Chemie in Der Medizin
Chemie in Der Medizin
Chemie in Der Medizin
Chronologie
1. Auflage 1975
2. Auflage 1977
3. Auflage 1979
4. Auflage 1982
5. Auflage 1985
6. Auflage 1989
7. Auflage 1996
8. Auflage 2002
9. Auflage 2008
10. Auflage 2014
ISBN 978-3-11-031392-5
e-ISBN 978-3-11-031395-6
Seit der 9. Auflage besitzt dieses Lehrbuch einen gegenüber anderen deutsch-
sprachigen Lehrbüchern der Medizinischen Chemie völlig verschieden gestalte-
ten Aufbau: Aus der über Jahrzehnte praktischer Lehre gewonnenen Erfahrung
mit unzähligen Medizinstudierenden wurde nicht mehr die altehrwürdige Abfolge
der Themen zugrunde gelegt, bei der sehr theorielastigen Ansätzen nachfolgend –
wenn überhaupt – ein wenig praktische Anwendung des Stoffes für die Medizin
geboten wurde. Vielmehr habe ich versucht, zu Beginn jedes der sorgfältig in Hin-
blick auf ihre Notwendigkeit für das Medizinstudium und den späteren Arztberuf
ausgewählten Themenblöcke einen Einstieg mit einer konkreten medizinischen
Fallvignette zu finden und damit den Studierenden sofort klar zu machen, dass
das vermittelte chemische Fachwissen für sie höchst relevant ist. Daran schließt
sich eine Darstellung des Stoffes auf einer möglichst medizinnahen Ebene an,
die bereits ein chemisches Vorwissen voraussetzt, das man von Studienanfängern
billig erwarten kann. Zusätzlich finden sich in den abschließenden Teilen jedes
Themenblocks auch die erforderlichen theoretischen Grundlagen zum Nachlesen
und zur Ergänzung; sie stehen aber nicht im Vordergrund der Präsentation.
Dieser Aufbau wurde in der nun vorliegenden, durchgesehenen und korrigier-
ten Auflage vollinhaltlich beibehalten. An der Medizinischen Universität Graz
haben wir damit hervorragende Erfahrungen gemacht: Aufgrund des seit 2005
durchgeführten Auswahlverfahrens mit einem naturwissenschaftlichen Kenntnis-
test als Kern besitzen die allermeisten Studienanfänger ein viel besseres Aus-
gangswissen über die Chemie als zu den Zeiten des offenen Universitätszugan-
ges. Dies gestattet uns Lehrenden, bereits unmittelbar zu Studienbeginn auf einem
beachtlichen Niveau einzusteigen und sehr schnell zu medizinisch bedeutsamen
chemischen Themen und Fragestellungen fortzuschreiten und damit das Interesse
der Studierenden am Fach in weit höherem Ausmaß lebendig zu erhalten, als es frü-
her der Fall war. Dazu kommt, dass mein Freund und Kollege an „meinem“ Institut
für Physiologische Chemie an der Medizinischen Universität Graz, Herr Univ.-Prof
Dr. Karl Öttl, im Rahmen der Masterthesis für sein Studium „Master of Medical
Education“ des Deutschen Medizinischen Fakultätentages unter Einbeziehung
von Lehrenden im Klinischen Teil des Studiums ebenso wie von fortgeschrittenen
Medizinstudenten eine empirische Erhebung durchgeführt hat, welche Themen
des Chemiestoffes von besonderer Relevanz für die praktisch-Klinische Medizin
sind, welche eher weniger wichtig sind und welche ausführlicher und nachhaltiger
gelehrt werden sollten. Wir haben unseren Unterricht im Sinne nicht zuletzt auch
dieser Studie „renoviert“ und bekommen für unser Lehrkonzept, das auch hin-
VI Vorwort
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Kapitel 9: Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren 331
Fallbeschreibung 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
9.1 Nucleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
9.2 Heterocyclische Grundkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
9.3 Chemie und Krebsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
9.4 Das Spektrum der elektromagnetischen Strahlung . . . . . . . . . . . . 352
Auflösung zur Fallbeschreibung 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Inhaltsverzeichnis IX
Kapitel 11: Ohne sie geht gar nichts: Vitamine und Coenzyme 381
Fallbeschreibung 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
11.1 Vitamine und Coenzyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Auflösung zur Fallbeschreibung 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
Kapitel 12: Ausscheidungsmoleküle und Nierenfunktionsdiagnostik:
Die Kohlensäure-Derivate 403
Fallbeschreibung 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
12.1 Kohlensäure-Derivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
Auflösung zur Fallbeschreibung 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
ALLGEMEINE GRUNDLAGEN STOFFLICHER SYSTEME
Fallbeschreibung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.9 Gase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1
Fallbeschreibung
1
Ein 60 kg schwerer Patient in einem Pflegeheim wird stark verwirrt und hört
mit dem Trinken auf, nachdem er starke Diarrhoe aufgrund einer viral beding-
ten Enteritis entwickelt. Er wird mit einer Plasma-Natrium-Konzentration von
168 mmol/L in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Osmolalität seines Harns
beträgt 545 mOsmol/kg.
• Welche Faktoren tragen zu seiner Hypernatriämie bei?
• Wie groß ist ungefähr das Wasserdefizit, welches die Plasma-Natrium-Kon-
zentration vom Sollwert von 140 mmol/L auf 168 mmol/L ansteigen ließ?
• In welcher Zeitspanne sollte diese Flüssigkeitsmenge verabreicht werden,
um die Hypernatriämie in der empfohlenen Geschwindigkeit von täglich
maximal 12 mmol/L zu korrigieren? (Eine zu schnelle Absenkung der zu
hohen Natriumkonzentration kann einen zu hohen Wassereinstrom in das
Gehirn und in weiterer Folge massive Probleme durch zerebrale Ödeme
bewirken.)
• Ist diese berechnete Wassermenge ausreichend, um das Wasserdefizit zu
korrigieren?
• Wie würde sich die Wasserzufuhr ändern müssen, wollten Sie auch die
ebenfalls bestehende Hyperkaliämie korrigieren, indem Sie dem verab-
reichten Wasser zusätzlich 40 mmol/l an Kalium zusetzen?
Lehrziele
Um dieses Fallbeispiel wirklich zu verstehen, ist ein profundes Wissen sowohl
in physiologischer Chemie als auch in Physiologie und Pathophysiologie erfor-
derlich. Wir wollen uns in diesem Kapitel einigen wichtigen Aspekten der
Fragestellung annähern. Dabei stecken wir uns folgende Ziele:
• Aus diesem Beispiel ist wie aus praktisch jedem ärztlichen Laborbefund
ersichtlich, dass die chemische Analyse von Körperflüssigkeiten wie Blut
oder Harn eine ganz zentrale diagnostische Handlung darstellt, die erst
die Voraussetzungen für ein nachfolgendes therapeutisches Agieren bildet.
Körperflüssigkeiten sind überaus komplexe Stoffsysteme. Das Verständnis
und die wissenschaftlich korrekte Kategorisierung von Stoffsystemen muss
daher unser erstes Ziel sein, um nicht nur für dieses Beispiel, sondern für
alle weiteren Überlegungen eine solide Grundlage zu schaffen.
• Das Beispiel nennt verschiedene Konzentrationsmaße, um die Zusammen-
setzung der genannten Körperflüssigkeiten quantitativ zu beschreiben.
Daher wenden wir dem Begriff der Konzentration und den verschiede-
nen Möglichkeiten, Konzentrationen zu spezifizieren, unser Augenmerk
zu. Dabei müssen wir den für die gesamte Chemie unentbehrlichen Begriff
der Stoffmenge ausführlich diskutieren
4 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Medizin als Kunst und Wissenschaft geht in vielen Belangen weit über die Gren-
zen der Naturwissenschaft hinaus; in ihrer modernen Ausprägung aber ruht sie
auf den soliden Fundamenten naturwissenschaftlicher Disziplinen wie Physik,
Chemie und Biologie. Wir Menschen bestehen so wie alle Organismen aus stoff-
licher Materie. Die Medizin muss sich daher selbstverständlich auch mit stoff-
lichen Substanzen beschäftigen, und sie macht sich damit viele wesentliche
Erkenntnisse, Begriffe und Konzepte der Chemie als der zentralen Naturwissen-
schaft von den Stoffen und Stoffsystemen nutzbar.
Wir wollen im Folgenden einige zentrale Grundbegriffe behandeln, die uns
helfen werden, die unabsehbar vielfältige Welt der Stoffe besser fassen zu können.
ein Knochensplitter, aber auch Blut, wo mit Hilfe einer Lupe oder eines Mikro-
skops viele unterschiedliche Strukturen feststellbar sind, sind ebenfalls hetero-
gene Stoffsysteme.
