlich justierbaren Pro-
benhalter so fixiert, dass die Probenoberfläche im Diffraktometerzentrum und der Primär-
strahl auf die gewählte Messstelle auf der Seitenfläche der Biegeprobe ausgerichtet sind. Für
χ = 0 liegt die Probenlängsachse parallel zur θ-Achse. Wegen der zu erwartenden inho-
mogenen Längseigenspannungsverteilung über der Biegehöhe sind die Durchmesser der
bestrahlten Oberflächenbereiche zu 1 mm zu wählen. Es wird mit CrKα-Strahlung gearbei-
tet. Die {211}-Interferenzlinien werden mit Hilfe eines ortsempfindlichen Detektors in den
Messrichtungen = −45°,−39°, −33°, −27°, −18°, 0°, 18°, 27°, 33°, 39° und 45° im Beugungs-
winkelbereich 2θ ≈ 150° bis 162° mit dem vom Hersteller des Diffraktometers gelieferten
Steuerungsprogramm registriert.
Die gemessenen Interferenzen sollen ausgedruckt werden und ihre Positionen an-
hand des Linienschwerpunktsverfahrens bei 50 % der maximalen Nettointensität (nach
Abzug des Untergrunds) manuell bestimmt werden. Die somit ermittelten Interferen-
zenpositionen sollen dann als Funktion von sin ψ aufgetragen werden. Die Auswertung
gemäß Gl. 75.18 liefert σ φ . Da bei der vorgenommenen Probenjustierung φ = 0° ist und
angenommen werden kann, dass die Hauptspannungen mit dem Probenachsensystem
übereinstimmen, ist nach Gl. 75.6 σ φ = σ 1 . In der beschriebenen Weise werden mehrere
Messungen über der Biegehöhe durchgeführt.
588 75 V75 Röntgenographische Eigenspannungsbestimmung
Weiterführende Literatur
[Tie-80] Tietz, H.-D.: Grundlagen der Eigenspannungen. VEB Grundstoffindustrie, Leipzig (1980)
[Spi-05] Spieß, L., Schwarzer, R., Behnken, H., Teichert, G.: Moderne Röntgenbeugung. B.G. Teubner,
Wiesbaden (2005)
[DIN EN 15305:2005] Röntgendiffraktometrisches Prüfverfahren zur Ermittlung der Eigenspannun-
gen. Beuth-Verl., Berlin (2005)
V76 Mechanische Eigenspannungsbestimmung
76
76.1 Grundlagen
Ein einfaches Beispiel für Eigenspannungen I. Art (vgl. V75) bietet die umwandlungs-
freie Abschreckung eines Stahlzylinders von Temperaturen < 700 °C auf Raumtemperatur.
Dabei zeigen die oberflächennahen und die kernnahen Probenbereiche (vgl. Abb. 76.1a)
verschiedene Temperatur-Zeit-Kurven. Die nach der Abschreckung zunächst zunehmende
Temperaturdifferenz zwischen Oberflächen- und Kernbereich des Zylinders führt zu der
in Abb. 76.1b angegebenen anwachsenden Verspannung beider Zylinderteile. Die Span-
nungsverteilung gilt unter der Annahme, dass sich der Stahlzylinder während der Abküh-
lung auf Raumtemperatur linear elastisch verhält. Der in seiner Schrumpfung behinderte
Oberflächenbereich gerät in Längs- und Umfangsrichtung unter Zugspannungen, die beim
Erreichen der maximalen Temperaturdifferenz ΔT max ihren Höchstwert annehmen. Ent-
sprechende Druckspannungen in den Kernbereichen halten diesen das Gleichgewicht. Bei
der weiteren Abkühlung nehmen die Beträge der Kern- und Randspannungen wegen der
Reduzierung der Temperaturdifferenz zwischen Probenrand und -kern wieder ab und ge-
hen auf Null zurück, wenn der vollständige Temperaturausgleich erreicht ist. Diese als Folge
makroskopischer Temperaturunterschiede auftretenden Spannungen sind als Wärmespan-
nungen zu bezeichnen (V31). Sie verschwinden im beschriebenen Fall mit ΔT → 0 und
haben keine Eigenspannungen zur Folge.
In Wirklichkeit besitzen viele Stähle jedoch bei höheren Temperaturen relativ kleine
Streckgrenzen, so dass die beim Abschrecken entstehenden Wärmespannungen nicht mehr
rein elastisch aufgenommen werden können und zu plastischen Verformungen führen.
In Abb. 76.1c ist neben den Rand- und Kernspannungen auch die Warmstreckgrenze als
Funktion der Abkühlzeit und damit implizit auch als Funktion der Randtemperatur ein-
gezeichnet. Unter Vernachlässigung der Mehrachsigkeit des Wärmespannungszustandes
setzt bei ideal elastisch-plastischem Werkstoffverhalten plastische Verformung dann ein,
wenn die Wärmelängsspannungen die Streckgrenze erreichen. Diese Bedingung ist für den
Teil des Abkühlprozesses erfüllt, in dem hohe Wärmespannungswerte und hohe Tempera-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 589
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_76, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
590 76 V76 Mechanische Eigenspannungsbestimmung
turen gleichzeitig auftreten. Später versuchen Kern und Rand um den vollen Betrag gemäß
dem weiteren Temperaturabfall zu schrumpfen. Bei fortgeschrittener Abkühlung passen
dann aber die plastisch verformten Probenbereiche nicht mehr zusammen, so dass aus
76.1 Grundlagen 591
berechnen. Dabei ist E der Elastizitätsmodul und ν die Querkontraktionszahl. Die für r = ri
im Ausgangszustand wirksamen Umfangs- und Radialeigenspannungen ergeben sich aus
592 76 V76 Mechanische Eigenspannungsbestimmung
Abb. 76.2 Eigenspannungsverteilung für den in (a) gekennzeichneten Schnitt eines von 700 °C auf
20 °C in H2 O abgeschreckten Zylinders aus Ck 45 mit 80 mm Länge und 40 mm Durchmesser (vgl.
Text). b Längs-, c Umfangs-, d Radial- und e Schubeigenspannungen. Bei den längs einiger Radien
wiedergegebenen Verteilungen sind jeweils die positiven Eigenspannungskomponenten getönt her-
vorgehoben
76.2 Aufgabe
Ein Hohlzylinder aus S235JR (Bezeichnung nach EN 10025-2, alte Bezeichnung: St 37) mit
15 mm Innen-, 42 mm Außendurchmesser und 168 mm Länge wird 30 min bei 630 °C in
einem Salzbad oder Ofen geglüht und anschließend in Wasser von 20 °C abgeschreckt. Der
Werkstoff hat einen Elastizitätsmodul E = 210.000 MPa und eine Querkontraktionszahl
ν = 0,28. Die vorliegende Verteilung der Längs-, Umfangs- und Radialeigenspannungen ist
nach dem Ausbohrverfahren zu bestimmen.
76.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen stehen eine Drehmaschine, eine Temperiereinrichtung zur Erzeu-
gung konstanter klimatischer Bedingungen und eine Dehnungsmessbrücke zur Verfügung.
Ein Zylinder wird in der in Abschn. 76.2 erläuterten Vorgehensweise wärmebehandelt und
danach in Probenmitte jeweils auf den gegenüberliegenden Zylinderseiten mit je zwei Deh-
nungsmessstreifen in Längs- und Umfangsrichtung versehen. An den Dehnungsmessstrei-
fen werden Anschlussbuchsen angebracht, die eine Verbindung mit der Dehnungsmess-
brücke erlauben. Ein in dieser Weise vorbereiteter zweiter Zylinder, der für die eigentli-
chen Messungen dient, wurde bis auf einen Durchmesser von 15 mm bereits aufgebohrt.
Dieser Hohlzylinder wird sorgfältig in der Drehmaschine eingespannt und mit Hilfe der
Temperiereinrichtung auf T = 25 °C gebracht. Dann werden die einzelnen DMS der Mess-
brücke zugeschaltet, und es erfolgt jeweils der Brückenabgleich unter Registrierung der
Dehnungswerte (vgl. V22). Danach wird die Probe vorsichtig weiter ausgebohrt. Die da-
bei auftretenden Dehnungsänderungen werden gemessen. Da der Ausbohrversuch relativ
aufwendig ist, werden zwei Ausbohrschritte von je Δri = 1 mm vorgenommen, die dabei
auftretenden Dehnungsänderungen auf beiden Zylinderseiten bestimmt, gemittelt und mit
den in Tab. 76.1 angegebenen Messwerten verglichen. Bei ungefährer Übereinstimmung
der gemessenen mit den bereits registrierten Zahlenwerten werden der weiteren Auswer-
tung die Messwerte aus Tab. 76.1, die in einem getrennten Versuch mit 10 Ausbohrschritten
ermittelt wurden, zugrunde gelegt. Mit Hilfe von ΔεL (R) und ΔεU (R) und den Gln. 76.1–
76.3 werden σ L (ri ), σ U (ri ) und σ R (ri ) berechnet, in geeigneter Weise in einem Diagramm
aufgetragen und die Ergebnisse abschließend in einem Versuchsprotokoll diskutiert.
594 76 V76 Mechanische Eigenspannungsbestimmung
Tab. 76.1 Mit dem Ausbohrverfahren bei einem Hohlzylinder (Außendurchmesser 42 mm, Innen-
durchmesser 15 mm) erhaltene Messgrößen
Ausbohrschritt Messgrößen
ri Δri ΔεL (R) in 10−6 ΔεU (R) in 10−6
1 9,0 1,5 57,9 22,2
2 10,0 1,5 102,3 64,8
3 11,5 1,5 138,4 123,2
4 13,1 1,6 124,1 121,8
5 13,9 0,8 108,3 81,9
6 15,0 1,1 88,9 119,4
7 16,0 1,0 116,7 79,6
8 17,0 1,0 79,6 66,2
9 18,0 1,0 88,9 87,5
10 19,0 1,0 80,6 72,2
Weiterführende Literatur
[ASTME837:2008] ASTM Standard E837:2008: Standard Test Method For Determining Residual
Stresses by the Hole-Drilling-Method. American Society for Testing Materials, Philadelphia, Penn-
sylvania (2008)
[Fin58] Fink, K., Rohrbach, C. (Hrsg.): Handbuch der Spannungs- und Dehnungsmessung. VDI-
Verlag, Düsseldorf (1958)
[Hau82] Hauk, V., Macherauch, E. (Hrsg.): Eigenspannungen und Lastspannungen, moderne Ermitt-
lung, Ergebnisse, Bewertung. Härterei Techn. Mitt. Beiheft. (1982)
Weiterführende Literatur 595
[Klo08] Klocke, F., König, W.: Fertigungsverfahren 1. Drehen, Fräsen, Bohren, Kapitel 2: Fertigungs-
messtechnik und Werkstückqualität, 8. Aufl. Springer, Berlin, Heidelberg, New York (2008)
[Nob00] Nobre, J.P., Kornmeier, M., Dias, A.M., Scholtes, B.: Use of the hole-drilling method for
measuring residual stresses in highly stressed shot-peened surfaces. Experimental Mechanics 40(3),
289–297 (2000)
[Pei66] Peiter, A.: Eigenspannungen I. Art, Ermittlung und Bewertung. Triltsch-Verlag, Düsseldorf
(1966)
[Roh89] Rohrbach, C.: Handbuch für experimentelle Spannungsanalyse. VDI-Verlag, Düsseldorf
(1989)
[Yu77] Yu, H.-J.: Dr.-Ing. Dissertation, Titel: Berechnung von Abkühlungs-, Umwandlungs-,
Schweiß- sowie Verformungseigenspannungen mit Hilfe der Methode der Finiten Elemente, Uni-
versität Karlsruhe (TH) (1977)
V77 Kugelstrahlen von Werkstoffoberflächen
77
77.1 Grundlagen
Das „Strahlen eines Werkstoffes“ (oft einfach „Kugelstrahlen“ genannt) besteht im Be-
schuss seiner Oberfläche mit kleinen, hinreichend harten metallischen (Stahl, Stahlguss,
Temperguss, Hartguss, Draht) oder nichtmetallischen Teilchen (Glas, Korund, Keramik,
Aluminiumoxid). Die Beschleunigung der Teilchen des Strahlmittels auf die erforderliche
mittlere kinetische Energie erfolgt heute meistens pneumatisch in Druckluftanlagen oder
unter Ausnutzung von Fliehkräften in Schleuderradanlagen. Das Prinzip derartiger Strahl-
maschinen geht aus Abb. 77.1 hervor.
Strahlbehandlungen finden in der Werkstofftechnik vielfältige Anwendungen. Sie wer-
den zur Oberflächenverfestigung, zur Veränderung der Oberflächenfeingestalt, zur Erhö-
hung der Verschleiß-, der Wechsel- bzw. Dauerfestigkeit und der Korrosionsbeständigkeit,
zum Gussputzen, zum Entzundern sowie zum Umformen und Richten ausgenutzt. Demge-
mäß spricht man, je nach angestrebter Wirkung der Strahlbehandlung, z. B. auch von Fes-
tigkeitsstrahlen, Reinigungsstrahlen und Umform- bzw. Richtstrahlen. Die Schleuderrad-
maschinen ermöglichen einen hohen Durchsatz zu strahlender Teile (Strahlgut) und das
wirtschaftliche Strahlen großer Flächen. Die Strahlmittelgeschwindigkeit, die dabei meist
als Abwurfgeschwindigkeit vab angegeben wird, lässt sich über die Umdrehungsgeschwin-
digkeit des Schleuderrades regeln. Die Druckluftmaschinen ermöglichen das definierte
Strahlen von Teilen komplizierter Geometrie auch an geometrisch schwer zugänglichen
Stellen. Die mittlere Strahlmittelgeschwindigkeit wird über den Systemdruck p gesteuert.
Mehrere Kenngrößen haben sich für die Beurteilung einer Strahlbehandlung als wich-
tig erwiesen. So beeinflussen z. B. Art, Härte, Form, Größe und Größenverteilung der
Teilchen (Körner) das Ergebnis einer Strahlbehandlung. Zum Einsatz gelangen beim
Festigkeitsstrahlen von Eisenwerkstoffen Stahlgussgranulat oder arrondiertes Stahldraht-
korn, beim Putzstrahlen vielfach Hartgussgries oder auch Quarzsand. Beim Strahlen
von NE-Metallen finden Glasperlen und Strahlmittel aus Aluminiumoxid Anwendung.
Auch aufeinander folgende Strahlbehandlungen mit verschiedenen Strahlmitteln sind
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 597
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_77, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
598 77 V77 Kugelstrahlen von Werkstoffoberflächen
Abb. 77.1 Prinzipieller Aufbau einer Druckluft- (a) und einer Schleuderradstrahlanlage (b)
Man spricht von x-facher Überdeckung. In Abb. 77.3 ist gezeigt, wie sich die Ober-
flächenfeingestalt (vgl. V21) einer gehärteten und geschliffenen Probe aus Ck 45 durch
Bestrahlen mit 1-facher Überdeckung ändert.
Als „Strahlintensität“ müsste eigentlich die in der Zeiteinheit pro Flächeneinheit auf die
zu strahlende Werkstoffoberfläche einfallende Teilchenenergie angegeben werden. Davon
abweichend wird aber die gesamte an der gestrahlten Oberfläche abgegebene kinetische
Energie als Strahlintensität bezeichnet. Für sie gilt
Ihrer exakten Bestimmung stehen große Schwierigkeiten im Wege. Deshalb wird auf
empirischem Wege ein Maß der Strahlungsintensität festgelegt. Dazu wird die unter ein-
seitiger Bestrahlung bei einfacher Überdeckung auftretende Durchbiegung sog. „Almen-
Testplättchen“, die hinsichtlich Werkstoff, Abmessungen und Vorgeschichte genormt sind,
in mm gemessen und als „Almenintensität“ angegeben.
Bei jeder Strahlbehandlung wird ein Anteil der kinetischen Energie der Teilchen des
Strahlmittels in den oberflächennahen Bereichen des Strahlgutes umgesetzt zur Erzeugung
von elastischen und plastischen Formänderungen, Fehlordnungszuständen, neuen Ober-
flächen und Wärme sowie zum Transport entstehender Verschleißteilchen. Bei bestimmten
Werkstoffzuständen (z. B. Restaustenit in gehärteten Stählen) sind auch strahlinduzierte
Phasenumwandlungen möglich. Werkstücke erfahren deshalb durch Strahlen mikrostruk-
Abb. 77.3 Profilschriebe grobgeschliffener (a) und gestrahlter (b) Oberflächen von gehärtetem
Ck 45
600 77 V77 Kugelstrahlen von Werkstoffoberflächen
• der Härte als Maß für die randnahe Verfestigung (vgl. V8),
• der Halbwertsbreite von Röntgeninterferenzlinien als Maß für die Mikroeigenspannun-
gen (vgl. V75),
• der Makroeigenspannungen als Maß der makroskopisch inhomogenen plastischen
Randverformungen (vgl. V75),
• der Phasenanteile als Maß für Umwandlungsvorgänge (vgl. V16),
• der Masse als Maß für den absoluten Verschleiß und
• der Rautiefe bzw. des arithmetischen Mittenrauwertes als Maß für Topographieände-
rungen (vgl. V21).
Die genannten Messgrößen und deren Änderungen hängen von Art und Zustand
des Strahlgutes sowie von den angewandten Strahlbedingungen ab. Als Beispiel sind in
Abb. 77.4 die vor und nach dem Strahlen von blindgehärteten Flachproben aus 16MnCr5
vorliegenden Eigenspannungsverteilungen in den randnahen Werkstoffbereichen wieder-
gegeben. Es bilden sich oberflächennahe Druckeigenspannungen aus. Der Höchstwert
der Druckeigenspannungen tritt, aufgrund des Hertzschen Kontaktes beim Auftref-
fen der Partikel auf die Oberfläche, unterhalb der Probenoberfläche auf. Er verschiebt
sich mit wachsender Abwurfgeschwindigkeit, solange Rissbildungen in den äußersten
Werkstoffbereichen ausbleiben, ins Werkstoffinnere. Gleichzeitig wächst, bei konstanter
Randeigenspannung, die Größe der von Druckeigenspannungen beaufschlagten Rand-
zone an. Bei den beschriebenen Befunden war d̄ = 0,6 mm und die Überdeckung 1-fach.
77.2 Aufgabe 601
77.2 Aufgabe
Für je zwei Prüfplättchen aus Ck 22 sind nach drei aufeinander abgestimmten Strahlbe-
handlungen der Gewichtsverlust, die Änderung der Oberflächenrauheit und der Ober-
flächenhärte sowie die Probendurchbiegung zu bestimmen. Vor und nach der Strahlbe-
602 77 V77 Kugelstrahlen von Werkstoffoberflächen
handlung ist eine Korngrößenanalyse des Strahlmittels vorzunehmen. Die Ursache der
Probendurchbiegung ist modellhaft zu begründen.
77.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche steht die in Abb. 77.8 skizzierte (oder eine andere) Strahleinrichtung zur
Verfügung. Das siebanalysierte Strahlmittel wird von einem achtschaufeligen Schleuder-
rad, das mit 800 min−1 umläuft, auf die an den kreisförmig angeordneten Prallplatten befes-
tigten Prüfplättchen geschleudert. Die abgeprallten Körner fallen durch einen Trichter auf
ein Förderrad, das sie wieder dem Schleuderrad zuführt. Eine mit einem Sieb gekoppelte
Saugeinrichtung entfernt alle Körnungen mit d < 0,02 mm. Die vor der Strahlung gewoge-
nen sowie hinsichtlich Härte (vgl. V8), Rautiefe (vgl. V21) und Durchbiegung vermessenen
Probenplättchen werden nach abgestuften Strahlzeiten aus der Maschine entnommen und
erneut vermessen. Die Messwerte werden als Funktion der Strahlzeit bzw. der abgeschätz-
ten Überdeckung aufgetragen und erörtert.
77.4 Symbole, Abkürzungen 603
Weiterführende Literatur
[Mac80] Macherauch, E., Wohlfahrt, H., Schreiber, R.: HFF-Bericht Bd. 6. Hannoversches For-
schungsinstitut für Fertigungsfrage e. V., Hannover (1980)
[Ges79] Gesell, W.: Verfahren und Kennwerte der Strahlmittelprüfung. VDG, Düsseldorf (1979)
[Sta81] Starker, P.: Dr.-Ing. Dissertation, Titel: Der Größeneinfluß auf das Biegewechselverhalten
von Ck 45 in verschiedenen Bearbeitungs- und Wärmebehandlungszuständen, Universität Karlsruhe
(1981)
[Sch10] Schneidau, V.: Strahlen von Stahl, Stahl-Informations-Zentrum, Merkblatt 212 (2010)
V78 Grobstrukturuntersuchung mit
Röntgenstrahlen 78
78.1 Grundlagen
Mit Hilfe von Röntgenstrahlen lassen sich in Werkstücken und Bauteilen makroskopische
Fehlstellen, Einschlüsse, Seigerungen, Gasblasen, Risse und Fügungsfehler nachweisen,
wenn diese lokal eine gegenüber dem Grundmaterial veränderte Strahlungsschwächung
ergeben. Man spricht von Grobstrukturuntersuchungen. Als Strahlungsquellen dienen da-
bei Grobstrukturröntgenröhren mit Wolframanoden. Ausgenutzt wird das kontinuierliche
Röntgenspektrum (vgl. V5), das beim Abbremsen der unter der Wirkung großer Beschleu-
nigungsspannungen auf die Anode auffallenden Elektronen entsteht. Abbildung 78.1 zeigt,
wie sich die Intensitätsverteilung der Bremsstrahlung einer Wolframanode mit der Be-
schleunigungsspannung ändert. Die charakteristischen Eigenstrahlungen K α und K β mit
Quantenenergien von 59 und 67 keV (vgl. V5) sind nicht mit eingezeichnet. Mit wachsen-
der Beschleunigungsspannung treten immer kurzwelligere Strahlungsanteile auf.
