IBA-Studie Urbane Lebenswelten
IBA-Studie Urbane Lebenswelten
IBA-Studie Urbane Lebenswelten
Studie
Urbane Lebenswelten
Strategien zur Entwicklung groer Siedlungen
URBANE LEBENSWELTEN
STRATEGIEN ZUR ENTWICKLUNG
GROSSER SIEDLUNGEN
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
impRESSUm
Urbane Lebenswelten.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
iNHALT
0 EiNLEiTUNG
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3 FALLBEiSpiELE: pROJEKTSTECKBRiEFE
3.1 AUSWAHL DER FALLBEISPIELE
3.2 AUFBAU DER PROJEKTSTECKBRIEFE
P01_WIMBY! HOOGVLIET (21)
P02_X WOHNUNGEN (27)
P03_FREEHOUSE ROTTERDAM (33)
P04_OLEANDERWEG (39)
P05_SCHORFHEIDEVIERTEL (45)
P06_CAMPUS EFEUWEG (51)
P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF (57)
P08_TREEHOUSES (63)
P09_TOUR BOIS-LE-PRETRE (69)
P10_SARGFABRIK (75)
20
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4 FAZiT
4.1 RESUMEE DER UNTERSUCHUNG
4.2 EMPFEHLUNGEN FR EINE IBA BERLIN 2020
4.3 FAZIT
101
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102
103
ANHANG
LITERATURVERZEICHNIS (105)
QUELLEN PROJEKTSTECKBRIEFE (106)
BILDQUELLEN PROJEKTSTECKBRIEFE (107)
105
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Benze, Gill, Hebert
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Benze, Gill, Hebert
0 EINLEITUNG
Internationale Bauausstellungen sind Experimentierfelder einer
praktischen Reflexion ber regionale Themen mit internationaler Bedeutung. Sie ermglichen es, das aktuelle Verhltnis
von Stadt und Gesellschaft, von Vergangenheit und Zukunft,
von gebauten und gelebten Rumen nicht nur zu analysieren,
sondern ein Stck weit auch zu verndern eine Chance, die
in jngster Zeit an immer mehr Orten in immer krzerem zeitlichem Abstand genutzt wird.1
Die Stadt Berlin hat mit Internationalen Bauausstellungen bereits Erfahrung. Die Interbau im Hansaviertel war 1957 weitaus
mehr als eine Leistungsschau der anerkannten Architekturprominenz: Sie war ein politisches Statement im geteilten Berlin,
und sie war der bewohnbare Musterkatalog einer modernen,
aufgerumten Welt, die in erheblichem Kontrast zum kriegszerstrten Rest der Stadt stand. Die IBA 1987 leitete dreiig Jahre
spter vor allem mit dem Ansatz der kritischen Rekonstruktion
die Abwendung vom Paradigma der Funktionstrennung (und
der damit verbundenen Tabula-rasa-Mentalitt) ein. Beide
Ausstellungen fanden noch im geteilten Berlin statt, dessen
Bewohner es stets verstanden, ihr eigenes Leben in den zahlreich vorhandenen Nischen individuell einzurichten.
Die Situation heute, noch einmal dreiig Jahre spter, ist wieder eine ganz andere: Als Hauptstadt mittlerweile selbstverstndlich anerkannt, macht Berlin in Zeiten der Wirtschaftskrise
eine (im positiven wie im negativen Sinne) rasante, aufholende
Entwicklung im Bereich der Immobilienwirtschaft durch. Grundstckspreise und Mieten steigen kontinuierlich, whrend immer
mehr Menschen in die Stadt ziehen. Das passt zum weltweiten
Trend der Urbanisierung: 2010 lebten erstmals mehr als 50%
der Menschen in Stdten, 2050 werden es voraussichtlich 75%
sein. Auch Berlin wchst, und das wirft die Frage auf, ob es die
dafr erforderlichen Qualitten einer Ankunftsstadt (Saunders,
2011) hat, nmlich Offenheit fr kulturelle Diversitt und eine
bauliche Form, die eine Teilhabe Einzelner am ffentlichen und
politischen Leben gewhrleistet.
Mit fortschreitender Urbanisierung und im Zeichen von Klimaund demografischem Wandel steht auch das Wohnen erneut
im Fokus des allgemeinen Interesses und die Frage, welche
urbanen Lebenswelten wir haben und brauchen. Wie schon
1957 und 1987 ist das Wohnen damit Medium und Ziel eines
Prozesses, dessen Ergebnisse am Ende nicht nur kurzzeitig
ausgestellt, sondern langfristig angeeignet werden sollen und
das nicht nur im eigentumsrechtlichen Sinn. Eine rein (stdte-)
bauliche Herangehensweise kann es hier nicht geben: Gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht mit architektonischen
Formen lsen, und die Komplexitt langfristiger, nicht linear
verlaufender Entwicklungen macht lernende Prozesse erforderlich. Die zunehmende Individualisierung einer vergleichsweise
wohlhabenden Stadtbrgerschaft und der allmhliche Rckzug
der ffentlichen Hand aus der Steuerung stdtischer Entwicklungsprozesse werfen Fragen auf, schaffen aber auch neue
Formate der Verstndigung und neue Grenzen.
Die Leitfrage, der diese Studie nachgeht, ist die, ob sich urbane Lebenswelten mit den stdtebaulichen und architektonischen Mitteln von Mischung und (Nach-)Verdichtung gezielt erzeugen lassen. Diese Frage impliziert zum Einen das (positive)
Leitbild einer gemischten Stadt, die offen fr verschiedene
Formen und Formate des Zusammenlebens ist, zum Anderen
aber auch eine Kritik an all jenen Gegenden, die vor diesem
Hintergrund nicht urban genug erscheinen, wie zum Beispiel
die heterogenen, peripher anmutenden Gebieten der Drauenstadt und die monofunktionalen Wohnsiedlungen der Moderne.
Doch welche Definitionen des Urbanen, welche Konzepte
des Stdtischen und welche Wnsche an knftige Lebenswelten liegen dieser Kritik zu Grunde? Besteht die Stadt
nicht seit jeher aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die
jeweils ganz verschiedene Arten von Gemeinschaft, sozialer
Interaktion und baulicher Form besitzen? Welche Qualitten
besitzen diese unterschiedlichen Rume, und wie kann man
diese erfassen und entwickeln?
Diese Studie prsentiert verschiedene Strategien zur Transformation und / oder Herstellung urbaner Lebenswelten,
wobei ein Schwerpunkt auf Siedlungen und Siedlungs-Bausteinen liegt. Anhand von dreizehn Fallbeispielen aus dem
In- und Ausland und ihrem jeweiligen zeitlichen, rumlichen
und gesellschaftlichen Kontext knnen einzelne Handlungsfelder dieser Strategien differenziert dargestellt und spezifische Werkzeuge und Methoden exemplarisch benannt
werden. Anschlieend werden diese Beispiele ausgewertet
und im Hinblick auf ihre Vergleichbarkeit mit der Berliner
Situation und eine bertragbarkeit im Rahmen der IBA 2020
diskutiert.
1
Nach der zweiten Berliner IBA fanden (und finden) bis heute statt:
IBA Emscher Park (1989 bis 1999) und IBA Frst-Pckler-Land (2000 bis
2010) zur identittsstiftenden Nachnutzung von Industriefolgelandschaften,
IBA Sachsen-Anhalt 2010 (2003 bis 2010) zur schrumpfenden Stadt, IBA
Hamburg (2006-2013) zur Vernderung der kognitiven Stadtkarte, IBA Basel
(2010 bis 2020) zur grenzberschreitenden Entwicklung einer Region, IBA
Heidelberg (2012 bis 2022) zum Thema Wissen und IBA Parkstad (2012 bis
2020) in den Niederlanden.
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Benze, Gill, Hebert
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199). Sie schlgt vor, nicht die bauliche Form der Siedlungen
zu verndern, sondern ihre stdtische Mannigfaltigkeit zu fr
dern, so dass sich ihre Grenzen auflsen und sie in die Lage
versetzen, ihre Bewohner in freier Entscheidung festzuhalten
(Jacobs 1963, S. 200).
Doch wie kommt es zu diesem Appell? Warum hebt sich die ty
pologische und die funktionale Struktur der (groen) Siedlung
eigentlich so deutlich von benachbarten Arealen grnderzeitli
cher Stadtquartiere ab? Eine Antwort auf diese Fragen gibt ein
Blick in die Geschichte des Stdtebaus.
Die meisten Siedlungsprojekte des frhen 20. Jahrhunderts
wurden aus einer kritischen Haltung gegenber der dichten,
eng bebauten Stadt entwickelt, die in der Folge einer zum Teil
ungefedert ablaufenden Industrialisierung sehr schwierige
2
Dieser heterogenen und polyzentrischen Struktur entspricht in
der Stadtentwicklung ein spezifisches Monitoring-Modell, die Lebensweltlich
orientierten Rume (LOR), die 2006 gemeinsam zwischen den planenden
Fachverwaltungen des Senats, den Bezirken und dem Amt fr Statistik
Berlin-Brandenburg auf der Grundlage der von der Jugendhilfe bereits defi
nierten Sozialrume einheitlich abgestimmt wurden. Siehe auch http://www.
stadtentwicklung.berlin.de/planen/basisdaten_stadtentwicklung/lor/ (Zugriff
am 27.11.2012).
3
Rund 86 Prozent, das entspricht 1,63 Millionen Wohnungen, sind
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1933. Diese besa vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gro
en Einfluss auf den internationalen Stdtebau.
Howards Land-Stadt-Modell ging im Paradigma der funktions
getrennten, aufgelockerten Stadt auf, die zum neuen Leitbild
der Stadtplanung wurde und unmittelbar nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs berall dort implantiert wurde, wo dieser
ausreichend groe Lcken gerissen hatte.
Doch die neue Typologie, das erkannte man bald, hatte gra
vierende Nachteile: Vor allem die in herkmmlicher Bauweise
schnell und unter Zeitdruck errichteten Zeilenbauten der 50er
Jahre betonten die Zerstrungen zum Teil mehr, als sie zu ka
schieren.
Die parallele Entwicklung einer autogerechten Verkehrsinfra
struktur trug zustzlich dazu bei, dass verbliebene, stdtische
Zusammenhnge zerfielen und rumliche Identitt verloren
ging zumal die aufgelockerte Stadt aufgrund ihrer vergleichs
weise geringe Dichte das eigentliche Problem, die Wohnungs
not der Nachkriegszeit, nicht in ausreichendem Ma lindern
konnte.11
Fr die verbleibenden Reserveflchen der groen Stdte
wurden daher Ende der fnfziger Jahre bis dahin geltende
Dichte-Obergrenzen auer Kraft gesetzt. Das bereits mehrfach
modifizierte Gartenstadtmodell mutierte nun zur baulich-rum
lichen Groform: In Ost und West entstanden Grosiedlungen,
zumeist in industrieller Bauweise.12 Walter Gropius, der bereits
in den 20er Jahren dafr pldiert hatte, das Grohaus als
Stadtbaustein zu nutzen und auf diese Weise mehr qualifi
zierten Freiraum erhalten zu knnen, gab schlielich einer
Siedlung seinen Namen, die fr diese Haltung als beispielhaft
gelten kann: die Berliner Gropiusstadt.
Fr die neuen, groen Siedlungen gab es keine Erfahrungen,
auf die man htte zurckgreifen knnen (Irion, Sieverts, 1991,
Vorwort). Gleichzeitig machte die fortschreitende Spezialisie
rung der planenden Berufe zum ersten Mal Kooperationen
ber die Grenzen der eigenen Disziplin hinweg mglich und
ntig. Es war zum Beispiel der Soziologe Edgar Salin, der auf
dem deutschen Stdtetag zu den dort anwesenden Architekten
und Stadtplanerinnen ber Urbanitt referierte (Salin, 1960;
9
Das sind die Gartenstadt Falkenberg in Treptow (191315,
Bruno Taut), die Hufeisensiedlung Britz in Neuklln (192530; Bruno
Taut und Martin Wagner), die Wohnstadt Carl Legien in Prenzlauer Berg
(192830, Bruno Taut und Franz Hillinger), die Siedlung Schillerpark im
Wedding (192430, Bruno Taut und Franz Hoffmann), die Weie Stadt in
Reinickendorf (192931, Bruno Ahrends, Wilhelm Bning und Otto Rudolf
Salvisberg) und die Grosiedlung Siemensstadt in Charlottenburg und
Spandau (192934, Otto Bartning, Fred Forbat, Walter Gropius, Hugo
Hring, Paul Rudolf Henning und Hans Scharoun).
10
Dies galt auch fr die Erbauer der heutigen Welterbesiedlungen:
Taut, Salvisberg und Hoffmann besuchten zunchst nur damals durchaus
blich eine Bauschule. Gropius und Bartning brachen ihr Studium an der
Technischen Universitt vor dem Diplom ab.
11
Diese Entwicklung und die im Vergleich zu heute relativ schnell
getroffenen Abrissentscheidungen in Bezug auf bestehende Gebude fhrte
dazu, dass vor allem die Bauttigkeit der Nachkriegszeit hufig als Zweite
Zerstrung der Stdte bezeichnet wurde.
12
Auch dies war bereits ein Traum der innovativen Zwanziger
Jahre, der damals jedoch aufgrund technischer Schwierigkeiten noch
nicht umgesetzt werden konnte. Zum industriellen Bauen heute siehe
auch die parallel zu dieser Studie entstandene IBA-Recherche Serieller
Wohnungsbau Standardisierung und Vielfalt (Benze, Gill, Hebert, 2013).