Mit dem Begriff Phase bezeichnen wir einen homogenen Teil eines Stoff-
systems, der von anderen Teilen durch physikalische Grenzen getrennt ist. Wenn
wir die beschriebene ältere Harnprobe mit den festen Sedimenten zentrifugieren,
so werden die Sedimente durch die Zentrifugalkraft der rotierenden Zentrifuge
an den Boden des Zentrifugenröhrchens gepresst, und wir erhalten einen klaren,
homogen „Überstand“, die flüssige Phase des Harns. Heterogene Stoffe bestehen
immer aus mindestens zwei Phasen.
„Homogenität“ eines Stoffsystems ist allerdings nicht gleichbedeutend damit,
dass nur eine Komponente vorliegt: In unserer Infusionslösung von Glucose in
Wasser befinden sich zwei chemisch völlig unterschiedliche Komponenten: Glu-
cose oder „Traubenzucker“, ein Kohlenhydrat, welches in reiner Form fest ist,
und Wasser. Sie bilden eine homogene Phase, da die Lösung auch bei stärkster
Vergrößerung unter einem Mikroskop völlig einheitlich erscheint.
Anderseits kann eine chemisch einheitliche Substanz auch in Form eines
heterogenen Gemisches vorliegen, etwa ein System aus flüssigem Wasser und
Wasserdampf, oder ein in Wasser schwimmendes Stück Eis. Eine Phase umfasst
alle Anteile, die gleiche Eigenschaften und Zusammensetzung besitzen. Meh-
rere Eiskristalle, die in Wasser schwimmen, bilden daher nicht mehrere Phasen,
sondern nur eine, die Eisphase.
Ein Stück Metall, etwa Zahngold, ist überall gleichmäßig hart, leitet elektri-
schen Strom und Wärme, reflektiert Licht, bildet also eine Phase. Mischen wir Öl
und Wasser, so erhalten wir ein System mit zwei flüssigen Phasen. An der Phasen-
grenze Öl–Wasser ändern sich, neben der chemischen Zusammensetzung, auch
physikalische Eigenschaften wie die Lichtbrechung und die Dichte sprunghaft.
Bei einem heterogenen System aus verschiedenen Phasen chemisch einheitlicher
Substanzen wie Eis/Wasser/Wasserdampf ändern sich natürlich nur die physikali-
schen Eigenschaften: Eis, Wasser und Wasserdampf stellen verschiedene Aggre-
gatzustände ein und derselben Substanz dar. Schmilzt Eis oder verdampft Was-
ser, so ändern sich die physikalischen Eigenschaften sprunghaft; eine Phasenum-
wandlung unter Änderung des Aggregatzustandes findet statt.
In der Medizin begegnen wir ganz unterschiedlichen – homogenen ebenso
wie heterogenen – Stoffsystemen, und wir wollen anhand der folgenden Tab. 1.1
einige wichtige Fachausdrücke in diesem Zusammenhang kennen lernen.
Heterogene Stoffgemische können mittels physikalischer Trennmethoden in
homogene Stoffe getrennt werden. Homogene Stoffgemische können ebenfalls
mit Hilfe physikalischer Techniken in reine Stoffe getrennt werden. Reinsub-
stanzen können mit physikalischen Methoden nicht mehr getrennt werden. Sie
können chemische Elemente sein, das heißt, dass sie mit auch chemischen Metho-
den nicht in einfachere Substanzen zerlegt werden können, oder chemische Ver-
bindungen, bei denen eine Zerlegung mittels chemischer Methoden möglich
ist.
Abb. 1.1 zeigt die verschiedenen Möglichkeiten und ihre Beziehungen.
6 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Tab. 1.1: Bezeichnungenvon homogenen und heterogenen Stoffsystemen, wenn ein Stoff, der disper-
gierte Stoff, in einem anderen Stoff, dem Dispersionsmittel, möglichst fein verteilt vorliegt. Homogene
Systeme sind kursiv dargestellt.
Aggregatzustände
Aus dem Alltag wissen wir – und wir haben dies ja schon verwendet –, dass ein
Stoff je nach den herrschenden Temperatur- und Druckbedingungen im festen,
flüssigen oder gasförmigen Aggregatzustand vorliegen kann. Jeder dieser drei
Aggregatzustände besitzt charakteristische Eigenschaften, die weitgehend unab-
hängig von der chemischen Zusammensetzung sind.
Festkörper sind hart und nur sehr geringfügig komprimierbar. Sie besitzen
daher eine bestimmte Gestalt und nehmen ein bestimmtes Volumen ein. Am deut-
lichsten ausgeprägt sind die Eigenschaften des festen Zustandes bei den Kristal-
len (siehe Abschnitt 1.8 „Kristalline Festkörper“).
Gase stellen das andere Extrem dar. Sie erfüllen jeden ihnen zur Verfügung
stehenden Raum vollständig, und sie sind gut komprimierbar. Sie besitzen keine
bestimmte Gestalt und kein bestimmtes Volumen. Da alle Gase miteinander voll-
ständig mischbar sind, existiert in einem beliebigen chemischen System höchstens
eine gasförmige Phase (siehe Abschnitt 1.9 „Gase“).
Flüssigkeiten befinden sich hinsichtlich ihrer Eigenschaften zwischen den
Festkörpern und den Gasen: Die Eigenschaft der Härte oder eine feste Gestalt
besitzen sie zwar nicht, aber sie sind ebenso wie die Festkörper nur sehr gering-
fügig komprimierbar (siehe Abschnitt 1.10 „Flüssigkeiten, Gläser und gummi-
artige Stoffe“).
Während die Grenze zwischen dem gasförmigen und dem flüssigen Zustand
leicht zu ziehen ist, existieren zwischen dem flüssigen und dem festen Zustand
Übergänge, die amorphen Stoffe. Diese besitzen zwar meist wesentlich grö-
ßere Härten als Flüssigkeiten, sie sind jedoch bezüglich mancher Eigenschaften,
besonders hinsichtlich des später zu besprechenden molekularen Organisations-
und Ordnungsgrades, als eine Art besonders schwer beweglicher Flüssigkeit
anzusprechen. Ein Beispiel dafür ist das gewöhnliche Glas. Es ist eher eine unter-
kühlte Glasschmelze und kann im Verlauf sehr langer Zeiten auch in den kristal-
linen festen Aggregatzustand übergehen. Dies erkennen wir an jahrhunderte-
alten Gläsern am Trübwerden. Die trüben Zonen stellen eine echte feste Phase
dar. Die meisten Kunststoffe sind ebenfalls amorphe Stoffe.
Noch einen weiteren Aggregatzustand kennen wir, auf der Erde allerdings nur
in den Großlaboratorien der Elementarteilchenphysiker, das Plasma. So bezeich-
net man Gase, Flüssigkeiten oder Festkörper, bei denen im Gegensatz zur uns
vertrauten Materie freie Ladungsträger (Ionen, Elektronen) in einer so großen
Konzentration vorkommen, dass sie die Eigenschaften des betreffenden Stoffes
ganz wesentlich beeinflussen. Die Materie im Plasma-Zustand verhält sich voll-
ständig anders als im gewohnten normalen Zustand.
8 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Phasenumwandlungen
Ein Stoff in einem bestimmten Aggregatzustand kann durch Änderung der äuße-
ren Bedingungen (Druck, Temperatur) eine Phasenumwandlung in einen anderen
Aggregatzustand erleiden.
Abb. 1.2 erläutert die dafür geltenden Begriffe und veranschaulicht noch einen
weiteren fundamentalen Zusammenhang: Die charakteristischen makroskopisch
feststellbaren Eigenschaften der verschiedenen Aggregatzustände beruhen, wie
wir heute wissen, auf dem mikroskopischen Aufbau der Stoffe aus kleinsten Teil-
chen, den Molekülen und Atomen (siehe Abschnitt 1.4 „Der Aufbau der Atome):
Während in Festkörpern, insbesondere in Kristallen, diese Bausteine dicht
gepackt sind und in einem sehr hohen geometrischen Ordnungsgrad als Kristall-
gitter vorliegen, sind sie bei Flüssigkeiten zwar immer noch relativ dicht gepackt,
der Ordnungsgrad ist aber geringer als bei Kristallen. In kleinen Bereichen der
Flüssigkeit kann man immer noch eine gewisse lokale Nahordnung feststellen,
eine Fernordnung wie bei den Kristallen ist nicht mehr gegeben. Bei Gasen
schließlich sind die Bausteine relativ weit voneinander entfernt. Sie können sich
in regelloser Art und Weise bewegen und erfüllen in einer nur durch statisti-
sche Gesetzmäßigkeiten beschreibbaren Art jedes ihnen zur Verfügung gestellte
Volumen.