Röntgenstrahlen werden beim Durchgang durch Materie geschwächt. Fällt auf einen
homogenen Werkstoff der Dicke D ein ausgeblendetes Röntgenbündel der Intensität J 0 auf,
so liegt hinter dem Werkstoff (vgl. Abb. 78.2a) noch die Intensität
J = J ⋅ exp(−μ ⋅ D) (78.1)
vor. μ ist der mittlere lineare Schwächungskoeffizient, der von den Wellenlängen der
Röntgenstrahlung und der chemischen Zusammensetzung des durchstrahlten Materials
abhängt. Enthält der homogene Werkstoff der Dicke D, wie in Abb. 78.2b angenommen,
einen quaderförmigen Hohlraum der Dicke d, so wird an dieser Stelle die Primärstrahlin-
tensität J 0 hinter dem Werkstoff auf die Intensität
abgesenkt.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 605
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_78, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
606 78 V78 Grobstrukturuntersuchung mit Röntgenstrahlen
Man erhält daher auf dem Röntgenfilm hinter dem Hohlraumbereich eine stärkere
Filmschwärzung als hinter den seitlich angrenzenden Werkstoffbereichen. Je stärker das
Verhältnis der beiden Intensitäten
J
= exp (μ ⋅ d) (78.3)
J
von 1 abweicht, umso stärker ist der auf dem Röntgenfilm auftretende Schwärzungsunter-
schied und umso besser lässt sich die Lage des Hohlraumes erkennen. Bei gegebenem d ist
also ein möglichst großer Schwächungskoeffizient μ des Untersuchungsmaterials günstig.
In Gl. 78.3 geht die Werkstoffdicke D nicht ein. Dementsprechend sollte sich bei gegebener
Fehlerausdehnung d das Intensitätsverhältnis als unabhängig von der Objektdicke erwei-
sen. Das entspricht jedoch nicht der Erfahrung. Wegen der unvermeidbaren Streustrah-
lung, die vom primären Röntgenbündel im Objekt und in der Objektumgebung erzeugt
wird, beträgt die Grenzdicke eines Fehlers, der noch aufgelöst werden kann, etwa 1 % der
durchstrahlten Dicke. Denkt man sich den Hohlraum in Abb. 78.2b mit einer Substanz x
gefüllt, die den Schwächungskoeffizienten μx besitzt, dann wird
Masse-% A μA Masse-% B μB
μ=[ ⋅ + ⋅ + . . .] ⋅ ρ. (78.6)
% ρA % ρB
S − S
γ= (78.7)
log B − log B
versteht man den Anstieg der sog. Schwärzungskurve, die, wie in Abb. 78.4 skizziert, den
Zusammenhang zwischen Filmschwärzung S und dem Logarithmus der Belichtung B (Pro-
dukt aus Belichtungszeit t und Strahlungsintensität J) beschreibt. S0 ist die sog. Schleier-
schwärzung. Je größer die Gradation ist, umso stärker ist bei gegebenem Intensitätsverhält-
nis der Schwärzungsunterschied und damit der Kontrast. Gleichzeitig verringert sich aber
mit wachsender Gradation der Belichtungsspielraum des Röntgenfilmes. Die Bildqualität
wird ferner von der erwähnten Streustrahlung beeinflusst, die in jedem von Röntgenstrah-
len getroffenen Körper entsteht und bei größeren Objektabmessungen zu einer merklichen
Bildverschleierung führt. Eine Verminderung der Streustrahlenwirkung wird durch eine
möglichst enge Begrenzung des Primärstrahlbündels erreicht. Die im Werkstück bei der
Schwächung der Röntgenstrahlen entstehenden Photo- und Compton-Elektronen tragen
ebenfalls in unerwünschter Weise zur Filmschwärzung bei. Man verhindert ihre Wirkung
durch Anwendung kombinierter Blei- und Zinnfolien, die (vgl. Abb. 78.5) zwischen Objekt
und Röntgenfilm gelegt werden. Solche Metallfolien werden bei Untersuchungen von Stahl
ab Dicken von 50 mm angewandt.
78.1 Grundlagen 609
Außer von den bisher angesprochenen Faktoren wird die Güte von Röntgendurchstrah-
lungsaufnahmen vor allem auch durch die Zeichenschärfe bestimmt. Die Zeichenschärfe
ist dann am größten, wenn die geometrisch bedingte Randunschärfe, die Bewegungsschär-
fe des Objektes sowie die innere Unschärfe des Filmes möglichst kleine Werte annehmen
und von vergleichbarer Größe sind. Unter der inneren Unschärfe U i versteht man die
kleinste Abmessung eines Werkstofffehlers, die vom Filmmaterial noch aufgelöst werden
kann. Im Allgemeinen ist ein Kompromiss zwischen Filmempfindlichkeit und innerer Un-
schärfe zu treffen, weil empfindlichere Filmmaterialien größere innere Unschärfen haben.
Die geometrische Unschärfe U g ist durch die Aufnahmeanordnung und die räumliche
Ausdehnung der Strahlenquelle bestimmt. Abbildung 78.6 veranschaulicht die Entstehung
einer Randunschärfe als Folge der Ausdehnung H des Halbschattengebietes rings um einen
abzubildenden Fehler. Das Halbschattengebiet H wird umso kleiner, je kleiner der Brenn-
fleck F der Röntgenröhre, je kleiner die Entfernung b Fehler/Film und je größer die Ent-
b
H = Ug = ⋅ F. (78.8)
(e − b)
Abb. 78.8 Belichtungsdiagramme für Eisen- (a) und Aluminiumbasislegierungen (b). Filmschwär-
zung S = 1.5, FA = 70 mm, Bleifolienverstärkung, Gleichspannungsröntgenanlage
612 78 V78 Grobstrukturuntersuchung mit Röntgenstrahlen
Bildgütezahl. Für gegebene Objektdicken wurden in DIN EN 462 bei Eisenwerkstoffen zwei
Bildgüteklassen festgelegt, deren Bildgütezahlen durch die folgenden Drahtstegdurchmes-
ser bestimmt sind:
Für praktische Grobstrukturuntersuchungen der wichtigsten Werkstoffgruppen sind im
Laufe der Zeit Belichtungsdiagramme erstellt worden. Sie enthalten die zur Erzeugung ei-
ner guten Durchstrahlungsaufnahme erforderlichen Daten. Bei den Beispielen in Abb. 78.8
sind über der Objektdicke die bei bestimmten Röhrenspannungen (kV) erforderlichen
Belichtungsgrößen als Produkte aus Röhrenstrom (mA) und Belichtungszeit (min) auf-
getragen. Die Kurven gelten für den in der Praxis üblichen Abstand Film/Brennfleck (Fo-
kusabstand FA) von 70 cm.
78.2 Aufgabe
Bei einem quaderförmig begrenzten Bauteil aus einer Aluminiumbasislegierung sind die
Koordinaten und die Größen eingelegter Stahlkugeln zu bestimmen, und zwar einmal mit
versetzter Strahlungsquelle und einmal mit versetztem Film. Ferner ist die Gütezahl der
Durchleuchtungsaufnahmen zu ermitteln.
78.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine Grobstruktur-Röntgenanlage (vgl. Abb. 78.9) mit einer
maximalen Betriebsspannung von 160 kV und einem maximalen Röhrenstrom von 20 mA
zur Verfügung. Das Objekt wird zunächst in der aus Abb. 78.10a ersichtlichen Weise nach-
einander in zwei Stellungen 1 und 2 unter Verwendung desselben Filmes durchstrahlt. Die
Tiefenlage h des Fehlers ergibt sich auf Grund der vorliegenden Geometrie zu
x⋅e
h= (78.10)
(l + x)
wobei l die Strecke ist, um die das Prüfobjekt mit Film relativ zur Röntgenröhre ver-
schoben wird. x ist der Abstand der Fehlstellen auf dem Film nach Doppelbelichtung. Die
erforderlichen Belichtungsdaten sind Abb. 78.8 zu entnehmen. Vor der jeweiligen Belich-
tung sind Drahtstege DIN Al 10/16 auf die filmferne Objektseite aufzulegen. Anschließend
wird eine weitere Durchstrahlung bei konstanter Filmlage mit versetzter Röntgenröhre
durchgeführt. Abbildung 78.10b zeigt die dann gültigen geometrischen Verhältnisse. Mit
614 78 V78 Grobstrukturuntersuchung mit Röntgenstrahlen
den dort benutzten Bezeichnungen ergibt sich die Tiefenlage des Fehlers ebenfalls nach
Gl. 78.10. Die Aufnahmegüte wird auf Grund der Drahtstegerkennbarkeit unter Zuhilfe-
nahme ähnlicher Angaben wie in Tab. 78.1 festgelegt.
Weiterführende Literatur
[Glo85] Glocker, R.: Materialprüfung mit Röntgenstrahlen, 5. Aufl. Springer, Berlin (1985)
[Kol70] Kolb, K., Kolb, W.: Grobstrukturprüfung mit Röntgen und γ-Strahlen. Vieweg, Braunschweig
(1970)
[NN] DIN EN 444; DIN EN 462 1994-03 DIN 54112
V79 Metallographische und mechanische
Untersuchungen von Schweißverbindungen 79
79.1 Grundlagen
Schweißen ist ein Fügeverfahren, das zu stoffschlüssigen Verbindungen führt. Dabei wer-
den unter Einwirkung von thermischer Energie und/oder Druck Werkstoffe mit oder oh-
ne artgleichen Zusätzen miteinander verbunden. Die Güte einer Schweißverbindung wird
durch den Grundwerkstoff und dessen Vorbehandlung, den Zusatzwerkstoff, die Schweiß-
nahtvorbereitung, das Schweißverfahren, die Schweißbedingungen und die Nachbehand-
lung bestimmt. Bei der quantitativen Qualitätsprüfung von Schweißverbindungen werden
praktisch alle dafür brauchbaren Methoden der Werkstoffprüfung angewandt. Im Folgen-
den wird – unter Beschränkung auf Schmelzschweißverfahren – nur auf die metallogra-
phische und auf Teilaspekte der mechanischen Untersuchung von Schweißnähten einge-
gangen, die durch Verbindungsschweißen gleicher Werkstoffe entstanden sind. Über die
wichtigsten Schmelzschweißverfahren gibt Tab. 79.1 eine schematische Übersicht.
Je nach Verfahren, Wanddicke, Position und geometrischen Gegebenheiten werden bei
technischen Bauteilen unterschiedliche Schweißnahtformen ausgeführt. Abbildung 79.1
fasst einige Grundtypen mit den dafür vereinbarten Namen zusammen. Derartige Verbin-
dungen können z. B. mit dem Gas- oder den verschiedenartigsten Lichtbogenschweißver-
fahren hergestellt werden.
Durch lokale Energiezufuhr wird der Grundwerkstoff und ggf. ein Zusatzwerkstoff
(Schweißdraht) an der beabsichtigten Verbindungsstelle aufgeschmolzen und dem angren-
zenden Grundwerkstoff eine inhomogene und zeitlich veränderliche Temperaturverteilung
aufgezwungen. Nach einer relativ kurzen, vom gewählten Verfahren abhängigen Zeit
wird dem entstandenen Schmelzbad (Schweiße, Schweißgut) und den die Schmelze hal-
tenden benachbarten Werkstoffbereichen von außen keine weitere thermische Energie
mehr zugeführt. Die Schweiße und ihre unaufgeschmolzenen Nachbarbereiche kühlen auf
Raumtemperatur ab. Die an die aufgeschmolzene Zone angrenzenden Werkstoffbereiche,
in denen während der Aufheiz- und Abkühlzeit mikroskopisch oder submikroskopisch
nachweisbare Veränderungen der Ausgangsgefügestruktur auftreten, werden wärmebe-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 615
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_79, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
616 79 V79 Metallographische und mechanische Untersuchungen von Schweißverbindungen
einflusste Zonen oder kurz Wärmeeinflusszonen (WEZ) genannt. Abbildung 79.2 zeigt
schematisch die auftretenden Verhältnisse.
Eine Schmelzschweißverbindung umfasst also stets eine Schweißgutzone (SZ), die meist
als „die Schweißnaht“ angesprochen wird, und zwei Wärmeeinflusszonen. SZ und WEZ
sind durch Schmelzlinien (SL) voneinander getrennt. An den SZ-nahen Seiten der WEZ
können Grobkornzonen (GZ) auftreten. Die Breiten der SZ und der WEZ sind dabei ab-
hängig von dem Schweißverfahren, der zugeführten Energie, dem Zusatzwerkstoff, der
618 79 V79 Metallographische und mechanische Untersuchungen von Schweißverbindungen
Nahtform sowie den Abmessungen und den Eigenschaften des Grundwerkstoffes. Grund-
sätzlich treten als Folge des Schweißens Eigenspannungen auf (Schweißeigenspannungen).
SZ und WEZ bestimmen die Güte einer Schweißverbindung. Bei der Aufheizung und
der Abkühlung durch den Schweißvorgang durchläuft jedes räumliche Element der SZ und
der WEZ einer einlagigen Schweißverbindung einen charakteristischen Temperatur-Zeit-
Zyklus. Bei Mehrlagenschweißungen (Abb. 79.3) wird jeweils der oberflächennahe Teil
der SZ der vorangegangenen Lage erneut aufgeschmolzen und der oberflächenferne Teil
zur WEZ der gerade gefertigten Lage. Bestimmte Bereiche der Schweißverbindung erfah-
ren also mehrfache und nicht miteinander übereinstimmende Temperatur-Zeit-Zyklen in
verschiedener Reihenfolge. Die beim Schweißen im Werkstoff ablaufenden werkstoffkund-
lichen Prozesse sind daher äußerst komplex. Die sich ausbildenden Makro- und Mikroge-
fügezustände sind durch Nichtgleichgewichtsvorgänge charakterisiert. Sie lassen sich des-
halb nicht oder höchstens bedingt an Hand von Zustandsschaubildern beurteilen. Trotz-
dem ist der Rückgriff auf diese Diagramme zum Erkennen der grundsätzlichen Zusam-
menhänge sehr nützlich. Davon wird nachfolgend Gebrauch gemacht. Insbesondere sind
Zustandsdiagramme für die Beurteilung von Schmelzschweißverbindungen zwischen un-
terschiedlichen Werkstoffen unerlässlich. Ist beispielsweise die Bildung intermetallischer
Verbindungen zu erwarten, dann ist wegen deren Sprödigkeit selten eine ausreichende
Schweißnahtgüte zu erreichen.
In Abb. 79.4 sind unter Zuhilfenahme der aluminiumreichen Seite des Zustandsdia-
gramms Al-Mg die zu erwartenden Verhältnisse skizziert, wenn Reinaluminium oder
AlMg5 stumpfgeschweißt und sich dabei wie unter Gleichgewichtsbedingungen verhalten
würde. Für Al (links) und für AlMg5 (rechts) sind hypothetische Temperaturverteilungen
T(x) angegeben, mit deren Hilfe auf Grund des Zustandsdiagrammes für jeden Werkstoff-
79.1 Grundlagen 619
Abb. 79.4 Zur Beurteilung der Schweißnahtausbildung bei Reinaluminium und bei der Legierung
AlMg5 anhand des Zustandsdiagramms Al-Mg
anfälliger ist als der möglicherweise nahtnäher entstandene Martensit. Bei hinreichend
langsamer Abkühlung wandeln sich natürlich die in diesem Werkstoffbereich entstande-
nen Austenitkörner wieder perlitisch um. Schließlich laufen dort, wo sich Temperaturen
zwischen der eutektoiden und der Rekristallisations-Temperatur einstellen, Rekristallisa-
tionsprozesse ab, falls die zu schweißenden Teile kaltverfestigt vorliegen. Die WEZ wird
somit nach außen durch die Probenbereiche begrenzt, die T = T R ≈ 0,4 T S [K] erreichen.
Allerdings können in den noch weiter außen liegenden Probenbereichen, in denen T < T R
ist, noch Alterungserscheinungen (vgl. V26) auftreten und die lokalen mechanischen Ei-
genschaften verändern.
Die erörterten Vorgänge bei der Schweißung können je nach den tatsächlich vorlie-
genden Bedingungen in der SZ und in der WEZ zur Ausbildung recht unterschiedlicher
Gefügezustände und dementsprechenden mechanischen Eigenschaften führen. Beispiels-
weise kann bei einem kaltverformten unlegierten Stahl der im unteren Teil von Abb. 79.6
skizzierte Härteverlauf auftreten, wenn artgleich geschweißt wird. Dabei ist im Falle der
schnellen Abkühlung angenommen, dass lokal die zur Martensit- oder Bainit-Bildung not-
wendige Abkühlgeschwindigkeit erreicht wurde und am Rande der WEZ merkliche Rekris-
79.1 Grundlagen 623
0,6
rissgefährdet
Kohlenstoffäquivalent [%]
0,5
HV=350
0,4
0,3
betriebssicher HV=250
0,2
0,1
0
0 6 12 18 24 30 36 42 48 54
Blechdicke [mm]
tallisation einsetzte. Bei langsamer Abkühlung ist dagegen nur eine leichte Absenkung der
Härtewerte längs der Messstrecke zu erwarten. Bei schmalen Nähten ohne Wärmestau in
der Nahtmitte (z. B. beim Elektronenstrahlschweißen) können auch zentrale Härtespitzen
in der Schweißgutzone auftreten. Bei niedrig legierten Baustählen liegen die Härtemaxima
seitlich von der Schmelzlinie in der Grobkornzone.
Die Herstellung guter Schweißnähte wird mit zunehmendem Kohlenstoffgehalt und
zunehmendem Gehalt an Legierungselementen, die die Härtbarkeit (vgl. V34) steigern,
schwieriger. Unlegierte Stähle mit Kohlenstoffgehalten > 0,4 Masse-% müssen vor Schweiß-
beginn vorgewärmt werden. Bezüglich der kleinstmöglichen Vorwärmtemperatur kann
man sich an der Martensitstarttemperatur (vgl. V15) orientieren. Die Beurteilung der Auf-
härtungsneigung legierter Stähle erfolgt oft auf Grund eines empirisch festgelegten Koh-
lenstoffäquivalents Cäqu , wofür mehrere quantitative Ansätze vorliegen. Häufig wird mit
Mn Cr + Mo + V Ni + Cu
Cäqu = C + + + [Masse-%] (79.1)
gerechnet, wobei die einzelnen Elementsymbole die Bedeutung Masse-% einschließen. Lie-
gen Cäqu -Werte > 0,4 Masse-% vor, so werden Vorwärmungen vorgenommen. Die tatsäch-
lich auftretenden Abkühlgeschwindigkeiten sind aber auch von der Blechdicke abhängig.
Deshalb ist bei gegebenem Cäqu die Aufhärtung blech- bzw. wanddickenabhängig. Abbil-
dung 79.7 zeigt die bei bestimmten Blechdicken für niedrig legierte Stähle erforderlichen
Kohlenstoffäquivalente, bei denen erfahrungsgemäß betriebssichere bzw. rissgefährdete
Schweißungen zu erwarten sind.
Über die tatsächlich in den Schweißverbindungen vorliegenden Gefüge lassen sich
selbstverständlich nur an Hand der lokal auftretenden Temperatur-Zeit-Verläufe und der
diesen zuzuordnenden Umwandlungsvorgänge genaue Aussagen machen. Das läuft auf die
Ermittlung schweißspezifischer Zeit-Temperatur-Umwandlungsschaubilder hinaus (vgl.
624 79 V79 Metallographische und mechanische Untersuchungen von Schweißverbindungen
Abb. 79.8 Schweiß-ZTU-Diagramm von S 355 J2 G3 für eine Spitzentemperatur von 1350 °C
V33). Man hat deshalb mit Hilfe von Testproben, die in geeigneten Apparaten lokal schnell
(4 bis 8 s) auf hinreichend hohe Temperaturen erhitzt wurden, so genannte Schweiß-ZTU-
Diagramme entwickelt. In Abb. 79.8 ist als Beispiel ein solches Diagramm für einen wet-
terfesten Feinkornbaustahl vom Typ S 355 J2 G3 (vormals St 52-3) wiedergegeben. Es ist
als „kontinuierliches ZTU-Diagramm“ längs der einzelnen Abkühlungskurven zu lesen.
Vielfach werden auf Grund derartiger Messungen die Zeiten
und
K = [t ○ C − t A ] Vol.-% (79.3)
ermittelt, in denen beim Durchlaufen des Temperaturintervalls zwischen A3 und 500 °C
entweder 30 oder 50 Vol.-% Martensit entstehen. So gelangt man zu Beurteilungskriterien
für zulässige Abkühlzeiten. Man tendiert dazu, 30 Vol.-% Martensit zu tolerieren, wenn
keine Machbehandlung der Schweißverbindungen erfolgt. 50 Vol.-% Martensit lässt man
zu, wenn nach dem Schweißen eine Spannungsarmglühung der Schweißverbindung vor-
gesehen ist (vgl. V32).
Solche Spannungsarmglühungen dienen dazu, die nach jeder Schweißung unver-
meidbar auftretenden Eigenspannungen durch Zufuhr thermischer Energie abzubauen.