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siehe auch Kapitel 1.2, S. 10 ff.) und auf diese Weise anregte,
sich nicht nur ber die Errichtung, sondern auch ber den Ge
brauch gebauter Umwelt Gedanken zu machen.13
Die groen Siedlungen waren von Beginn an ein Experiment,
gleichermaen Utopien und pragmatisch-wirtschaftliche Lsun
gen, die mit neuen, wissenschaftlichen Planungsmethoden aus
einer Interpolation der alten Feldversuche mit der aufgelocker
ten Stadt hervorgehen sollten. Man war sich zu Beginn sehr
sicher, dass diese neue Form der Stadt besser sei als die alte,
fr deren Erhalt man folglich nicht mehr kmpfte. Allerdings
wich diese Sicherheit im Westen Deutschlands schon nach
relativ kurzer Zeit einem massiven Zweifel, an dessen Entste
hung die lkrise von 1973 gleichermaen ihren Anteil hatte
wie die sozialen Probleme, die in den neuen Siedlungen auf
traten und ihre paradigmatische uerung 1978 in Christiane
Felscherinows Bericht Wir Kinder vom Bahnhof Zoo fanden.14
Im Osten Deutschlands wurde der industrialisierte Wohnungs
bau bis 1989 fortgesetzt: Mangels Alternative und dank des im
Vergleich zu den unsanierten Altbaugebieten hheren Wohn
komforts waren die Trabantenstdte und Siedlungen des Kom
plexwohnungsbaus sogar lange Zeit relativ beliebt. Erst mit der
Wiedervereinigung 1990 und den anschlieenden gesellschaft
lichen und wirtschaftlichen Vernderungen setzten auch hier
Abwanderungs- und Segregationsprozesse ein, die nach einer
bergangszeit in den 90er Jahren schlielich massive Rck
baumanahmen erforderlich machten.
So waren die Growohnsiedlungen bereits kurz nach ihrer Fer
tigstellung Geschichte: Neue Stdte dieser Grenordnung,
schreiben Irion und Sieverts 198415, werden in absehbarer
Zukunft nicht mehr gegrndet werden. So gesehen sind sie
einer abgeschlossenen Phase der zentraleuropischen Ent
wicklung zuzurechnen und als in sich geschlossene Gebilde
damit trotz ihres geringen Alters sie sind noch nicht einmal
finanziell abgeschrieben zu einem Thema der modernen
Stadtgeschichte geworden (Irion, Sieverts 1991, S. 9).
Den Grund dafr sehen Irion und Sieverts unter anderem in
den sozialen Problemen und einer mangelnden Adaptions
fhigkeit der Siedlungen: Die weniger erfolgreichen Neuen
Stdte, insbesondere diejenigen der zweiten Generation aus
den sechziger Jahren, die geprgt sind von industrialisierter
Vorfertigung und hoher Dichte, leiden zum Teil jetzt schon,
nach ein bis zwei Jahrzehnten, unter schweren sozialen, ko
nomischen und technischen Problemen, die ihnen bisweilen
den Ruf von Slums eingetragen haben, die dringend der Stadt
erneuerung bedrfen (Irion & Sieverts 1991, S. 9). Ihre Prob
lemdiagnose geht ber die Standardkritik der Unwirtlichkeit
(Mitscherlich, 1965) hinaus: Sie konstatieren, dass die Eigen
schaft des 'Fertigen', das konzeptionell kaum Entwicklungen
zulsst, als schweres Hindernis bei der Anpasung an gewan
delte Bedingungen gelten msse (Irion, Sieverts 1991, S. 10).
Parallel zur Problematisierung (und zur fortschreitenden Stig
matisierung) des eben noch gefeierten neuen Wohnmodells,
fand in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Rehabilitie
rung der einstmals verachteten Mietskasernenstruktur statt.
Die nicht mehr von industriellen Emissionen, berbelegung
und allgemeiner Armut gezeichneten Grnderzeitquartiere er
freuen sich seit Ende der 80er Jahre in ganz Berlin zunehmen
der Beliebtheit. Dieser bis heute ungebrochene Trend einer
Renaissance der Innenstdte (Huermann, Siebel 1987, S.
11 ff.), der einer marktwirksamen Abstimmung mit den Fen
gleichkommt, wirft die Frage auf, ob die urbanen Strukturen
dieser funktionsgemischten, dicht bebauten innerstdtischen
Quartiere in der einen oder anderen Weise auch auf die derzeit
weniger beliebten Grosiedlungen der Moderne bertragen
werden knnen nicht zuletzt, um den Druck der anhaltenden
Gentrifizierung auf die Gebiete der Inneren Stadt und ihre Be
wohner und Bewohnerinnen zu verringern.
Zugleich stellt sich die Frage, wie Fehler der Vergangenheit
vermieden werden knnen, wenn wieder neuer Wohnraum be
ntigt wird: Wenn also, wie es in Berlin zuletzt in den Schlag
zeilen zu lesen war, der Ruf nach der neuen Grosiedlung
tatschlich wieder zu hren ist.16 Denn die Wohnungsfrage,
das hat auch der kurze berblick bis hierher gezeigt, ist immer
auch eine politische Frage und zwar generell eine mit relativ
hoher Sprengkraft. Die Frage nach neuen Siedlungen oder gar
ganzen Stdten ist dabei beleibe kein lokales Problem, im Ge
genteil: Weltweit berziehen Neue Stdte den Erdball; sie sind
ganz klar das Modell der Zukunft.17
Etwa ein Fnftel aller Berliner und Berlinerinnen leben in Gro
siedlungen (etwa 700.000 Menschen in ca. 350.000 Wohnun
13
Wie unmittelbar wirksam das war, lsst sich an der von Gerhard
Boeddinghaus herausgegebenen Dokumentation zweier Fachtagungen
erkennen, die 1963 und 1964 in Gelsenkirchen unter dem Titel Gesellschaft
durch Dichte stattfanden ein Slogan, der zunchst provokativ gemeint
war, sich jedoch als uerst eingngig erwies und mglicherweise zu der
(stark vereinfachenden) Forderung nach Urbanitt durch Dichte gefhrt hat
(Boeddinghaus, 1995).
14
Christiane Felscherinow verffentlichte mit Hilfe zweier STERNAutoren unter dem berhmt gewordenen Pseudonym Christiane F. einen
Bericht ber ihr Leben als minderjhrige Prostituierte und Drogenabhngige
im West-Berlin der frhen 70er Jahre. Das Buch beginnt mit einer
Schilderung der von ihr als anonym und kinderfeindlich empfundenen
Gropiusstadt, wo sie aufwuchs und gab damit scheinbar jenen Recht,
die der modernen Architektur der Siedlung eine negative Wirkung auf die
sozialen Verhltnisse zuschreiben wollten.
15
Ihre Studie ber die Neuen Stdte ist Ergebnis eines DFG-
gefrderten Forschungsprojektes, das vor allem Ilse Irion in den Jahren 1981
bis 1984 durchfhrte. Die zugehrige Publikation ihrer vergleichenden Studie
neuer Stdte in vier Lndern erschien allerdings erst 1991.
16
So zum Beispiel in der Berliner MORGENPOST vom 11.11.2012
(http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article110910620/Berlin-braucht
dringend-mehr-neue-Wohnungen.html) und in der WELT vom 12.11.2012
(http://www.welt.de/print/welt_kompakt/berlin/article110911250/Wir
brauchen-Grosssiedlungen.html. Etwa zeitgleich, auf dem Landesparteitag
der niederschsichen SPD, sprach der sozialdemokratische Kanzlerkandidat
Peer Steinbrck ber die Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus
(http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/steigende-wohnkosten-mieterbundwarnt-vor-mittlerer-katastrophe-1.1520124). (Zugriff am 26.11.12)
17
Vor allem dieser internationale Fokus ist es, der INTI, das
International New Towns Institute in Almere (Holland) interessiert.
Grndungsmitglied und Vorstand ist Crimson-Partnerin Michelle Provoost,
die sich gemeinsam mit Wouter Vanstiphout schon vor Jahren mit der
Revitalisierung einer (niederlndischen) New Town beschftigt hatte (siehe
auch das Fallbesipiel WIMBY! HOOGVLIET). Seine Mission beschreibt das
Institut folgendermaen: INTI is a research and knowledge institute which
focuses on the history and regeneration of Western New Towns, with a
commitment to improving the planning of present day New Towns worldwide.
The research takes a wide angle approach, employing social sciences.
Crimson / INTI waren mit der New-Town-Studie The Banality of The Good
auch bei der Architekturbiennale 2012 vertreten.
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1.2
URBANE STRUKTUREN: miSCHUNG, DiCHTE UND
iDENTiTT
18
Quelle: Dokumentation einer Ausstellung des Kompetenzzentrum
Grosiedlung e.V., die am 05. November 2008 im Rathaus von Paris statt
fand. (Kompetenzzentrum Grosiedlung e.V., 2008) Das Kompetenzzentrum
ist ein eingetragener Verein, der 2001 gegrndet wurde, um die Erfahrungen
Berlins bei der nachhaltigen Erneuerung der groen Wohngebiete zu bn
deln und an interessierte Partner in Deutschland und Europa weiterzugeben
(http://www.gross-siedlungen.de/de/20_Startseite.htm).
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nologisch als existentielle Form des Zur-Welt-Seins (MerleauPonty, 1966) verstanden, ist ein existenzielles Grundbedrfnis.
Dieses spezifische Engagiertsein an bzw. in der eigenen
Lebensumgebung, das unseren Anhalt an der Welt (MerleauPonty, 1966) herstellt, ist Voraussetzung und Ergebnis erfolg
reichen Wohnens. Ob man sich an einem Ort heimisch fhlen
kann, ist damit nicht so sehr eine Frage der richtigen (oder
falschen) Architektur, sondern vor allem eine Frage des Ver
hltnisses, das man zu ihr entwickelt.
Auch die Glcksversprechen (Dolff-Bonekmper)24 der Mo
derne werden nicht sofort und nicht ohne eigenes Zutun wirk
sam: Ein gelingendes Leben hngt von mehr Faktoren ab als
nur der eigenen Wohnumgebung, auch wenn es fr die eigene
Biografie und die Selbstprsentation nach auen durchaus von
Bedeutung sein kann, wo man wohnt und wie hoch das all
gemeine Ansehen dieses Wohnortes bei Anderen ist.
Auf diese grundstzliche Weise betrachtet, endet das Wohnen
nicht an der Wohnungstr: Nicht nur im world wide web, son
dern auch auerhalb der eigenen vier Wnde legen wir Spu
ren, hinterlassen Merkzeichen oder begegnen anderen Men
schen, real und in unserer Vorstellung. Die Stadt als Wohn
raum (Hasse, 2010 und darin vor allem Janson, Wolfrum,
2010) ist mehr als ein Behlter, in dem die Grundbedrfnisse
von Rekreation und Reproduktion befriedigt werden. Stadt,
solchermaen als Wohnraum verstanden, lenkt den Blick auf
Aneignungsformen, die unterschiedliche Formen und Abstufun
gen haben knnen als temporre Inbesitznahme, vorberge
hende Zweckentfremdung oder biografische Zuschreibung.
Jede Form des ffentlichen Engagements ist ein Statement,
unter Umstnden auch eines, das provozieren mchte. Bei der
Transformation stdtischer Lebensrume ist die Empfindung
einer Einmischung von auen vorprogrammiert: Jeder Eingriff
in die bewohnte Stadt verndert bestehende Zusammenhnge,
verhindert alte und ermglicht neue Begegnungen, modifiziert
den eigenen, bereits angeeigneten Lebensraum jedes einzel
nen dort ansssigen Menschen.
Der gelebte Raum ist niemals leer: Auch wenn die vorhande
nen Bezge und Beziehungen, das Gespinst aus Bedeutung
und Erinnerung und die individuellen Zuschreibungen, die an
einem Ort vorhanden sind, fr den Auenstehenden unsichtbar
sind, prgen sie doch ganz wesentlich den Charakter und die
Identitt des Quartiers und zhlen somit zu den spezifischen
Qualitten und lokalen Potenzialen des jeweiligen Kontextes.
Wenn daher bestehende Strukturen transformiert werden sol
len, um sie fr mehr Menschen attraktiv zu machen, muss am
Beginn dieser Transformationen eine sehr sorgfltige Prfung
der bereits vorhandenen Qualitten stattfinden,25 um deren
versehentliche berschreibung zu vermeiden. Der hierfr er
forderliche, analytische Blick muss, um die oben zitierte Forde
rung von Jane Jacobs zu erfllen, ber den Tellerrand gehen:
ber den der eigenen Profession, den des persnlichen kul
turellen Hintergrunds und ber die Grenzen des betrachteten
Gebietes hinaus.
Der Vorgang der Gewhnung ermglicht es Menschen an fast
allen Orten der Welt, Bezge zu ihrer Umgebung aufzubauen
und sich heimatlich in ihr zu verankern. Ob (groe) Siedlungen
12
24
Gabi Dolff-Bonekmper, Professorin fr Denkmalpflege an der
TU Berlin, fragt nach der Heimatfhigkeit von Grosiedlungen (ffentliche
Debatte im Rahmen der Reihe Stadt Wert Schtzen am 03. 09.2012 auf
dem Tempelhofer Feld zum Thema Umgang mit dem Erbe der Moderne)
und fordert einen sensiblen Umgang mit den Qualitten groer Siedlungen
an Stelle von pauschalen Urteilen und Verurteilungen.
25
Eine solche Analyse muss ber die Erhebung statistischer
Daten hinausgehen: Anstze fr partizipative Verfahren in der qualitativen
Stadtforschung sind heute nicht mehr ungewhnlich. Knstlerische und
kuratorische Praxen (z.B. Vorkoeper, Knobloch, 2012 und Krasny, Nierhaus,
2008) verschrnken und ergnzen sich hier mit qualitativer Forschung
(Urban Portaits, Pilotstudie von OFFSEA Andrea Benze und Anuschka
Kutz, Akademie Schloss Solitude, 2012) und wissenschaftlichen Anstzen
(z.B. das von Saskia Hebert initiierte lived/space/lab an der UdK).
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BAULiCHE STRATEGiEN
26
Die Wohnkostenkarte 2012 des Immobilienverband Deutschland
(IVD) zeigt, dass zwar die durchschnittlichen Mieten in Berlin mit 6,20 /m2
deutlich unter denen von Mnchen liegen (10,70 /m2), dass aber der Anteil
am durchschnittlichen Nettoeinkommen mit 23,0% nur unwesentlich unter
dem gleichen Wert in der bayrischen Landeshauptstadt liegt (23,7%) - und
ber denen aller anderen deutschen Grostdte.
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27
Der Bevlkerungsverlust vor allem in Klein- und Mittelstdten
Sachsen-Anhalts war Thema der IBA Sachsen-Anhalt (Ministerium fr
Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt, 2010). Siehe
auch (Hannemann, 2004 und Oswalt, 2005).