Dieser Sprachgebrauch ist leider etwas verwirrend, daher eine kurze Erläuterung:
Unter mikroskopischer Sichtweise meinen wir den Bezug auf die Welt der kleins-
ten Teilchen (den „Mikrokosmos“), also das Reich der Atome und Moleküle.
1.1 Stoffe und Stoffsysteme 9
Wenn wir die makroskopische Sichtweise wählen, so meinen wir die Dimensio-
nen unserer Alltagserfahrungen, wo wir die Stoffe und ihre Erscheinungen (den
„Makrokosmos“) mit Hilfe unserer Sinnesorgane (oder auch mittels technischer
Hilfsmittel wie einer Lupe oder eines Lichtmikroskops) wahrnehmen. Hierbei stel-
len wir keinen direkten Bezug zum Aufbau der Stoffe aus den kleinsten Teilchen
her. Betrachten wir etwa einen Tropfen Blut unter dem Lichtmikroskop, so können
wir vielfältige zelluläre und subzelluläre Strukturen erkennen, aber niemals ein-
zelne Atome oder Moleküle – das Lichtmikroskop erweitert unsere Möglichkeiten
des Sehens, bleibt aber auf makroskopische Dimensionen beschränkt. Nur ganz
moderne Techniken wie etwa die Rastertunnel-Elektronenmikroskopie sind in der
Lage, in den Grenzbereich zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos vorzudrin-
gen und atomare/molekulare Strukturen abzubilden – üblicherweise erschließen
wir die Welt des Mikrokosmos und der kleinsten Teilchen eher indirekt aus spe-
ziellen Experimenten.
Die Phasenumwandlungen sind am besten zu verstehen, wenn wir die mikro-
skopische Sichtweise wählen. In einem Kristall führen die Bausteine nur kleine
Schwingungen um die ideale Gleichgewichtsposition im Kristallgitter aus. Mit
steigender Temperatur werden die Amplituden (Auslenkungen) dieser Schwin-
gungen immer größer, bis schließlich die Teilchen ihre Gitterpositionen verlassen
und aneinander vorbei gleiten. Die hohe Ordnung bricht zusammen; der Kristall
schmilzt. Dieser Schmelzvorgang setzt bei einer charakteristischen Temperatur,
dem Schmelzpunkt, ein. Während des Schmelzvorganges wird die gesamte zuge-
führte Wärmeenergie für das Schmelzen verbraucht, daher bleibt die Temperatur
trotz ständiger Wärmezufuhr konstant, bis der Kristall vollständig geschmolzen ist.
Ist alles geschmolzen, bewirkt eine weitere Wärmezufuhr wieder einen Anstieg
der Temperatur der nunmehr vorliegenden Flüssigkeit, in der die Teilchen sich
mit einer gewissen mittleren Geschwindigkeit, die von der Temperatur abhängt,
bewegen können.
Die Bausteine der Flüssigkeit haben nicht alle dieselbe Geschwindigkeit bzw.
kinetische Energie. Einige sind so energiereich, dass sie den Verband der ande-
ren Bausteine verlassen können; sie verdampfen. Je höher die Temperatur ist,
desto schneller bewegen sich die Moleküle im Durchschnitt, und umso höher ist
der Anteil der besonders energiereichen Moleküle, die aus der Flüssigkeit in die
Gasphase übertreten können. Befindet sich die Flüssigkeit in einem geschlosse-
nen Gefäß, so wächst mit steigender Temperatur die Konzentration der Moleküle
im Gasraum; damit aber wird die Wahrscheinlichkeit, dass Moleküle aus dem
Gasraum wieder in die flüssige Phase übertreten (kondensieren), ebenfalls grö-
ßer. Schließlich wird, wenn die Temperatur konstant gehalten wird, ein Zustand
erreicht, in dem die Verdampfungsgeschwindigkeit und die Kondensationsge-
schwindigkeit gleich groß sind. Ein dynamischer Gleichgewichtszustand stellt
sich ein. Der dabei beobachtete Druck der Gasphase heißt Dampfdruck der Flüs-
sigkeit. Er ist nur von der Temperatur abhängig und, bei gegebener Temperatur,
eine für die jeweilige Substanz charakteristische Größe.
Wenn die Temperatur steigt, so steigt auch der Dampfdruck der Substanz.
Wenn, etwa in einem offenen Gefäß mit Wasser, der Dampfdruck gleich groß
wird wie der äußere Luftdruck, so beginnt die Substanz zu sieden. Die Flüssig-
10 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
keit verdampft nicht nur an ihrer Oberfläche, sondern es treten Dampfblasen auch
aus dem Inneren der Flüssigkeit in den Gasraum über. Wie beim Schmelzvorgang
wird auch während des Siedevorganges trotz konstanter Wärmezufuhr die Tem-
peratur konstant gehalten; die Wärmeenergie wird zum Verdampfen der gesam-
ten Flüssigkeit verbraucht. Erst nach vollständigem Verdampfen kann die Tem-
peratur – bei weiterer Energiezufuhr – in der nunmehr vorliegenden Gasphase
weiter ansteigen.
Auch Festkörper besitzen einen, wenn auch sehr kleinen, Dampfdruck und
manche können sogar durch den Vorgang der Sublimation direkt in die Gasphase
übergehen, ohne vorher zu schmelzen und die flüssige Phase zu durchlaufen. So
sublimiert ein Teil des Eises und Schnees im Frühling, ohne zu schmelzen. Auch
festes Iod sublimiert, ohne eine flüssige Phase zu bilden. Festes Kohlendioxid
(Trockeneis) hat ebenfalls diese Eigenschaft.
Die Vorgänge sind, wie Abb. 1.2 auch zeigt, durch Wärmeentzug, also
durch Abkühlung, umkehrbar; die Abbildung erläutert auch die entsprechenden
Bezeichnungen.
Element des Periodensystems der Elemente sechs Protonen; die Zahl der Kern-
teilchen, die Nucleonenzahl, beträgt also 12.
In Zahlen ausgedrückt, beträgt diese atomare Masseneinheit 1,6603 · 10−24 g.
Vergleichen wir diese Masse mit der von Protonen und Neutronen, so finden wir,
dass ein Nucleon, also ein Proton ebenso wie ein Neutron, jeweils fast genau
1 a.m.u. wiegt.
Der Definition der atomaren Masseneinheit liegt folgende Überlegung zu-
grunde:
Merke: Da verschiedene Atome verschieden große Masse haben, ihre Wirkungen auf andere
Atome oder Moleküle jedoch stets als ganze, unteilbare Atome ausüben, ist die Angabe
der bloßen Masse zur Beschreibung von Stoffportionen unbefriedigend.
In einem Kilogramm Wasserstoff sind etwa 200 mal so viele H-Atome enthal-
ten wie Hg-Atome in einem Kilogramm Quecksilber. H-Atome wiegen nämlich
besonders wenig; ein Hg-Atom aber wiegt etwa 200 mal soviel wie ein H-Atom.
Trotzdem ist jedes einzelne der leichten H-Atome ein ebenso„vollwertiges“ Atom
wie eines der viel schwereren Hg-Atome.
Daher wurde als Einheit der Stoffmenge das Mol eingeführt:
Merke: Ein Mol ist die Stoffmenge einer Substanz, die gerade ebenso viele Teilchen enthält
wie Atome in exakt 12 g des Kohlenstoff-Nuclids 12 C enthalten sind, nämlich 6;023
1023 Teilchen. Diese Zahl – eine besonders wichtige Naturkonstante – ist auch als
Avogadro-Konstante, früher Loschmidt’sche Zahl, NA bekannt.
Merke: Bitte versuchen Sie sich das soeben Besprochene plastisch vorzustellen und bewusst
zu machen: 18 g Wasser, ein kleiner „Schluck“ dieser lebensnotwendigen Flüssigkeit,
besteht aus 6;023 1023 H2 O-Molekülen. Diese Menge von 18 g Wasser ist 1 Mol
Wasser. In einem Liter Wasser, der bekanntlich eine Masse von 1 kg = 1000 g besitzt,
befinden sich daher etwa 55,55 Mol Wasser.
Der Molbegriff ist eine der wesentlichen Säulen der modernen Chemie. Es ist
überaus hilfreich für das Verständnis, stets den Janus-Charakter dieses Begriffes
vor Augen zu haben, nämlich den Stoffmengenaspekt und den Teilchenzahl-
aspekt.
Mit Hilfe des Molbegriffs können wir aus chemischen Reaktionsgleichungen
eine Fülle zusätzlicher Informationen herauslesen. Die Reaktionsgleichung für
die Knallgasexplosion etwa,
Merke: Eine chemische Reaktionsgleichung informiert uns also nicht nur über qualitative
Aspekte einer chemischen Reaktion, sondern ganz detailliert auch über die quantita-
tiven Verhältnisse, und zwar in einem mikroskopischen und in einem makroskopischen
Kontext.