Vorhandener Martensit wird dabei in das der Werkstoffzusammensetzung entsprechende
Gleichgewichtsgefüge übergeführt (vgl. V35). Die nach einer Stumpfschweißung dünner
Bleche vorliegenden Verteilungen der Längs- und Quereigenspannungen sind in Abb. 79.9
schematisch angegeben. In der Naht treten in Längsrichtung und – abgesehen von den
Blechrändern – auch in Querrichtung Zugeigenspannungen auf. Die Beträge der σ x (y)-
79.2 Aufgabe 625
Abb. 79.9 Verteilung der Längseigenspannungen (b) und Quereigenspannungen (c) in verschiede-
nen Bereichen einer stumpfgeschweißten Platte (a)
79.2 Aufgabe
79.3 Versuchsdurchführung
Die Untersuchung der Gefügeausbildung erfolgt mit den Hilfsmitteln der Metallographie
(vgl. V7). Dazu werden durch Vertikalschnitte aus den Platten Werkstoffbereiche heraus-
getrennt, die die Schweißverbindungen im Querschnitt enthalten. Danach erfolgt die not-
wendige Schleif-, Polier- und Ätzbehandlung. Die Gefügeentwicklung erfolgt mit einem
Ätzmittel der Zusammensetzung 25 cm3 dest. H2 O, 50 cm konz. HCl, 15 mg FeCl3 (Eisen-
III-chlorid) und 5 g CuCl2 ⋅ NH4 Cl ⋅ 2H2 O (Kupferammoniumchlorid). Dabei ist das Kup-
ferammoniumchlorid zunächst in H2 O und das Eisenchlorid in HCl zu lösen, bevor beide
Lösungen vermischt werden. Nach der lichtmikroskopischen Betrachtung der angeätzten
Schweißverbindung werden die Härteverteilungen quer zur Naht in verschiedenen Höhen
gemessen. Die Härteverläufe werden mit der Gefügeausbildung verglichen. Ferner werden
Zugversuche (vgl. V23) mit Proben durchgeführt, die senkrecht zur Schweißnaht und in-
nerhalb der SZ parallel zu dieser entnommen werden. Danach wird für die Schweißplatten
ein Probenentnahmeplan entworfen, der Experimente zur Bestimmung der Kerbschlag-
zähigkeit in der SZ und an definierten, vorher festgelegten Stellen der WEZ ermöglichen
626 79 V79 Metallographische und mechanische Untersuchungen von Schweißverbindungen
soll. Nach Durchführung der Kerbschlagversuche mit ISO V-Proben (vgl. V46) werden al-
le erhaltenen mechanischen Kenngrößen mit denen des Grundwerkstoffs verglichen und
diskutiert.
Weiterführende Literatur
80.1 Grundlagen
Defekte mit Röntgen- oder γ-Strahlen ist von der Größe, der Form und der Orientierung
der Fehler zur Durchstrahlungsrichtung abhängig. Meistens sind nur die senkrecht oder
schwach geneigt zur Plattenebene liegenden Fehler mit hinreichender Tiefenausdehnung
in Durchstrahlungsrichtung nachweisbar. Parallel zur Durchstrahlungsrichtung orientierte
Fehler werden nur erfasst, wenn sie mit einer relativ großen Spaltbreite > 1,5 % der Platten-
dicke verbunden sind. Auch lassen sich bei den üblichen Messungen, die meistens mit einer
fixierten Lage von Strahlungsquelle und Film erfolgen, keinerlei Aussagen über die Tiefen-
lage der Fehler und deren Ausdehnung in Durchstrahlungsrichtung machen. Häufig ist der
erfahrene Schweißnahtprüfer jedoch in der Lage, aus Form und Lage der Fehlerabbildung
auf dem Film auf den Ursprungsort innerhalb der Schweißverbindung zu schließen (vgl.
dazu auch Abb. 80.4). Beispiele fehlerhafter Schweißverbindungen und deren zugeordnete
Röntgenaufnahmen geben die in Abb. 80.3 zusammengestellten Durchstrahlungsbilder.
Mit angegeben sind jeweils schematische Schnitte durch die zugehörigen Schweißnähte.
Die Abb.er zeigen bei a) einen scharfen Flankenriss, bei b) einen scharfen Anriss längs der
Naht, bei c) stark zurückgefallene Wurzelbereiche, bei d) starke Wurzeldurchbrüche und
bei e) grobe Porenanhäufungen.
Damit die Beurteilung von Schweißverbindungen in einheitlicher Weise erfolgt, sind auf
nationaler und internationaler Ebene mehrere Vorschläge für die systematische Einteilung
und Benennung der möglichen Fehler bei Schmelzschweißverbindungen entwickelt wor-
den. Einige der für V-Nähte vom IIW (International Institute of Welding) und nach DIN
EN ISO 6520 festgelegten Ordnungsnummern und Benennungen von Schweißfehlern sind
in Abb. 80.4 zusammengefasst. Sie sind jeweils ergänzt durch schematische Skizzen der
80.2 Aufgabe 629
80.2 Aufgabe
80.3 Versuchsdurchführung
der filmfernen Seite der Schweißverbindung wird die Belichtung vorgenommen. Anschlie-
ßend werden zwei weitere Filmkassetten belichtet, und zwar mit um 50 kV größeren und
50 kV kleineren Röhrenspannungen als in DIN EN 12681 für die Prüfklasse B empfohlen.
Während der Durchstrahlungen sind die einschlägigen Bedingungen des Strahlenschutzes
nach DIN 54115 zu beachten.
Nach der Belichtung werden die Filme in der Dunkelkammer den Kassetten entnom-
men, entwickelt, fixiert, gewässert und getrocknet. Danach werden sie auf einen Lichtkas-
ten gelegt und zusammen mit den vorliegenden Röntgenaufnahmen der anderen Schweiß-
verbindungen betrachtet und nach DIN EN ISO 15614 beurteilt. Die Ergebnisse der Prü-
fungen werden in Protokollen der in Abb. 80.5 gezeigten Form festgehalten.
80.3 Versuchsdurchführung 631
Weiterführende Literatur
[Bar09] Bargel, H.-J., Schulze, G.: Werkstoffkunde, 10. Aufl. Springer, Berlin (2009)
[DIN 54115 Teil 1-6:06-09] Zerstörungsfreie Prüfung – Strahlenschutzregeln für die technische An-
wendung umschlossener radioaktiver Stoffe, Teil 1–7, Beuth Verlag, Berlin (2006–2009)
[DIN EN 12681:03-06] Gießereiweisen – Durchstrahlungsprüfung, Ersatz für DIN 54111-2, Beuth
Verlag, Berlin (2003–2006)
[DIN EN 25580:92-06] Zerstörungfreie Prüfung, Betrachtungsgeräte für die industrielle Radiogra-
phie, Minimale Anforderungen, Beuth Verlag, Berlin (1992–2006)
[DIN EN 444:1994-04] Zerstörungsfreie Prüfung, Grundlagen für die Durchstrahlungsprüfung von
metallischen Werkstoffen mit Röntgen- und Gammastrahlen, Beuth Verlag, Berlin (1994)
[DIN EN 462 Teil 1-5: 94-96] Zerstörungsfreie Prüfung, Bildgüte von Durchstrahlungsaufnahmen,
Teil 1-5, Ersatz für DIN 54109-1, Beuth Verlag, Berlin (1994–1996)
[DIN EN 584 Teil 1-2: 97-06] Zerstörungsfreie Prüfung, Industrielle Filme für die Durchstrahlprü-
fung, Teil 1–2, Beuth Verlag, Berlin, (1997–2006)
[DIN EN ISO 15614 Teil 1-13:02-08] Anforderung und Qualifizierung von Schweißverfahren für
metallische Werkstoffe – Schweißverfahrensprüfung, Teil 1–13, Beuth Verlag, Berlin, (2002–2008)
[DIN EN ISO 6520 Teil 1-2:02-07] Schweißen und verwandte Prozesse – Einteilung von geometri-
schen Unregelmäßigkeiten an metallischen Werkstoffen – Teil 1–2, Beuth Verlag, Berlin (2002–2007)
[Dub07] Dubbel, H.: Dubbel. Taschenbuch für den Maschinenbau, 22. Aufl. Springer, Berlin (2007)
[Ils05] Ilschner, B., Singer, R.F.: Werkstoffwissenschaften und Fertigungstechnik: Eigenschaften, Vor-
gänge, Technologien, 4. Aufl. Springer, Berlin (2004)
[Wei07] Weißbach, W.: Werkstoffkunde. Strukturen, Eigenschaften, Prüfung, 16. Aufl. Vieweg, Wies-
baden, S. 398–400 (2007)
V81 Schadensfalluntersuchung
81
81.1 Grundlagen
Bauteile der technischen Praxis werden üblicherweise so bemessen, dass sie unter den
zu erwartenden Beanspruchungen und Umgebungsbedingungen nicht versagen. Trotz-
dem kommen die verschiedenartigsten Konstruktions-, Werkstoffauswahl-, Werkstoffbe-
handlungs- und Fertigungsfehler vor, die zusammen mit unvollkommen eingeschätzten
Beanspruchungseinflüssen und Betriebsfehlern lebensdauerbegrenzend für einzelne Bau-
teile wirken. Es treten Schadensfälle auf, die – ganz abgesehen von den wirtschaftlichen
Konsequenzen – oft Folgeschäden (im schlimmsten Falle mit der Gefährdung von Men-
schenleben) bewirken und stets Reparaturen oder Ersatzbeschaffungen nach sich ziehen.
Die Aufklärung der Ursachen solcher Schadensfälle erlaubt rationale Maßnahmen zu ihrer
Vermeidung. Deshalb kommt der Aufklärung von Schäden (Schadenskunde) große prak-
tische Bedeutung zu.
Bei der Bearbeitung von Schadensfällen geht man zweckmäßigerweise von dem aus
Abb. 81.1 ersichtlichen Schema aus. Die ersten Arbeitsschritte dienen der Bestandsauf-
nahme aller ersichtlichen, erfragbaren und dokumentierten Details, die für den Schadens-
fall von Bedeutung sein kennen. Dementsprechend umfasst die Bestandsaufnahme (in
Abb. 81.1 gestrichelt umrandet) die drei Untergruppen Schadensbild, Sollgrößen sowie
Vorgeschichte. Die Erfassung des Schadensbildes erfordert:
• Sichtprüfungen,
• photographische Dokumentation,
• konstruktive Dokumentation,
• abmessungsmäßige Dokumentation,
• Sicherstellung schadensrelevanter Teile,
• plastischen Verformungen,
• Brüchen,
• Rissen,
• Korrosionserscheinungen,
• Erosionserscheinungen,
• Kavitationserscheinungen,
• Verschleißerscheinungen sowie der
• allgemeinen Oberflächenbeschaffenheit.
81.1 Grundlagen 637
Die Sollgrößen des zu Schaden gegangenen Bauteils werden vom Benutzer bzw. Her-
steller erfragt. Nützliche Informationen stellen dabei Angaben dar zu der (den)
• Bauteilfunktion,
• Betriebsvorschrift,
• mechanischen Auslegung,
• thermischen Auslegung,
• erwarteten Umgebungsmedien,
• vorgesehenen Lebensdauer,
• vorgesehenen Werkstoffen,
• vorgesehenen Werkstoffbehandlungen,
• vorgesehenen Fertigung,
• vorgesehenen Überwachungen,
• vorgesehenen Wartungen.
• Abnahme,
• Prüfzeugnisse,
• Inbetriebnahme,
• Betriebsweise,
• Betriebszeit,
• Überwachungen,
• Wartungen,
• frühere Schäden,
• Reparaturen,
• besondere Beobachtungen vor, während und nach Schadenseintritt,
• Schadensablauf.
Die aus dem Schadensbild und aus den Informationen über Sollgrößen und Vorge-
schichte des Bauteils möglichen Folgerungen erlauben eine Vorbewertung des versagens-
kritischen Querschnitts. In einfachen Fällen ist daraus bereits eine abschließende Beurtei-
lung des Schadensfalls möglich. In komplizierteren Fällen sind weiterführende Einzelun-
tersuchungen erforderlich. Letztere haben stets eine genauere
• Beanspruchungsanalyse,
• Werkstoffanalyse,
• Fertigungsanalyse,
• Konstruktionsanalyse,
zum Ziel. Dabei empfiehlt sich für jede Einzelanalyse die Aufstellung eines zweckmäßi-
gen Untersuchungsplanes. Bei der Werkstoffanalyse ist beispielsweise die Probenentnahme
638 81 V81 Schadensfalluntersuchung
von besonderer Bedeutung. Sie muss an einer für den Schadensfall relevanten Bauteilstel-
le erfolgen. Bei den anschließenden Untersuchungen sind zunächst einfache Experimente
vorzusehen und diese gegebenenfalls später durch aufwendigere zu ergänzen. Im Einzelnen
können nützlich sein
• Chemische Analyse,
• Härtemessungen,
• metallographische Gefügeuntersuchungen,
• Kleinlast- und/oder Mikrohärtemessungen,
• BruchfIächenuntersuchungen (Fraktographie),
• Riss- und Homogenitätsprüfungen,
• Topographieprüfungen,
• Kerbschlagbiegeversuche,
• Zugversuche,
• Korrosionsversuche,
• Eigenspannungsbestimmungen,
• vertiefende Untersuchungen (REM, TEM, sonstiges).
Den Abschluss der Schadensanalyse bildet die Schadensbewertung. Ihr Ziel muss sein,
• Reparaturvorschläge,
• Konstruktionsänderungen,
• Werkstoffwechsel,
• Wärmebehandlungsänderungen,
• Fertigungsänderungen,
• Betriebsänderungen,
• Inspektionsänderungen,
• Überwachungsmaßnahmen.
Die Gesamtheit der durchgeführten Untersuchungen und ihre Ergebnisse werden ab-
schließend in einem Bericht zum Schadensfall zusammengefasst.
81.2 Aufgabe 639
81.2 Aufgabe
81.3 Versuchsdurchführung
Bei der Untersuchung des Schadensfalls ist nach dem in Abb. 81.1 angegebenem Ablauf-
schema vorzugehen. Für die Aufgabe stehen alle Konstruktions- und Fertigungsdaten
sowie alle für die Vorgeschichte des Schadens wichtigen Details zur Verfügung. Für die
werkstoffkundlichen Einzeluntersuchungen sind alle analytischen und metallographi-
schen Hilfsmittel vorhanden. Ferner können alle Methoden der zerstörenden und der
zerstörungsfreien Werkstoffprüfung angewandt werden. Die Versuchsergebnisse sind zu
bewerten und in einem Schadensbericht zusammenzufassen.
Weiterführende Literatur
[Hen79] Henry, G., Horstmann, D.: DeFerri Metallographia V. Stahleisen, Düsseldorf (1979)
[Woh77] Wohlfahrt, H., Macherauch, E.: Die Ursachen des Schweißeigenspannungszustandes. Ma-
terialprüfung 19, 271–280 (1977)
[Nau80] Naumann, F.: Das Buch der Schadensfälle, 2. Aufl. (1980)
[Ber86] Berns, H.: Handbuch der Schadenskunde metallischer Werkstoffe. Hanser, München (1986)
[Rich08] Richard, H.A., Sander, M.: Ermüdungsrisse: Erkennen, sicher beurteilen, vermeiden. Vie-
weg+Teubner, Wiesbaden (2008)
[Schm09] Schmitt-Thomas, K.G.: Integrierte Schadenanalyse: Technikgestaltung und das System des
Versagens. Springer, Berlin (2009)
[Lan14] Lang, G., Pohle, M.: Systematische Beurteilung technischer Schadensfälle, 6. Aufl. Wiley-
VCH, Weinheim (2014)
V82 Aufbau und Struktur von
Polymerwerkstoffen 82
82.1 Grundlagen
Das charakteristische mikrostrukturelle Merkmal der Polymerwerkstoffe ist ihr Aufbau aus
Makromolekülen. Diese werden entweder durch Veredlung polymerer Naturstoffe oder
heute überwiegend synthetisch aus organischen Verbindungen hergestellt. Makromolekü-
le (Polymere) bilden sich bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen durch das repetitive
Aneinanderlagern von reaktionsfähigen Molekülen (Monomeren). Beispielsweise werden
Ethylenmoleküle C2 H4 , deren Aufbau sich durch die Strukturformel
(82.1)
(82.2)
∑ ni
n̄ = (82.3)
i
M̄r = n̄ ⋅ Mr (82.4)
vor. Dabei ist M r die relative Monomermasse, die durch die Summe der relativen Atommas-
sen seiner Atome gegeben ist. Im Falle des Ethylens ist M r = 2 ⋅ 12 + 4 ⋅ 1 = 28. Ein charak-
teristischer mittlerer Polymerisationsgrad von Polyäthylen ist n̄r = 5 ⋅ 103 , dem somit eine
mittlere relative Molekülmasse M̄r = 140.000 entspricht. Die benachbarten Kohlenstoffa-
tome der Polyethylenkette haben einen Abstand von l = 1,54 ⋅ 10−8 cm. Damit lässt sich die
Kettenlänge in erster Näherung zu
L = l ⋅ (n + ) ≈ l ⋅ n (82.5)
Mantel eines Kegels mit dem halben Öffnungswinkel von ~ 70° einnehmen und damit ge-
genüber der vorhergehenden Bindungsrichtung um einen Winkel von ~ 110° abweichen.
Eine räumliche Verdrehung und Abwinklung der Makromoleküle ist deshalb erheblich
wahrscheinlicher als eine geradlinige Erstreckung. Der mittlere Abstand der Enden eines
regellos orientierten Makromoleküls berechnet sich zu
√
L̄ = l n. (82.6)
Somit ergibt sich nach Gl. 82.5 mit n = n̄ = 5 ⋅ 103 für Polyethylen L = 7,7 ⋅ 10−5 cm, aus
Gl. 82.6 folgt für L̄ = 10,9 ⋅ 10−7 cm. Man ersieht daraus, dass jede räumlich verdrehte Kette
ein großes Streckvermögen besitzt, ohne dass sich dabei die atomaren Abmessungen zwi-
schen den Kettenbausteinen ändern.
Die technisch äußerst wichtigen Polyvinylverbindungen lassen sich allgemein durch die
Strukturformel
(82.7)
Wegen der möglichen Verdrehungen der Kettensegmente und der unterschiedlichen Ket-
tenlängen bilden sich derartig perfekt kristallisierte Bezirke nur innerhalb kleiner Werk-
stoffbereiche aus, können aber große Volumenanteile (> 50 %) umfassen. Allgemein gilt,
dass der gleiche Polymerwerkstoff mit isotaktischen Ketten leichter kristallisiert, etwas grö-
ßere Dichten annimmt und fester ist als mit ataktischen Ketten.
Neben den bisher besprochenen makromolekularen Ketten aus bifunktionellen Mono-
meren gibt es auch verzweigte Ketten und chemisch aneinander gebundene Ketten. Werden
z. B. bei Polyethylen die Plätze seitlicher Wasserstoffatome von Kohlenstoffatomen einge-
82.1 Grundlagen 645
(82.8)
(82.9)
646 82 V82 Aufbau und Struktur von Polymerwerkstoffen
(82.10)
(82.11)
dar. Auch hierbei können verschiedene Modifikationen je nach Aufeinanderfolge der Mo-
nomere auftreten. Symbolisiert man die beiden Monomertypen, die sich miteinander zu-
sammenschließen, durch offene und geschlossene Kreise, so lässt sich die entstehende Mo-
lekülkette durch
(82.12)
(82.13)
(82.14)
82.1 Grundlagen 647
(82.15)
(82.16)
(82.17)
dar. Die Phenolmoleküle wirken dabei trifunktionell, weil die zur Wasserbildung benö-
tigten H-Atome den Monomeren an drei Stellen entnommen werden können. Als Folge
648 82 V82 Aufbau und Struktur von Polymerwerkstoffen
davon bildet sich keine lineare makromolekulare Kette, sondern ein polymeres Netzwerk
mit dreidimensionaler Struktur. Der Begriff des Makromoleküls verliert dabei seine Bedeu-
tung. Symbolisiert man die ehemaligen Phenolbereiche durch ● und die CH2 -Brücken des
Formaldehyds durch ○, so lässt sich das entstandene Netzwerkpolymer durch das schema-
tische Abb. 82.4 veranschaulichen. Offensichtlich liegen ganz andere atomare Verhältnisse
vor als bei linearen Polymeren. Sind die sich zusammenschließenden Polymere bifunktio-
nell, so bilden sich auch bei der Polykondensation lineare Ketten, wie z. B. im Falle von
Polyamid.
Bei der Polyaddition schließlich finden lediglich Umlagerungen von Atomen zwischen
zwei verschiedenen Monomerarten statt, ohne dass ein niedrigmolekulares Reaktionspro-
dukt auftritt. Ein Beispiel ist die Reaktion von Diisocyanaten mit Dialkoholen, bei der sich
durch die sich wiederholende Verknüpfungswirkung der NHCOO-Gruppen gemäß
(82.18)
Vernetzung verliert der Makromolekülbegriff seine Bedeutung. An die Stelle der relati-
ven Molekülmasse tritt der Vernetzungsgrad bzw. die relative Molekülmasse zwischen zwei
Vernetzungspunkten. Diese können durch geeignete mehrfunktionelle Zusätze beeinflusst
werden. Elastomere und Duroplaste sind nicht schmelzbar. Bei Überschreiten einer be-
stimmten Temperatur, der Zersetzungstemperatur T Z , lösen sie sich in irreversibler Wei-
se auf. Die Erscheinungsformen der angesprochenen Grundtypen der Polymerwerkstoffe
fasst Abb. 82.6 nochmals schematisch zusammen. Dabei ist bei Thermoplasten zwischen
amorphen und teilkristallinen Werkstoffzuständen unterschieden. Einen Überblick über
die Herstellungsarten, die Typen und die vereinbarten Kurzbezeichnungen wichtiger Po-
lymerwerkstoffe gibt Tab. 82.1.