28
In den Stdten der alten Bundeslnder zeichnet sich immer
deutlicher ein wirtschaftlicher und demografischer Strukturwandel ab. Dies
stellt die Kommunen vor die Herausforderung, auf diese Entwicklung auch
vorbeugend stdtebaulich zu reagieren. Deshalb hat die Bundesregierung
bereits im Jahr 2002 mit der Untersttzung der Stdte beim Stadtumbau in
den alten Lndern begonnen und das Forschungsfeld 'Stadtumbau West'
des Experimentellen Wohnungs- und Stdtebaus (ExWoSt) gestartet. Auf
Grundlage dieser Erfahrungen legte die Bundesregierung im Jahr 2004 das
Stdtebaufrderungsprogramm 'Stadtumbau West' auf (Quelle: http://www.
stadtumbauwest.info/, Zugriff am 30.11.2012).
29
Zum Charretteverfahren siehe den zugehrigen Projektsteckbrief
und die ausfhrliche Publikation des Projektes in (Senatsverwaltung fr
Stadtentwicklung Berlin, 2011).
30
Die IBA in Hamburg Wilhelmsburg befasst sich schwerpunktmig
mit einem Stadtteil, der erst durch die Entwicklung der Hafen-City auf dem
Areal der ehemaligen Speicherstadt in das Blickfeld der Stadtentwicklung
geraten ist. Metapher fr die Wiederentdeckung und Neuerfindung des
ehemals zum Freihafen gehrenden Areals als Stadtgebiet ist der Sprung
ber die Elbe (siehe auch: www.iba-hamburg.de).
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GESELLSCHAFTLiCH-KULTURELLE STRATEGiEN
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Handlungsfeld 3: Bildung
Bildung kann zu einem zentralen Thema werden, wenn es um
gezielte Verbesserungen der Chancen von ortsansssigen Kin
dern und Jugendlichen gehen soll, aber auch dann, wenn Bil
dung, wie im Beispiel P07_HAUS DER JUGEND KIRCHDORF
zu einem Leitthema der Stadtteilentwicklung erklrt wird.
Mit dem Ziel, den Stadtteil Wilhelmsburg auch fr Menschen
mit mittleren und hheren Einkommen attraktiv zu machen,
wird hier, hnlich wie beim Campus-Projekt in Hoogvliet oder
der Berliner Rtli-Schule, eine Konzentration und Qualifikation
bestehender Einrichtungen angestrebt.
Auch beim Projekt P06_CAMPUS EFEUWEG ist dies, parallel
zu einer funktionalen Mischung und einer geplanten Nach
verdichtung, erklrtes Ziel der Behrden. Hier liegt noch ein
zustzlicher, innovativer Ansatz darin, Universitt und Praxis
miteinander zu verzahnen.
Handlungsfeld 4: Knstlerische Anstze und temporre
interventionen
Eine besondere Variante der Arbeit mit lokalem kulturellem
Kapital stellt das Projekt P01_FREEHOUSE in Rotterdam
dar, das im stark von Einwanderung geprgten Rotterdamer
Afrikaander-Viertel mit handwerklichen und gastronomischen
Angeboten in, aus und fr die Bewohner und Bewohnerinnen
operiert. Zentraler Kern des stdtebaulichen Wirkungsraumes
ist ein Markt, der zwei Mal wchentlich stattfindet und den die
Freehouse-Aktivisten den Markt von Morgen nennen, weil er
der ffentlichen Domne Raum gibt und den Bewohnern des
Viertels Kompetenzen zuspricht, die diese (in mehrfacher Hin
sicht) gewinnbringend einsetzen knnen.
Whrend dieses spezielle Modell auf einem relativ langfristi
gen Engagement einer Steuerungsgruppe von Auenstehen
den basiert, besitzen gesellschaftlich-kulturelle Projekte und
Strategien auch den Vorteil, dass sie sehr spontan, sehr kurz
fristig und sehr intensiv in vorhandenen Strukturen wirken kn
nen. Temporre Eingriffe und Ereignisse wie zum Beispiel das
Experiment einer Kreuzung aus Theater und Grosiedlung im
Projekt P02_X WOHNUNGEN knnen nicht nur die Sicht auf
das betreffende Gebiet (in diesem Fall das Mrkische Viertel in
Berlin) verndern, sondern auch die Sicht aus dem betreffen
den Gebiet hinaus: Eine Konfrontation zwischen Kunst
publikum und Einheimischen, wie sie hier (und an anderen Or
ten) fr einen begrenzten Zeitraum stattfand, frdert eine Iden
tifikation mit dem eigenen Viertel bei allen, die daran teilneh
men und das mglicherweise nachhaltiger, als zum Beispiel
die Neugestaltung eines Spielplatzes.
2.3
KONOmiSCHE STRATEGiEN
17
31
ber eine umfangreiche Projektdatenbank, die vor allem fr
Eigentmer von Wohnimmobilien eingerichtet wurde, verfgt zum Beispiel
das Berliner Kompetenzzentrum Grosiedlungen (siehe auch Funote 18).
Hier werden insbesondere Fallbeispiele des Stadtumbau Ost gesammelt und
ausgewertet.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
18
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
19
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
20
3 FALLBEiSpiELE:
pROJEKTSTECKBRiEFE
In diesem Kapitel werden dreizehn Fallbeispiele vorgestellt, die
Aspekte der zuvor erluterten Strategien und Handlungsfelder
exemplarisch verdeutlichen. Ihre Auswahl erfolgte anhand von
Verffentlichungen und zum Teil auch eigenen Besichtigungen.
Es handelt sich um Projekte unterschiedlicher Planungs- und
Laufzeit aus insgesamt neun Stdten und sechs europischen
Lndern, die von verschiedenen Akteuren initiiert wurden.
Unser Fokus liegt bei allen Beschreibungen auf dem Aspekt
des Gebrauchs, was vor allem bei den neueren, zum Teil noch
nicht realisierten Projekten einen spekulativen Aspekt beinhal
tet: Hier wei man zum Teil noch nicht, ob die getroffenen An
nahmen und die ergriffenen Manahmen letztlich auch zu den
angestrebten Lebensrumen fhren werden.
3.1
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
21
01 WimBY!
ROTTERDAm HOOGVLiET
Rotterdam
Zielsetzung
Die Wortschpfung WIMBY! = Welcome into my
backyard! ist eine Abnderung des gngigen Akronyms
NIMBY! not in my backyard!, das Personen bezeichnet, die eine ablehnende Haltung gegenber fremden
Ansprchen und ffentlichen Aktivitten einnehmen.
WIMBY! ist Titel und Programm einer Internationalen
Bauausstellung in der Nachkriegs-Stadterweiterung
Hoogvliet in Rotterdam. In unterschiedlichen Formaten
werden lokale Akteure, Bewohner und Bewohnerinnen in
die zuknftige Entwicklung eingebunden. Umgesetzt werden einzelne, aus dem Bestand und den Bedrfnissen
entwickelte Teilprojekte.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
projektdaten
Zeitraum
2001 2007
Konzeption
Stadt Rotterdam
22
Kontext
Das mittelalterliche Dorf Hoogvliet wurde in den 1940er Jahren
als Wachstumskern einer Stadterweiterung von Rotterdam
ausgewiesen, um die Arbeiter und Arbeiterinnen des nahe ge
legenen Petroleumhafens, mit Wohnungen zu versorgen. Die
Siedlung wurde als New Town nach dem englischen Vorbild
der Gartenstdte fr 60.000 Einwohner geplant. Whrend der
Bauzeit vernderte sich der Gesamtplan mehrfach.
Eine Explosion auf dem Gelnde der Shell-Raffinerie 1968,
bei der die Fenster der angrenzenden Gebude von Hoogvliet
barsten, machte die Gefhrdung des Standortes deutlich und
fhrte zur Ausweisung einer nicht zu bebauenden Schutzzone.
Heute besteht Hoogvliet aus zehn Nachbarschaften, die um
ein Zentrum gruppiert und voneinander durch grne Zwischen
zonen getrennt sind. Da immer weniger Einwohner und Ein
wohnerinnen von Hoogvliet tatschlich in der nahe gelegenen
Raffinerie arbeiten, wurde die relativ groe Entfernung zum
Stadtzentrum (12 km) nach und nach zum Standortproblem:
Seit den 1970er Jahren siedelten sich hier fast ausschlielich
Migranten und Migrantinnen an.
In den 1990er Jahren beschloss die Stadt Rotterdam daher ein
Stadterneuerungsprogramm fr ihren abgelegensten Stadtteil:
Die Zeilenbauten der Nachkriegszeit sollten zum grten Teil
abgerissen und durch niedrige Einfamilien- und Reihenhausty
pologien ersetzt werden. Man versprach sich hiervon eine
grere soziale Durchmischung und damit eine Aufwertung
des Stadtteils. Vorbild waren die so genannten VINEX-Gebiete,
Stadterweiterungsareale eher suburbanen Typs. Crimson Ar
chitectural Historians wurden vom Rotterdamer Stadtrat mit der
Entwicklung einer Vision fr Hoogvliet beauftragt.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
1940er
1950
1960
1968
23
1990
1990er
1999
Untersuchung des Potenzials zur Veranstaltung einer IBA nach Berliner Vorbild.
2000
WIMBY! wird gegrndet und unterbreitet erste Vorschlge zur Strukturierung des IBA-Prozesses.
2001
2002
2003
2004
2007
2008
"School Parasites"
= Drei individuelle
Erweiterungsbauten
fr die Typenschu
len der sechziger
Jahre: The Beast
(Onix architects),
The Chinese Lan
tern (Christoph Sey
ferth), The Flower
(Barend Koolhaas)
"Co-Housing":
Neue Formen des
Zusammenlebens
(verschiedene Pro
jekte)
"Logica": Flexibel
fortzuschreibender
Stadtentwicklungs
plan auf der Grund
lage von Themen
gruppen und Hand
lungsoptionen.
Campus Hoogvliet:
Vorstudie (Maxwan
architects and ur
banists)
Partizipatives Ver
fahren. (Maxwan
architects and urbanists)
Campus Hoog
vliet, dritte Phase:
Masterplan (Lofvers
V. Bergen Kolpa)
Campus Hoog
vliet, zweite
Phase: Wettbe
werb
Campus Hoog
vliet, vierte
Phase: Entwurf
(OMA)
2012
Organisation/Strategie/Akteure:
Die oben stehende Zeittafel des Wimby!-Prozesses zeigt,
dass eine Vielzahl von Akteuren mit ganz unterschiedlichen
Projekten und Formaten an der Entwicklung der alten New
Town mitgewirkt haben. Beteiligt waren nicht nur Behrden,
Planer und Planerinnen, sondern auch Schulen, ffentliche
Einrichtungen, Brger und Brgerinnen sowie Wohnungsbau
gesellschaften. Die Manahmen wurden in kurze, mittlere und
lngere Wirkungszeitrume eingeteilt (Big Wimby! Book,
Crimson, 2005).
Whrend der gesamten Projektlaufzeit (2001-2007) gab es au
erdem fr Knstler und Knstlerinnen die Mglichkeit, vor Ort
zu arbeiten (Residencies). So wurde der Blick von auen mit
dem von innen konfrontiert, mitunter sogar vermischt.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
24
Aktionsplan
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
25
2/ 3 / 4
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
26
Fazit
Wimby! Hoogvliet hat nicht nur aufgrund seines ambitionierten
Settings im Rahmen einer Internationalen Bauausstellung
internationale Aufmerksamkeit erlangt. Die Protagonisten, vor
allem Wouter Vanstiphout und Michelle Provoost von Crimson
Architectural Historians, haben es verstanden, das lokale Ph
nomen in einem historischen und rumlichen Kontext zu ver
orten und ihre Forschungsergebnisse fr andere Orte, andere
Zeiten und andere politische Situationen anschlussfhig zu
machen (siehe auch den Beitrag ihres Bros zur Architekturbi
ennale 2012).
Im Stadtraum von Hoogvliet sind die zahlreichen Manahmen
der Wimby!-Zeit heute zum groen Teil nicht mehr prsent.
Relativ wenige der geplanten langfristigeren Projekte konnten
realisiert werden, einige werden es noch (Campus Hoogvliet).
Hingegen sind viele der pragmatischeren, durch die Woh
nungsbaugesellschaften initiierten Wohnungs-Neubauprojekte
umgesetzt und fgen sich heute relativ selbstverstndlich in
die Matrix der immer wieder umgeplanten und gebauten
Stadt ein.
6 /7
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
27
02 X WOHNUNGEN
Berlin
Zielsetzung
X-Wohnungen ist ein Theaterprojekt, das fnf Tage lang
verschiedene Inszenierungen in unterschiedlichen privaten
Wohnungen im Mrkischen Viertel stattfinden lie. Das
Theaterpublikum wurde aus dem Zentrum Berlins an den
Stadtrand gelockt, um suburbane Lebensformen so
definieren es die Theatermacher und Theatermacherinnen als Gegenstand einer kulturellen Erfahrung zu entdecken.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2005
Konzeption
Kooperation
GESOBAU AG Berlin
Umfang
28
Kontext
X-Wohnungen fand 2005 im Mrkischen Viertel statt, einer
1974 fertig gestellten Trabantenstadt an der nrdlichen Peri
pherie Berlins. Das Mrkische Viertel berformte seinerzeit ein
seit den 1920er Jahren ungeordnet besiedeltes Gebiet. Heute
wohnen ca. 36.000 Einwohner und Einwohnerinnen dort.
Die Architektur der Grosiedlung ist regelmig einer breiten
Kritik ausgesetzt gewesen und wurde immer wieder als men
schenfeindlich und mastabslos charakterisiert. Hingegen for
mulieren Mieter und Mieterinnen eine hohe Wohnzufriedenheit.
Die Bevlkerungsstruktur weist eine berdurchschnittlich hohe
Anzahl von Arbeitslosen und Transferleistungsabhngigen auf.