Wie viel g Phosphor (P), wie viel mol P und wie viele P-Atome enthält ein durch-
schnittliches menschliches Skelett?
Tab. 1.2: Berechnung der relativen Molekülmasse von Calciumphosphat. Die relativen Atommassen
in Spalte 2 werden dem Periodensystem der Elemente entnommen; die Zahlen der Atome in Spalte 3
sind die stöchiometrischen Indices der Elemente in der chemischen Formel der Verbindung.
Element Relative Atommasse [a.m.u.] Zahl der Atome im Molekül Beitrag zur relativen
Molekülmasse [a.m.u.]
Ca 40,078 3 120,234
P 30,974 2 61,948
O 15,999 8 127,992
Summe 310,174
gering und gehen über die Aufstellung einfacher Proportionen und Schlussrech-
nungen nicht hinaus.
Mit Hilfe des Massenanteils der Verbindung Ca3 (PO4 )2 am menschlichen Ske-
lett und des gerade ermittelten Massenanteils des Elements P in der Verbindung
Ca3 (PO4 )2 lässt sich auch sehr leicht die Gesamtmasse P in einem durchschnitt-
lichen Skelett mit der Masse 11 kg berechnen: Die Masse an P ist 11 · 0,58 · 0,20
= 1,276 kg, und das ist natürlich, bis auf einen kleinen Rundungsfehler, gleich
den oben bereits ermittelten 1274 g P!
Der Massenanteil ist unabhängig von Druck und Temperatur. Der ältere Aus-
druck „Gewichtsprozent“ ist sachlich irreführend – Gewicht ist nicht Masse, son-
dern eine von der Gravitation abhängige Kraft – und soll nicht mehr benützt
werden.
Analog wie den Massenanteil definieren wir den dimensionslosen Volumenan-
teil, der bei Gemischen aus flüssigen Komponenten angewendet wird, als mL(X)
pro 100 mL Gemisch. Früher war dafür der Ausdruck „Volumprozent“ üblich, der
ebenfalls nicht mehr benützt werden soll. Diese Angabe ist uns aus dem Alltag
gut vertraut, da etwa bei alkoholischen Getränken der Anteil an Ethanol, also der
Alkoholkomponente dieser Getränke, üblicherweise als Volumenanteil angege-
1.2 Die Zusammensetzung von Stoffgemischen 15
ben wird. So haben etwa Biere Volumenanteile von Ethanol zwischen etwa 3%
bei Leichtbieren und 5,5% bei typischen Vollbieren; bei Weinen liegt der Volu-
menanteil von Ethanol meist zwischen 10% und etwa 13%. Bei einem Wein mit
12% Volumenanteil haben wir also 12 mL reines Ethanol pro 100 mL Wein.
Chemisch besonders aussagekräftig ist die Angabe des dimensionslosen Stoff-
mengenanteils x. Diese Größe wurde früher als „Molenbruch“ bezeichnet. Der
Stoffmengenanteil gibt für eine Substanz X in einem Gemisch, etwa einer Lösung,
an, wie viele Mole dieser Substanz, bezogen auf die Gesamtmolzahl des Ge-
misches, vorliegen:
n(X)
x(X) =
∑n
Wie groß sind die Stoffmengenanteile der Komponenten einer isotonen 0,9% NaCl-
Lösung?
• 100 mL der isotonen NaCl-Lösung enthalten 0,9 g NaCl und 100 − 0,9
= 99,1 g H2 O. Wir nehmen hier etwas vereinfachend an, die Dichte der
Lösung sei gleich wie die Dichte reinen Wassers; 100 mL der Lösung wie-
gen dann 100 g.
• 1 mol NaCl wiegt 22,990 + 35,453 = 58,443 g. Die 0,9 g NaCl aus 100 mL
0,9
Lösung sind daher 58,443 = 0,0154 mol.
99,1
• 1 mol H2 O wiegen 18 g. Die 99,1 g H2 O aus 100 mL Lösung sind also 18
= 5,506 mol.
• Der Stoffmengenanteil an NaCl beträgt
0,0154
= 0,0028
5,506 + 0,0154
Im Nenner des Bruches müssen wir hier die Molzahl von Wasser und NaCl
berücksichtigen!
• Der Stoffmengenanteil von H2 O beträgt
5,506
= 0,9972
5,506 + 0,0154
Die Summe der Stoffmengenanteile beider Komponenten dieses Zweistoff-
gemisches muss natürlich gleich 1,000 sein!
16 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Wir wollen als praktische Übung gleich die Molarität der isotonen NaCl-Lösung
ermitteln.
In manchen Fällen ist es günstig, die so genannte Molalität b(X) als Angabe der
Konzentration heranzuziehen. Wir beziehen uns dabei mit der Angabe der Stoff-
menge n nicht auf das temperaturabhängige Volumen der Lösung, sondern auf
1.2 Die Zusammensetzung von Stoffgemischen 17
Dies ist dann von Vorteil, wenn bei genauen Experimenten der Einfluss der Tem-
peratur auf die Dichte einer Lösung eine Rolle spielt.
Den Unterschied zwischen Molarität und Molalität können wir uns am besten
klarmachen, wenn wir vergleichen, wie wir eine 1-molare Lösung oder eben eine
1-molale Lösung herstellen können. Dies wird in Abb. 1.3 skizziert.
Abb. 1.3: Die Herstellung einer 1-molaren Lösung (links) ist komplizierter als die Herstellung einer
1-molalen Lösung (rechts).
Zur Herstellung einer 1-molalen Lösung genügt es, bei beliebiger Temperatur
1 mol der zu lösenden Substanz und 1 kg des Lösungsmittels abzuwiegen und in
einem beliebigen Gefäß zu mischen. Masse ist ja temperaturunabhängig. Wollen
wir hingegen eine exakt 1-molare Lösung herstellen, müssen wir 1 mol der zu
lösenden Substanz in einem 1-Liter-Maßkolben, der bei einer bestimmten Tem-
peratur, meist 25 ◦ C, geeicht ist, bei ebendieser Temperatur mit einer so großen
Menge des Lösungsmittels mischen, dass die fertige Lösung den Maßkolben
genau bis zur Messmarke füllt.
18 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Abb. 1.4: Das Wassermolekül in zwei Darstellungen: Links die tetraedrische Anordnung zweier bin-
dender und zweier nichtbindender, freier Elektronenpaare, rechts eine konventionelle vereinfachte
Darstellung mit einer Lewis-Formel, in der die bindenden und die nichtbindenden Elektronenpaare
durch Striche dargestellt sind.
Abb. 1.4 zeigt auch, wie das Wassermolekül häufig in chemischen Reaktions-
formeln geschrieben wird, wenn man die beiden freien Elektronenpaare explizit
herausstreichen will.
Abb. 1.5: Das Wassermolekül in unterschiedlichen Darstellungen: Links ein Kalottenmodell (Sau-
erstoff rot, Wasserstoffe weiß gefärbt). In der Mitte und rechts eine quantenchemisch berechnete
Isofläche gleicher Elektronendichte. Die rechts dargestellte Isofläche ist zusätzlich anhand des jewei-
ligen lokalen elektrostatischen Potentials eingefärbt (blau: Stellen mit negativem elektrostatischen
Potential, rot: Stellen mit positivem elektrostatischen Potential).
Abb. 1.5 zeigt uns ganz links ein so genanntes Kalottenmodell von H2 O. Ein Kalot-
tenmodell einer Verbindung ist eine einfache Darstellung, die die Atome durch
20 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Kugeln im richtigen Maßstab annähert und so eine gute Vorstellung der räum-
lichen Gestalt des Moleküls vermittelt. Dabei werden die wichtigsten Elemente
durch bestimmte Farben symbolisiert (hier: Wasserstoff H, weiß; Sauerstoff O, rot).
Bei der Betrachtung von Kalottenmodellen müssen wir uns aber immer bewusst
sein, dass diese Darstellung nur eine sehr grobe Annäherung an die wirkliche
Situation eines Moleküls geben kann.
Die mittlere Darstellung in Abb. 1.5 kommt der Realität schon näher. Wir sehen
eine Darstellung der Elektronendichte, repräsentiert durch eine so genannte Iso-
fläche. Diese verbindet alle Punkte um das Molekül, an denen die Elektronen-
dichte einen bestimmten, willkürlich wählbaren Wert besitzt. Offensichtlich ist
die Darstellung der Elektronendichte alleine noch nicht besonders aussagekräf-
tig. Wir erkennen zwar schön die Ausbuchtungen der Wasserstoffatome, aber
ansonsten ist wenig Detail ersichtlich.