Aufgrund ihres strukturellen Aufbaus zeigen die verschiedenen Polymerwerkstofftypen
unterschiedliche Temperaturabhängigkeiten bestimmter mechanischer Eigenschaften, z. B.
des Schubmoduls. Grundsätzlich gilt, dass Polymerwerkstoffe bei sehr tiefen Temperaturen
hart und spröde sind. Unter der Einwirkung wachsender äußerer Kräfte besteht dort wie
bei Metallen zunächst ein durch das Hooke’sche Gesetz (vgl. V22) beschreibbarer Zusam-
menhang zwischen Spannungen und elastischen Dehnungen. Man spricht von energieelas-
tischem (metallelastischem) Werkstoffverhalten. Relative Abstandsänderungen und räum-
liche Lageänderungen der Bindungsrichtungen zwischen benachbarten Atomen unter der
Einwirkung der äußeren Kräfte sind dafür verantwortlich. Bei höheren Temperaturen er-
weichen amorphe und teilkristalline Thermoplaste (vgl. Abb. 82.7). Es tritt ein Erweichung-
stemperaturbereich ΔT E auf, der durch die Glasübergangstemperatur T G gekennzeichnet
ist. Oberhalb T G überwiegt bei mechanischer Beanspruchung zunächst das sog. entro-
pieelastische Werkstoffverhalten. Man versteht darunter mechanisch erzwungene Umla-
gerungen und Rotationen ganzer Kettensegmente entgegen der Wirkung der thermischen
Energie, die eine regellose Makromolekülanordnung mit im thermodynamischen Sinne
größerer Entropie einzustellen versucht. In diesem Temperaturbereich verkürzt (!) sich
bei Zufuhr thermischer Energie ein unter konstanter Kraft stehender Polymerwerkstoff.
Gemeinsam mit den entropieelastischen treten auch viskose Verformungsanteile auf, die ir-
82.1 Grundlagen 651
Abb. 82.7 Temperaturabhängigkeit mechanischer Kenngrößen bei amorphen (a) und teilkristalli-
nen (b) Thermoplasten (schematisch)
gebener Temperatur mit M r und der Größe der Seitengruppen (sterische Behinderung)
zu. Bei weiterer Temperatursteigerung erfolgt bei T Z thermische Zersetzung. Aufgrund
der geschilderten Zusammenhänge erwartet man somit für die mechanischen Kenngrö-
ßen amorpher Thermoplaste – wie z. B. PS, PVC, PC und ABS – die in Abb. 82.7 links
schematisch wiedergegebene Temperaturabhängigkeit. Bis zur Glasübergangstemperatur
T G dominiert energieelastisches, oberhalb T G entropieelastisches Verhalten unter zuneh-
mendem Viskositätsverlust bei weiterer Temperatursteigerung.
Bei teilkristallinen Thermoplasten (vgl. Abb. 82.7 rechts) – wie z. B. PE, PP und PA – zei-
gen nur die amorphen Anteile der Polymerwerkstoffe bis T G energieelastisches, oberhalb
T G entropieelastisches Verhalten. Die kristallinen Werkstoffbereiche bewirken jedoch eine
mit wachsendem Anteil zunehmende Formstabilität, so dass bis zum Erreichen von ΔT S
energieelastisches Verhalten überwiegen kann.
Während Thermoplaste eine Glasübergangstemperatur sowohl unterhalb Raumtempe-
ratur (PE: ~ −112 °C) als auch oberhalb Raumtemperatur (PA: ~ +60 °C) aufweisen kön-
nen, liegt T G bei weitmaschig vernetzten Elastomeren wie z. B. SI, BR und PUR meist
unterhalb Raumtemperatur. Nach Abb. 82.8 (links) ist von T G bis zur Zersetzungstempera-
tur T Z und damit meist auch bei Raumtemperatur entropieelastisches Werkstoffverhalten
dominant. Die engmaschig vernetzten Duroplaste wie z. B. PF, EP und DP, verhalten sich
bis T G energieelastisch, oberhalb T G entropieelastisch. Bei T Z erfolgt der irreversible Über-
gang aus dem erweichten Zustand in die Zersetzungsprodukte. Weder bei Elastomeren
noch bei Duroplasten treten Schmelzbereiche bzw. Schmelztemperaturen auf.
82.2 Aufgabe
82.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche stehen ein Dilatometer, ein Vicat-Erweichungsprüfgerät sowie ein Ka-
pillarviskosimeter zur Verfügung. Die dilatometrischen Messungen werden wie in V30
durchgeführt und ausgewertet. Die technologische Ermittlung der Erweichungstempera-
tur erfolgt mit einem ähnlichen Gerät, wie es in Abb. 82.9 gezeigt ist. Es findet in der Praxis
häufig Anwendung zur Überprüfung der Wärmeformbeständigkeit von Thermoplasten. In
die Werkstoffproben wird bei Prüftemperatur durch eine definierte Gewichtsbelastung von
50 N eine Stahlnadel mit 1 mm Grundfläche eingedrückt. Bei verschiedenen Temperatu-
ren werden die Zeiten gemessen, in denen der Stahlstift in eine bestimmte Tiefe eindringt.
Trägt man die Messzeiten über der Temperatur auf, so lässt sich die Erweichungstempera-
tur aus einem Knickpunkt des Kurvenverlaufes entnehmen. Diese Messwerte werden mit
den dilatometrisch ermittelten verglichen und diskutiert. Im Gegensatz zu der hier gewähl-
ten Vorgehensweise wird die Vicat-Temperatur als Erweichungstemperatur so gemessen,
dass die Probe unter der genannten Belastung kontinuierlich mit einer Heizgeschwindig-
keit von 50 °C/h erwärmt und dabei die Temperatur bestimmt wird, bei der der Stift 1 mm
tief eingedrungen ist.
Die Bestimmung der relativen Molekülmassen erfolgt mit einem Kapillarviskosimeter.
Dazu werden die Polymere mit unterschiedlicher Konzentration in geeigneten Lösungs-
mitteln gelöst. Bei Polystyrol finden z. B. Benzol, Toluol und Chloroform, bei Polyvinyl-
chlorid, Tetrahydrofuran, Cyclohexanon und Dimethylformamid als Lösungsmittel An-
wendung. Lösungskonzentrationen von 0,1; 0,2 und 0,3 g/100 cm werden hergestellt. Im
Kapillarviskosimeter werden die Durchlaufzeiten der verschiedenen Lösungen tL sowie die
der Lösungsmittel tLM bestimmt. Dann verhalten sich aufgrund des Hagen-Poiseuille’schen
654 82 V82 Aufbau und Struktur von Polymerwerkstoffen
Gesetzes die Durchlaufzeiten wie die zugehörigen Viskositäten. Man erhält also
tL ηL
= = ηrel (82.19)
tLM ηLM
wobei stets tL > tLM ist. ηrel heißt relative Viskosität. Daraus errechnet sich die spezifische
Viskosität zu
ηL− ηLM
ηspez = = ηrel − . (82.20)
ηLM
ηspez ist umso größer, je größer die Konzentration der Lösung und die mittlere relative
Molekülmasse der Polymere ist. Bei konstanter Lösungskonzentration nimmt ηspez mit M r
zu. Trägt man die auf die Lösungskonzentration c bezogene spez. Viskosität als Funktion
von c auf, so ergeben sich Messpunkte, die durch eine Gerade approximiert werden können.
Der Schnittpunkt der Ausgleichsgeraden durch die Messwerte mit der Ordinate liefert die
Grenzviskosität
ηspez
η= ∣c→ . (82.21)
c
Zwischen η und der mittleren relativen Molekülmasse M r besteht der empirische Zu-
sammenhang
η = a M̄ra . (82.22)
a und α sind Stoffkonstanten der jeweiligen Polymer-Lösungsmittel-Kombination und
liegen vor. Die so erhaltenen M r -Werte sind kleiner als die Molekülmassen, die sich als
82.4 Symbole, Abkürzungen 655
Weiterführende Literatur
[Vol62] Vollmert, B.: Grundriss der makromolekularen Chemie. Springer, Berlin (1962)
[Ehr99] Ehrenstein, G.W.: Polymerwerkstoffe, 2. Aufl. Hanser, München (1999)
[Men02] Menges, G., Haberstroh, E., Michaeli, W., Schmachtenberg, E.: Werkstoffkunde der Kunst-
stoffe, 5. Aufl. Hanser, München (2002)
[Cor00] Corvie, J.M.B.: Chemie und Physik der synthetischen Polymere. Springer, Berlin (2000)
[DIN EN ISO 306] Kunststoffe – Thermoplaste – Bestimmung der Vicat-Erweichungstemperatur
(VST) (ISO 306:2004). Beuth Verlag, Berlin (2004)
[ISO 1628-5] Kunststoffe – Bestimmung der Viskosität von Polymeren in verdünnter Lösung durch
ein Kapillarviscosimeter – Teil 5: Thermoplastische Polyester (TP) Homopolymere und Copolymere.
Beuth Verlag, Berlin (1998)
V83 Viskoses Verhalten von Polymerwerkstoffen
83
83.1 Grundlagen
Bei der praktischen Verarbeitung von Thermoplasten werden die in granulierter oder
Pulverform vorliegenden Polymere unter der Einwirkung von Wärme und Druck aufge-
schmolzen und erfahren in geeigneten Werkzeugen die für das Fertigteil oder das Halbzeug
erforderliche Formgebung. Die wichtigsten Fertigungsmethoden sind das Extrudieren, das
Spritzgießen und das Pressen.
Zum Extrudieren werden Extruder eingesetzt, deren schematischer Aufbau in Abb. 83.1
gezeigt ist. Derartige Maschinen arbeiten mit einer Schnecke, die in einem Zylinderrohr
mit einer Umfangsgeschwindigkeit von etwa 0,5 m/s rotiert. Auf dem Mantel des Zylin-
derrohrs sind Heizbänder angebracht. Mit Hilfe eines Temperaturregelsystems lassen sich
längs des Zylinders definierte Temperaturen einstellen. An der vorderen Öffnung des Zylin-
ders befindet sich ein Flansch zur Aufnahme der Formgebungswerkzeuge. Meistens wird
mit einer Dreizonenschnecke gearbeitet. In der Einzugszone mit konstantem Durchmesser
des Schneckenkerns wird aus dem Materialtrichter Granulat aufgenommen, angewärmt,
vorwärts bewegt und verdichtet. Die Wärmezufuhr erfolgt über die Zylinderwand. In der
Kompressionszone treibt die Schnecke anfangs ungeschmolzenes und angeschmolzenes
Granulat, später die zähflüssig gewordene Werkstoffmasse weiter. Um zunehmende Ver-
dichtung zu erreichen, wird das Arbeitsvolumen innerhalb der Schneckengänge kontinu-
ierlich dadurch verkleinert, dass die Schneckenkerndurchmesser anwachsen. Das zähplas-
tische Material wird schließlich in der Ausstoßzone, wo wenige flache Schneckengänge mit
den größten Kerndurchmessern vorliegen, zu einer homogenen Schmelze, die im letzten
Verfahrensschritt dem angeflanschten Werkzeug zugeführt wird. Ist dieses eine Ringdü-
se, so entsteht ein Rohr, ist es eine Breitschlitzdüse, so erhält man eine Platte. Auch bei
der Herstellung von Hohlkörpern erfolgt das Plastifizieren mit Extrusionsverfahren. Bei
der durch Abb. 83.2 veranschaulichten Methode wird ein Schlauch extrudiert und in eine
geteilte Form eingeführt. Bläst man nach Schließen der Form Druckluft in den Schlauch,
wird dieser soweit aufgebläht, dass er sich an die Formwände anlegt und einen Hohlkörper
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 657
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_83, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
658 83 V83 Viskoses Verhalten von Polymerwerkstoffen
ausbildet. Das Blasverfahren besitzt große praktische Bedeutung, z. B. zur Herstellung von
Heizölbehältern, KFZ-Kraftstoffbehältern usw.
Beim Spritzgießen wird die erzeugte Polymerschmelze in geeigneter Weise einer ge-
schlossenen Form zugeführt, dort eine angemessene Zeit unter Druck gehalten und ab-
gekühlt. Das angewandte Prinzip geht aus Abb. 83.3 hervor. Über einen Trichter (f) wird
Granulat einem von außen beheizten (c) Zylinder (d) zugeführt und durch die Rotations-
bewegung der Schnecke (e) vorwärts bewegt und im Schneckenvorraum (b) zwischen-
gespeichert. Während der Vorwärtsbewegung wird das Granulat allmählich plastifiziert
und liegt schließlich an der Düse (a), die mit dem Angusskanal des Werkzeuges verbun-
den ist, im schmelzflüssig homogenen Zustand vor. Nach dem Schließen des Werkzeuges
wird die Schmelze durch die axiale Vorwärtsbewegung der Schnecke unter hohem Druck
in die Werkzeugform eingespritzt. Im Anschluss an eine formteil- und materialabhängige
Nachdruck- und Restkühlzeit wird das Bauteil mit Erreichen ausreichender Formstabili-
tät entformt. Dazu wird das Werkzeug aufgefahren und das Formteil durch Betätigen der
Entformungsstößel aus der Form geschoben. Während der Restkühlzeit kann bereits neues
Material dem Zylinder zudosiert und plastifiziert werden.
Heute werden nahezu ausschließlich hydraulisch und elektrisch angetriebene Schne-
ckenspritzgussmaschinen gebaut. Mit Hilfe des Spritzgießverfahrens lassen sich die viel-
fältigsten Formen aus Polymerwerkstoffen herstellen. Es ist deshalb das am häufigsten an-
gewandte Formgebungsverfahren.
Geringere praktische Bedeutung hat das Herstellen von Bauteilen aus Polymerwerkstof-
fen durch Pressen. Bei diesem Verfahren wird der Polymerwerkstoff zwischen Stempel und
Matrize einer Pressform entweder als Pulver oder als Granulat eingebracht. Beim hydrau-
lischen Schließen der Form schmilzt das polymere Material unter Einwirkung von Wärme
und Druck und füllt den Hohlraum zwischen Stempel und Matrize aus.
Für die angesprochenen Fertigungsverfahren ist das mechanische Verhalten der poly-
meren Schmelzen von ausschlaggebender Bedeutung. Sie würden bei laminarer Strömung
in einem Rohr parabelförmige Geschwindigkeitsprofile besitzen, wenn sie Newton’sche
Flüssigkeiten wären (vgl. Abb. 83.4a). Bei einer solchen besteht bekanntlich zwischen
Schubspannung τ, Viskosität η und Geschwindigkeitsgefälle γ̇ der Zusammenhang
dv
τ = ηγ̇ = η . (83.1)
dr
γ̇ mit der Dimension s−1 wird Schergeschwindigkeit genannt. Erfahrungsgemäß ist aber
Gl. 83.1 bei Polymerwerkstoffschmelzen höchstens für kleine Schergeschwindigkeiten er-
füllt. Oft treten bei gegebener Temperatur Rohrströmungen auf, die anstelle eines paraboli-
schen ein nach der Mitte hin abgeflachtes Geschwindigkeitsprofil (vgl. Kurve b in Abb. 83.4)
zeigen. Dann gilt anstelle von Gl. 83.1 näherungsweise
τ = ηγ̇ m . (83.2)
beschreiben. Dabei hat Q die Bedeutung einer Aktivierungsenergie. R ist die Gaskonstante
und T die absolute Temperatur. In Abb. 83.6 ist als Beispiel die Temperaturabhängigkeit
der Viskosität von Polystyrol wiedergegeben.
Die viskosen Schmelzeeigenschaften der Polymerwerkstoffe sind für die Bauteil- und
Halbzeugfertigung von großer praktischer Bedeutung. Beispielsweise benötigt man beim
Spritzgießen von komplizierten Bauteilen mit großem Fließweg-Wanddicken-Verhältnis
„leichtfließende“ Spritzgussmassen niedriger Viskosität. Dagegen muss die Polymer-
schmelze beim Extrudieren dickwandiger Halbzeuge oder beim Hohlkörperblasen (vgl.
Abb. 83.2) nach dem Austritt aus dem Werkzeug hinreichend hochviskos sein. Die Visko-
sitäten üblicher Polymerschmelzen besitzen bei den besprochenen Bearbeitungsverfahren
Werte zwischen 10 N s/m < η < 106 N s/m . In praktischen Fällen wählt man die Tem-
peratur und den Druck (bei Drucksteigerung wächst die Viskosität an) so, dass sich eine
optimale Schmelzviskosität ergibt. Um die vorliegenden Verhältnisse – beispielsweise in
der kreisförmig begrenzten Düse eines Extruders – zu erfassen, behandelt man die Poly-
merschmelze näherungsweise als Newton’sche Flüssigkeit und wendet auf diese das Hagen-
Poiseuille’sche Gesetz an. Dazu postuliert man rechnerische (scheinbare) Schergeschwin-
digkeiten γ̇s und Randschubspannungen τs . Wirkt auf eine Extruderdüse mit Länge L und
Radius R der Druck p, so tritt eine Druckkraft
F p = pπR (83.4)
83.2 Aufgabe 661
pπR pR
τs = = . (83.6)
πRL L
πR pt
η= (83.7)
V L
wenn ein Rohr der Länge L unter dem Druck p von dem Volumen V in der Zeit t durchsetzt
wird. Somit folgt als scheinbares Schergefälle γ̇s aus den Gln. 83.1, 83.6 und 83.7
τs V
γ̇s = = . (83.8)
η πR t
Bei bekannter Geometrie lässt sich also γ̇s aus der Messung des Volumen-Stromes V/t
einfach ermitteln. Der Zusammenhang zwischen γ̇s und τs wird als Fließkurve bezeichnet.
Bei gegebenem Druck erhält man τs aus Gl. 83.6.
Beim Extrudieren von Polymerschmelzen treten neben den viskosen auch entropieelas-
tische Verformungen (vgl. V82) auf. Das hat zur Folge, dass die Polymerschmelze während
ihrer Verweilzeit in der Extruderdüse unter Druckspannungen steht. Wenn die Tempe-
raturbedingungen ungünstig sind und zu schnell abgekühlt werden, dann werden diese
Spannungen eingefroren und beeinflussen das Bauteilverhalten.
83.2 Aufgabe
Die Fließkurve und die Strangaufweitung von Polystyrol sind bei 180 °C mit Hilfe eines
Laborextruders zu ermitteln.
83.3 Versuchsdurchführung
Es steht ein Plastifizierextruder mit einer Dreizonenschnecke zur Verfügung. Für die drei
Heizbereiche werden die Temperaturen auf 150, 160 und 180 °C eingeregelt. Als Austritts-
düse wird eine Kapillare mit 2 mm Innendurchmesser und 8 mm Länge benutzt. Die Tem-
peratur der Polymerschmelze (Massetemperatur) wird mit Hilfe eines Thermoelements
gemessen. Ein Druckaufnehmer erlaubt die Messung des Systemdruckes vor der Kapillare.
Das Granulat wird dem Einfülltrichter zugeführt. Anschließend wird die Maschine bei ei-
ner Schneckendrehzahl von n = 20 min−1 in einen stationären Arbeitszustand gebracht, der
662 83 V83 Viskoses Verhalten von Polymerwerkstoffen
etwa nach 2 min erreicht ist. Danach werden der Systemdruck, die pro Minute extrudier-
te Masse (durch Wägung) und der mittlere Strangdurchmesser ermittelt. In der gleichen
Weise wird bei jeweils um 10 min−1 erhöhten Schneckendrehzahlen bis zu n = 120 min−1
verfahren.
Die Messwerte werden in Abhängigkeit von n aufgetragen. Der Massenstrom wird mit
Hilfe des Dichtewertes von PS bei 180 °C, ρ = 0,983 g/cm3 in den Volumenstrom umge-
rechnet. γ̇s wird nach Gl. 83.8, τs nach Gl. 83.6 berechnet, γ̇s wird über τs aufgetragen und
liefert die Fließkurve bei 180 °C. Danach wird der Fließexponent m in Gl. 83.2 als Maß
für die vorliegende Strukturviskosität bestimmt. Schließlich werden die Viskosität und die
Strangaufweitung als Funktion der scheinbaren Schubspannung aufgezeichnet und disku-
tiert.
Weiterführende Literatur
84.1 Grundlagen
abfall wie beim Kurventyp C auf. Der spätere Wiederanstieg der Nennspannung beruht auf
einer zunehmenden Mitheranziehung der Hauptvalenzbindungen zur Lastaufnahme.
Bei T > T G findet das beschriebene Nachgeben der amorphen sowie die Umlage-
rung bzw. Entfaltung der kristallinen Werkstoffbereiche gleichmäßig verteilt über dem
ganzen Werkstoffvolumen statt. Dies führt zu einer gleichmäßigen Querschnittsvermin-
derung über der gesamten Probenlänge unter stetig ansteigendem Kraftbedarf zur weiteren
Probenverlängerung. Letztere beruht wieder auf der zunehmenden Streckung und Ent-
knäuelung der Makromoleküle und dem mit wachsender Deformation zunehmenden
Anteil der zum Tragen herangezogenen Hauptvalenzbindungen längs der Kettenmoleküle.
Es entsteht eine zügige Verformungskurve vom Typ D.
84.1 Grundlagen 667
elastizitätsmodul ist sehr klein, weil praktisch kaum Relativänderungen der kovalent ge-
bundenen Atome der einzelnen makromolekularen Ketten auftreten. Erst wenn diese erfol-
gen, steigt die σ n ,εt -Kurve bei größeren Totaldehnungen aufwärts gekrümmt an. Wichtig
ist, dass der Anfangsmodul von Elastomeren mit wachsender Temperatur anwächst.