Es fllt ein starker Zuzug junger Familien auf. Bedingt durch
das Alter der Siedlung setzt gerade ein Generationswechsel
ein, der Wohnungsbaugesellschaften, Mieter und Mieterinnen
gleichermaen vor neue Herausforderungen stellt.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
29
1950
1959
1962
1964
1968
1974
2002
2004
2005
X-Wohnungen in Schne
berg und im Mrkischen
Viertel, Berlin. Dramatur
gie: Arved Schultze (Re
gisseur), Matthias Rick
(Architekt)
2006
X-Wohnungen in Caracas
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
30
Urbane Lebenswelten
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31
6
5
2/3/4/5
6/7/8
X-Wohnungen
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
32
10
11
Fazit
Bleibende Ergebnisse aus der Inszenierung lassen sich nicht in
einer Auflistung fassen. Doch neben dem Realittsabgleich aus
der Perspektive der Theatertreibenden ffnete die Inszenie
rung Einblicke in unterschiedliche Lebenswelten im Mrkischen
Viertel. Dadurch, dass sich Zuschauende und Erzhlende zah
lenmig ebenbrtig gegenberstanden, betrachteten sich bei
de gegenseitig: Nicht nur die Zuschauenden bekamen Einblick
in die Lebenswelt der Menschen im Mrkischen Viertel, son
dern auch Menschen im Mrkischen Viertel begegneten Thea
terzuschauer und -zuschauerinnen ganz nah und persnlich.
12
9 / 10 / 11 / 12
X-Wohnungen
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
33
03 FREEHOUSE
DER mARKT VON mORGEN
Rotterdam
Zielsetzung
Freehouse Rotterdam fokussiert auf Mikro-Urbanismen
zum Beispiel ungewhliche rumliche und unternehmerische Praxen die in und aus lokalen Gemeinschaften
berall in der Stadt entstehen. Diese alternativen Formen
urbaner und konomischer Entwicklung werden durch
soziale Begegnungen, Kollaborationen und Austausch
gefrdert. Freehouse untersttzt sie durch die Einrichtung von Werksttten und die Durchfhrung von Interventionen. (van Heeswijk 2011, 22; bersetzung: SH)
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
seit 2008
Konzeption
Freehouse /
34
Kontext
Das Afrikaander-Viertel in Rotterdam, eine um die Jahrhundert
wende fr den nahen Hafen errichtete Arbeiter-Wohngegend,
ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch den Zuzug von
Menschen mit Migrationshintergrund geprgt.
In den 1970er Jahren entluden sich interethnische Spannun
gen im Viertel in gewaltttigen Auseinandersetzungen, worauf
hin der Rotterdamer Stadtrat eine umfassende Erneuerung der
Umgebung beschloss. Whrend in der Folgezeit die umliegen
den Quartiere neu entwickelt und bebaut wurden, erlebte das
Afrikaander-Viertel selbst einen konomischen Niedergang, in
dessen Verlauf zahlreiche Lden und Gewerbebetriebe schlie
en mussten. Heute ist das Viertel als sozialer Brennpunkt
ausgewiesen.
Zentral im Gebiet liegt der Afrikaander Markt, zweitgrter
Markt in Rotterdam, der zweimal wchentlich am Rand einer
groen Grnflche stattfindet. Der Markt ist Ausgangspunkt
und Ziel der von Freehouse geplanten und durchgefhrten Ak
tionen und Gegenstand des Projektes Der Markt von Morgen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
35
1900
1950
1972
1985
1993
Entwicklung und Aufwertung der angrenzenden Gebiete (Kop van Zuid, Katendrecht, Parkstad)
1996
Neugestaltung Afrikaandermarktplatz
1998
Grndung von Freehouse (Jeanne van Heeswijk / Herve Paraponaris) Freehouse ist Mitinitiator zahlreicher Projekte zur Ent
wicklung von ffentlichen Rumen und der Public Domain (van Heeswijk).
2001
2002
Freehouse research rapport "Oude-Westen" und Experten-Workshops mit Jeanne van Heeswijk und Herve Paraponaris, Rick
Lowe, Howard Goldkrand and Beth Coleman (Soundlab), Charles Landry, Raoul Bunschoten, Siebe Thissen, Maaike Enge
len and Martien Wijers (Chameleon Drive Consultancy), Olav Veldhuis, Andries Botha, Johanna Luhmann, Femke Snelting,
Maartje Berendsen, Roger Teeuwen, Hasshan Ali Yech, Abdel El kahali, Mark Hugye, Adriaan Schaap, Catja Edens.
2008
2009
2010
Lucky Mi Fortune
Cooking (Debra So
lomon) Mobiles,
kollektives Restau
rant fr asiatische
Kche
Suit It Yourself
(Cindy van den Bre
men): Modeinitiative
und Nhatelier.
Pret--Porter
Kollektion der
Modedesignerin
Marga Weimans,
die mit Motiven und
Teilnehmern des
Afrikaanderviertels
entstand, inclusive
einer Modenschau
auf dem Afrikaan
der-Markt
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
36
Ein Markt:
Branchenauswahl
und Anordnung
Politisch:
Neue Marktstnde
Ein Markt:
Gestaltung
Neuer Stadtteil
PARKSTAD
Politisch:
Dienstleistungen
Ein Ort
zum Sitzen
Afrikaandermarkt:
Politisch:
Verkaufswagen
Ein Markt:
Terrasse
Das Viertel:
Lokale
Produktion
Das Viertel:
Speisehof
Ein Markt:
Neue
Produkte
Neuer Stadtteil
KOP VAN ZUID
Politisch:
Ein Markt:
Marktredner
Prsentationsplattform
M RIJNHAVEN
Neuer Stadtteil
KATENDRECHT
Freehouse
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
37
Viel Wert wird dabei auf Orte der Begegnung und des Aus
handelns von Konflikten gelegt. Restriktive Regularien zur
Vermeidung von Konflikten hingegen werden als hinderlich
angesehen: So ist es zum Beispiel aus Sicht von Freehouse
unverstndlich, warum nach den geltenden Gesetzen jeder
Marktstandbetreiber nur ein einziges Produkt verkaufen darf,
warum Verkaufswgen von mehr als 6 m Lnge verboten sind
oder warum die Abflle, die am Ende des Tages unverkauft
brig bleiben, nicht zur Produktion haltbarer Lebensmittel ver
wendet werden drfen.
Die Bandbreite der Vorschlge von Freehouse ist entsprechend vielfltig: Sie umfassen beispielsweise die nderung
von Regularien, das Design neuer Marktstnde und die Anordnung einer zentralen Bhne fr Modenschauen und einen
Marktredner. Aber auch die Bndelung von Kompetenzen so
wie die Kombination von Dienstleistungen und die Entwicklung
neuer Geschfts- oder Produktideen sind im Werkzeugkasten
fr den Markt von Morgen enthalten und werden heute schon
sehr erfolgreich vor Ort praktiziert.
2/ 3 / 4
5/6
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
38
9
10
11
Fazit
Der Markt von Morgen bedient sich konomischer Strategien
(Innovation, Forschung, Marktanalyse), um dem von sozialem
Abstieg und Gentrifizierung bedrohten Viertel des Afrikaander
wijk und seinen Bewohnern eine lngerfristige Perspektive zu
erffnen. Whrend die sichtbaren Vernderungen (des ffent
lichen Raumes, der baulichen Struktur) vergleichsweise subtil
sind, ist das von Jeanne van Heeswijk gegrndete Netzwerk
umfassender und heute eine der wenigen Initiativen vor Ort,
die trotz Finanzkrise und schwierigen Rahmenbedingungen
weiter arbeiten knnen.
Die angewandten Methoden knnen als modellhaft fr die
Entwicklung anderer Stdte und Quartiere angesehen wer
den, wobei allerdings zwei Dinge zu beachten sind: Erstens
wre das Projekt im Afrikaanderwijk ohne die kontinuierliche
Prsenz und die intelligente Widerstndigkeit der federfhren
den Knstlerin kaum mglich gewesen, und zweitens sind die
Themen, die entwickelt werden knnen, immer abhngig von
den lokalen Potenzialen des jeweiligen Gebiets. You have to
find the undercurrent, sagt van Heeswijk selbst dazu: Es gilt,
die spezifische Unterstrmung, den Charakter und den Mg
lichkeitsraum des Gebietes und seiner Bewohner zu erkennen
und gemeinsam mit ihnen zu entwickeln.
7/8
9 /10/11
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
39
04 OLEANDERWEG
Halle-Neustadt
Zielsetzung
Durch Teilrckbau und Umbau eines Plattenbaus vom
Typ P2 werden die Qualitten der Planstadt Halle Neustadt weiter entwickelt. Aus 125 Wohnungen werden 81.
Die Wohnungsgrundrisse werden differenziert, 18 verschiedene Wohnungstypen entstehen in dem Gebude,
das zuvor nur gleiche Wohnungen enthielt. Das Projekt
war Teil der IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2008 2010
Konzeption
Kosten
40
Kontext
Halle-Neustadt war von 1964 bis 1990 eine eigenstndige
Stadt westlich von Halle an der Saale. Als sozialistische
Modellstadt und Wohnort fr die Beschftigten der Chemie
kombinate BUNA und Leuna wurde sie fr 100.000 Personen
geplant. 1989 verfgte sie ber knapp 90.000 Einwohner und
Einwohnerinnen. Nach massiver Abwanderung liegt die Anzahl
der Bewohner und Bewohnerinnen inzwischen bei ca. 45.000.
Halle-Neustadt ist heute ein Stadtteil von Halle (Stadtbezirk
Halle West). Um den Wohnungsmarkt zu regulieren, mussten
Gebude rckgebaut und die verbleibenden Teile der Stadt
heutigen Anforderungen an das Wohnen angepasst werden.
Der Oleanderweg 1245 (Wohnkomplex III) liegt im erhaltens
werten Kern von Halle Neustadt nrdlich der Magistrale und
angrenzend an den neuen Stadtpark in Heide-Sd. Er verfgt
ber viele Grnflchen und profitiert von der Nhe zum Park.
Das Gebude liegt innerhalb eines Ensembles, von dem Teile
rckgebaut wurden, so dass sich die fulufige Verbindung der
umliegenden Grnflchen deutlich verbesserte.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
1971
Fertigstellung des
fnfgeschossigen
Gebudes als
Plattenbau Typ P2.
2002
Halle-Neustadt wird
Planungsgebiet der
IBA Stadtumbau
Sachsen-Anhalt
2010.
2003
2007
Planungsbeginn
2008
Baubeginn
2010
Fertigstellung
2011
Auszeichnung
mit dem Philippe
Rotthier European
Price for
Architecture.
2012
Deutscher
Bauherrenpreis,
Anerkennung
41
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
42
1/2
Grundriss Wohneinheit
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
43
4
5
6
7
konomisches Konzept
Die Bausumme von acht Millionen Euro wird zu drei Vierteln
von der Wohnungsbaugesellschaft Gesellschaft fr Wohnund Gewerbeimmobilien (GWG Halle) getragen. Zwei Millio
nen stammen aus ffentlichen Frdermitteln. Fr die GWG war
das Vorhaben ein Pilotprojekt, aus dem sie Erkenntnisse fr
andere Umbauten ableitet.
4/5/8
6/7
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
44
10
11
12
Fazit
Das Projekt hat eine weitgehende Verwandlung des Hauses
erreicht. Das vormals monotone Gebude mit immer gleichem
Wohnungsangebot ist jetzt abwechslungsreich gegliedert und
erfllt die unterschiedlichsten Wohnbedrfnisse, fr Alleinste
hende, Seniorinnen und Senioren genauso wie fr Familien
oder junge Berufsttige. Die Nachfrage nach Wohnungen im
Gebude war schon vor seiner Fertigstellung sehr gro.
Fr eine Imageaufwertung eines lange Zeit schrumpfenden
Stadtteils wie Halle Neustadt ist der Oleanderweg ein wich
tiges Projekt, ebenso wie fr die Bindung einer heterogenen
Mieterschaft an den Ort. Durch die hohen Kosten kann eine
solche Manahme allerdings nur als gezielter Einzelfall umge
setzt werden.
Dachterrasse
10 / 11 / 12
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
45
05 SCHORFHEiDEViERTEL mARZAHN
Berlin
Zielsetzung
Durch den Rckbau entstandene stadtrumliche Vernderungen und Probleme sollten durch eine neue Auenraumgestaltung mit vorgeschaltetem Beteiligungsverfahren
(Charrette) gelst werden. So konnte lokales Wissen genutzt und die Bindung der Bewohnerinnen und Bewohner
an den Ort vergrert werden. Das Charetteverfahren
bietet die Mglichkeit, komplexe stdtische Problemlagen
in relativ kurzer Planungszeit zu lsen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2007 2010
Planung und Realisierung
Konzeption
gruppe F Landschaftsarchitekten,
ts Redaktion
Auftraggeber
46
Kontext
Berlin Marzahn ist das grte zusammenhngende Platten
baugebiet in Deutschland. Es hat heute 22.400 Einwohner und
Einwohnerinnen. Die Gebude wurden berwiegend in den
1980ern errichtet.
das seit 1999 ein Gebiet im Programm Soziale Stadt ist. Fast
20 % der dort lebenden Menschen haben Migrationhintergrund
(vorwiegend Sptaussiedler), ber 37% beziehen Transfer
leistungen. Erschreckend ist, dass zwei Drittel der Kinder im
Gebiet in Familien mit Hartz-IV-Bezug leben.
In den 1990er Jahren war die Bevlkerung stark rcklufig, im
Rahmen des Programms Stadtumbau Ost wurden viele Ge
bude abgerissen. Trotz Teilverbesserungen wurde im Mento
ring Soziale Stadtentwicklung 2010 eine prekre soziale Lage
im Quartier diagnostiziert.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
47
1999
2002
2003
Beginn der Umbauphase. Unsanierte Wohngebude werden abgerissen bzw. teilrckgebaut und saniert.
2007
Rckbau von
zwei elf- und drei
sechsgeschossigen
Wohngebuden.