Die Darstellung rechts ist noch informativer. Die Elektronendichte ist wie-
derum repräsentiert durch eine Isofläche. Diese ist jetzt aber eingefärbt anhand
des an den jeweiligen Stellen gerade herrschenden elektrostatischen Potentials.
Das elektrostatische Potential eines Moleküls gibt an, welche Energie eine posi-
tive Probeladung mit einer elektrostatischen Ladungseinheit in der Nähe des
betrachteten Moleküls „spüren“ würde. Dabei bedeutet ein negatives Vorzeichen
des Potentials Anziehung, und ein positives Vorzeichen Abstoßung der positiven
Probeladung. In unserer Abbildung symbolisiert blaue Farbe negatives, und rote
Farbe positives elektrostatisches Potential.
Wir erkennen gut die starke Polarisierung des Wassermoleküls. Wegen der
starken elektronenanziehenden Wirkung des Sauerstoffs herrscht am O-Atom
negatives Potential – eine positive Probeladung wird hier also angezogen –, wäh-
rend die H-Atome positiviert sind, was durch die rote Farbe ausgedrückt wird.
Die Regenbogenfarben dazwischen geben Zwischenwerte des Potentials an.
Merke: Die Darstellung einer Isofläche der Elektronendichte eines Moleküls, welche zusätzlich
gemäß des lokalen elektrostatischen Potentials eingefärbt ist, vermittelt eine gute
Vorstellung davon, wie dieses Molekül auf andere Moleküle „wirken“ kann und wie
es von anderen Molekülen „gesehen“ wird.
Abb. 1.6: Wie in Abb. 1.5 rechts. In der linken Grafik sind zusätzlich die Isolinien des elektrostatischen
Potentials in der Molekülebene dargestellt. Rote Linien stehen für positives, blaue Linien für negatives
elektrostatisches Potential. In der rechten Grafik ist der Gradient des elektrostatischen Potentials in der
Molekülebene dargestellt; die Pfeilchen deuten an, wie eine positive Probeladung von den H-Atomen
abgestoßen und vom O-Atom angezogen wird.
Merke: Diese Art der intimen Erforschung der Eigenschaften eines Moleküls – sowohl lokali-
siert am Molekül selbst als auch in Form der Kraftwirkungen des Moleküls hinaus in
den umgebenden Raum – mittels moderne Methoden der Quantenchemie und die
Visualisierung der Ergebnisse durch moderne Computergrafik-Techniken bietet auf-
regende und viel versprechende Möglichkeiten, die uns in der Medizin weiterhelfen
können. Wir sind heute in der Lage, die räumliche und die chemische Struktur vieler
großer, biologisch wichtiger Biomoleküle experimentell sehr präzise zu bestimmen.
In Kombination mit den hier angedeuteten Möglichkeiten der modernen Computer-
chemie können wir nun Wechselwirkungen eines solchen Biomoleküls mit verschie-
22 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Merke: Die Chemie des Lebens spielt sich ganz überwiegend in wässrigen Lösungen ab.
Wir werden uns später auch quantitativ mit den Vorgängen beim Auflösen von
polaren Substanzen und von Ionenkristallen beschäftigen (siehe Kapitel 4, „Auf-
lösung und Fällung“); hier wollen wir uns qualitativ klarmachen, was beim Auf-
lösen eines Salzes geschieht.
1.3 Wasser – eine vertraute Substanz mit überraschenden Eigenschaften 23
Salze, wie das uns aus dem Alltag vertraute Natriumchlorid (NACl; „Koch-
salz“), sind kristalline Festkörper und aus elektrisch geladenen Ionen aufgebaut
(siehe Abschnitt 1.7 „Die Ionenbindung“). Ionenkristalle sind meist mechanisch
und thermisch sehr widerstandsfähige Strukturen (siehe Abschnitt 1.8 „Kristal-
line Festkörper“). Sie sind üblicherweise hart, und um etwa einen Kochsalzkris-
tall zum Schmelzen zu bringen, müssen wir ihn auf 801 ◦ C erhitzen. Trotzdem löst
sich Kochsalz in Wasser leicht auf. Wie kann eine so stabile Struktur durch Wasser
so leicht aufgebrochen werden?
Wenn sich Ionen in einem polaren Lösungsmittel wie Wasser befinden, so üben
sie aufgrund ihrer elektrischen Ladung auf die Lösungsmitteldipole Kräfte aus,
die in der Nähe der Ionen zu einer geordneten Struktur des Lösungsmittels füh-
ren. In der Nähe von positiven Ionen orientieren sich die Lösungsmitteldipole so,
dass ihr negativer Pol zum positiv geladenen Kation, der positive hingegen vom
Kation weggerichtet ist. Analog orientieren sich in der Nähe von negativen Ionen
die Dipole mit ihrem positiven Pol zum negativ geladenen Anion hin, mit dem
negativen Pol hingegen vom Anion weg. Abb. 1.7 zeigt dies schematisch.
Abb. 1.7: Elektrisch polare Lösungsmittelmoleküle sind Dipole. In der Umgebung eines Kations (links)
oder eines Anions (rechts) ordnen sie sich in charakteristischer Weise um die Ionen an und führen
so zum Aufbau einer Solvathülle. In der Abbildung sind nur die Dipole, die die Solvathülle aufbauen,
farbig gezeichnet, um ihre durch die elektrostatischen Wechselwirkungen verursachte Orientierung in
Hinblick auf „ihr“ Ion zu verdeutlichen.
Merke: Die Energie, die bei der Solvatation durch die vielfachen Ion-Dipol- und Dipol-Dipol-
Kräfte frei wird, erklärt uns, warum sich viele polare Stoffe, insbesondere aus Ionen
aufgebaute Salze, im polaren Lösungsmittel Wasser auflösen: Die Solvatationsener-
gie muss größer sein als die Energie zum Aufbrechen des Kristallgitters, die Gitter-
energie.
Unser Proband „enthält“ etwa 48 Liter Wasser. Der größere Teil davon (60–65%) ist
innerhalb der Zellen enthalten, im Intrazellulärraum, 35–40% sind im so genann-
1.4 Der Aufbau der Atome 25
Lehrziel
Wir wollen in diesem Abschnitt einen kurzen Überblick über den Aufbau der Atome geben, soweit
dies für das Verständnis dieses Lehrbuchs notwendig ist.
Die Vorstellung, dass die uns umgebende Materie aus kleinsten, nicht weiter teil-
baren Bausteinen aufgebaut ist, stammt bereits von den griechischen Philosophen
der 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhunderte. Doch erst 1808 gelang es dem engli-
26 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Merke: Chemische Elemente bestehen aus kleinsten Teilchen, den Atomen, die nicht wei-
ter zerlegbar sind. Alle Atome eines Elementes sind einander gleich. Verschiedene
Elemente besitzen verschiedene Atome. Chemische Verbindungen entstehen – auf
mikroskopischer Ebene – durch die Reaktion von Atomen verschiedener Elemente.
Dabei verbinden sich die Atome in einfachen Zahlenverhältnissen miteinander zu
Molekülen.
neutralen Atomen ist natürlich die Ladung des Kerns genau gleich groß wie die
Ladung der Hülle, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen.
Diese Ladungen, sowohl im Kern (Protonen) als auch in der Hülle (Elektronen),
kommen nur in bestimmten Portionen vor, das heißt, sie sind Vielfache einer so
genannten elektrischen Elementarladung. Diese beträgt 1,602 · 10−19 C. Die Zahl
der positiven Ladungsträger in einem Atomkern bestimmt die chemischen Eigen-
schaften und damit die chemische Identität des Atoms. Wir nennen diese Zahl
Kernladungszahl oder Ordnungszahl.
Jedem chemischen Element entspricht somit eine bestimmte Ordnungszahl.
Allerdings können die Nuclide eines bestimmten chemischen Elements, die defi-
nitionsgemäß alle dieselbe Kernladung tragen, durchaus verschiedene Massen
haben; dann spricht man von Isotopen. Isotope eines chemischen Elements haben
zwar verschiedene Massen, jedoch die gleiche Kernladungszahl, daher auch glei-
che chemische Eigenschaften.
Elementarteilchen
Atome bestehen aus Elementarteilchen. Heute sind sehr viele Elementarteilchen
bekannt – die Physiker sprechen von einem „Teilchenzoo“ –, die allermeisten
existieren jedoch nur unter sehr exotischen Bedingungen in den Großlaboratorien
der Atom- und Kernphysiker und sind meist extrem kurzlebig. Wir wollen uns nur
mit den drei wichtigsten beschäftigen, die für das Verhalten der gewöhnlichen,
uns im Alltag umgebenden Materie ausschließlich verantwortlich sind: Protonen,
Elektronen und Neutronen.