Bei der Festlegung der aus Zugversuchen von Polymerwerkstoffen bestimmbaren Werk-
stoffwiderstandsgrößen hat man eine besondere Sprachregelung vereinbart. In Abb. 84.7
sind zwei Kraft-Verlängerungs-Diagramme (etwa wie Typ C und D in Abb. 84.3) mit ge-
normten Bezeichnungen wiedergegeben. Bei der Kurve vom Typ C nennt man F S die Kraft
bei der Streckspannung, F max die Höchstkraft und F R die Reißkraft. Die zugehörigen Län-
genänderungen ΔLS , ΔLFmax und ΔLR werden als die Längenänderung bei der Streckkraft,
der Höchstkraft und der Reißkraft bezeichnet. Bei der Kurve vom Typ D wird F Sx als die
Kraft bei x %-Dehnspannung bezeichnet und ΔLSx als die Längenänderung bei der Kraft,
die der x %-Dehnspannung entspricht. Demgemäß unterscheidet man folgende Werkstoff-
widerstandsgrößen bei Zugverformung:
• Die Streckspannung RS als den Werkstoffwiderstand, bei dem die Steigung der σ n ,εt -
Kurve zum ersten Mal gleich Null wird,
• die x %-Dehnspannung RSx als den Werkstoffwiderstand gegenüber Überschreiten einer
Totaldehnung, die um x % größer ist als die elastische Dehnung unter Zugrundelegung
des Anfangsmoduls Eo bei linear elastisch angenommenem Werkstoffverhalten,
• die Zugfestigkeit Rm als den Werkstoffwiderstand bei der höchst ertragbaren Zugkraft,
• die Reißfestigkeit RR als den nennspannungsmäßigen Werkstoffwiderstand gegen das
Zerreißen der Zugprobe.
Im Falle des Vorliegens von σ n , εt -Kurven vom Typ C bzw. Typ B und D (vgl. Abb. 84.3)
ist demnach die Streckspannung gleich der Zugfestigkeit bzw. der Reißfestigkeit.
84.2 Aufgabe 669
84.2 Aufgabe
Für Zugstäbe aus schlagfestem Polystyrol sind die zwischen −40 °C und +100 °C auftreten-
den Nennspannungs-Gesamtdehnungs-Kurven bei konstanter Traversengeschwindigkeit
von 0,1 cm/min zu ermitteln. Die Anfangsmoduln, die Streckspannungen, die Zugfestig-
keiten und die bis zum Probenbruch erforderlichen Verformungsarbeiten sind als Funktion
der Temperatur darzustellen und zusammen mit der beobachteten Temperaturabhängig-
keit der Verformungskurven zu erörtern. Ferner sind bei Raumtemperatur ergänzende
Zugversuche mit 10- und 100-mal größerer Traversengeschwindigkeit durchzuführen.
84.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht eine elektromechanische Zugprüfmaschine mit einem Last-
bereich von 10 kN und einer Temperiervorrichtung zur Durchführung der Versuche im
angegebenen Temperaturbereich (vgl. V24) zur Verfügung. Die Probestäbe haben die in
Abb. 84.8 wiedergegebene Form und Abmessung. Die Zugversuche werden unter zeitpro-
portionaler Registrierung der Kraft durchgeführt. Die Versuchsauswertung erfolgt wie in
V23.
670 84 V84 Zugverformungsverhalten von Polymerwerkstoffen
Weiterführende Literatur
85.1 Grundlagen
Polymerwerkstoffe neigen aufgrund ihres strukturellen Aufbaus bereits bei relativ niedri-
gen Temperaturen zum Kriechen. Wird eine Polymerwerkstoffprobe bei gegebener Tem-
peratur einer konstanten Zugbelastung unterworfen, so wird eine zeitliche Zunahme der
Dehnung in Beanspruchungsrichtung beobachtet. Die Gesamtdehnung umfasst einen elas-
tischen, einen viskosen und einen viskoelastischen Anteil.
Die elastische Dehnung εe ist eine eindeutige Funktion der wirkenden Nennspannung
σ n und unabhängig von der Belastungszeit. Sie ist durch das Hooke’sche Gesetz
σn
εe = (85.1)
E
gegeben, wobei E der Elastizitätsmodul ist. Wird zur Zeit t = t1 die Spannung σ n aufgeprägt,
so stellt sich nach Abb. 85.1a sofort die durch Gl. 85.1 bestimmte Dehnung σ n /E ein. Wird
bei t = t2 die Spannung auf Null abgesenkt, so geht auch sofort die elastische Dehnung auf
Null zurück. Dagegen ist die viskose Dehnung εv zeitabhängig und ihrem Charakter nach
eine plastische Dehnung. Sie ist gegeben durch
εv = tσn , (85.2)
ηo
steigt also umgekehrt proportional zur Viskosität ηo , und linear mit der Belastungszeit t
an (vgl. Abb. 85.1b). Wird ein viskoser Körper zur Zeit t = t1 mit σ n beaufschlagt, so bleibt
nach Absenkung der Spannung auf Null bei t = t2 die viskose Dehnung εv = (t2 − t1 ) ⋅ σ n /ηo
erhalten. Die viskoelastische Dehnung εve schließlich (vgl. Abb. 85.1c) ist eine während
der Spannungseinwirkung sich zeitabhängig einstellende Dehnung, die eindeutig durch
die sog. Relaxationszeit τ bestimmt wird und durch
gegeben ist. Dabei ist α eine Materialkonstante. Bei σ n = const wächst εve mit der Belas-
tungszeit t bis zu einem Sättigungswert α ⋅ σ n . Nach Wegnahme der belastenden Spannung
bei t = t2 fällt εv mit t exponentiell ab. ε v ist also ihrem Charakter nach eine zeitabhängige
reversible (relaxierende) Dehnung.
Eine anschauliche Darstellung der drei Dehnungsanteile ermöglichen mechanische
Analogiemodelle, die von Federn und Dämpfungsgliedern (Dämpfern) Gebrauch ma-
chen. Elastisches Stoffverhalten lässt sich durch eine Feder wie in Abb. 85.2a, viskoses
Verhalten durch ein Dämpfungsglied wie Abb. 85.2b wiedergeben. Das Hintereinander-
schalten von Feder und Dämpfer (Maxwell-Körper) beschreibt gekoppeltes elastisches
und viskoses Verformungsverhalten (vgl. Abb. 85.2c), das Parallelschalten von Feder und
Dämpfer (Voigt-Kelvin-Körper) viskoelastisches Verformungsverhalten (vgl. Abb. 85.2d).
Das in Abb. 85.2e gezeigte Vier-Parameter-Modell lässt dann offenbar die Beschreibung
des Verformungsverhaltens eines Polymerwerkstoffes zu, wenn gleichzeitig elastische, vis-
kose und viskoelastische Verformungsvorgänge auftreten. Bei Belastung mit F = const. zur
Zeit t = t1 wird die obere Feder sofort elastisch verlängert (elastische Dehnung) und das
untere Dämpfungsglied beginnt sich linear mit der Belastungszeit zu strecken (viskose
Dehnung). Der Voigt-Kelvin-Körper in der Mitte des Modells liefert, behindert durch
das Dämpfungsglied, eine exponentiell zeitabhängige Verlängerung (viskoelastische Deh-
nung). Insgesamt ergibt sich in Abhängigkeit von der Zeit das in Abb. 85.3 skizzierte
Verformungsverhalten. Bei Entlastung F = 0 zur Zeit t = t2 wird die obere Feder des Mo-
dellkörpers sofort auf ihre Ausgangslänge verkürzt (elastische Rückverformung), wogegen
das Dämpfungsglied seine Dehnung noch beibehält. Im Voigt-Kelvin-Körper bewirkt die
Feder eine langsame Rückverformung des Dämpfungsgliedes (viskoelastische Rückverfor-
mung). Als Folge davon stellt sich eine mit der Zeit abnehmende Totaldehnung ein, die für
t → ∞ den Wert εv (t2 ) annimmt.
Zur Erfassung der Totaldehnung in Abhängigkeit von der Zeit sind bei den für Kon-
struktionsteile vorgesehenen Polymerwerkstoffen aufwändige Langzeitversuche erforder-
lich. Nur sie erlauben eine genaue Beurteilung des Werkstoffverhaltens. Besonders bei den
Thermoplasten treten unter längerer Einwirkung hinreichend hoher Temperaturen und
Belastungen beträchtliche viskose und viskoelastische Dehnungsanteile auf. In Abb. 85.4
sind als Beispiel für ein POM die unter verschiedenen Spannungen bei 20 °C auftretenden
85.1 Grundlagen 673
85.2 Aufgabe
An Probestäben aus dem Thermoplast Polyethylen (PE) sind bei einer Temperatur von
75 °C die unter mehreren Belastungen und nach Entlastung auftretenden Längsdehnun-
gen als Funktion der Zeit zu bestimmen. Die elastischen, viskoelastischen und viskosen
Dehnungsanteile sind zu ermitteln.
85.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
86.1 Grundlagen
terschiedlich groß ist, aber etwa eine vergleichbare Abhängigkeit von der Massetemperatur
zeigt.
Die oben erwähnten Spritzgussparameter beeinflussen fast alle den Grad der Ausrich-
tung der Molekülketten in den Probekörpern. Eine ausgeprägte Anordnung der polymeren
Ketten mit einer Vorzugsrichtung (Orientierung), wie sie in Abb. 86.3b schematisch an-
gedeutet ist, entsteht durch das hohe Schergefälle (vgl. V83), das sich beim Spritzguss in
der zähen Polymerwerkstoffmasse ausbildet. Steigende Massetemperatur führt wegen ab-
nehmender Viskosität zu einer weniger ausgeprägten Orientierung der Kettenmoleküle.
Bei schneller Abkühlung unter die Einfriertemperatur des Polymerwerkstoffes erstarren
die orientierten Moleküle unter Beibehaltung ihrer Vorzugsrichtung. Ein großer Orien-
tierungsgrad hat bei der Beanspruchung im Schlagversuch, wenn die Normalspannung in
Orientierungsrichtung wirkt, hohe Werte der Schlagzähigkeit zur Folge. Eine anschließen-
de Temperungsbehandlung im Bereich der Erweichungstemperatur führt die gestreckten
Moleküle in die energieärmere verknäuelte Lage (vgl. Abb. 86.3a) zurück. Dabei zieht sich
der Probekörper in der Richtung, die mit der Orientierungsrichtung übereinstimmt, unter
86.1 Grundlagen 679
Volumenkonstanz zusammen. Ist L0 die Bezugslänge und L1 die Länge nach der Tempe-
rungsbehandlung, so wird die Größe
L − L
S= ⋅ % (86.2)
L
als Schrumpfung definiert. Abbildung 86.4 zeigt, dass bei Polystyrol eine umso größere
Schrumpfung auftritt, je kleiner die Massetemperatur ist, je rascher also die Abkühlung
der Proben unter die Einfriertemperatur erfolgt. Große Masse- und Formtemperaturen
begünstigen schon in der Form die Rückkehr der Molekülketten des Spritzgussteils in die
verknäuelte Lage.
Im Gegensatz zum herstellungsabhängigen Zusammenhang zwischen Schlagzähig-
keit und der Massetemperatur (vgl. Abb. 86.2) besteht zwischen der Schlagzähigkeit
und dem Orientierungsmaß Schrumpfung ein eindeutiger Zusammenhang. Das wird
durch Abb. 86.5 belegt, wo sich für die gleichen Werkstoffzustände, die den Messun-
gen in Abb. 86.2 zugrunde lagen, ein von den Herstellungsdetails unabhängiger linearer
Zusammenhang zwischen Schlagzähigkeit und Schrumpfung ergibt. Sollen demnach
mit verschiedenen Spritzgussmaschinen Probekörper gleicher Eigenschaften hergestellt
werden, so ist die Maschineneinstellung so zu wählen, dass die Probekörper gleiche
Schrumpfung aufweisen (vgl. V83).
680 86 V86 Schlagzähigkeit von Polymerwerkstoffen
86.2 Aufgabe
Für Polystyrol (PS) ist der Einfluss der Massetemperatur beim Spritzgießen auf die Schlag-
zähigkeit und auf die Schrumpfung nach 30 Minuten Temperung 30 °C oberhalb der Vicat-
temperatur zu untersuchen. Als Grundniveau für die Schlagzähigkeit sind die Messwerte
verpresster Proben zu benützen.
86.3 Versuchsdurchführung 681
86.3 Versuchsdurchführung
Zur Ermittlung der Schlagzähigkeit wird ein kleines Pendelschlagwerk mit einem Aufla-
gerabstand von 40 mm verwendet, dessen Pendelhammer mit einer kinetischen Energie
von 4 J auf den Prüfkörper auftrifft. Als Prüfkörper dienen Normkleinstäbe mit den Ma-
ßen 50 × 6 × 4 mm , die bei Massetemperaturen von 170, 190, 210, 230, 250 und 270 °C
gespritzt wurden. Vor Beginn der Schrumpfungen wird zunächst der Vicat-Erweichungs-
punkt der einzelnen Werkstoffzustände ermittelt. Dazu werden Proben mit den Abmessun-
gen 10 × 10 × 5 mm , auf die ein mit 50 N belasteter Stößel von 1 mm Grundfläche drückt,
kontinuierlich aufgeheizt. Als Vicat-Temperatur ist diejenige Temperatur festgelegt, bei der
der Stößel 1 mm tief in den Kunststoff eingedrungen ist (vgl. V82).
An den für die Schrumpfungsuntersuchungen vorgesehenen Proben werden die Mess-
längen L0 ermittelt. Die Schrumpfungsbehandlung der Proben erfolgt dann 30 °C oberhalb
der Vicat-Temperatur in Glykol. Nach 30 Minuten ist erfahrungsgemäß der Schrumpfpro-
zess praktisch beendet. Danach werden die Längen L1 bestimmt, wobei durch geeignete
Mittlung berücksichtigt wird, dass sich die oberflächennahen Probenbereiche wegen ihres
starken Orientierungsgrades stärker verkürzen als die Kernbereiche.
Weiterführende Literatur
87.1 Grundlagen
Die Eigenschaften von Polymerwerkstoffen lassen sich durch den chemischen oder phy-
sikalischen Einbau von geeigneten Zusätzen in gezielter Weise beeinflussen. Zweckmäßi-
gerweise wird dabei zwischen teilchen- und faserförmigen Einlagerungen unterschieden.
Das mechanische Verhalten dieser heterogenen Polymerwerkstoffe wird durch die Form,
die Größe, die Verteilung sowie die Art der Einlagerungen bestimmt. Bei Teilcheneinlage-
rungen wird von gefüllten sowie von modifizierten Polymerwerkstoffen, bei Fasereinlage-
rungen von faserverstärkten Polymerwerkstoffen gesprochen.
Bei den glasfaserverstärkten Polymerwerkstoffen finden als Matrix überwiegend unge-
sättigte Polyesterharze und Epoxidharze Anwendung. Als Verstärkungsfasern werden i.
Allg. Glasfaserspinnfäden in Form von Rovings, Geweben oder Gelegen (vgl. Abb. 87.1)
verwendet. Die einzelnen Spinnfäden werden von jeweils mindestens 200 Elementarfasern
(Durchmesser 7–13 μm) gebildet. Einzelne Rovings umfassen stets eine bestimmte Anzahl
von Spinnfäden (z. B. 30 oder 60). Gewebe bestehen aus senkrecht verkreuzten Spinnfäden
oder Rovings. Matten schließlich werden meist aus regellos orientierten, etwa 50 mm lan-
gen Spinnfädenstücken oder endlosen, schlingenförmig gelegten Spinnfäden hergestellt.
Auch Thermoplaste können durch Einlagerung von Fasern verstärkt werden. Dabei finden
häufig kurze Fasern mit Längen von ~ 0,2 mm Anwendung. Im Leichtbau werden zuneh-
mend auch Fasern aus Kohlenstoff und aromatischen Polyamiden verwendet, die infolge
ihrer extrem hohen Festigkeits- und Modulwerte Verbundwerkstoffe mit außerordentlich
günstigem Festigkeits-Gewichts-Verhältnis ergeben.
Die bei der Herstellung von glasfaserverstärkten Duroplasten benutzten Harze liegen
in flüssiger Form vor. Sie werden nach Zugabe geeigneter Härtungszusätze mit den Glas-
verstärkungen zusammengebracht und nach der Formgebung ausgehärtet. Dabei geht die
Matrix in einen festen, vernetzten und damit unschmelzbaren Zustand über. Elastizitäts-
modul und Zugfestigkeit der Glasfasern und des ausgehärteten Harzes unterscheiden sich
beide etwa um einen Faktor 20. Bei Kenntnis der Eigenschaften der Komponenten lassen
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 683
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_87, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
684 87 V87 Glasfaserverstärkte Polymerwerkstoffe
Abb. 87.1 Glasfaserverstärkungen für Duroplaste: Rovings (a), Gewebe (b), Gelege (c)
sich die Eigenschaften des Verbundwerkstoffs abschätzen. Den einfachsten Fall stellt die in
Abb. 87.2 skizzierte unidirektionale Rovingverstärkung dar.
Dabei werden die vier angedeuteten Grundbeanspruchungsarten unterschieden. Bei
der Beanspruchung durch Normalspannungen längs (σ || ) bzw. quer (σ ⊥) zu den Fasern
kann der Verbundkörper als Parallelschaltung bzw. Hintereinanderschaltung von Harz-
und Glasbereichen aufgefasst werden. Bei σ || -Beanspruchung vermittelt zwischen der mitt-
leren Spannung und der mittleren Dehnung der nach der linearen Mischungsregel be-
rechenbare Elastizitätsmodul. Eine große Verstärkungswirkung ist zu erwarten. Bei σ ⊥ -
Beanspruchung stehen beide Komponenten unter gleicher Spannung und wegen der star-
ken Modulunterschiede treten zwischen Glas und Harz große Dehnungsunterschiede auf.
Da die Glasdehnungen sehr klein sind, wird praktisch die ganze Verformung vom Harz
aufgenommen. Die tatsächliche Dehnung des Harzes ist aber größer als die makroskopisch
messbare Dehnung am Verbund. Die Glasfasern können als im Harz schwimmend ange-
sehen werden. Insgesamt wird eine kleinere Quer- als Längszugfestigkeit erwartet. Infolge
der Kerbwirkung der Fasern und der Dehnungsvergrößerung des Harzes zwischen den
Fasern ist die Querzugfestigkeit kleiner als 1/3 der Zugfestigkeit des unverstärkten Harzes.
Schließlich wirken bei Quer-Quer- und Längs-Quer-Schubbeanspruchung unterschied-
87.1 Grundlagen 685
Abb. 87.3 Zugverformungsverhalten von Faser und Harz (a) sowie Festigkeit des Verbundes in Ab-
hängigkeit vom Faservolumenanteil (b)
Ev = EF VF + EH ( − VF ) . (87.1)
dσn
Ev = EF VF + ∣ ∣ ( − VF ) . (87.2)
dεt ε=εt
Dabei ist dσn /dεt∣ε=εt der Kurvenanstieg der σ n ,εt -Kurve der reinen Harzmatrix bei der
Totaldehnung εt , die der Totaldehnung des Verbundes entspricht. Ist dσ n /dεt hinreichend
klein, so ist der Elastizitätsmodul näherungsweise durch
Ev = EF VF (87.3)
bestimmt.
686 87 V87 Glasfaserverstärkte Polymerwerkstoffe
Bei der Beurteilung der Zugfestigkeit des Verbundwerkstoffes wird davon ausgegangen,
dass diese erreicht ist, wenn die Totaldehnung der verstärkten Matrix gleich der Bruchdeh-
nung der Fasern unter Zugbeanspruchung ist. Die Zugfestigkeit ergibt sich daher zu (vgl.
Abb. 87.3b)
Rm,V = Rm,F ⋅ VF + σH ( − VF ). (87.4)
Dabei ist Rm,F die Zugfestigkeit der Fasern und σ H die Matrixspannung, bei der die
genannte Bedingung erreicht wird. Der√theoretische Grenzwert von V F liegt für Fasern
mit kreisförmigem Querschnitt bei π/2 ⋅ 100 Vol.-% = 90,7 Vol.-%. Praktisch lassen sich
aber keine größeren Werte als ~ 80 Vol.-% erreichen. Ist Rm,H die Bruchspannung des rei-
nen Harzes, so folgt aus Gl. 87.4 als Forderung für eine Verstärkungswirkung
oder
Rm,H − σH
VF ≥ = VF,krit . (87.6)
Rm,F − σH
Bei sehr kleinen Fasergehalten gehorcht jedoch die verstärkte Matrix nicht mehr
Gl. 87.4. Wird angenommen, dass alle Fasern eines Querschnitts gebrochen sind, dann
wird nur dann der vollständige Bruch des Verbundwerkstoffes erfolgen, wenn Rm,V > Rm,H
(l − V F ) ist. Dabei ist Rm,H (1 − V F ) der Widerstand des verbleibenden Harzvolumens
gegen eine vollständige Trennung. Das führt auf die veränderte Bruchbedingung
womit sich der minimale V F -Wert, ab dem Gl. 87.4 gültig ist, zu
Rm,H − σH
VF > = VF,min (87.8)
Rm,F − σH + Rm,H
ergibt. In Abb. 87.3b sind die erörterten Zusammenhänge aufgezeichnet. Stets ist V F,min <
V F,krit . Bei kleinen V F -Werten fällt Rm,V mit wachsendem V F zunächst ab, erreicht seinen
Minimalwert bei V F = V F,min und wächst dann wieder linear mit V F an. In praktischen
Fällen kann der Minimalwert Beträge bis etwa 0,5 Rm,H annehmen.