2008
2010
2011
UrbanPlan
GmbH als beauf
tragte QuartiersAgentur
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
48
Stdtebaukonzept
Die Qualitten des Schorfheideviertels werden in seiner Nhe
zum Berliner Stadtrand und seinem ausgeprgten landschaft
lichen Bezug gesehen, der mit dem Leitbild "Schorfheide"
gestrkt werden sollte. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen
entschieden, den durch Abriss entstandenen Freiraum als flie
enden Raum um die verbleibenden Gebude zu organisieren,
neue Wegeverbindungen und -verknpfungen unabhngig vom
Straenverlauf anzulegen und unterschiedliche Situationen
durch vier typische Landschaftselemente der Schorfheide ent
stehen zu lassen: Hgel der Endmornen-Landschaft, Kiefern
und hohe Grser als typische Vegetation und, als bertragung
der Struktur weidender Schafherden, locker angeordnete Multi
funktionsboxen.
Lageplan
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
49
Lokale potenziale
Aufgrund der Standrandlage gibt es im Schorfheideviertel aus
reichend Freiflchen und Spielangebote aller Art, so dass die
Raum- und Nutzungsanalyse keinen Nutzungsdruck aus dem
Umfeld feststellen konnte. Letztlich stellte sich heraus, dass
aber gerade die Stadtrandlage hohes Identifikationspotenzial
bietet. Der Wunsch der meisten Anwohnenden ist es, in ihrem
Quartier, Ruhe, Weite und Grnraum erleben zu wollen. Im
Charretteverfahren wurde jedoch auch deutlich, dass die Be
wohner und Bewohnerinnen keine persnliche Verantwortung
fr die Pflege der Freiflchen bernehmen wollten, sondern
dieses ganz deutlich im Aufgabenbereich der Wohnungsbau
gesellschaften sahen.
konomisches Konzept
Die Charrette wurde aus den Mitteln des Programms Soziale
Stadt der Senatsverwaltung fr Stadtentwicklung (Quartiers
management) getragen. Der Umbau wurde von der Woh
nungsbaugesellschaft degewo in Auftrag gegeben und aus
Mitteln des Programms Stadtumbau Ost finanziert.
2/3
4
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
50
Fazit
Whrend die verbleibenden Gebude energetisch ertchtigt
wurden, bezieht sich der identittsstiftende Entwurf auf die
Freirume. Diese wurden nicht, wie hufig in Planungen von
oben vorgeschlagen, als Stadtplatz oder ffentlicher Platz
ausgebildet. Stattdessen entstand in der Brgerbeteiligung die
Idee, den landschaftlichen Charakter des Gebietes zu strken.
Als flieender Raum, der mit Landschaftselementen aus der
Schorfheide gestaltet ist, vermag das Wohnumfeld den Bedrf
nissen der Bewohner und Bewohnerinnen besser zu entspre
chen.
5/6/7
Freiraumgestaltung
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
51
Berlin
Zielsetzung
Die Akademie einer neuen Gropiusstadt ist ein
partizipatives Instrument zur sozialen und stadtrumlichen
Entwicklung der Grosiedlung. Unter Ausnutzung lokaler
Potenziale soll die Gropiusstadt zum Vorbild einer
klimagerechten und sozialen Stadtentwicklung werden.
Die Akademie ist aus dem Projekt Campus Efeuweg,
ihrem ersten konkreten Projekt, hervorgegangen. Campus
Efeuweg moderiert einen Zusammenschluss von Bildungseinrichtungen mit dem Ziel, sie zu ffnen und
strker mit der Siedlung zu verflechten und mchte unter
Einbeziehung der Akteure die baulich-rumlichen
Voraussetzungen dafr schaffen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2006-2010
Konzeption
Jrg Stollmann
TU Berlin
Auftraggeber
Quartiersmanagement Efeuweg,
DEGEWO
52
Kontext
Die nach dem Bauhausdirektor Walter Gropius benannte
Gropiusstadt liegt in Neuklln, am sdlichen Rand Berlins.
Der Stadtteil ist nahezu ein reines Wohngebiet. Die Wohnungen
wurden mehrheitlich zwischen 1962 und 1975 im Rahmen des
sozialen Wohnungsbaus errichtet. Die Planung fr den Stadtteil
wurde von Walter Gropius im Bro TAC begonnen, spter aber
stark abgewandelt, da nach dem Mauerbau 1961 eine prognos
tiziert grere Zahl von Wohnungssuchenden auf der Flche
des verbleibenden Stadtgebietes unterzubringen waren. Diese
Rahmenbedingungen fhrten zu einer erheblich hheren Be
bauungsdichte gegenber der ursprnglichen Planung.
Heute ist der Stadtteil im Programm Soziale Stadt integriert.
Es leben 23.761 Einwohner im Gebiet des rtlichen Quartiers
management (QM)(IHEK 2012). 2011 kam es erstmalig wieder
zu einer Bevlkerungszunahme im Stadtteil, dessen Einwoh
nerzahl auf Grund niedrigerer Belegungsdichte in den Woh
nungen in den letzten Jahren leicht abnehmend war. Der Anteil
der dort Wohnenden mit Migrationhintergrund ist in den letzten
Jahren kontinuierlich gestiegen, was teilweise zu Konflikten zwi
schen den sehr unterschiedlichen Menschen fhrt. Dank treuer
Erstmieter und Erstmieterinnen verfgt die Gropiusstadt ber
einen berdurchschnittlich hohen Anteil von ber 55-Jhrigen.
Ebenso liegt der Kinderanteil hher als im Berliner Durchschnitt.
Ein hoher Anteil der Bevlkerung ist von Transferleistungen
abhngig, dazu gehren ber 60% der Kinder. Gropiusstadt
bietet auer in ffentlichen Einrichtungen (Schulen, Kitas etc.)
nur wenigen Menschen Arbeit. Die gute Vermietungssituation
wird auf die sehr vielfltigen Wohnungsgren und Wohnungs
ausstattungen zurckgefhrt. Neun Schulen befinden sich in
nerhalb des Gebietes und ein breites Angebot an sozialen Ein
richtungen. Der Stadtteil ist ber die U7 sehr gut angebunden.
Die Gropiuspassagen bieten ber Waren des tglichen Bedarfs
hinaus umfangreiche Einkaufsmglichkeiten, die von einem we
sentlich greren Einzugsgebiet genutzt werden.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
52
1955
und die Wohnungsbaugesellschaften GEHAG, GSW, IDEAL und Mrkische Scholle im Bezirksamt Neuklln.
1958
1961
1962
1964
1975
1986
1989
2002
2005
2008
2009
Bildungsmeile Wutzkyallee wird im Programm Soziale Stadt gefrdert: Kooperation einer Kita, dreier Schulen, einer Ju
gendeinrichtung und eines Abenteuerspielplatzes mit dem Ziel der inhaltlichen und organisatorischen Zusammenarbeit
sowie der rumlichen Aufwertung und Verknpfung der Standorte.
2010
"Campus Efeuweg
Modell(e) fr eine
neue Gropiusstadt":
Gemeinschaftsba
sierte Forschungs
und Entwurfspro
jekte an der TU
Berlin in Zusam
menarbeit mit dem
Bildungsverbund
Efeuweg.
2012
2013
2014
Forschungspro
jekt "Soko Klima
Stadtgestalten
mit Plan."
Methodenkoffer
zur Beteiligung
von Kindern und
Jugendlichen
an formalen und
informellen klima
relevanten Pla
nungsverfahren
auf kommunaler
Ebene.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
52
Entwurfswerkzeuge
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
52
2 / 3/4
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
52
Fazit
Neu am Projekt Campus Efeuweg und dem daraus hervorge
gangenen Format der Akademie ist die Verbindung zwischen
universitrer Forschung und Lehre mit konkreten Planungen
und Umbauten im Stadtteil. Diese Kooperation kann einen
fruchtbaren Rahmen zur Entwicklung und Erprobung partizipa
tiver Werkzeuge sowie zur Erarbeitung innovativer Methoden
und Ziele bieten. Hierzu ist es allerdings auch erforderlich, dass
einige der Ideen tatschlich auch baulich umgesetzt werden.
Die Einbindung des Projektes in eine zuknftige IBA knnte
hierfr einen geeigneten Rahmen bieten. Inwiefern Forschung
und Lehre bei der Realisierung beteiligt werden knnen, bleibt
auszuhandeln. Mit der Grndung der "Akademie einer neuen
Gropiusstadt" ist ein guter Schritt zur Erprobung experimentel
ler Vorgehensweisen gemacht worden.
9
10
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
57
HAmBURG
Zielsetzung
Das neue Haus der Jugend wurde als Ersatz fr einen in
den siebziger Jahren als Provisorium errichteten Flachbau
am Rand der Growohnsiedlung Hamburg-Wilhelmsburg
errichtet. Es verschrnkt vielfltig bespielbare Innen- und
Auenrume in einem markanten Baukrper. Dieser fungiert auf doppelte Weise als Zeichen: stadtrumlich als bauliches Zeichen im Vorfeld der Internationalen Bauausstellung und inhaltlich als Bekenntnis zur Bildungsinitiative fr
die Bewohner des benachteiligten Bezirks. Beides, Inhalt
und Form, soll den Jugendlichen neues Selbstbewusstsein
geben: Die Aggression, die es im Stadtteil gibt, entsteht
aus einem Minderwertigkeitsgefhl, aus dem Gefhl, ausgeschlossen zu sein. Als das Haus fast fertig war ... haben
wir den Stolz darauf gesprt, sagen zu knnen: Das ist
unser Haus hier! (Architekten)
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2008- 2010
Architekten
Umfang
BRI 7.425,3m
BGF 1.587,7m
NF 964,2m
58
Kontext
Der Stadtteil Wilhelsmburg liegt auf einer Elbinsel zwischen der
Innenstadt von Hamburg und dem nahen Harburg. Er grenzt
an Gewerbe- und Industrieareale des Hamburger Hafens an.
Die stlich der S-Bahn-Gleistrasse gelegene Wohnsiedlung,
in der sich das Haus der Jugend befindet, entstand in den
sechziger und siebziger Jahren als Wohnsiedlung fr Hafenar
beiter. Heute leben hier berdurchschnittlich viele Menschen
mit Migrationshintergrund. Das durchschnittliche Einkommen
ist gering.
Im Rahmen der IBA (Internationalen Bauausstellung) Hamburg
2013 wird mit dem Sprung ber die Elbe (Slogan) eine Stra
tegie verfolgt, die die bisher nicht auf der mentalen Landkarte
der Stadt verzeichneten Gebiete sdlich des Flusses besser
anbinden und als Wohngebiete in Wert setzen soll. Neben ei
nigen Neubauprojekten, die alternative Wohnformen anbieten
und innovative Konstruktionsweisen testen, werden mehrere
Bildungsprojekte im Stadtteil realisiert. Mit dem neuen Haus
der Jugend wurde bereits im Vorfeld der IBA ein bauliches Zei
chen gesetzt.
Das Haus der Jugend, ursprnglich ein als Provisorium errich
teter Flachbau am Rand der Siedlung, blickt bereits auf eine
jahrzehntelange Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit zu
rck. So konnte die Erfahrung des dort ttigen Teams und der
bereits vorhandenen Nutzer in die Entwicklung des Neubaus
einflieen (siehe folgende Seite).
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
59
1950er
1960er
1970er
2000er
2004
Anders als bei anderen Jugendhusern, die meist vom Bezirksamt selbst gebaut werden, soll zur
Sicherung einer hheren architektonischen Qualitt und zur Erlangung von zeichenhaften Entwrfen
ein Wettbewerb ausgelobt werden. Die Nutzer und Nutzerinnen (Angestellte der Einrichtung und
Jugendliche aus dem alten Haus der Jugend) wirken an der Erarbeitung des Raumprogramms mit.
Gegenstand des Wettbewerbs sind eine Reihe von Funktionsrumen im Gebudeinneren sowie
berdachte Sportbereiche auf dem Gelnde.
2005
2007
2008
2011
Erffnung (24.01.2011)
planungsphase.
In zahlreichen Gesprchen werden die Anforderungen an das
Haus immer weiter przisiert. Ein wichtiges Thema ist der
Aspekt der Sicherheit: Dem Bedrfnis der Jugendlichen, sich
in verschiedene Nischen zurckziehen zu knnen, stehen die
Anforderungen der Betreuer und Betreuerinnen gegenber, die
darin ein Sicherheitsrisiko sehen. Die herannahende IBA und die
Rolle des Projekts als berregionales Zeichen ermglichen jedoch
nicht nur eine vergleichsweise grozgige finanzielle Ausstattung,
sondern auch ein Experiment: Die Transparenz des Hauses (von
innen, von auen und durch alle Ebenen hindurch) ist nicht nur ein
sthetisches, sondern auch ein programmatisches Statement.
Der Leiter der Einrichtung wirbt fr das mutige Konzept und fordert
zustzliche Stellen, die jedoch nie genehmigt werden.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
60
2/3
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9
Treppenraum
Urbane Lebenswelten
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Fazit
Das Haus der Jugend in Kirchdorf wirkt als doppeltes Zeichen
fr eine Wertschtzung des bisher von Politik und ffentlichkeit
vernachlssigten Stadtteils Wilhelmsburg, der durch die jngs
ten stdtebaulichen Entwicklungen zum Vorgarten der reichen
Hafencity geworden ist.
Das Programm des Gebudes geht anders, als bei anderen
architektonisch-kulturellen Aufwertungsprojekten nicht am
Bedarf des Stadtteils vorbei, sondern trifft dessen Kern: Als
niedrigschwelliges Bildungs- und Freizeitangebot fr Kinder
und Jugendliche aus einkommensschwachen und oft auch
bildungsfernen Haushalten ermglicht es diesen im besten Fall
ebenfalls einen Sprung ber die Elbe, hinein ins gesellschaftli
che und konomische Leben der Hansestadt.
Es bleibt zu hoffen, dass die Bewohner und Bewohnerinnen
von Wilhelmsburg auf diese Weise von der einsetzenden Gen
trifizierung (IBA, IGA, Hafencity-Nhe) auch langfristig profitie
ren knnen wenn die Stadt das grozgige Geschenk, das
sie den Jugendlichen gemacht hat, auch langfristig unterhlt.
10 , 11
Skatebahn
12
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
63
08 Treehouses
hAMBurG
Zielsetzung
Das Projekt transformiert eine zwei- bis dreigeschossige,
offene Zeilenbebauung aus den spten fnfziger Jahren
durch Bauen auf dem Bestand (Architekten) in eine
durchgehend viergeschossige, zeitgeme Wohnanlage.