Protonen und Neutronen sind im Durchmesser etwa 10−15 m groß, Elektronen
10 −18 m. Die Massen der Protonen (1,672614 · 10−27 kg) und Neutronen (1,674920
· 10 −27
kg) sind etwa gleich groß; Elektronen sind um das etwa 1800-fache leichter
(9,109558 · 10−31 kg).
Jedes Proton ist Träger einer positiven elektrischen Elementarladung, jedes
Elektron besitzt eine negative elektrische Elementarladung, und Neutronen sind
elektrisch ungeladen. Protonen und Neutronen sind die Bestandteile des Atom-
kerns. Daher nennen wir sie auch Nucleonen. Elektronen hingegen bauen die
Hülle des Atoms auf.
Wir verstehen jetzt die Existenz verschiedener Isotope eines Elementes:
Merke: Isotope sind Nuclide mit gleicher Protonenzahl und daher gleichen chemischen Eigen-
schaften, aber mit unterschiedlicher Neutronenzahl und daher verschiedenen Massen.
Der Zusammenhalt der Nucleonen, die wegen der positiven Ladungen der Pro-
tonen eigentlich auseinander fliegen sollten, wäre nur die Coulomb‘sche Wech-
selwirkung im Spiel, wird durch eine besondere Art von Naturkräften gewähr-
leistet, die extrem starken Kernkräfte, die allerdings nur auf kleinste Distanzen,
etwa 10−15 m, wirksam sind.
(1. Hund’sche Regel, nach Friedrich Hund). Dies bedeutet, dass Orbitale glei-
cher Haupt- und Nebenquantenzahl zuerst einfach besetzt werden.
3. Elektronen, die Orbitale mit gleichem n und l, aber verschiedenem m einzeln
besetzen, haben parallelen Spin, das heißt, sie besitzen dieselbe Spinquanten-
zahl) (2. Hund’sche Regel).
Diese Regeln der Quantenchemie liefern die theoretische Basis für den Aufbau
des Periodensystems der Elemente (siehe Kapitel 6, Abschnitt 1 „Die Elemente
des Lebens“).
Lehrziel
Eine der wichtigsten chemischen Bindungsarten kommt durch die Ausbildung gemeinsamer
Elektronenpaare zwischen den Bindungspartnern zustande.
Für die Bildung und Stabilität vieler chemischer Verbindungen ist die so genannte
Atombindung oder kovalente (homöopolare) Bindung verantwortlich. Im Gegen-
satz zur Ionenbindung (heteropolaren Bindung), bei der ein Partner ein zusätzli-
ches Elektron bekommt (negatives Ion) und ein Partner ein Elektron abgibt (posi-
tives Ion), entstehen kovalente Bindungen durch gemeinsame Elektronenpaare.
Bei der Ionenbindung verschwindet zwischen den Bindungspartnern die Elektro-
nendichte völlig; bei der kovalenten Bindung ist die Elektronendichte zwischen
den Bindungspartnern relativ hoch.
Ein einfaches Beispiel ist das zweiatomige Wasserstoffmolekül H2 . Jedes
Wasserstoff-Atom (H) besitzt ein Elektron und kann dieses zur Bindung beisteu-
ern. Das entstehende Elektronenpaar steht gewissermaßen beiden Atomen zur
Verfügung, so dass beide Wasserstoffatome quasi die bevorzugte Edelgaskon-
figuration des Heliums erhalten.
In analoger Weise kann in einem zweiatomigen Chlormolekül Cl2 jedes Chlor-
atom, welches als Element der 7. Hauptgruppe des Periodensystems in der
äußersten Elektronenschale, der so genannten Valenzschale, 7 Elektronen ent-
hält, die Elektronenkonfiguration des Edelgases Argon erreichen, wenn pro
Atom ein Elektron für ein gemeinsames Elektronenpaar zur Verfügung gestellt
wird.
Auch Verbindungen mit verschiedenartigen Atomen sind möglich, etwa Chlor-
wasserstoff, eine Verbindung eines Chloratoms mit einem Wasserstoffatom.
Symbolisiert man nach Gilbert Newton Lewis (1916), Professor für Chemie an
der University of California, die Elektronen der Valenzschale durch Punkte, so
können wir den Sachverhalt wie in Abb. 1.9 darstellen.
In den modernen Formeln wird ein Elektronenpaar (bindend oder nichtbin-
dend) als Strich symbolisiert. Die in Abb. 1.9 die Atome einhüllenden Ellipsen
werden normalerweise nicht angeschrieben; sie sollen nur verdeutlichen, wie
1.5 Die kovalente Bindung 31
Abb. 1.9: Vergleich der historischen Schreibweise von chemischen Formeln nach Lewis (links) mit
der modernen Valenzstrich-Schreibweise (rechts). Die „nichtbindenden“ oder „freien“ Elektronenpaare
werden häufig nicht explizit angeschrieben.
Abb. 1.10: Die Bildung eines Molekülorbitals durch „Verschmelzen“ der Atomorbitale zweier
H-Atome. Neben dem gegenüber den Atomorbitalen energieärmeren bindenden Molekülorbital ent-
steht auch ein energetisch höher liegendes antibindendes Molekülorbital. Jedes Molekülorbital kann –
so wie auch jedes Atomorbital – mit maximal 2 Elektronen besetzt werden.
Nähern sich zwei Wasserstoffatome aus großer Entfernung, so besitzt vorerst jedes
Atom ein Elektron in einem so genannten 1s-Orbital. Ein Orbital können wir uns
vereinfacht als eine Art Raumbereich vorstellen, der dem Elektron zur Verfügung
steht, in dem es sich „aufhält“.
32 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Merke: Hier ist allerdings ein Wort der Warnung angebracht: Wir dürfen uns Elektronen nicht
wie kleine Kügelchen vorstellen, die um den Atomkern sausen. Vielmehr sind Elektro-
nen und andere Elementarteilchen wie Protonen oder Neutronen eine Art von „We-
sensform“, die wir Menschen uns bildlich überhaupt nicht richtig vorstellen können –
einfach deshalb, weil im Verlauf der langen Evolution, die schließlich zum Menschen
geführt hat, nichts unsere Vorfahren beziehungsweise deren Gehirne darauf vorbe-
reitet hat, mit solchen Fragestellungen umzugehen. So fehlen uns hier einfach die
Denkkategorien.
Immanuel Kant spricht vom „Ding an sich“ und vom „Ding für uns“. Was das Ding „Elek-
tron“ an sich ist, werden wir vorstellungsmäßig wohl nie wirklich begreifen. Aber –
und das ist doch auch staunenswert: Wir sind imstande, selbst solche allerkleinsten
Phänomene der Wirklichkeit, für die unsere Sinne und unsere a priori Anschauungen
blind und taub sind, in der Sprache der Mathematik so präzise zu beschreiben, dass
wir wichtige und korrekte Schlussfolgerungen daraus ziehen können.
„Die Naturwissenschaft versucht, in der Sprache der Mathematik Bilder von den
Dingen zu erzeugen, die so beschaffen sind, dass die denknotwendigen Folgen
der Bilder wiederum Abbilder der naturnotwendigen Folgen der Dinge sind.“
Wenn diese eindeutige Abbildung der Realität in abstrakten mathematischen Bil-
dern = Naturgesetzen gelingt, dann haben wir etwas ganz Aufregendes gewonnen:
Ein mathematisches Modell, welches wir nach den Regeln der Mathematik manipu-
lieren können, und was dabei in der Sprache des Modells herauskommt, findet oft
seine Entsprechung in der Realität: Das ist wohl letzten Endes auch das Ziel jeder
Naturwissenschaft.
Abb. 1.11: Bei einer C== C-Doppelbindung wird zusätzlich zu den rotationssymmetrischen s-Bin-
dungen eine nicht rotationssymmetrische p-Bindung durch „Verschmelzen“ von 2 p-Atomorbitalen
gebildet, von denen je eines an einem der beiden C-Atome lokalisiert ist.
Mehrfachbindungen
Besonders in der organischen Chemie, der Chemie der (allermeisten) Verbindun-
gen des Kohlenstoffs, sind Mehrfachbindungen zwischen C- und C-Atomen, aber
auch zwischen C- und O- bzw. C- und N-Atomen häufig anzutreffen.
Im Ethen (C2 H2 ) etwa ist jedes C-Atom mit je zwei H-Atomen und dem ande-
ren C-Atom verbunden. Dabei entstehen zwischen den C-Atomen zwei etwas
unterschiedliche Bindungen.
Am einfachsten verstehen wir die Bindungsstruktur des Ethens, wenn wir
in Schritten vorgehen: Zuerst erinnern wir uns, dass jedes H-Atom jeweils ein
Valenzelektron besitzt, jedes C-Atom (4. Hauptgruppe des Periodensystems der
Elemente) dagegen jeweils vier. Die quantenchemische Berechnung liefert nun
primär, dass die Gestalt des entstehenden Moleküls planar ist, dass also alle sechs
Atome in einer Ebene liegen. Abb. 1.11 zeigt dies.