Für unidirektional verstärkte Polymerwerkstoffe, bei denen diskontinuierlich verteilte
Fasern mit in jedem Querschnitt konstantem Anteil wie bei kontinuierlicher Faserver-
stärkung vorliegen, lässt sich der Elastizitätsmodul ebenfalls durch Gl. 87.2 beschreiben,
wenn nur die Fasern eine bestimmte Länge überschreiten, die sich aus den veränderten
Kraftübertragungsbedingungen ableiten lässt. In Abb. 87.4 ist der Verbund aus einzelnen
Glasfasern und einem Harzmatrixvolumen schematisch angedeutet, der als Ganzes ma-
kroskopisch homogen gedehnt sein soll. Unter der Einwirkung einer einachsigen Zugbe-
anspruchung parallel zu den Faserachsen treten – wegen der unterschiedlichen Elastizi-
tätsmoduln – verschieden große Längenänderungen von Harz und Glas auf. Diese rufen
87.1 Grundlagen 687
Abb. 87.5 Verteilung von Längskraft (a) und Längsspannung (b) in einer Faser sowie Längsdehnung
(c) in und beiderseits einer Faser
Fz
σzz = . (87.11)
π ⋅ rF
l
∫ σzz dz = σ . (87.13)
l
Eine betragsmäßige Begrenzung von σ zz ist dabei dadurch gegeben, dass die elastischen
Längsdehnungen der Faser nirgends die mittlere Dehnung εv des Verbundes überschreiten
87.1 Grundlagen 689
dürfen, weil sonst Rissbildung auftreten würde. Durch σzz = Fz /π ⋅ rF < εV EF wird dies
erreicht. Als Folge davon steigen F z und σ zz von den Faserenden aus linear mit z jeweils
nur bis zu von εv abhängigen Beträgen an und bleiben dann konstant. Damit eine Faser
diese Beanspruchung aber überhaupt aufnehmen kann, muss sie – wie aus Gl. 87.12 folgt –
eine Faserlänge
rF EF
z = l ≥ z min = l min = εV (87.14)
τ
besitzen. Bei den in Abb. 87.5 skizzierten Verhältnissen ist angenommen, dass l > lmin erfüllt
ist.
Andererseits muss aber offensichtlich auch verhindert werden, dass über die Scherun-
gen Längsspannungen σ zz entstehen, die die Zugfestigkeit Rm,F der Faser überschreiten.
Gl. 87.12 liefert dafür mit σ zz < Rm,F die Bedingung
rF Rm,F
z = l < zkrit = lkrit = . (87.15)
τ
Genauere Untersuchungen haben ergeben, dass sich die kritische Faserlänge lkrit in guter
Näherung mit τ = Rm,τ abschätzen lässt. Dabei ist Rm,τ die Scherfestigkeit des Verbundes
Glasfaser/Harz. Die Größe
rF Rm,F
lü = lkrit = (87.16)
Rm,τ
wird Übertragungslänge genannt. Bei einer Faserlänge l > lkrit liegen daher die in Abb. 87.6
skizzierten Verhältnisse vor, wenn im mittleren Teil der Faser eine Längsspannung σ zz er-
reicht wird, die der Zugfestigkeit Rm,F der Faser entspricht. Dann ist lmin = lkrit , und als
mittlere Zugfestigkeit Rm,F der Faser im Verbund ergibt sich
l − lü lü lü lkrit
R̄m,F = Rm,F + Rm,F = Rm,F ( − ) = Rm,F ( − ). (87.17)
l l l l
Ist Rm,F bekannt, so lässt sich nunmehr die Zugfestigkeit Rm,V des gesamten Verbund-
werkstoffes mit dem Faservolumenanteil V F unter Zuhilfenahme von Gl. 87.4 abschätzen.
Wird dort Rm,F durch R̄m,F nach Gl. 87.17 ersetzt, so ergibt sich
lkrit
Rm,V = Rm,F ( − ) VF + σH ( − VF ) . (87.18)
l
Der Vergleich mit Gl. 87.4 zeigt, dass bei gleichem Fasergehalt diskontinuierliche Fasern
zu kleineren Festigkeiten des Verbundes führen als kontinuierliche Fasern. Ferner folgt,
dass Rm,V um so kleiner wird, je größer bei gegebenem Fasergehalt die kritische Faserlänge
lkrit ist. Es werden deshalb wegen Gl. 87.16 große Rm,τ -Werte, also beste Haftung zwischen
Glasfaser und Harzmatrix an. Andererseits ist aus Gl. 87.18 erkennbar, dass, bei gegebener
Zugfestigkeit Rm,F der Fasern, ein bestimmter Rm,V -Wert mit um so kleinerer kritischer
Faserlänge erreicht werden kann, je größer der Glasfaseranteil ist.
690 87 V87 Glasfaserverstärkte Polymerwerkstoffe
87.2 Aufgabe
87.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche liegen drei Gruppen von Probestäben mit unterschiedlichen Glasge-
halten sowie Probestäbe aus Reinharz vor. Die mechanischen Untersuchungen erfolgen mit
einer 100 kN-Zugprüfmaschine. Zunächst werden die Anfangsmoduln der Proben un-
ter Zugrundelegung der gleichen Arbeitsschritte wie in V22 bestimmt. Danach werden
die Kraft-Längenänderungskurven (vgl. V23) aufgenommen und daraus kennzeichnende
Werkstoffwiderstandsgrößen ermittelt (vgl. V84).
Weiterführende Literatur
88.1 Grundlagen
Schaumstoffe bestehen aus vielen kleinen, wabenförmigen, luft- oder gasgefüllten Hohlräu-
men (Zellen), die von offenen oder geschlossenen polymeren Gerüststrukturen umgeben
sind. Wichtige Vertreter sind Polystyrol-, Polyvinylchlorid-, Polyethylen-, Polypropylen-
und Polyurethanschäume. Das Raumgewicht der Schaumstoffe kann über den Polymer-
werkstoffanteil sowie die mittlere Zellgröße weitgehend unabhängig voneinander einge-
stellt werden. Abbildung 88.1 zeigt den Querschliff durch einen PE-Hartschaum. Offene
und geschlossene Zellwände sind gut zu erkennen. Wegen ihrer vorzüglichen mechani-
schen sowie wärme- und schallisolierenden Eigenschaften finden Schaumstoffe verbreitete
Anwendung.
Bei der Schaumstoffherstellung werden verschiedenartige Methoden angewandt. Bei
PS wird entweder von aufgeschmolzenen Polymeren ausgegangen, denen das Treibmit-
tel unter Druck zugepumpt wird, oder es wird ein bereits mit Treibmitteln versehenes
Granulat (schäumbare Polymerpartikel) als Ausgangssubstanz benutzt. Die erstgenann-
te Methode wird mit speziell ausgerüsteten Extrudern (vgl. V83) realisiert. Es entstehen
Schaumstoffe mit geschlossenen Zellen. Das von schäumbaren PS-Teilchen ausgehende
Schaumherstellungsverfahren arbeitet zweistufig. Dabei werden zunächst die Teilchen bis
zu einer bestimmten Dichte durch Wasserdampf oder heißes Wasser aufgeschäumt und
dann nach Zwischenlagerung in einer festen Form ebenfalls durch Einblasen von Wasser-
dampf weiter aufgeschäumt bis zur völligen Verschweißung der Teilchen untereinander.
Bei der PU-Schaumstoffherstellung erfolgt dagegen die Verschäumung gleichzeitig wäh-
rend der polymeren Synthesereaktion. Durch geeignete Wahl der Ausgangssubstanzen lässt
sich z. B. erreichen, dass CO2 abgespaltet wird, unter dessen Wirkung sich die entstehenden
Polymere in einer räumlichen Zellstruktur anordnen.
Die mechanischen Eigenschaften der Schaumstoffe können chemisch durch Einbau
größerer und steiferer Gruppen, durch Beeinflussung der Vernetzungsdichte, durch
Verkürzung der polymeren Ausgangsketten sowie durch Erhöhung der Zahl der Ket-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 693
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_88, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
694 88 V88 Wärmeleitvermögen von Schaumstoffen
tenverzweigungen beeinflusst werden (vgl. V82). Eine Vorstellung von den zügigen
Verformungseigenschaften, die PUR-Hartschäume unterschiedlichen Raumgewichtes
besitzen, gibt Abb. 88.2. Es ist erkennbar, dass die Lastaufnahmefähigkeit mit wachsen-
dem Raumgewicht anwächst und von der Lage der Proben bezüglich der Schäumrichtung
beeinflusst wird. Nachfolgend wird näher auf das Wärmeleitvermögen der Schaumstoffe
eingegangen.
Die Wärmeübertragung von einem Ort hoher Temperatur zu einem anderen mit kleine-
rer Temperatur kann durch Wärmeleitung, Wärmekonvektion und/oder Wärmestrahlung
erfolgen. Bei der Wärmeleitung geschieht der Energietransport in Festkörpern über die
Wärmeschwingungen der Atome, in Gasen über die Stoßwirkung der Moleküle. In beiden
Fällen ist damit kein Transport von Materie verbunden. Die Wärmekonvektion ist dagegen
gerade durch Materialtransport charakterisiert. Die Energieübertragung erfolgt durch Be-
legung der die Wärme transportierenden Substanz. Bei der Wärmestrahlung schließlich
wird Energie ohne jegliche direkte oder indirekte Mitwirkung von Materie durch elek-
tromagnetische Wellen übertragen. In Schaumstoffen tragen alle drei Mechanismen zum
Wärmetransport bei. Besteht zwischen den ebenen Begrenzungen eines Schaumstoffs eine
Temperaturdifferenz, so wird von der Oberfläche mit der höheren Temperatur die Wärme
zunächst über die Stege und Zellwände der Hartschaumstruktur weitergeleitet. Von dort
findet ein Wärmeübergang in das Zellgas statt, welches seinerseits die Wärme an die küh-
leren Wände weiterleitet. Reine Wärmeleitung tritt dabei nur in kleinen Zellen auf. Bei
größeren Zellen kann es infolge der durch die einseitige Erwärmung bedingten Dichte-
unterschiede zu einer Wärmekonvektionsströmung kommen, die sich der Wärmeleitung
überlagert. Ein weiterer Teilbetrag der Wärmemenge wird durch Strahlung von der wärme-
88.1 Grundlagen 695
ren auf die kältere Seite der Schaumzelle übertragen. Wirken in der beschriebenen Weise
Leitung, Konvektion und Strahlung zusammen, so lässt sich der ganze Wärmetransport
durch
beschreiben. Meist ist QKonvektion(Gas) vernachlässigbar klein. Als Beispiel sind in Tab. 88.1
für einen Polyurethanschaum mit Luft- bzw. Frigenfüllung die Anteile der einzelnen Über-
tragungsmechanismen angegeben, wobei die vom Hartschaumstoff mit Luftfüllung über-
tragene Wärmemenge gleich 100 % gesetzt wurde. Erkennbar ist, dass die Wärmeüber-
696 88 V88 Wärmeleitvermögen von Schaumstoffen
Tab. 88.1 Prozentuale Anteile der einzelnen Wärmeübertragungsmechanismen bei einem Polyu-
rethanschaum mit einem Raumgewicht von 32 kg/m
Zellgas
Anteile
Luft Frigen
Q Leitung (Fest) 16,7 % 16,7 %
Q Leitung (Gas) 71,0 % 21,0 %
Q Konvektion (Gas) 0 0
Q Strahlung 12,3 % 12,3 %
Q gesamt 100,0 % 50,0 %
tragung bei frigengefülltem Polyurethan nur halb so groß ist wie bei luftgefülltem. Beim
Wärmetransport durch den luftgefüllten Schaumstoff überwiegt der Anteil QLeitung(Gas) des
Zellgases. Der geringe Anteil QLeitung(Fest) an Qgesamt ist darauf zurückzuführen, dass der
Hartschaum infolge des Raumgewichtes von 32 kg/m nur knapp 3 Vol.-% Polymerwerk-
stoff enthält. Bei dem frigengefüllten Schaumstoff sind wegen des geringen Wärmeleitver-
mögens des Frigens QLeitung(Gas) und QLeitung(Fest) nahezu gleich groß.
Für die praktische Beurteilung der Wärmeübertragung bei Schaumstoffen reicht eine
weniger detaillierte Betrachtung aus. Bei dem in Abb. 88.3 skizzierten Fall wird davon aus-
gegangen, dass der Wärmeübergang allein durch Wärmeleitung bestimmt wird und setzt
die Gültigkeit der eindimensionalen Wärmeleitungsgleichung
dQ dT
= λ∗ A (88.2)
dt dx
voraus. Dabei ist dQ/dt die Wärmemenge dQ, die im Zeitintervall dt die Fläche A durch-
setzt, wenn über der Strecke dx der Temperaturunterschied dT vorliegt. λ* hat hier die
Bedeutung einer fiktiven Wärmeleitzahl. Zeitliche Integration von Gl. 88.2 liefert
Q dx W
λ∗ = [ ]. (88.3)
At dT mK
Bei konstantem Temperaturgefälle dT/dx lässt sich also durch Messung der in der Zeit
t durch die Fläche A hindurch geflossenen Wärmemenge Q die Wärmeleitzahl λ* bestim-
men. Dieses stationäre Messverfahren ist sehr aufwendig, weil die Temperaturen T 1 und
T 2 während der Messung konstant gehalten werden müssen. Deshalb wird vielfach ein in-
stationäres Messverfahren angewandt, bei dem Prüfobjekt eine definierte Wärmemenge
dQ = mc p dT (88.4)
über einen Wärmespeicher zugeführt wird. Dabei ist m die Masse und cp die spezifische
Wärme des Wärmespeichers bei konstantem Druck und dT der Temperaturunterschied
88.1 Grundlagen 697
zwischen Wärmespeicher und Umgebung. Zur Ableitung der Wärme wird der Wärme-
speicher mit dem Prüfobjekt in Kontakt gebracht. Dabei zeigt die Kontakttemperatur als
Funktion der Zeit einen ähnlichen Verlauf wie in Abb. 88.4. Aufgrund von Gln. 88.2 und
88.4 gilt
mc p dx dT
λ∗ = . (88.5)
A dT dt
dT/dt wird der Abkühlkurve T(t) als dT/dt = ΔT/Δt entnommen. Die T,t-Kurve stellt,
da dT/dt ~ T ist, eine Exponentialfunktion dar, deren Subtangenten für beliebige t gleich
groß sind. Das zugehörige Temperaturgefälle dT/dx der Probe mit der Dicke D wird als
dT/dx = ΔT/D eingesetzt. Damit wird Gl. 88.5 zu
mc p D
λ∗ = ⋅ . (88.6)
A Δt
Sind m, cp , D und A bekannt, so lässt sich also die Wärmeleitzahl λ* mit Hilfe der Sub-
tangente Δt berechnen, die für einen beliebigen Zeitpunkt durch Ziehen einer Tangente an
die T(t)-Kurve ermittelt werden kann.
88.2 Aufgabe
Von zwei Hartschaumstoffen aus Polystyrol mit unterschiedlichen Füllgasen ist die Wär-
meleitzahl λ* zu bestimmen.
88.3 Versuchsdurchführung
Aus den zu prüfenden Schaumstoffen werden Hohlzylinder der in Abb. 88.5 oben an-
gegebenen Form hergestellt. Als Wärmespeicher dient ein vorgefertigter Kupferzylinder
(cp = 0,3884 kJ/K kg, m = 0,209 kg), der in einem Trockenschrank auf ~ 80 °C erwärmt
und anschließend in die Bohrung des Prüfkörpers eingeschoben wird. Dabei wird ein
zuvor eingelegtes Thermoelement gegen die Innenwand des Hohlzylinders gedrückt. Da-
nach wird das verbleibende Hohlzylindervolumen beidseitig mit Stopfen aus Schaumstoff
verschlossen. Der so vorbereitete Prüfkörper wird in ein eng anliegendes Glasgefäß ein-
geschoben. Danach wird das Glasgefäß zusammen mit einem Referenzthermoelement,
wie in Abb. 88.5 unten angedeutet, in Eiswasser eingehängt und der zeitliche Verlauf der
Temperatur an der Schaumstoffoberfläche gemessen. Für die λ*-Bestimmung wird die
Subtangente der T,t-Kurve bei einer Temperatur von 40 °C ermittelt. Bei der gewählten
Versuchsanordnung entsteht wegen der endlichen Länge des Prüfkörpers und der Annah-
me eines örtlichen linearen Temperaturverlaufs ein systematischer Fehler. Um die wahre
Wärmeleitzahl λw * zu erhalten, ist der nach Gl. 88.6 berechnete λ*-Wert gemäß
Weiterführende Literatur
89.1 Grundlagen
Die Lehre von Verschleiß, Reibung und Schmierung wird unter dem Begriff Tribologie zu-
sammengefasst. Tritt ein fester Körper mit einem festen, flüssigen oder gasförmigen Gegen-
körper in Kontakt oder führt eine Relativbewegung zu diesem aus, kommt es zu Verschleiß
und Reibung. Dabei werden Verschleiß und Reibung in der Tribologie immer als System-
Eigenschaften der beteiligten Körper und Medien betrachtet. Grund- und Gegenkörper,
das Zwischenmedium und die Umgebungsatmosphäre bilden ein sog. Tribologisches Sys-
tem.
Verschleiß ist als Materialverlust aus der Oberfläche infolge mechanischer Beanspru-
chung definiert. Es wird zwischen Verschleißmechanismen und Verschleißarten unter-
schieden. Die Verschleißmechanismen sind Adhäsion, Abrasion, Oberflächenzerrüttung
und tribochemische Reaktion und beschreiben die zugrunde liegenden Ursachen des Ver-
schleißes.
Die Adhäsion ist durch einen Materialübertrag infolge von (Mikro-)Kaltverschwei-
ßungen in Oberflächenbereichen gekennzeichnet (Abb. 89.1). Da die Oberfläche von
Werkstoffen nie vollkommen eben ist, erfolgt die eigentliche Berührung über viele kleine
Kontaktflächen. In diesen kleinen Kontaktzonen werden die Rauheitsgipfel elastisch oder
und zum Wachstum von Rissen kommen. Bei fortschreitendem Risswachstum kommt es
zur Abtrennung von Partikeln und zur Bildung von Grübchen (engl. pittings) (Abb. 89.6).
Bei der tribochemischen Reaktion kommt es zu einer Entstehung von spröden Reakti-
onsprodukten infolge einer chemischen Reaktion. Die Reaktion kann dabei mit dem Um-
gebungsmedium, insbesondere Luft (Oxidation), oder eventuellen Schmiermitteln ablau-
fen. Auslöser kann die Entfernung passivierender Schichten oder die reibungsbedingte
Temperaturerhöhung durch die mechanische Beanspruchung sein. Die spröden Reakti-
onsprodukte können sich in der Folge durch die mechanische Beanspruchung von der
Oberfläche lösen (Abb. 89.7 und 89.8).
Die Verschleißarten werden anhand der Verschleißkörper und der Beanspruchungs-
bzw. Bewegungsarten unterteilt. So wird bei festen Körpern zwischen Roll-, Wälz-, Gleit-
und Stoßverschleiß unterschieden. Bei einem festen Körper und einem flüssigen oder gas-
förmigen Gegenmedium werden dagegen die hier nicht näher erläuterten Begriffe Kavi-
tations- bzw. Gaserosion verwendet. An den Verschleißarten sind die verschiedenen Ver-
schleißmechanismen in unterschiedlichen Anteilen beteiligt, so dass auch mehrere vor-
herrschende Verschleißmerkmale für eine Verschleißart auftreten können.
Als Reibung wird der Bewegungswiderstand verstanden, der eine Relativbewegung kon-
taktierender Körper verhindert bzw. dieser entgegenwirkt. Analog zum Verschleiß gibt es
bei der Reibung eine Differenzierung nach Reibungsmechanismen und Reibungsarten.
Die der Reibung zugrundeliegenden Mechanismen sind die Adhäsion, Abrasion, plas-
tische Deformation und elastische Hysterese (Abb. 89.9). Wie bereits beim Verschleiß be-
schrieben, kommt es durch die Abrasion zu einem Materialabtrag infolge einer Mikrozer-
spanung. Bei der Adhäsion werden Bindungen gebildet und gelöst. Beide Mechanismen
verbrauchen Energie und erhöhen dadurch den Bewegungswiderstand. Bei der elastischen
Hysterese und der plastischen Deformation wird durch temporäre oder dauernde Verfor-
mungen Energie dissipiert. Dieses geschieht durch die Erhöhung der Gitterschwingungen
bei der elastischen Hysterese bzw. durch die Einbringung von Gitterfehlern bei der plasti-
schen Deformation.
89.2 Aufgabe 705
Die Reibungsarten werden durch den Aggregatzustand der Reibungspartner bzw. des
Zwischenmediums in folgende Reibungsbegriffe eingeteilt:
• Festkörperreibung (fest/fest)
• Flüssigkeitsreibung (fest/flüssig)
• Gasreibung (fest/gasförmig)
• Mischreibung (Mischung aus Festkörper-, Flüssigkeits- und/oder Gasreibung)
• Grenzreibung (Festkörperreibung mit einem sehr dünnen Schmierfilm)
89.2 Aufgabe
89.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein Kugel- bzw. Stift-Scheibe-Tribometer zur Verfügung. In
Abb. 89.10 ist schematisch dessen Funktionsweise dargestellt. Um eine Trockenreibung
möglichst ideal darzustellen, werden die Proben sowie die Kugeln gründlich mit Etha-
nol gereinigt und dann in die Vorrichtung eingebaut. Durch die Vorgabe des Kreisradius
(10 mm), des Kugeldurchmessers (∅ 10 mm), der Umdrehungszahl (120 min−1 ) und der
Normalkraft (20 N) wird ein definierter Ausgangszustand eingestellt. Die Laufzeit soll pro
Probe jeweils eine Stunde betragen.
Die Messgrößen des Kugel-Scheibe-Tribometers sind die Normalkraft und das Dreh-
moment als Funktion der Zeit bzw. des Weges. Durch Umformung der Gln. 89.1 und 89.2
zu 89.3 kann aus den Messgrößen der Reibkoeffizient ermittelt werden. Die zeitlichen Ver-
läufe des Reibkoeffizienten sollen in einem Diagramm dargestellt werden und qualitativ
sowie quantitativ miteinander verglichen werden.