Mit dem Begriff Treehouses wurde eine positiv besetzte
Metapher geschaffen, die es ermglichte, Bauherrn und
Behrden von der Planung zu berzeugen.
Wichtig waren auch konomische und kologische Aspekte: Insgesamt wurde mit der Planung das Ziel verfolgt, die
Wohnflche zu verdoppeln und den bisherigen jhrlichen
CO2-Aussto zu halbieren. (blauraum)
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
blauraum, Hamburg
Bauherr
Kosten
47 Wohnungen im Neubau,
104 Wohnungen im Altbau
(energetische Sanierung)
8.800 m2 BGF Ergnzung zum
Bestand von 9.600 m2 BGF
64
Kontext
Die Treehouses befinden sich im Hamburger Stadtteil Alster
dorf, einer gutbrgerlichen Wohngegend nrdlich der Innen
stadt. In der Umgebung befinden sich Altbaubestnde aus
der Grnderzeit (meist in Form von kleinen Stadtvillen), aus
den 20er30er Jahren (Genossenschaftsbauten) und aus den
50er60er Jahren. Vor allem in den Wohnbauten aus den 60er
Jahren ist das Durchschnittsalter der Bewohner relativ hoch.
Auf dem Grundstck waren fnf zweigeschossige Zeilen und
ein dreigeschossiger Querriegel vorhanden. Sie befinden sich
im Besitz eines privaten Eigentmers und waren vor Beginn
des Umbaus vollstndig vermietet. Die Gebudesubstanz, dem
damaligen Planungsethos entsprechend auf das statisch not
wendige Minimum reduziert, fhrte zu hohen Energieverlusten
im Betrieb. Die erforderliche Grundsanierung sollte mit einer
hheren Ausnutzung des Grundstcks (doppelte BGF) einher
gehen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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1957
2006
2007
Einreichung des Bauantrags, um die Genehmigungsfhigkeit von Variante b) zu berprfen, die nicht den geltenden Vorschriften entspricht
(Zweigeschossigkeit nach 34 BGB).
Die Genehmigungsbehrden stimmen dem Antrag unter der Magabe
zu, dass der offene Grnraum erhalten und die in Holzbauweise ausgefhrten Aufstockungen als solche auch erkennbar bleiben. Auflage:
Holzverkleidung der Fassade
2008
2010
bis
he ute
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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doppelte
Wohnflche
halbe
CO2-Emission
1
1
2/3
4
Konzept
Grundrisse 2. und 3. OG des Maisonnette-Typs
Querschnitt durch die Maisonnette-Wohnung
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
67
Das Bild des Baumhauses wird fr das Projekt an der Bebelallee auf mehreren Ebenen zur Referenz: Nicht nur die
Materialitt, sondern auch die ausladende Form des Dachaufbaus erinnert an ein Baummotiv. Zwar ist der ruppige Charme
der ersten Skizzen (Abb. 2) in der fertigen Realisierung einer
gediegenen Detaillierung gewichen, doch wirkt der Typus der
schwebenden Maisonettewohnung tatschlich ein wenig wie
eine Kreuzung aus Baum- und Reihenhaus.
8
Da es von Beginn an erklrtes Ziel des Projektes war, die Mieter whrend der gesamten Bauzeit in ihren Wohnungen zu belassen, wurde eine schnelle und leichte Bauweise mit hohem
Vorfertigungsgrad gewhlt (Holzbau). So konnte das Eigengewicht der Aufstockung mglichst gering gehalten werden.
Punktuell waren dennoch zustzliche Grndungsmanahmen
erforderlich.
Nach dem Abriss der Satteldcher wurden die Zeilen fr die
gesamte Bauzeit komplett eingehaust (Abb. 3). Die Holzkonstruktion wurde montiert (Abb. 4) und anschlieend von auen
mit Schindeln verkleidet. Das einschalige Klinker-Mauerwerk
des Bestandes erhielt eine vorgesetzte Dmmschicht und eine
neue Klinker-Verkleidung.
Die Gestaltung der Auenanlagen behlt das ursprngliche
Konzept eines die Huser umflieenden Grnraumes bei,
schafft darin jedoch unterschiedliche Funktionsinseln (Spielflchen, Fahrradstell- und Parkpltze). Fr die Erdgeschosswohnungen werden durch Heckenpflanzungen private Bereiche
erzeugt.
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Urbane Lebenswelten
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10
11
12
Fazit
Das Projekt Treehouse erzielt bei vollstndigem Erhalt
der ursprnglich vorhandenen Bausubstanz eine deutliche
bauliche Verdichtung auf dem Grundstck (ca. 190%). Eine
Diversifizierung des vorhandenen Angebots erfolgt vor allem in
Bezug auf die Wohnungsgren und damit auf die Altersstruk
tur der Bewohner und Bewohnerinnen. Zustzlich wurde eine
energetische Ertchtigung des gesamten Bestandes erzielt.
Die verantwortlichen Planerinnen und Planer betrachten die
Bestands-berbauung als stdtebaulich, energetisch und ko
logisch sinnvolle Nachverdichtungs-Typologie, die sie heute
auch an anderer Stelle in hnlicher Weise realisieren. Eine
pauschale bertragung der Erfahrungen ist dabei jedoch nicht
mglich: Die Nachverdichtung und energetische Sanierung im
Bestand, sagen sie, ist immer eine Kombination aus individu
ellen Voraussetzungen und mageschneiderten Strategien.
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Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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09 Tour Bois-le-PrTre
PAris
Zielsetzung
Die Transformation des Tour Bois-le-Prtre gilt als prototypische Alternative zu einer von der franzsischen
Regierung bislang favorisierten Tabula-Rasa-Methode
der Stadtentwicklung, bei der groflchige Abrisse
vorgenommen und anschlieend Ersatzneubauten errichtet werden. Dieses Projekt demonstriert, dass sich mit der
Weiterverwendung der bestehenden Bausubstanz nicht
nur architektonisch anspruchsvolle Objekte realisieren,
sondern auch Zeit und Kosten einsparen lassen. Nicht zuletzt wurde hier auch auf den Erhalt des sozialen Gefges
der dort Wohnenden Wert gelegt bei gleichzeitiger, entscheidender Verbesserung ihrer Wohnqualitt.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
1959-61
2008-2011
umgebaut
Konzeption
Paris Habitat
(Wohnungsbaugesellschaft)
Kosten
70
Kontext
Das von Raymond Lopez 1959-61 erbaute Hochhaus ist Teil
eines ebenfalls von ihm entworfenen Ensembles groer Ge
bude entlang des nrdlichen Abschnittes der Priphrique,
der Pariser Stadtautobahn.
Das Gebiet um die Porte Pouchet, in dem der Tour Bois-lePrtre liegt, zhlt seit 2002 zu den Grands Projets de renou
vellement urbain, den groen Stadterneuerungsprojekten
(GPRU) von Paris. Ihre Zielsetzung ist es, die Lebensqualitt in
den betroffenen Gebieten zu verbessern, soziale Infrastruktur
auszubauen und Schnittstellen zwischen benachbarten Stadt
teilen zu schaffen.
Im Gebiet um die Porte Pouchet leben im Vergleich zum bri
gen 17. Arrondissement, aber auch zu Paris insgesamt, ber
durchschnittlich viele Migranten und Migrantinnen, Arbeitslose,
Geringverdienende. Auch die Schulbildung ist unterdurch
schnittlich. Die meisten der im Gebiet vorhandenen Wohnun
gen sind Sozialwohnungen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
71
1954
1962
1966
Fertigstellung der Priphrique, der Pariser Stadtautobahn, die das Gebiet gegen die Gemeinde von
Clichy abgrenzt. Das Gebude ist dadurch hohen Lrmimmissionen ausgesetzt.
1990
2002
2003
2005
2006
Planungsphase.
Ausarbeitung des Pro
jekts in enger Zusam
menarbeit mit den Mie
tern und Mieterinnen.
2007
Entscheidendes Votum der Mieter und Mieterinnen: 90% stimmen dem Projekt zu einreichung des Bauantrages.
2008
Ausschreibung
2009
Vergabe des Auftrags. Beginn der Arbeiten im bewohnten Haus, weitere Abstimmung mit Mietern und Mieterinnen.
2011
Fertigstellung
Urbane Lebenswelten
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9. Stock
1/2/3
4/5
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7
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9
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
74
10
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Fazit
Als Teil eines greren Stadtumbaugebiets (GPRU) war der
Tour Bois-le-Prtre von Beginn an ein Aushngeschild der dort
geplanten Vernderungen. Zugleich sollte er als Beispiel fr
einen ressourcenschonenden und brgernahen Umgang mit
dem gebauten Raum der Stadt dienen. So rechtfertigte sich der
vergleichsweise hohe Aufwand in Planung und Durchfhrung
des Projektes, in dem OPAC Paris (spter Paris Habitat) als
Auftraggeberin fungierte. Mehrere Architekturbros nahmen in
der Projektsteuerung, im Wettbewerb und in der Ausfhrungs
planung teil. Die Bewohner und Bewohnerinnen des Turmes
wurden als Nutzende und Betroffene eingebunden.
12
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Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
75
Wien
Zielsetzung
Die Sargfabrik ist das grte selbstverwaltete Wohn- und
Kulturprojekt in sterreich. Auf dem Gelnde einer alten
Sargfabrik leben ca. 155 unterschiedliche Bewohnerinnen
und Bewohner in 75 Wohneinheiten und betreiben eine
Vielzahl von Gemeinschafts- und Kultureinrichtungen, die
teilweise vom gesamten Quartier (Grtzel) genutzt werden
und zum Teil eine sterreichweite Ausstrahlung haben.
Das Projekt soll Vernderungen der Lebensumstnde
einzelner Bewohner und Bewohnerinnen gerecht werden
knnen und damit deren langfristigen Verbleib im Gebude ermglichen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
Projektdaten
Zeitraum
73 Wohneinheiten
zustzliche gemeinschaftliche
Nutzungen:
76
kontext
Der 14. Wiener Gemeindebezirk Penzig erstreckt sich von zen
trumsnahen Gebieten bis zur westlichen Stadtgrenze. Es ist ein
gefestigter Bezirk. Penzig ist weniger dicht bebaut als der Wie
ner Durchschnitt und hat einen geringeren Anteil an Brgern
und Brgerinnen mit Migrationshintergrund. Die Einwohnerzahl
ist stabil. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs bildet die SP
die strkste Fraktion im Stadtteil. Es leben dort 2% mehr ber
60-Jhrige als im Wiener Durchschnitt. Der Bezirk verfgt ber
einige wichtige Sehenswrdigkeiten, Museen und Kultureinrich
tungen. Die Sargfabik liegt im urbanen Teil Penzigs, zwar durch
Gleisanlagen getrennt, doch nur ca. 1,5 km vom Schlosspark
Schnbrunn entfernt, nah am gehobenen Stadtteil Hietzing (13.
Bezirk).
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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1987
Die Unzufriedenheit ber die kommerzielle Ausrichtung des Wohnungsmarktes und eine zunehmende
Reduzierung des Wohnungsangebot auf teure Wohnungen fr Alleinstehende, Paare oder Kleinfami
lien fhrt zur Grndung des Vereins fr Integrative Lebensgestaltung VIL.
1989
1994
Baubeginn
1996
1998
2000
Erffnung der Miss-Sargfabrik. Zur Zeit leben dort ca. 60 Personen in 39 Wohneinheiten.
Miss Sargfabrik verfgt ber eine sozialpdagogische Wohngemeinschaft des Amtes fr
Jugend und Familie der Stadt Wien und interne Gemeinschaftseinrichtungen wie eine zu
stzliche Gstewohnung, Bibliothek, gemeinschaftliche Kche und Waschkche und Ru
me des Architekturbros BKK-3 (Architektengruppe, die Sargfabrik und Miss Sargfabrik ge
plant haben) . De Bewohner und Bewohnerinnen der Miss Sargfabrik knnen die externen
Gemeinschaftseinrichtungen der Sargfabrik mit nutzen und strken sie dadurch.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
76
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
76
konomisches konzept
Das konomische Konzept funktioniert hnlich dem einer Ge
nossenschaft. Der Verein hat das Grundstck erworben und
die Gebude mit Hilfe der Wohnbaufrderung der Stadt Wien
erstellt. Die Vereinsmitglieder sind Mieter und Mieterinnen ihrer
Wohnungen und zahlen anteilig ebenfalls fr die gemeinschaft
lichen Einrichtungen sowie einen gewissen Sozialaugleich fr
Vereinsmitglieder mit geringeren finanziellen Spielrumen.
Beim Auszug fllt die Wohnung an den Verein zurck.
Durch die rechtliche Einstufung als Wohnheim wurden auch
Gemeinschaftseinrichtungen frderfhig. Gleichzeitig nderte
sich der Parkplatzschlssel von einem Parkplatz pro Wohnein
heit auf 1:10. Ein Tiefgaragenbau konnte entfallen und sparte
Kosten. Drei der elf realisierten Parkpltze dienen dem Carsha
ring, acht andere sind Fahrradabstellpltze.
2
3
4
Straenansicht
Hof
Goldweg
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
76
fazit
Auch fr Berliner Mastbe handelt es sich hier um ein groes,
selbstverwaltetes Wohn- und Kulturprojekt, dessen sozialer und
auf den Stadtteil ausstrahlender Ansatz besticht. Obwohl Ein
nahmen aus den externen gemeinschaftlichen Nutzungen der
Finanzierung des Projektes dienen und betriebswirtschaftliche
Aspekte das Projekt bereichern, war in der Entstehungsphase
eine Wohnbaufrderung erforderlich. Die Sicherung vor Priva
tisierung und der berregionale Erfolg des Projektes rechtferti
gen diese Starthilfe. Durch die ffnung der Gemeinschaftsein
richtungen nach auen und dem sozialen Anspruch des Projek
tes, entsteht eine win-win-Situation: Die Stadt erhlt auf diese
Weise funktionierende soziale und kulturelle Einrichtungen.
Das Konzept Dorf in der Stadt schliet vor allem Menschen
ein, die sich am Ort verankern mchten. Die nicht unerhebliche
Planungszeit bis zur Fertigstellung machte das Projekt fr tem
porre Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen weitgehend
unzugnglich.