Die schwarzen Striche symbolisieren die chemischen Bindungen, die entste-
hen, weil jedes der beiden C-Atome von seinen vier Valenzelektronen drei in drei
bindende Molekülorbitale einbringt, und zwar eines in eine Bindung mit dem je
anderen C-Atom und je eines in die Bindungen mit zwei H-Atomen.
Diese „gewöhnlichen“ Molekülorbitale, die – wie die Rechnungen zeigen –
rotationssymmetrisch um die jeweiligen Bindungsachsen sind, werden als -Bin-
dungen bezeichnet.
An jedem der beiden C-Atome verbleibt also noch 1 Valenzelektron. Was
passiert damit? Die Abbildung veranschaulicht, dass die beiden „übrig geblie-
benen“ Elektronen in den auf die Molekülebene senkrecht stehenden hantel-
förmigen p-Orbitalen der beiden C-Atome lokalisiert sind und ebenfalls mit-
einander zu einem bindenden neuen Molekülorbital überlappen können. Damit
aber wird eine zusätzliche Bindung erzeugt, welche zur -Bindung zwischen den
beiden C-Atomen hinzukommt. Die beiden C-Atome sind also durch eine Dop-
pelbindung miteinander verbunden. Das neue bindende Molekülorbital ist aller-
dings nicht rotationssymmetrisch um die C==C-Verbindungsachse; wir bezeich-
nen diese neue Bindungsart als -Bindung.
Eine wichtige Unterscheidung zwischen - und -Bindung:
Achtung! Der Terminus technicus „aromatisch“ hat in diesem Zusammenhang nichts mit einem
aromatischen Duft zu tun! Der Begriff bezeichnet in der Fachsprache der Chemie eben
diesen besonders stabilen Zustand, der durch die hier beschriebene ganz spezielle Art
der chemischen Bindung bewirkt wird.
Die Quantenchemie hat die Erklärung für das außergewöhnliche Verhalten die-
ser Verbindungen erbracht. Die C-Atome bilden ein reguläres Sechseck, und die
sechs H-Atome liegen in derselben Ebene. Die C–C–H-Bindungswinkel betra-
gen 120◦ ; das Molekül ist hexagonal-planar. Jedes C-Atom hat einerseits drei
ganz „gewöhnliche“ -Bindungen zu den beiden benachbarten C-Atomen und
zu „seinem“ H-Atom. Die an den 6 C-Atomen jeweils verbleibenden „übrigen“
Valenzelektronen (insgesamt 6 an der Zahl) sitzen wie im Ethen in zur Molekül-
ebene senkrecht stehenden hantelförmigen p-Orbitalen. Sie „verschmelzen“ zu
1.5 Die kovalente Bindung 35
Abb. 1.12: Verschiedene Schreibweisen für Benzen: a) Ausführliche Valenzstrichformeln der beiden
mesomeren Grenzstrukturen; b) vereinfachte Valenzstrichformeln der beiden mesomeren Grenzstruk-
turen; c) moderne Schreibweise.
Merke: Der wahre Zustand des Moleküls wird durch keine der beiden Grenzstrukturen
korrekt wiedergegeben, sondern liegt irgendwo in der Mitte: Alle C–C-Bindungen
sind völlig gleichwertig und ununterscheidbar.
Diesen klassisch nicht eindeutig beschreibbaren Zustand nennt man Mesomerie,
der zwischen den Grenzstrukturen gezeichnete Doppelpfeil heißt Mesomeriepfeil.
Mesomerie ist nicht etwa ein Gleichgewicht oder ein Oszillieren zwischen den beiden
Grenzstrukturen; diese sind vielmehr nur eine unvollständige Beschreibung des realen
Zustandes und besitzen keine physikalische Realität.
Abb. 1.13: Grafische Darstellungen der 21 bindenden Molekülorbitale des Benzens. Die positiven und
negativen Anteile der Orbital-Wellenfunktionen sind durch die unterschiedlichen Farben der Orbital-
Isoflächen dargestellt; die „Höhenschicht-Linien“ in der Molekülebene geben die Elektronendichte
wieder.
1.5 Die kovalente Bindung 37
Abb. 1.14: Die Elektronegativitäten der Hauptgruppenelemente des Periodensystems der Elemente,
geordnet nach Perioden und Hauptgruppen.
Offensichtlich sinkt innerhalb der Hauptgruppen von rechts nach links (von den
Halogenen zu den Alkalimetallen hin) dieses Bestreben ab, ebenso sinkt es inner-
halb einer Hauptgruppe mit steigender Periodenzahl.
Auffällig ist die relativ hohe Elektronegativität des Wasserstoffs (Haupt-
gruppe 1, Periode 1). Sie entspricht ziemlich genau der des Kohlenstoffs. Eine
wichtige Folgerung aus dieser Ähnlichkeit der Elektronegativitäten dieser beiden
Atome ist die apolare und sehr stabile C–H-Bindung, die die Basis der ungeheuer
großen Zahl organischer Verbindungen ist.
Zur Kennzeichnung der auftretenden Partialladungen verwenden wir das grie-
chische ƒ (delta), mit einem der jeweiligen Ladung entsprechenden Vorzeichen.
Chlorwasserstoff, in dem Chlor der elektronegativere Partner ist, ist somit
ƒ+ ƒ−
H Cl
zu schreiben.
Moleküle mit polarisierten kovalenten Bindungen sind in den meisten Fällen,
wenn die Bindungsdipole nicht zufällig symmetrisch sind und sich gegenseitig
neutralisieren, elektrische Dipole. Der Schwerpunkt der positiven Ladung und
der Schwerpunkt der negativen Ladung fallen nicht in einem Punkt zusammen.
Einen solchen Dipol charakterisieren wir durch das Dipolmoment, das Produkt
aus Ladung und Ladungsabstand. Im Bereich von molekularen Dipolen wählen
1.6 Die Wasserstoff-Brückenbindung 39
Abb. 1.15: Ein Ausschnitt aus dem „lockeren“ Kristallgitter von Eis. Die dünn gezeichneten Striche
deuten die H-Brückenbindungen zwischen den Wassermolekülen an.
40 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Die H-Brückenbindung ist räumlich gerichtet; sie ist am stärksten, wenn der
Wasserstoff in Bezug auf das bindende N-, O- oder F-Atom in der Richtung der
tetraedrisch ausgerichteten Molekülorbitale mit einem freien Elektronen-Paar ori-
entiert ist. Daher kommt die (etwas verzerrte) tetraederförmige Anordnung der
H-Atome um jedes O-Atom im Eiskristall. Jedes Sauerstoffatom ist tetraedrisch
von vier Sauerstoffatomen umgeben, wobei je zwei Sauerstoffe durch ein Was-
serstoffatom überbrückt sind. Jedes dieser Wasserstoffatome ist mit einem der
direkt gebundenen Sauerstoffatome kovalent gebunden, mit dem zweiten jedoch
durch eine H-Brückenbindung. Die Bindungslänge der H-Brückenbindung ist
wegen der schwächeren Bindungsenergie erheblich größer als die der kovalenten
Bindung.
Da jedes Wassermolekül im Eis nur vier Nachbarn hat, besitzt Eis eine relativ
„luftige“ Struktur und hat eine geringere Dichte als flüssiges Wasser bei Tempera-
turen knapp über 0 ◦ C. Diese „Anomalie des Wassers“ ermöglicht das Überleben
vieler Tiere in zugefrorenen Gewässern, da das leichtere Eis an der Oberfläche
der Gewässer schwimmt und das zwischen 0 ◦ C und 4 ◦ C besonders dichte Wasser
zu Boden sinkt und ein Zufrieren am Grund der Gewässer verhindert.
Besondere Bedeutung besitzt die Wasserstoff-Brückenbindung in der Bioche-
mie: Sie spielt eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung der dreidimensio-
nalen Strukturen von Proteinmolekülen und bei der Ausbildung der dreidimen-
sionalen Strukturen von Nucleinsäuren, etwa der so genannten Doppelhelix.
Wir können in Hinblick gerade auf die Doppelhelix der DNA mit Fug und
Recht sagen, dass die gesamte Evolution von der Existenz von Wasserstoff-
Brückenbindungen abhängt: Die „Ablesung“ der genetischen Information, die
in der Doppelhelix gespeichert ist, erfordert ein zwischenzeitliches „Aufdrehen“
der Doppelhelix und ist nur deshalb problemlos möglich, weil die Wasserstoff-
Brückenbindungen, die die beiden Einzelstränge in der Doppelhelix zusammen-
halten, gerade die richtige Bindungsstärke besitzen. Eine zu starke Bindung, wie
die kovalente Bindung, würde das Aufdrehen unmöglich machen, eine zu schwa-
che, wie gewöhnliche Dipol-Dipol-Wechselwirkungen, würde die Doppelhelix
viel zu instabil machen. Die beiden „Fäden“ der Doppelhelix, die Polynucleo-
tidstränge, würden aufgrund der thermischen Energie nicht sehr lange in Form
einer Doppelhelix aneinander gebunden bleiben, sondern sich rasch voneinander
trennen. Die so genannte identische Reduplikation des Erbmaterials, die Voraus-
setzung der Vererbung, wäre nicht möglich.