FR = μ ⋅ FN (89.1)
M = FR ⋅ r (89.2)
706 89 V89 Reibung und Verschleiß
M
μ= (89.3)
FN ⋅ r
Zusätzlich sollen die Verschleißvolumina der Kugel sowie der Probe ermittelt wer-
den und miteinander verglichen werden. Das Verschleißvolumen der Probe kann durch
Gl. 89.4 bestimmt werden. Hierzu wird das Profil der Verschleißspur mit einem Tast-
schnittgerät (siehe auch V21) ausgemessen.
Das Verschleißvolumen der Kugel kann durch Gl. 89.6 bestimmt werden. Hierzu wird
der Verschleißmarkendurchmesser der Kugel mit einem Lichtmikroskop bestimmt und aus
diesem mit Gl. 89.5 die Höhe des Verschleißes an der Kugel bestimmt.
√
d
tKugel = R − R − (89.5)
πt (R − tKugel )
VKugel = (89.6)
Weiterführende Literatur
90.1 Grundlagen
• Thermisches Verdampfen
• Elektronenstrahlverdampfen
• Laserstrahlverdampfen
• Lichtbogenverdampfen
• Kathodenzerstäubung.
mit einer glatten Oberfläche auf und kann je nach Anwendungsfall gute tribologische Ei-
genschaften aufweisen.
In Zone 2 findet Oberflächendiffusion statt. Es bildet sich eine säulenartige Struktur
mit geringer Porosität und Rauheit. Der Durchmesser der Säulen nimmt mit steigender
Temperatur zu. Die tribologischen Eigenschaften sind in der Regel gut.
In der Zone 3 ist aufgrund der hohen Temperatur – zusätzlich zur Oberflächendiffu-
sion – eine Volumendiffusion möglich und es ergibt sich eine Struktur, die sich durch
eine sehr hohe Packungsdichte und eine glatte Oberfläche auszeichnet. Die tribologischen
Eigenschaften der Zone 3 wären sehr gut, jedoch ist für eine technische Nutzung die Be-
schichtungstemperatur zu hoch.
In Abb. 90.3 und Abb. 90.4 sind zwei Titannitrid-Schichten (TiN) mit unterschiedlichen
Schichtmorphologien dargestellt. Durch einen höheren Ionisationsgrad bei der Abschei-
dung ist die Struktur der TiN-Schicht in Abb. 90.4 wesentlich dichter und sollte somit auch
bessere mechanische Eigenschaften aufweisen.
Der Begriff Topografie beschreibt die strukturellen Merkmale einer technischen Ober-
fläche. Die Topographie beeinflusst die oberflächenspezifische Eigenschaften (Reibungsko-
effizent, Benetzung etc.) und damit auch Eigenschaften des gesamten Bauteils (Standzeit,
Wirkungsgrad etc.). Zur Charakterisierung der Oberflächentopographie können folgende
Größen herangezogen werden:
• Rauheitskenngrößen
• Erscheinung einer Textur auf der Oberfläche
• Regelmäßiges Auftreten von Fehlstellen (Risse, Poren)
Abb. 90.5 und Abb. 90.6 REM-Aufnahmen einer Oberfläche aus einem Drehprozess und
einer Pretex©-Feinblechstruktur dargestellt. Während die Drehoberfläche prozessbedingt
entstanden ist, wurde die Pretex©-Feinblechstruktur gezielt durch einen Walzprozess mit
strukturierten Walzen erzeugt. Diese Struktur führt dabei durch die erzeugten Schmierta-
schen zu Vorteilen bei Blechumform- und Lackierprozessen.
Speziell die Rauheit gilt bei technischen Oberflächen als ein besonderes Qualitätsmerk-
mal. Die Rauheit kann sowohl die Reibung (oberflächenspezifische Eigenschaften) als auch
die Dauerfestigkeit (Eigenschaften des gesamten Bauteils) beeinflussen. In Abb. 90.7 ist im
zeitlichen Verlauf der Einfluss der Rauheit auf den Reibungskoeffizienten bei Gleitbean-
spruchung bzw. auf die Zeit- resp. Dauerfestigkeit bei einem Umlaufbiegeversuch darge-
stellt. Es lässt sich erkennen, dass mit steigender Rauigkeit der Reibungskoeffizient ansteigt.
Mit zunehmender Lastspielzahl kommt es durch eine Abplattung der Rauheitsspitzen zu ei-
90.1 Grundlagen 713
ner Verkleinerung der Rauigkeit und damit des Reibungskoeffizienten. Die zulässige Last-
spannung nimmt mit steigender Rauheit ab, dabei hat die Rauheit speziell bei hohen Last-
spielzahlen einen größeren Einfluss.
Die Grundlagen zur Rauheitsmessung sind in V21 erläutert. Zur Quantifizierung der
Oberflächentopographie kann neben dem in V21 vorgestellten Profilometer auch ein Ras-
terkraftmikroskop (Atomic Force Microscope – AFM) eingesetzt werden. Dies bietet –
speziell für Dünnschichtanwendungen – die Vorteile, dass sehr kleine Rauigkeiten gemes-
sen werden können und gleichzeitig ein flächiges Bild der Oberflächentopographie erstellt
werden kann.
Das AFM-Funktionsprinzip ist in Abb. 90.8 dargestellt. Ein Laser wird auf die Spitze
einer Blattfeder (Cantilever) fokussiert, an der eine feine Nadel (Abb. 90.9) angebracht ist.
Der Radius der Nadelspitze bestimmt dabei die maximal erreichbare Auflösung. Der Laser
wird von der Blattfeder reflektiert und über einen Spiegel auf einen Photodetektor gelei-
tet. Über die Verschiebung des Laserpunktes und die Steifigkeit der Blattfeder können die
Kräfte bzw. die Verschiebungen der Nadel ermittelt werden. Zusätzlich können Kräfte bzw.
Verschiebungen in der Z-Achse von einem Piezoelement detektiert werden.
Das AFM kann im Kontakt-Modus und Nicht-Kontakt-Modus operieren. Im Kontakt-
Modus steht die Spitze im direkten Kontakt mit der Probenoberfläche und fährt diese
zeilenweise ab. Die Bewegung der Nadel in X- und Y-Richtung wird dabei über Piezoele-
mente gesteuert. Es besteht die Möglichkeit, die Bewegung der Nadel mit einer konstanten
Kraft oder einer konstanten Verformung der Blattfeder durchzuführen. Eine konstante Ver-
714 90 V90 Topografie und Morphologie von PVD-Schichten
Abb. 90.7 Abhängigkeit des Reibungskoeffizienten (a) und der zulässigen Spannungsamplitude (b)
von der Rauigkeit bei Gleitbeanspruchung bzw. Umlaufbiegung
formung wird meist bevorzugt, nur bei einer kleinen Rauheit wird eine konstante Kraft
(größere Verformungen) eingesetzt.
Im Nicht-Kontakt-Modus wird die Spitze in ihrer Resonanzfrequenz angeregt und mit
geringem Abstand über die Probe gefahren. Durch den sehr kleinen Abstand entstehen
Kräfte (atomare, elektrische und magnetische) zwischen der Spitze und der Probe. Ände-
rungen dieser Kräfte resultieren in einer Änderung der Schwingungsamplitude und -phase.
Im Nicht-Kontakt-Modus werden hauptsächlich weiche und leicht verformbare Proben
untersucht.
90.2 Aufgabe 715
90.2 Aufgabe
Es stehen vier martensitisch gehärtete Stahlproben aus 100Cr6 zur Verfügung. Die Stahl-
proben liegen in folgenden Zuständen vor:
Es sollen bei allen vier Proben die Rauigkeit und Oberflächentopographie mit Hilfe eines
AFM aufgezeichnet werden. Neben einer PVD-beschichteten Probe steht auch eine CVD-
beschichtete Probe (chemical vapour deposition) zur Verfügung. Die Ergebnisse sollen dis-
kutiert werden. Zusätzlich sollen die Schichtmorphologien im REM (siehe V47) betrachtet
werden. Die Schichtmorphologien der Beschichtungen sollen verglichen und eine qualita-
tive Einschätzung zur technischen Nutzbarkeit abgegeben werden.
716 90 V90 Topografie und Morphologie von PVD-Schichten
90.3 Versuchsdurchführung
Für die Untersuchungen steht ein AFM zur Verfügung. Vor der Untersuchung werden die
Proben mit Ethanol gereinigt. Als Parameter werden eine Scan-Range von 50 μm, eine
Scangeschwindigkeit von 200 μm/s und eine Auflösung von 300 Zeilen verwendet. Die Be-
stimmung der mittleren Rauheit (Ra ) und der quadratischen Rauheit (rms-Wert) kann über
die Auswertung des Bildes vom „topography sensor“ geschehen. Vor der Auswertung sollte
eine Nivellierung in horizontaler und vertikaler Richtung durchgeführt werden, um allge-
meine Schrägheiten der Probe nicht mit in den Mittenrauwert einzubeziehen. Das Bild des
„internal sensor“ kann für die qualitative Bewertung der Topographie verwendet werden.
Im Anschluss soll am REM die Schichtmorphologie ermittelt werden. Dazu werden
vorher präparierte Proben in flüssigen Stickstoff gebrochen und die Bruchkante sowie die
Oberfläche untersucht. Die beobachteten Schichtmorphologien sollen den Zonenmodellen
nach Thornton und nach Messier zugeordnet werden.
Literatur
Verwendete Literatur
[Fre87] Frey, H., Kienel, G.: Dünnschicht-Technologie. VDI Verlag, Düsseldorf (1987)
Weiterführende Literatur
[Ala11] Alang, N.A., Razak, N.A., Miskam, A.K.: Effect of Surface Roughness on Fatigue Life of Not-
ched Carbon Steel. International Journal of Engineering & Technology 11(1), 160 (2011)
[Bet11] Betz-Chrom GmbH & Co KG: Der Einfluss der mechanischen Vorbehandlung auf die Hart-
verchromung (2011)
[Hol94] Holmberg, K., Matthews, A.: Coatings Tribology. Elsevier, Oxford (1994)
[Sal11] Salzgitter Flachstahl GmbH (2011)
[TuD11] Technische Universität Darmstadt, Fachgebiet Oberflächenforschung (2011)
V91 Haftfestigkeit von Dünnschichten
91
91.1 Grundlagen
Die erste Voraussetzung, die für den erfolgreichen Einsatz einer Beschichtung erfüllt sein
muss, ist die ausreichende Haftfestigkeit zwischen der Schicht und dem Substrat. Diese ist
definiert als die Kraft, die zwei Oberflächen durch chemische Bindung oder mechanische
Verzahnung zusammenhält. Eine schlechte Haftfestigkeit kann durch Verunreinigungen
auf der Substratoberfläche, wie z. B. Fett, Wasserfilme und/oder Oxide, sowie durch hohe
Eigenspannungen in der Schicht verursacht werden.
Die Haftfestigkeit kann durch den in Abb. 91.1 dargestellten Stirnabzugsversuch ermit-
telt werden [NN94]. Dabei wird das beschichtete Substrat mit einem Gegenkörper verklebt
und die Haftfestigkeit über einen Zugversuch (siehe auch V23) ermittelt. Hierbei wird
die Last bis zum Versagen des Schichtverbundes gesteigert. Dies setzt voraus, dass die
Haftfestigkeit der Schicht unter der Zugfestigkeit des verwendeten Klebstoffes liegt. Für
gut haftende PVD-Schichten ist der Stirnabzugsversuch daher nicht geeignet. Es werden
andere Tests verwendet, die indirekt eine qualitative oder quantitative Bestimmung der
Haftfestigkeit erlauben.
Eine Methode, die Haftfestigkeit qualitativ zu bestimmen, ist der Rockwell-Eindruck-
test. Hierbei wird eine konventionelle Härteprüfung nach Rockwell C (siehe V8) durch-
geführt, anschließend werden die Härteeindrücke unter dem Lichtmikroskop untersucht.
Die Abdrücke können – anhand des entstandenen Rissnetzwerks sowie der Anzahl und
Fläche der Delaminationen – nach Abb. 91.2 in die sechs Haftfestigkeitsklassen (HF1 bis
HF6) eingeteilt werden. Voraussetzungen für die Haftfestigkeitsbestimmung mit dem
Rockwell-Eindrucktest sind eine hohe Substrathärte (> 54 HRC) und Schichtdicken von
unter 4 μm. Der Vergleich der Haftfestigkeiten untereinander sollte zudem nur unter glei-
chen Schichtsystemen erfolgen. Der Rockwell-Eindrucktest ist in der VDI-Richtlinie 3198
genormt [NN92].
Eine weitere Methode die Haftfestigkeit zu bestimmen, ist der sog. Ritztest (engl. scratch
test). Ein Schema des Ritztests ist in Abb. 91.3 dargestellt. Dabei wird mit einem Rockwell-
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 717
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_91, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
718 91 V91 Haftfestigkeit von Dünnschichten
Diamanten eine Spur in die Schicht geritzt. Die Last kann kontinuierlich entlang einer Spur
(Abb. 91.4a) oder von Spur zu Spur (Abb. 91.4b) gesteigert werden. Ab einer Grenzlast, der
kritischen Last (engl. critical load, Lc ), kommt es zu Abplatzungen der Schicht.
Die kritische Last kann über eine lichtmikroskopische Auswertung ermittelt werden.
Zudem besteht die Möglichkeit, während des Tests die akustischen Signale als Schallemis-
sion mit einem Ultraschall-Aufnehmer aufzuzeichnen. Dabei kommt es beim Erreichen
der kritischen Last – durch das Abplatzen der Schicht – zu einem deutlichen Anstieg der
Signalamplitude. Die Ermittlung der kritischen Last über eine licht- oder rasterelektronen-
mikroskopische Auswertung gilt jedoch als die genauere Methode.
Tritt bei mehreren Messungen ein ähnliches Schadensbild bei gleichen Lasten auf, so
handelt es sich um eine charakteristische Schädigung. Die aufgetretenen Schäden, wie z. B.
Risse oder Abplatzungen der Schicht, können so den entsprechenden kritischen Lasten
zugeordnet werden. Eine schematische Darstellung typischer Schadensmechanismen ist in
Abb. 91.5 aufgeführt. Dabei sind Delaminationen (Fall a–c) für die Beurteilung der Schicht-
schädigung maßgeblich.
91.2 Aufgabe 719
zulässig
HF 3 HF 4
HF 5 HF 6
nicht zulässig
Rissnetzwerk
Schichtausbrüche (Freilegen des Grundwerkstoffes)
91.2 Aufgabe
An den Proben sollen mit Hilfe des Rockwell-Eindrucktests und des Ritztests die Haft-
festigkeiten qualitativ und quantitativ bestimmt werden. Die Ergebnisse sollen kritisch dis-
kutiert werden.
720 91 V91 Haftfestigkeit von Dünnschichten
Ultraschall-
Resonanz-
aufnehmer
dx/dt
Signalamplitude
Ultraschall-
LC Last [N]
91.3 Versuchsdurchführung
Für die Versuche stehen eine Rockwell-Härteprüfung und ein Ritztester zur Verfügung.
Die Haftfestigkeit der Proben soll über je drei Rockwell-Härteeindrücke und fünf Ritzspu-
ren bestimmt werden. Die Proben werden vor dem Ritztest mit Ethanol in einem Ultra-
a Abplatzungen b
L1
<
L2
Ritzspur LC
<
L3
xC
< Abplatzungen
x0
L4
L
<
LC
L5 Ritzspur
x L3 < LC < L4
Abb. 91.4 a Spur eines Ritztests mit kontinuierlich wachsender Last, b Mehrere Spuren eines Ritztest
mit jeweils konstanter Last
91.3 Versuchsdurchführung 721
Biegung führt zu
gleichförmigen Rissen
e
σDruck
σZug
Überdehnung der Schicht
schallreinigungsbad gesäubert. Die Last beim Ritztest soll kontinuierlich von 0 auf 100 N
gesteigert werden. Es ist auf einen ausreichenden Abstand der Ritzspuren untereinander
zu achten (mindestens die dreifache Breite der Ritzspur). Nach der Durchführung der
Haftfestigkeitstests sollen die Proben im Lichtmikroskop ausgewertet und die Ergebnisse
diskutiert werden.
722 91 V91 Haftfestigkeit von Dünnschichten
91.4 Symbole
Literatur
[Bur87] Burnett, P.J., Rickerby, D.S.: The relationship between hardness and scratch adhesion. Thin
Solid Films 154, 403–416 (1987)
[NN92] VDI-Richtlinie 3198: Beschichten von Werkzeugen der Kaltmassivumformung. CVD- und
PVD-Verfahren. Beuth-Verlag, Berlin (1992)
[NN94] DIN EN 582 – Ermittlung der Haftzugfestigkeit. Beuth-Verlag, Berlin (1994)
[Sto93] Stock, H.-R., Schulz, A.: Empfehlung zur Bestimmung der Haftfestigkeit von Hartstoffschich-
ten. In: Jehn, H., Georg, R., Siegel, N. (Hrsg.) Charakterisierung dünner Schichten. Beuth Verlag
GmbH, Berlin (1993)
V92 Rückstreuelektronenbeugung (EBSD)
92
92.1 Grundlagen
Die heute als Electron backscatter diffraction (EBSD) bezeichnete Analysetechnik geht zu-
rück auf die Entdeckung der sog. Kikuchi-Linien, die bereits 1928 von Nishikawa und
Kikuchi im Transmissionselektronenmikroskop beobachtet wurden. Noch im selben Jahr
beschrieben sie, dass solche Beugungslinien auch im Reflexionsmodus erfasst werden kön-
nen – die Methodik, die man heute als EBSD bezeichnet.
In beiden Fällen wird der Primärelektronenstrahl inelastisch an den Atomen der be-
schossenen Probenstelle gestreut. Es entsteht dort eine divergente Elektronenquelle. Wenn
nun manche Elektronen von dort so auf Gitterflächen treffen, dass die Bragg’sche Reflex-
Bedingung erfüllt ist, kommt es zu konstruktiver Interferenz an allen Gitterflächen im vor-
liegenden Kristall. Es entsteht ein Beugungsbild aller Kristallebenen und Winkel, das die
Kristallsymmetrie beschreibt. Das so erzeugte Beugungsbild wird mit Hilfe eines Phos-
phorschirms aufgenommen. Die Auswertung dieser Beugungsbilder war ursprünglich eine
mühsame und zeitraubende Angelegenheit. Erst heute (mehr als 80 Jahre nach der ersten
Beschreibung) ist man aufgrund der modernen Kameratechnik und mit den Möglichkei-
ten der elektronischen Auswertung an schnellen PC-Systemen in der Lage, in kurzer Zeit
ortsaufgelöste Verteilungsbilder (Mappings) der Kristallstruktur und deren -orientierung
aufzunehmen. Mit entsprechender Software und hochauflösenden Detektoren ist selbst die
Analyse von inneren Spannungen im Werkstoff (sog. Eigenspannungen) möglich.
EBSD-Systeme werden größtenteils in Rasterelektronenmikroskopen eingesetzt mit
dem Vorteil der hohen örtlichen Auflösung (~ 10 nm). Die Probe wird dazu üblicherweise
in einem Winkel von 70° zum einfallenden Primärelektronenstrahl eingespannt.
Die auf die Probenoberfläche einfallenden Primärelektronen erzeugen auf einem ent-
sprechend angeordneten Fluoreszenzbildschirm Linienmuster (pattern), die von einer
schnellen optischen Kamera aufgenommen und zur Auswertung in einem Rechnersystem
weitergeleitet werden. In Abb. 92.1 ist der prinzipielle Aufbau einer EBSD-Anordnung in
einem Rasterelektronenmikroskop dargestellt.
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 723
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_92, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
724 92 V92 Rückstreuelektronenbeugung (EBSD)
Zur Auswertung solcher Linienmuster stehen Datenbanken zur Verfügung, die anhand
der angegebenen Einheitszellen verbunden mit den Netzebenenabständen angeben kön-
nen, um welche Phase es sich bei dem zu analysierenden Material handelt. Darüber hinaus
können anhand der Linien auch die Neigungswinkel der vorliegenden Einheitszellen zur
Normalenrichtung der Oberfläche (ND) bestimmt werden.
In Abb. 92.2 ist ein an reinem Nickel aufgenommenes Linienmuster gezeigt. Nickel hat
ein kubisch-flächenzentriertes (kfz) Raumgitter mit einer Gitterkonstante von 3,52 Å. An
diesem Pattern kann das Auswertesystem die Lage, die Kreuzungspunkte und die Breite der
Linien bestimmen und daraus die Phase, die Netzebenenabstände und die Neigungsrich-
tung der Einheitszelle zur Einfallsrichtung des Elektronenstrahls berechnen. In Abb. 92.2
sind die Linien markiert, die den Netzebenen 220 (grün), 111 (blau) und 020 (rot) zu-
zuordnen sind. In den nebenstehenden kubischen Einheitszellen sind die entsprechenden
Netzebenen mit gleicher Farbe markiert.
Mit diesen Informationen kann dann ein Orientierungs-Mapping (OIM – Orientation
Imaging Microscopy) erzeugt werden. Dabei wird eine Probenfläche abgerastert und an
jedem Punkt die Linienmuster aufgenommen und ausgewertet. Das in Abb. 92.3 gezeig-
te Verteilungsbild wurde an einer Rein-Nickelprobe aufgenommen. Die Bereiche gleicher
Farbe repräsentieren dabei Körner gleicher Orientierung zur Oberfläche. Beim Übergang
zu einem benachbarten Korn wechselt die Orientierung der Kristallstruktur plötzlich an
der Korngrenze und ein anders orientiertes (und in der Darstellung anders farbiges) Korn
beginnt. An diesen Korngrenzen kann in einem engen Bereich von der Software nicht ent-
schieden werden, welche Orientierung der Einheitszellen vorliegt. Die Qualität der Bilder
(QI – quality of image) ist an diesen Stellen schlecht, was man sich für einen weiteren Ab-
bildungsmodus zu Nutze machen kann. In der QI-Darstellung sind die Korngrenzen sehr
deutlich als dunkle Linien zu erkennen, weil dort die Qualität der Orientierungsbestim-
mung schlecht ist. Aus beiden Darstellungsarten ist über Bildanalysen eine sehr genaue
Bestimmung der Korngrenzen und -größen möglich.