5
6
7
11
Teich im Sommer
Dachgarten
Gartenansicht
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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11 Trnrosen Tower
Malm
Zielsetzung
Die orientalische Kasbah als dichte gemischte Struktur,
die Wohnen und Gewerbe beherbergt, dient als Vorbild
zur Vernderung und Ergnzung des Stadtteils Rosengard in Malm. Der sozial schwierige und baulich rational
strukturierte Stadtteil wird aufgewertet. Die Diversitt der
Bevlkerung aus ber 100 Nationen soll sich in einer
vielfltigen baulichen Struktur widerspiegeln und zu seiner
Identitt betragen. Die Stadtstruktur wird durch Gebude
in anderen Mastben ergnzt. Spektakulrer Hhepunkt
ist der Trnrosen Tower.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
2011-2012
Wettbewerbsdurchfhrung und
-entscheidung
Architekten
Stdtische Wohnungebaugesellschaft
MKB Fastighets AB ISEI
82
Kontext
Malm Rosengard ist ein typisches Beispiel moderner Stadt
entwicklung der 1960er Jahre in Schweden. Durch das soge
nannten Million Programm sollte es jeder Brgerin und jedem
Brger ermglicht werden, in einer Mietwohnung zu leben. Die
Wohnungen wurden in Plattenbauweise erstellt mit dem Ziel,
gleiche Lebensverhltnisse fr alle zu schaffen.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
1960er
Fertigstellung des
Neubaubauviertels
Rosengard im Rah
men des Million
Programm
2007
Erarbeitung eines Strategieplans fr die Entwicklung des Quartiers durch Gehl Architekten
APS im Auftrag der stdtischen Wohnungsgesellschaft MKB Fastighets
2011
Wettbewerb
Trnrosen
Tower
2012
82
Wettbewerbsentscheidung
2014
geplanter Baubeginn
2017
geplante Fertigstellung
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
82
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
82
2/3 /4
5
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
82
Fazit
Urbane Mischung soll in diesem Projekt durch Nutzungsvielfalt
und Durchbrechung vorhandener starrer Strukturen erzeugt
werden. Vorbild ist nicht die geometrisch geplante europ
ische Stadt, sondern informellere volkstmliche Strukturen
wie Kasbah, Bergdorf und Basar. Eine komplexer geordnete
(scheinbar ungeordnete) Struktur soll die als starr empfun
dene Ordnung der vorhandenen Bebauung ergnzen. Damit
bewegen die Architekten und Architektinnen sich argumentativ
nah an den Strukturalisten (z.B. Smithsons Untersuchung kon
glomerater Strukturen), einer Architekturbewegung, die sich
in den 1950er Jahren gegen den Rationalismus der Moderne
stellte und gebaute Strukturen aus der Analyse sozialer Zu
sammenhnge entwickelte. Wichtige Vorreiter fr partizipato
risches Entwerfen und Bauen sind aus dieser Bewegung her
vorgegangen. In diesem Sinn kann der Wettbewerbsentwurf
nur als Anfangspunkt fr eine prozesshafte Entwicklung unter
Beteiligung der lokalen Bevlkerung verstanden werden. Das
Pilotprojekt Bennets Bazar ist nicht ausreichend, um einen
Erfolg der vorgeschlagenen Strategie zu sichern.
Im Zusammenhang mit Stdtebau wieder von einer Vision zu
sprechen, ist ungewhnlich und mutig. Die Vision des vertika
len Dorfs ist allerdings nicht so einfach umzusetzen. Sie war
auch das Leitbild fr das heute sehr umstrittene Neue Kreuz
berger Zentrum am Kottbusser Tor.
6
7
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
87
12 STADT:WERK:LEHEN
SALZBURG
Zielsetzung
Durch die berbauung des Gelndes der ehemaligen
Salzburger Stadtwerke soll im traditionellen Arbeiterbezirk
Lehen ein ber die Grenzen des Areals hinaus strahlendes
urbanes Viertel entstehen und einen zeitgenssischen
Gegenpol zum historischen Stadtzentrum in Salzburg setzen. Die stdtebauliche Planung umschliet die Nutzungen Wohnen, Bildung und Kultur. Sie stellt damit bislang
unmgliche Synergien zwischen ffentlichem Raum und
staatlich gefrdertem Sozialem Wohnungsbau her. Die
Bebauung des Gebietes ist ein Modellprojekt, bei dem
eine kooperative Quartiersentwicklung durch ein Steuerungsmanagement whrend Planung, Bauphase und in
den ersten Jahren des Bezugs umgesetzt werden soll.
Insgesamt werden bei hoher Bebauungsdichte vielfltige
und qualitativ hochwertige Freirume, 289 Wohnungen im
Sozialen Wohnungsbau, ein Studentenwohnheim, Gewerbe und ein universitrer Competence Park sowie eine
Vielzahl kultureller und sozialer Einrichtungen errichtet.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
Wohnbau: 20092011
Gewerbeteil: 20102014
Konzeption
transparadiso, Wien
Bernd Vlay, Wien
Auftraggeber
88
Kontext
Lehen ist ein dicht besiedelter, zentrumsnaher Stadtteil im
Norden Salzburgs und ber mehrere Straenbahnlinien gut mit
der Stadt vernetzt. Mit 15.000 Menschen leben in Lehen mehr
Einwohnerinnen und Einwohner als in den anderen Stadtteilen
Salzburgs. Der Stadtteil ist berwiegend in der Wiederauf
bauphase von 1950 1970 entstanden, vorwiegend durch
sozialen Wohnungsbau geprgt und verfgt ber einen hohen
Anteil an Migranten und Migrantinnen. Er wird von zwei Haupt
verkehrsstraen durchzogen. Unbersehbar sind einige Bei
spiele spekulativer Bauvorhaben aus den 60er 70er-Jahren.
Die weitere Verdichtung des Stadtteils wurde zunchst durch
Proteste von Brgerinnen und Brgern Lehens verhindert und
die Stadt zur Schaffung von Parks und zur Verkehrsberuhi
gung gezwungen. Bis heute haftet dem Quartier ein Image
als vom Verkehr eingeschnrter und sozial benachteiligter
Problemstadtteil an. Ergebnisse aus einer Milieustudie ber
die Lebensqualitt von 1996 zeigen jedoch, dass 43 Prozent
der befragten Bewohner und Bewohnerinnen ein ausgeprgtes
Quartiersbewusstsein haben.
Auf dem Areal der Stadtwerke, das zentral in Lehen liegt, wur
de seit 1857 auf unterschiedliche Weise Gas produziert. Nach
der Umstellung auf Erdgas im Jahr 1980 wurden die Anlagen
stillgelegt und sukzessive abgerissen. Als Vorbereitung fr die
Baumanahmen wurde das Gelnde Anfang 2000 dekonta
miniert. Unmittelbar angrenzend an das Areal befinden sich
die Paracelsus Medizinische Privatuniversitt, die auch in die
Entwicklung des Competence Park einbezogen ist, sowie das
Salzburger Literaturhaus H.C. Artmann.
Die Bebauung des Areals erfolgt in zwei Bauabschnitten.
Zunchst entsteht das Wohngebiet, danach Gewerbe und
Competence Park.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
89
1857
1959
1980
2000
2004
Masterplan/Masterszenario
von Architekt Max Rieder und slowfuture.com als
Vorgabe fr den stdtebaulichen Wettbewerb.
2006
2007
2008
2009
2011
2012
Besiedlungsphase Quartiersmanagement:
Moderation Wohnungsvergabe, Anschub
Quartierstreff, Partizipation, Strukturenauf
bau, bergabe/Rckzug, Evaluierung.
Realisierung der
Wohnbebauung auf
dem Gelnde der
Stadtwerke Lehen
Bauphase Quartiersmanagement:
Sozialraumanalysen, Qualtittsiche
rung, Wohnungsvergabe, Durchfh
rung von Beteiligungsprojekten, Zwi
schenberichte.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
Stdtebaukonzept
Das Areal ist im Norden durch die vielbefahren Ausfallstrae
Ignaz-Harrer-Str. und im Sden durch das Gelnde der Pa
racelsus Medizinische Privatuniversitt begrenzt. Im Westen
schliet es an ein Wohngebiet in offener Zeilenbebauung an
und im Osten an ein ebenfalls offen strukturiertes Wohnge
biet. Eine straenbegleitende Bebauung entlang der IgnazHarrer-Strae gehrt zum Bestand.
Die Bebauung auf dem Areal ist streifenfrmig organisiert
und nimmt auf einem zweigeschossigen Sockelgebude
versetzt Punkthuser auf. Sie orientiert sich damit formal an
der umliegenden Zeilenbebauung und variiert sie, um einen
urbanen, vielfltigen Stadtteil zu schaffen. Leitthemen sind
hierbei die Schaffung kleinvolumiger, feingliedriger Einzelob
jekte und eines feinkrnigen Nutzungsmixes, die Stadt der
kurzen Wege, ein Nebeneinander von ffentlichen Freiru
men, vielfltige Durchwegungen, urbane Nutzungen und eine
groe Bandbreite an Wohn- und Freiraumqualitten. Das
Gelnde ist autofrei. Die stdtebauliche Verknpfung mit dem
Stadtteil Lehen erfolgt ber den Nord-Sd-Korridor und den
Ost-West-Boulevard.
Die Idee der vielfltigen urbanen Mischung konstrastiert mit
den Vorschriften zum gefrderten sozialen Wohnungsbau in
sterreich, so dass unzhlige Verhandlungen gefhrt wur
den, um Lsungen zu finden, in denen die Regeln eingehal
ten werden und dennoch eine gemischte Nutzung umgesetzt
werden kann.
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1
2
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
91
Soziale Mischung
Als Modellwohnbau des Landes Salzburg wird eine soziale
Mischung der Bewohnerschaft angestrebt. Zielgruppen sind
jungen Familien, Singles, Kreative, Menschen aus anderen
Kulturen und (Un-)Ruhestndler. Wohnungsgrundrisse werden
gem den Wohnbaufrderrichtlinien von 48 94 m2 angebo
ten und in den Atriumhusern von 70 120 m2, um auch den
Ansprchen von groen Familien gerecht zu werden.
Eingeschlossen ist das Modellprojekt Wohngruppe 50+.
Es bietet elf unterschiedliche Wohnungstypen zwischen
55 und 70 m2, einen Gemeinschafts- bzw. Mehrzweckraum
(Club und Terrasse) fr Personen der mittleren Generation,
die an einer gemeinschaftlichen Wohnform in der nachfamili
ren bzw. nachberuflichen Lebensphase interessiert sind. Ein
Schwerpunktprojekt ist das Mutter-Kind-Wohnen mit zehn
kostengnstigen 3-Zimmer-Wohnungen und einer TageselternWohnung (Wohnungsgre: ca. 56 m2). Ergnzt wird dieses
Angebot durch ein gemeinsames Spiel- bzw. Gruppenzimmer
(47 m2) und ein groes Spieldeck (Gemeinschaftsterrasse).
kologische Ziele
Das Projekt ist Teil des EU-Programms Concerto II - Green
Solar Cities. Dieses beinhaltet:
- Niedrigenergiehausstandard fr Gebude
- Grosolaranlage mit Pufferspeicher fr Warmwasser
(2.000 m2 Solarkollektoren, 200.000 l Pufferspeicher)
- Effiziente Energieverteilung mit Mikronetz
- Photovoltaikanlage zur Stromerzeugung (ca. 500 m2)
konomisches Konzept
Das Projekt wird von der Gemeinntzigen Salzburger Wohn
baugesellschaft (GSWB) und der sterreichischen Heimat
(H) als gefrderter sozialer Wohnungsbau erstellt und vom
EU-Programm Concerto II - Green Solar Cities gefrdert.
3/4/5
6
ffentlicher Raum
Erschlieung als gestaltendes Mittel
Urbane Lebenswelten
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Fazit
In der Planung und Realisierung des Stadtwerkquartiers in
Lehen werden mehrere Vorgehensweisen und Instrumente
entwickelt und angewandt, um einen urbanen und gemischten
Stadtteil zu schaffen. Interessant ist, das hierbei kein Rckgriff
auf traditionelle stdtebauliche Figuren wie den Blockrand als
historisches Beispiel der traditionellen Europischen Stadt
erfolgte, sondern urbanes Potenzial innerhalb einer streifenfr
migen Bebauung gesehen wird. Damit verbindet sich das neue
Quartier auf angenehme und selbstverstndliche Weise mit
dem durch die offene Bebauungsstruktur der Nachkriegszeit
geprgten Stadtteil Lehen. Stadtrumliche Qualitten werden
durch Varianz in der streifenfrmigen Bebauung erzielt, die
sowohl enge Gassen, wie auch weite Rasenflchen zulsst.
Bedingt durch das abfallende Gelnde werden teilweise ber
dachte Freibereiche geschaffen.
Neben der baulichen Form des Quartiers ist ein innovativer
Weg zur Organisation und Moderation des Planungs- und
Bauablaufs begangen worden, hierbei wurden neue Parameter
fr den sozialen Wohnungsbau in sterreich getestet.
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9
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
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zrich
zielsetzung
Das Projekt ist ein Pilotprojekt. Auf einer Industrie- und
Gewerbebrache soll ein nachhaltiges, durchmischtes und
bezahlbares Wohngebiet im Norden Zrichs entstehen.
Sozial wird eine vielfltig gemischte Bevlkerung angestrebt, konomisch sollen niedrige Mieten durch genossenschaftlichen, nicht gewinnorientierten Wohnungsbau
erzielt werden. kologisch dienen die Vorgaben zur
2000-Watt-Gesellschaft als Leitbild.
Urbane Lebenswelten
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2007 - 2015
Bauzeit geplant: 2012 - 2015
Konzeption
umfang
94
Kontext
Die Nachfrage nach Wohnraum in der wachsenden Stadt Z
rich ist gro und ein Angebot am freien Immobilienmarkt fast
nicht vorhanden. Innerstdtisches Wohnen ist zunehmend
gefragt. Das Leutschenbach-Areal in Zrich Nord ist das letzte
groe Entwicklungsgebiet der Stadt. Das baulich und funktio
nal heterogen strukturierte Quartier befindet sich in den letzten
Jahren im Wandel vom Industrie- und Gewerbegebiet zum
Dienstleistungs- und Wohnstandort. Es ist vom Bahnhof Oer
likon direkt erschlossen und in Flughafen- und Autobahnnhe.