92.1 Grundlagen 725
Abb. 92.2 Kikuchi-Linienmuster einer Nickelprobe. Die farbig markierten Linien entsprechen den
Netzebenen in den nebenstehenden kubischen Einheitszellen
Für die Orientierungsmappings werden die Miller’schen Indizes benutzt, wobei für die
Farbdarstellung das Standarddreieck für das Kristallgitter (in diesem Fall kubisch) genutzt
wird (Abb. 92.4). Im vorliegenden Beispiel sind Kristallorientierungen nahe der 001-Ecke
in rot dargestellt, grün repräsentieren Orientierungen in 101-Richtung und blau die Aus-
richtungen in Richtung der 111-Netzebenen. Damit entsteht eine lateral aufgelöste Farb-
darstellung der Winkelverteilung der kristallografischen Ausrichtungen der an der Ober-
fläche vorhandenen Einheitszellen relativ zur Normalrichtung ND senkrecht zur Oberflä-
che der Probe.
Bereiche gleicher Farbe bedeuten hier Körner gleicher Orientierung, was in Abb. 92.4
durch kleine Würfeldarstellungen unterschiedlicher Neigung angedeutet ist. Mit keiner an-
deren mikroskopischen Methode sind solche Informationen zu erhalten. Die klassische
Metallografie kennt zwar die Farbätzung, die dann unter dem Lichtmikroskop ausgewertet
werden kann. Diese beruht aber auf chemische Reaktionen der Ätzmittel (Belegungen) mit
der Oberfläche. In der rasterelektronenmikroskopischen Abbildung sind unterschiedliche
Materialien aufgrund ihrer elementaren Zusammensetzung darstellbar (Materialkontrast)
oder auch Elementmappings mit Hilfe der Röntgenmikroanalyse (EDX, WDX). Eine di-
rekte Messung der Orientierung der Kristallebenen ist aber nur mit der EBSD möglich.
726 92 V92 Rückstreuelektronenbeugung (EBSD)
Abb. 92.4 Orientierungsverteilungsmapping einer Nickelprobe, (vgl. Abb. 92.3). In die Flächen
gleicher Farbe sind die Einheitszellen als kleine Würfel und deren Orientierung zur Oberfläche ein-
getragen. Unten rechts ist das Farbdreieck der Netzebenenorientierung angegeben
92.2 Aufgabe
92.3 Versuchsdurchführung
Weiterführende Literatur
[Kik28] Nishikawa, S., Kikuchi, S.: Diffraction of Cathode Rays by Calcite. Nature 122, 726 (1928)
[Reim77] Reimer, L., Pfefferkorn, G.: Rasterelektronenmikroskopie. Springer, London (1977)
728 92 V92 Rückstreuelektronenbeugung (EBSD)
93.1 Grundlagen
Bei der Fertigung duromerer Faserverbundwerkstoffe (FVW) entsteht gleichzeitig mit dem
Verbundwerkstoff das spätere Bauteil. Eine gute Prozesskontrolle, basierend auf den Kennt-
nissen erreichter Prozessgrößen und Prozessbedingungen sowie deren Reproduzierbarkeit,
sind daher von großer Relevanz [GRE011].
Materialografische Untersuchungen unter Verwendung mikroskopischer Techniken
dienen zur qualitativen und quantitativen Bestimmung von Gefügestrukturen und tragen
damit wesentlich zur Qualitätsbewertung von FVW bei. Hierbei steht die Analyse der
Art, Menge, Form und Größe der unterschiedlichen Strukturbestandteile (wie Füll- und
Verstärkungsstoffe) im Vordergrund [GRE011] [BUE010].
Für die Bauteiluntersuchungen werden repräsentative Prüfkörper mit der zu untersu-
chenden Schnittfläche hergestellt. Anschließend werden diese in ein dafür vorgesehenes
Harzsystem eingebettet, poliert und mit lichtmikroskopischen Methoden untersucht
[GRE011].
Mit den so entstandenen Schliffbildern können die Prüfkörper beispielsweise hinsicht-
lich der Qualität der eingesetzten Materialien für die jeweiligen speziellen Anwendungen
charakterisiert werden. Außerdem können Schwächungen und Schädigungen im Verbund,
ausgelöst durch falsch eingestellte Prozessbedingungen oder Belastungen, analysiert wer-
den [BUE010].
Wichtige Bewertungskriterien für die Qualität von Faserverstärkten Kunststoffen (FVK)
sind der Faservolumenanteil, die Orientierung der Fasern im Verbund, der Lagenaufbau
der textilen Verstärkung sowie Schädigungen oder Fehlstellen in Form von Lunkern, Poren
oder Rissen [GRE011] [BUE010].
Der Faservolumengehalt stellt das Verhältnis von Faser- und Matrixvolumen dar und
bestimmt entscheidend die mechanischen Kennwerte wie Steifigkeit und Festigkeit der
Verbundstrukturen. Schliffbilder eignen sich dafür, unter Zuhilfenahme von Methoden der
Bildanalyse, dieses Verhältnis näherungsweise zu bestimmen [GRE011].
E. Macherauch und H.-W. Zoch, Praktikum in Werkstoffkunde, 729
DOI 10.1007/978-3-658-05038-2_93, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
730 93 V93 Materialografische Untersuchungen von Faserverbundwerkstoffen
Weitere qualitätsmindernde Merkmale stellen Poren oder Hohlräume dar. Diese Luft-
einschlüsse können zwischen Faser und Matrix oder alleine in der Matrix vorliegen. Sie
entstehen beispielsweise durch Schwindung der Matrix oder durch Undichtigkeiten im
Werkzeug während des Herstellprozesses. Abbildung 93.3 zeigt ein Beispiel möglicher Po-
ren innerhalb eines Verbundes.
Faserverbundwerkstoffe können sehr empfindlich auf äußere Belastungen reagieren.
Schlagbeanspruchungen können beispielsweise Schäden innerhalb des Verbundes auslö-
sen, die von außen nicht sichtbar sind. Diese Verbundschwächungen können mit Hilfe von
Schliffbildern detektiert und analysiert werden
Je nach eingesetzter Matrixart wird diese Beanspruchungsform unterschiedlich aufge-
nommen. Folgen einer Schlagbeanspruchung bei duromeren Verbunden sind z. B. Matrix-
risse und Schichtablösungen (= Delaminationen) zwischen Lagen mit unterschiedlicher
Faserorientierung. Diese laufen entweder durch die Matrix-Komponente oder entlang der
Faser-Matrix-Grenzfläche Thermoplastische Matrixwerkstoffe reagieren dabei wesentlich
schadenstoleranter [GRE011].
Die folgende Abbildung (Abb. 93.4) zeigt mögliche Rissverläufe in einem Kohlenstoff-
faserverstärkten Kunststoffverbund.
Das linke Bild zeigt einen senkrecht verlaufenden Riss im Verbund. Rechts sind De-
laminationen (weiße Bereiche) erkennbar. Beides bedeutet eine verminderte Qualität des
Verbundes.
93.2 Aufgabe
93.3 Versuchsdurchführung
93.4 Symbole
Symbol/Abkürzung Bedeutung
FVW Faserverbundwerkstoffe
FVK Faserverstärkte Kunststoffe
Literatur 733
Literatur
[GRE011] Grellmann, W., Seidler, S.: Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2011)
[BUE010] Buehler: Seminar Verbundwerkstoffe. Düsseldorf (2010)
[Voo10] Voos, P.: Grundlagen und aktuelle Tendenzen in der Präparationstechnik. Seminar Verbund-
werkstoffe, Düsseldorf (2010)
V94 Scheinbare interlaminare Scherfestigkeit
94
94.1 Grundlagen
Abb. 94.1 Schematische Darstellung eines Pull-out-Tests (links); Kraft-Weg-Kurve eines Pull-out-
Tests (rechts)
94.2 Aufgabe
Untersuchen Sie den Einfluss des Haftvermittlers (Avivage) auf die Faser-Matrix-Haftung
anhand des Bruchverhaltens. Zum Vergleich werden zwei CFK-Platten gefertigt. Die ers-
te Platte wird unter optimalen Voraussetzungen gefertigt. Vor der Fertigung der zweiten
Platte wird die Avivage durch einen Waschvorgang entfernt. Im Anschluss werden zwei
Prüfserien mit jeweils fünf Normproben gefertigt und nach Norm EN ISO 14130 geprüft.
94.3 Versuchsdurchführung
Fmax
τkrit =
b ⋅ xd
wobei
darstellt.
Zusätzlich wird das Bruchbild im Lichtmikroskop analysiert. Dabei wird die auftreten-
de Versagensart der Probe mit den folgenden möglichen Versagensarten verglichen und
bewertet:
94.4 Symbole
Literatur
Verwendete Literatur
[GRE011] Grellmann, W., Seidler, S.: Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2011)
[SCH007] Schürmann, H.: Konstruieren mit Faser-Kunststoff-Verbunden. Springer-Verlag, Berlin
(2007)
[EHR006] Ehrenstein, G.: Faserverbund-Kunststoffe. Carl Hanser Verlag, München (2006)
[HER013] Herrmann, A.S.: Vorlesungsskript Technologie der Faserverbundwerkstoffe (2013)
Weiterführende Literatur
[EN ISO 14130:1997] Bestimmung der scheinbaren interlaminaren Scherfestigkeit nach dem Drei-
punktverfahren mit kurzem Balken
V95 Bestimmung des Faservolumengehalts
95
95.1 Grundlagen
Abb. 95.2 E-Modul von FVW (mit Gewebetypen (p)) bei unterschiedlichem FVG
Aus den spezifischen Gewichten von Faser und Matrix können der Faservolumengehalt
und der Fasermassengehalt ineinander umgerechnet werden.
Für die quantitative Bildanalyse ist die Herstellung von Prüfkörpern mit der zu unter-
suchenden Schnittfläche erforderlich. Das Verfahren ist in Versuch 93 erläutert.
Beim Veraschungsverfahren wird die Masse des Faserverbund-Prüfkörpers vor und
nach dem Verbrennen bzw. der Pyrolyse der Matrix bestimmt. Voraussetzung der An-
wendbarkeit des Verfahrens ist, dass die Masse der Faser durch den Verbrennungsprozess
unbeeinträchtigt bleibt, wie es bei Glas- oder Kohlenstofffasern der Fall ist. Mit Kenntnis
des Masseverlustes und der spezifischen Gewichte von Faser und Matrix kann aus Gl. 95.3
der Faservolumengehalt berechnet werden.
Beim nasschemischen Verfahren wird die Massendifferenz durch die chemische Auf-
lösung der Matrix ermittelt. Das Verfahren wird häufig bei carbonfaserverstärkten Kunst-
stoffen (CFK) angewendet; zur Auflösung der Matrix findet konzentrierte Schwefelsäure
Anwendung, vgl. [DIN EN 2564].
Da die lokalen FVG in Faserverbundwerkstoffen im Verstärkungstextil selbst schwan-
ken (Abb. 95.3), ist es erforderlich, mehrere Proben zu analysieren, s. Abb. 95.4.
744 95 V95 Bestimmung des Faservolumengehalts
95.2 Aufgaben
95.3 Versuchsdurchführung
Erforderliche Geräte
Jeder Prüfkörper ist dann wie folgt zu wiegen und zu veraschen Die Schale auf 1 mg
genau wiegen. Die Probekörper auf 1 mg genau wiegen. Den Behälter mit der Flamme er-
hitzen, bis sich der Inhalt entzündet. Der Inhalt soll dann bei mäßiger Geschwindigkeit
abbrennen. Im Anschluss den Prüfkörper im Muffelofen bei 625 °C erhitzen, bis die Kohle
verschwunden ist.
95.3 Versuchsdurchführung 745
Dann den Behälter und den Rest im Exsikkator auf Umgebungstemperatur abkühlen
und auf 1 mg genau wiegen. Schale und Rest nochmals in den Muffelofen geben und an-
schließend abgekühlt wiegen. Den Vorgang wiederholen, bis der Masseunterschied von
zwei aufeinanderfolgenden Wägungen kleiner 1 mg ist.
Auswertung der Ergebnisse Unter Verwendung von Literaturangaben für das spezifische
Gewicht von Glasfasern und Epoxidharz-Matrix kann mit der Gl. 95.3 der Faservolumen-
gehalt ermittelt werden. Dabei ist der arithmetische Mittelwert der drei Ergebnisse zu bil-
den.
Bestimmung der Sensitivität der Messungen gegenüber 2 %Vol bzw. 5 %Vol Poren Über-
nehmen Sie aus dem Experiment das berechnete Gesamtgewicht mFVW . Gemäß Gl. 95.1
ergibt sich der neue FVGmitPore = V F /(V FVW ) = V F /(V F + V M + V Luft )
Einfluss der Reaktionsschwindung Beachten Sie bei der Berechnung, dass der Bezug
der 4 % Reaktionsschwindung das Volumen der unreagierten Matrix im Prepreg ist. Ge-
mäß Gl. 95.1 ergibt sich der neue FVGmit Pore/Schwindung = V F /(V FVW,ausgehärtet ) = V F /(V F +
V M,unausgehärtet ⋅ (1 − 0,04) + V Luft )
746 95 V95 Bestimmung des Faservolumengehalts
95.4 Symbole
Literatur
[GRE011] Grellmann, W., Seidler, S.: Kunststoffprüfung. Carl Hanser Verlag, München (2011)
[HER005] Herrmann, A.S.: Vorlesungsskript Mechanik der Faserverbundwerkstoffe (2005)
[SCH007] Schürmann, H.: Konstruieren mit Faser-Kunststoffverbunden. Springer Verlag, Berlin
(2007)
[DIN EN 2331] Glasfilament-Prepreg, Prüfmethode zur Bestimmung des Harz- und Faseranteils so-
wie der flächenbezogenen Fasermasse
[DIN EN 2564] Kohlenstoffaser-Laminate, Bestimmung der Faser-, Harz- und Porenanteile
Bildquellenverzeichnis
751
752 Sachverzeichnis
H I
Haber-Luggin-Glaskapillare, 522 Impedanz, 573
Haftfestigkeit, 717 Impulslaufzeitverfahren, 567
Haftfestigkeitsklasse, 717 Induktionswirkung, 572
Hagen-Poiseuille’sches Gesetz, 660 Inhibitor, 528
Haigh-Diagramm, 450, 470 inkohärent, 320
Halbleiterkristalldetektoren, 46 Innenspule, 573
Halbwertsbreite, 600 Intensitätsverteilung, 605
Halbzelle, 516 Interferenzmikroskop, 220
Haltedauer, 253 interkristallin, 531
Haltepunkt, 53 interstitiell, 300
Haltetemperatur, 253 interstitiell gelöst, 540
Hämatit, 512 Intrusion, 489
Härtbarkeit, 280 Isochromat, 350
Härtbarkeit von Stählen, 269 Isokline, 351
Härtbarkeitsprüfverfahren, 270 isotrop, 553
Härte, 69, 93, 269, 283, 300, 301, 306, 600
Brinellhärte, 69 J
Rockwellhärte, 69 Jochmagnetisierung, 572
Vickershärte, 69 Jominy-Versuch, 270
Sachverzeichnis 757
K Kohlenstoffspender, 287
Kalibrierkurve, 36, 48 Kohlenstoffübergangszahl, 291
Kalibrierung, 36 Köhlersches Beleuchtungsprinzip, 62
Kalomelelektrode, 522 Kohlungsmittel, 287
Kaltanregung, 45 Kokille, 23, 28, 29
Kaltarbeitsstahl, 307 Kokillenwand, 23, 24
Kaltumformen, 79 Komponente, 22, 23
Kaltumformung, 553 Konduktanz, 110
Kaltverformbarkeit, 547 Konode, 52
Kaltverformungsgrad, 558 Konstruktionsfehler, 635
Kapillarviskosimeter, 653 Kontakt-Modus, 713
kathodische Metallabscheidung, 523 Kontinuierliches ZTU-Schaubild, 272
kathodische Wasserstoffabscheidung, 521, 523, Kontrollprobe, 38
524, 539 Korndurchmesser, 95
Keim, 23 Kornflächenätzung, 59
Keimbildung, 23 Kornform, 98
Keimbildungsgeschwindigkeit, 264 Korngrenze, 531, 540
Keimwachstum, 23 Korngrenzenätzung, 59
Kerbdehngrenze, 331 Korngrenzen-Diffusionskoeffizient, 425
Kerbe, 331 Korngrenzenverfestigung, 209
Kerbempfindlichkeit, 457 Korngröße, 23, 93, 598
Kerbempfindlichkeitszahl, 459 Korngrößenbestimmung, 96
Kerbgeometrie, 326 Korngrößenermittlung, 93
Kerbgrund, 325, 331, 531 Korngrößenkennzahl, 93
Kerbgrundquerschnitt, 325 Kornorientierung, 87, 90
Kerbradius, 335 Kornwachstum, 23
Kerbschlagbiegeprobe, 356 Korrosion, 515
Kerbschlagbiegeversuch, 355 Korrosionsbeständigkeit, 597
Kerbschlagbiegezähigkeit, 356 Korrosionselement, 515
Kerbschlagenergie, 357 Korrosionsmedium, 531
Kerbschlagzähigkeit, 356 Korrosionsstromdichte, 525, 526
Kerbstab, 331 Korrosionsverhalten, 299
Kerbstreckgrenze, 331 Kraft-Bruchflächen-Beobachtung, 408
Kerbwechselfestigkeit, 457 Kraft-Potential-Messung, 408
Kerbwirkung, 326, 332, 351 Kraft-Rissöffnungs-Messung, 408
Kerbwirkungszahl, 459 Kraft-Verlängerungs-Diagramm, 195
Kerbzugfestigkeit, 331, 457 Kriechdehnung, 470
Kernfestigkeit, 295 Kriechen, 425, 671
Kernhärte, 301 Kriechgeschwindigkeit, 423
kfz-Gitter, 16 Kriechkurve, 421
Kikuchi-Beugungslinien, 723, 725 Kriechprozess, 424
kinetische Energie, 599 Kriechstadium, 423
Kleinwinkelkorngrenze, 11 Kriechstand, 426
Knickpunkt, 53 Kristallgitter, 139
kohärent, 320 Kristallisationsfront, 25
Kohärenz, 320 Kristallisationskeim, 24, 25
Kohlenstoffaktivität, 290 Kristallisationswärme, 53
Kohlenstoffgehalt, 269, 482 Kristallisationszentrum, 23
Kohlenstoffpegel, 288 Kristallit, 93
758 Sachverzeichnis
R Richtstrahlen, 597
Randentkohlung, 254, 539 richtungsabhängig, 87
Randhärte, 301 Rietveld-Methode, 142
Randkohlenstoffgehalt, 287, 288 Riss, 401, 487
Randschicht, 299, 302 Rissausbreitung, 487, 501, 543
Rand- und Kernspannung, 589 Rissausbreitungsgeschwindigkeit, 495, 502, 543
Rasterelektronenmikroskop, 505 Rissausbreitungsgesetz, 497
Rasterelektronenmikroskopie, 45, 363 Rissausbreitungsstadium I, 493
Rasterkraftmikroskop (AFM), 713 Rissausbreitungsstadium II, 493
Rastlinie, 504 Rissbildung, 486, 501
Ratcheting, 469 Risslänge, 415, 486
Rauheit, 712 Rissprüfverfahren, 571
Rauheitsmessung, 713 Rissspitze, 401, 404, 487
Rauigkeit, 547 Rissuferbewegung, 494
Raumgitter, 9 Rissverlängerung, 404, 405, 416
räumliche Verteilungsfunktion, 90 Rissverlängerungskraft, 405
Rautiefe, 600 Risszähigkeit, 401, 406, 487
Reckalterung Ritztest, 717
dynamische, 231 Rm, 283
statische, 225 Rockwell-Eindrucktest, 717
Reduktion, 515 Rollreibung, 705
Reduktionsreaktion, 521 Röntgendiffraktometer, 140
Reflexion und Brechung, 565 Röntgendiffraktometrie, 139
reflexionsfähig, 88 Röntgenfluoreszenzanalyse, 41
Reflexionsgitter, 33 Röntgengrobstrukturuntersuchung, 627
Reflexionsvermögen, 58 Röntgenintensität, 88
Reibung, 81, 704 röntgenographisch, 87, 88
Reibungsarten, 705 röntgenographische Spannungsmessung
Reibungsmechanismus, 704 (RSM), 578
rein elastische Beanspruchung, 241 Röntgenphoton, 41
Reinaluminium, 27–29 Röntgenröhre, 42
Reineisenfolie, 288 Röntgenspektrum, 43
Reinigungsstrahl, 597 Röntgenstrahlen, 364, 605
Reißfestigkeit, 668 Röntgenstrahlenquelle, 88
Rekombination, 540 Röntgenstrahlung, 41, 139, 581
Rekristallisation, 101, 241, 313 Röntgen- oder γ-Strahlen, 628
Rekristallisationsdiagramm, 104 Roving, 683
Rekristallisationsglühen, 257 Rp0,2, 283
Rekristallisationstemperatur, 104 Rückstreuelektron, 364
Rekristallisationstextur, 87 Ruhepotenzial, 524
Relaxation, 671 R-Einfluss, 450
ReS, 283
Resonanz, 385 S
Restaustenit, 130, 142, 277, 309 Salzbadaufkohlung, 287
Restaustenitbestimmung, 142 Salzbadnitrocarburieren, 299
Restbruch, 501 Sandguss, 23
Restwiderstand, 111 Sandgussform, 23
reversibles Fließen, 673 Sättigungsgrad, 147
Richten, 597 Sauerstoffkorrosion, 526
762 Sachverzeichnis