Der Opfikerpark wurde bereits 2006 zur Naherholung und als
Freizeitflche fertig gestellt. Entwicklungsziele sind:
- Leutschenbach soll ein attraktiver, durchmischter und
belebter Stadtteil werden.
- Freirume und Architektur von hoher Qualitt sollen ein
positives Image schaffen.
- Das Entwicklungs-Leitbild soll im kooperativen Verfahren mit
finanzieller Beteiligung der Grundeigentmer und -eigent
merinnen an den gebietsaufwertenden Manahmen realisiert
werden (siehe: Entwicklungskonzept, 2000).
Insgesamt ist Leutschenbach als Gebiet fr Dienstleistungsfl
chen mit ergnzendem Wohnen festgelegt worden.
Im Endausbau des gesamten Stadtteils werden 20.000 Arbeits
pltze und Wohnungen fr 3000 4000 Menschen realisiert.
Das konkrete Projektgebiet, das Steiner-/Hunziker-Areal, ist
ein vormaliges Industrie- und Gewerbegebiet.
Urbane Lebenswelten
Benze, Gill, Hebert
1990er
95
Testplanung Leutschenbach-Mitte.
2002
2007
ausgelobt. Daraus ergab sich eine Anfrage bei der Stadt Zrich zur
als wohnen.
2008
2009
Vorstellung des
Bauprojektes in den
Medien.
2010
2011
bewilligtes Projekt,
bereinigte Bauprojekte
2012
2014
Definition der Teilprojekte, des Zeitplans und der Vertrge mit den Archi
tekturteams und den Spezialisten und Spezialistinnen. Sicherstellung der
Finanzierung, der Budgets und der Projektentwicklungsorganisation.
Baubeginn
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96
L
N
K
M
F
E
J
D
A
B
I
stdtebaukonzept
Die Thesen aus dem Ideenwettbewerb 2007 Wie wohnen wir
morgen? dienen als programmatische Grundlage fr das inno
vative Pilotprojekt:
- Schaffen von Stadt nicht Agglomeration
- Schaffen von gemeinsam nutzbaren halbffentlichen Flchen
- Individuelle Gestaltung des Wohnraums
- Mitbestimmung bei der Ausgestaltung des privaten
Wohnraums, Mitbauen
- Wiedereroberung des ffentlichen Raums: im Quartier
haben Fugnger und Fugngerinnen Prioritt
- Das eigene Quartier: Sehnsucht nach kultureller Identitt,
Heimat
- Energetische Optimierung: sparsamer Umgang mit
Ressourcen
- Nutzungsflexibilitt: Entkopplung des Bauens von
Nutzungsvorstellungen
- Nutzungsmischung: keine Trennung von Arbeit,
Wohnen, Freizeit
- Das Schaffen von Rahmenbedingungen fr die
Selbstorganisation
- Rume ohne definierte Nutzung erhalten:
Zwischennutzungen zulassen
- Wohnen am Existenzminimum
(mehr als wohnen Report 1, S. 9)
25
50
75
100
lageplan
Urbane Lebenswelten
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97
kologische ziele
Angestrebt wird die 2000-Watt-Gesellschaft, was bedeutet,
dass der derzeitige durchschnittliche pro-Kopf-Energiever
brauch in der Schweiz um 2/3 reduziert werden soll. Folgende
Manahmen werden vorgeschlagen:
- Eine Nutzungsmischung ermglicht ein umweltvertrgliches
Wohn- und Lebensmodell der kurzen Wege.
- Kompakte Baukrper minimieren den Energieverbrauch
- Optimierung des Ressourcenaufwandes zur Herstellung und
beim Transport der Baumaterialien
- Einsatz lokaler Energieproduktion
- Mobilittskonzept mit reduziertem Angebot fr individuelle
Mobilitt: Mobilittspool mit Elektrofahrrdern (mit Anhngern
fr Einkufe), einer Servicestation fr Reparaturen,
Carsharing, breites Angebot unterschiedlicher Fahrradabstell
mglichkeiten bei und in den Husern, Kommunikations- und
Lenkungsmanahmen (hohe Parkplatzmieten fr PKWs)
konomisches Konzept
Durch nicht renditeorientiertes Bauen (Genossenschaften)
sollen bezahlbare Mieten erzielt werden. 20% der Wohnungen
werden mit Mitteln der Wohnbaufrderung gefrdert. Weitere
20% sollen, unter Auflagen bezglich des Wiederverkaufs, als
gnstige Eigentumswohnungen verkauft werden.
soziale mischung
Zur Gewhrleistung der sozialen Mischung ist es erforderlich,
den Anteil von Wohnungen fr die untere bis mittlere Einkom
mensschicht im Stadtgebiet zu erhalten. Die Anzahl von Woh
nungen in der Hand von gemeinntzigen Trgern soll hierzu
erhht werden. Er betrgt zur Zeit 25%.
Gem den im Ideenwettbewerb erarbeiteten Thesen soll nicht
zwischen Wohnraum und Arbeitsraum getrennt werden und
Wohnungen in den unterschiedlichsten Gren von
1 10 Zimmern, im durchschnittlichen Mix 2,5 5,5 Zimmer,
angeboten werden. Zuschaltbare Rume oder neue Grund
risskonzepte lassen variable Wohnungsgren entstehen, die
unterschiedliche Lebensstile und Familienkonstellationen be
herbergen knnen. 60 Zimmer sind fr Studierende reserviert.
Die Stiftung Kinder- und Jugendheime richtet eine Wohngrup
pe ein, eine Kinderkrippe entsteht und eine Kindergartenklasse
aus dem Schulhaus Leutschenbach zieht ins Erdgeschoss
eines Gebudes ein. Die meisten Anfragen kamen von Men
schen ber 60 oft von solchen, die mit ihren Freunden eine
Alters-WG grnden wollen. Alle Wohnungen sind barrierefrei
und behindertengerecht.
Eine stndig besetzte Rezeption soll zur Frderung der Ver
netzung der Bewohnerschaft dienen. Hier knnen Menschen
Dienstleistungen anbieten und tauschen und in der Erdge
schosszone sollen ein oder mehrere Lden zur tglichen
Grundversorgung entstehen sowie ein Restaurant, Bros und
Flchen fr Kleinunternehmer und -unternehmerinnen. Hier
kann man sich mit einem Konzept bewerben und bekommt
die Flche, wenn durch den Betrieb ein groer Nutzen fr das
Quartier entsteht, gnstiger. (Andreas Wirz dipl. Architekt ETH,
Wohnbaugenossenschaften Schweiz, Regionalverband Zrich,
im Gesprch). Des Weiteren entstehen ein Hotel und diverse
Bro- und Gewerbeflchen.
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Perspektiven
Urbane Lebenswelten
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Fazit
Das Konzept, durch eine Strkung von Genossenschaften be
zahlbaren Wohnraum in der Stadt zu sichern, ist viel verspre
chend, zumal das ganze Vorhaben nur zu sehr geringen Teilen
ffentlich gefrdert wird und sich weitgehend finanziell selbst
trgt. Auch der Umfang der Ziele in den Bereichen soziale Mi
schung, kologie und konomie erscheint fr ein innovatives
Pilotprojekt dieser Grenordnung angemessen. Ob diese Zie
le erreicht werden, kann sich erst nach der Fertigstellung des
Stadtteils und durch seinen Gebrauch zeigen.
Auffllig ist, dass trotz des groen Projektumfangs keine pro
zessorientierte Planung in unterschiedlichen Teilabschnitten
vorgeschlagen wird, um auf eventuell auftretende Probleme
whrend der Realisierung reagieren zu knnen. Die groen
Gebudetiefen knnten die Qualitt der Innenrume mindern,
und die fein gegliederte Differenzierung der ffentlichen Ru
me wird fertig gestellt, bevor Menschen den Stadtteil beziehen.
Wenn auch die architektonische Qualitt der innerhalb eines
strikten Kostenrahmens zu entwickelnden Gebude sehr hoch
ist, erscheint es unsicher, ob die an Blockrandbebauung an
gelehnte Struktur wirklich als Fortschreibung des Stdtischen
empfunden und nicht doch als Siedlung wahrgenommen wird.
Positiv ist in jedem Fall die genaue Dokumentation aller
Ablufe, die wie es auch die Verfasser sagen, Lernprozesse
ermglicht und untersttzt.
5
6/7
Urbane
Serieller
Lebenswelten
Wohnungsbau
Benze
Benze,,GGil
il l,l ,HHebert
ebert
99
99
Studi
Studieezzu
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I BAA2202
02 00BBerlin
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2013
2013
pROJEKTBERSiCHT
STRATEGiEN
baulichrumlich
gesellschaftlich
ko
nomisch
p01_WimBY! HOOGVLiET
p02_X WOHNUNGEN
p03_FREEHOUSE ROTTERDAm
p04_OLEANDERWEG
p05_SCHORFHEiDEViERTEL
p06_CAmpUS EFEUWEG
p08_TREEHOUSES
p09_TOUR BOiS-LE-pRETRE
p10_SARGFABRiK
p11_TRNROSEN TOWER
p12_STADT:WERK:LEHEN
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Urbane Lebenswelten
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4 FAZiT
Zum Abschluss der Recherche wird ein kurzes Resumee
der gewonnenen Erkenntnisse gezogen. Zudem wird errtert,
welche Bedingungen die spezifische Berliner Situation heute
bietet und inwiefern sich daraus, mit Blick auf die eingangs ge
schilderten Qualitten einer IBA, lokaler Experimentbedarf und
internationales Innovationspotenzial ableiten lassen.
4.1
101
Urbane Lebenswelten
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Das ist kein Grund zur Klage, sondern ein Potenzial: gerade
Berlin mit seiner jahrzehntelangen Zweckentfremdungspraxis32
und den innovativen Zwischennutzungsverfahren33 knnte hier
Experimente fortfhren und intensivieren, die anderswo noch
gar nicht stattfinden. Wo, wenn nicht hier, knnen innovative
und informelle Entwicklungsanstze direkt und langfristig die
Entwicklung der Stadt befruchten und auf diese Weise Am
bivalenzen nicht nur ausgehalten, sondern produktiv genutzt
werden?
4.2 EmpFEHLUNGEN FR EiNE iBA BERLiN 2020
Auch wenn, wie oben geschildert, jeder Ort seine eigenen,
spezifischen Bedingungen hat und keine Patentrezepte zur
Transformation bestehender oder zur Errichtung neuer Stadt
viertel existieren, knnen die Beispiele gerade in ihrer Band
breite dazu anregen, bestimmte Orte genauer zu analysieren
oder einfach einen neuen Blick auf alte Probleme zu werfen.
Ob es die fehlenden Wohnungen sind (und die Frage, wie man
gewhrleisten kann, dass Mieter und Mieterinnen noch eine
Wahlfreiheit in Bezug auf ihren Wohnort haben), ob es um die
schlafenden Riesen geht, bei denen private Besitzverhltnis
se ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung entgegenstehen
oder um die Frage, wie unsere ffentlichen Rume morgen
genutzt werden knnten: Fr all diese Fragen von enormer
lokaler Brisanz lohnt ein internationaler Blick ber den Tel
lerrand, lohnt das Einholen auswrtiger Expertise und das
Wagnis, neue Wege zu gehen und ungewhnliche Prozesse
zu initiieren.
Denn wenn sich diese Prozesse verstetigen und verschiede
ne Akteure mit unterschiedlichem Interesse zueinander und
gemeinsam Synergien finden, dann werden auch langfristi
gere, besondere und einer Internationalen Bauausstellung
angemessene Projekte mglich, die einen baulichen und einen
gesellschaftlichen Anspruch erfllen unter alltglichen Bedin
gungen kaum realisierbar wren.
Allerdings geschieht all dies nicht von selbst: Es erfordert von
allen Beteiligten ein hohes Ma an gegenseitigem Vertrauen,
Engagement und Flexibilitt, solche Prozesse zu entwerfen, in
Gang zu setzen, immer wieder zu befrdern, zu begleiten und
im Lauf der Zeit auf ein bestimmtes Ziel hin zu verstetigen.
Eine IBA als experimentell-institutionelles Format stellt hier
einen durchaus geeigneten Rahmen dar, um innovative Metho
den und Werkzeuge entwickeln, begleiten und evaluieren zu
knnen.
Auch im Bereich des privaten und des genossenschaftlichen
Wohnungsbaus knnen durch den Ausnahmezustand IBA
Experimente stattfinden, fr die gerade in Berlin eine wach
sende Bereitschaft und eine spezialisierte, kreative Generation
von Planenden vorhanden sind.34 Hier zeichnen sich schon
jetzt neue Akteurskonstellationen, Planungsprozesse und
(Ver-)Handlungskulturen ab, die soziale und politische Aspekte
zurck in die Diskussion um die public domain der Stadt tra
gen: Bau- und Wohngruppen, die Stadt selber machen35, Mie
tervereine, die mit Hilfe von Stiftungen Immobilien dem Markt
entziehen36 und ursprnglich subkulturelle Akteure, die als
Entwickler und Entwicklerinnen auftreten37, tragen bereits heute
dazu bei, dass sich in der Stadt immer differenzierte Rume
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ANHANG
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Maerkisches_Viertel_05
2, 47, 12 subsolar
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GESOBAU AG
03_FREEHOUSE ROTTERDAM
14
Freehouse / Jeanne van Heeswijk
511
subsolar
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13
Stefan Forster Architekten
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Jean-Luc Valentin /
Stefan Forster Architekten
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07_HAUS
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blauraum
12
subsolar
09_TOUR BOIS-LE-PRETRE
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Druot, Lacaton & Vassal architectes
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Wolfgang Zeiner
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Lundgaard & Tranberg Arkitekter
12_STADT:WERK:LEHEN
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transparadiso
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Land in Sicht & agenceter
3, 5, 6, 9 Rainer Iglar
7
Andrew Phelps
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abgeschlossene_ww/
wettbewerbe_2009/
projekt_1_mehr_als_wohnen.html
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