Lehrziel
Die am einfachsten zu verstehende chemische Bindung wird durch elektrostatische Wechsel-
wirkungskräfte verursacht.
Bringen wir ein Alkalimetall und ein Halogen wie etwa Fluor oder Chlor unter
geeigneten chemischen Bedingungen zusammen, so tritt eine lebhafte chemi-
1.7 Die Ionenbindung 41
Ionisierungspotential
Die Bausteine von Ionenkristallen sind elektrisch geladene Ionen, positiv gela-
dene Kationen und negativ geladene Anionen. Sie werden durch elektrostatische
Anziehungskräfte zusammengehalten. Zur Bildung eines positiven Ions muss
ein Elektron aus der Elektronenhülle eines Atoms entfernt werden. Dies ist am
leichtesten bei den Elektronen der äußersten Elektronenschale, der so genann-
ten Valenzschale, möglich, da diese durch den positiv geladenen Atomkern am
schwächsten gebunden sind. Sie sind durch die inneren Elektronen vom Kern
abgeschirmt. Die zur Bildung des positiven Ions erforderliche Energie wird Ioni-
sierungspotential genannt; sie ist stets positiv. Das positive Vorzeichen bedeu-
tet, dass das betrachtete System, also das Atom, Energie aufnehmen muss; die
Energieänderung des Systems ist positiv.
Abb. 1.16: Die Ionisierungspotentiale der chemischen Elemente, geordnet nach der Ordnungszahl
oder Kernladungszahl. Der quasiperiodische Verlauf reflektiert den Aufbau des Periodensystems der
Elemente: Jedes lokale Maximum steht für ein Edelgas am Ende einer Periode, jedes lokale Minimum
steht für ein Alkalimetall am Beginn der nächsten Periode.
42 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Elektronenaffinität
Der auffälligen Leichtigkeit, mit der Alkalimetalle ein Elektron abgeben, um eine
„Edelgaskonfiguration“ in der Valenzschale zu erreichen, entspricht die große
Neigung der Elemente der siebten Hauptgruppe, der so genannten Halogene,
ein Elektron aufzunehmen und dadurch negative Ionen, die Halogenid-Ionen zu
bilden. Sie nehmen durch diese Elektronenaufnahme ja die Edelgaskonfiguration
des nächstfolgenden Edelgases an.
Die Energie, die erforderlich ist, ein Elektron aufzunehmen und ein negatives
Ion zu bilden, ist die Elektronenaffinität. Sie kann sowohl positiv (bei der Bil-
dung des negativen Ions muss Energie aufgewendet werden) als auch negativ
sein (Energie wird frei; die Energieänderung des Systems ist negativ). Beson-
ders stark negative Werte findet man bei den Halogenen. Dies entspricht der
großen Neigung dieser Atome, Elektronen aufzunehmen. Bei Edelgasen ist die
Elektronenaffinität dagegen stark positiv. Es bedarf großer Energiezufuhr, um
einem Edelgas ein zusätzliches Elektron „aufzuzwingen“.
Das Ionisierungspotential und die Elektronenaffinität stehen in Beziehung zum
metallischen bzw. nichtmetallischen Charakter der Elemente. Metalle besitzen
locker gebundene Valenzelektronen. Ihr Ionisierungspotential ist niedrig und sie
neigen zur Bildung positiv geladener Ionen. Sie finden sich im Periodensystem
links unten. Nichtmetalle haben relativ hohe Elektronenaffinität. Die Energieän-
derung bei der Bildung negativer Ionen ist gewöhnlich stark negativ. Im Perioden-
system stehen typische Nichtmetalle rechts oben. Zwischen diesen Extremen gibt
1.7 Die Ionenbindung 43
es Übergänge. Die Elemente in der Diagonale von oben links nach rechts unten
weisen sowohl metallische als auch nichtmetallische Eigenschaften auf.
Nochmals: Ionenbindung
Mit den beiden Begriffen Ionisierungspotential und Elektronenaffinität lässt sich
die anfangs beschriebene heftige Reaktion zwischen Natrium und Chlor leicht
verstehen.
Natrium gibt leicht ein Elektron ab (geringes Ionisierungspotential) und bildet
ein positives Ion, Chlor hingegen (hohe Elektronenaffinität) nimmt leicht ein Elek-
tron auf und bildet ein negatives Ion. Beide Atome erreichen dadurch die stabile
Edelgaskonfiguration: Natrium als Natrium-Ion Na+ die des Neons und Chlor in
Form des Chlorid-Ions Cl− die des Argons.
In Formelschreibweise können wir schematisch schreiben:
Na → Na+ + e−
Cl + e− → Cl−
Na + Cl → Na+ + Cl−
lierten Cl− -Ion. Vielmehr bedeutet die chemische Formel bei einem Ionenkristall
wie NaCl, dass das Verhältnis der Zahl der Na+ -Ionen und der Zahl der Cl− -Ionen
gleich 1 : 1 ist. Die Formel von Hydroxylapatit, eines sehr harten Ionenkristalls,
der sowohl in der Erdkruste als Mineral als auch als eigentliche Hartsubstanz im
Knochen und im Zahnschmelz vorkommt, lautet Ca5 (PO4 )3 OH. Sie bedeutet, dass
das Verhältnis der Anzahl der zweifach positiv geladenen Calcium-Ionen Ca2+ zur
Anzahl der dreifach negativ geladenen Phosphat-Ionen PO3− 4 und zur Anzahl der
einfach negativ geladenen Hydroxid-Ionen OH− gerade 5 : 3 : 1 ist. Aber in jedem
makroskopischen Stückchen Hydroxylapatit sind alle drei Ionensorten in riesigen
Zahlen vorhanden – es gibt keine isolierten Ca5 (PO4 )3 OH-Moleküle.
Daher sprechen wir auch oft von Ionenbeziehung anstelle von Ionenbindung.
Tab. 1.5: Einteilung der Kristalltypen gemäß ihrer chemischen Eigenschaften (FP: Festpunkt oder
Schmelzpunkt).
(Netzebenen) werden von der Schar aller Gittergeraden einer Ebene gebildet. Die
Schar aller Netzebenen bildet das dreidimensionale Raumgitter.
Die molekularen Bausteine eines Kristalls, aber auch in einem amorphen fes-
ten Körper, halten ihre Positionen ziemlich genau ein. Sie schwingen nur um
ihre Gleichgewichtslagen. Das sind bei Kristallen die Schnittpunkte der Gitterge-
raden, die Gitterpunkte. Sie können aber im Gegensatz zu den Bausteinen von
Gasen und Flüssigkeiten keine translatorische (fortschreitende) oder rotatorische
(drehende) Bewegung durchführen.
Das regelmäßige Aussehen eines Kristalls beruht auf der regelmäßigen Anord-
nung seiner kleinsten Bausteine. Kochsalzkristalle beispielsweise sind, bereits
mit freiem Auge oder mit der Lupe erkennbar, annähernd würfel- oder oktaeder-
förmig.
Amorphe Festkörper (Glas, Opal) sind makroskopisch unregelmäßig geformt.
Dementsprechend besitzen sie mikroskopisch keine Fernordnung; nur in kleine-
ren lokalen Bezirken findet man – so wie auch in Flüssigkeiten – eine gewisse
Nahordnung.
Ionenkristalle
Die Bausteine von Ionenkristallen sind elektrisch geladene Teilchen, so genannte
Ionen. Sie sind entweder positiv oder negativ elektrisch geladen. In einem elek-
trisch neutralen Kristall muss die Summe der positiven Ladungen gleich der
Summe der negativen Ladungen sein. Gleichnamige Ionen stoßen einander ab,
ungleichnamige ziehen einander an. Die dabei wirksamen Kräfte nennen wir
Coulomb‘sche Kräfte, sie wirken nach allen Richtungen des Raumes gleich stark
(isotrope, ungerichtete Kräfte).
Jedes positive Ion ist bestrebt, sich mit möglichst vielen negativen Ionen
zu umgeben, und umgekehrt. Daraus resultiert die dichte Packung der Ionen,
die Zwischenräume möglichst klein hält. Die Zahl der jeweils nächsten Nach-
barn eines Ions, die Koordinationszahl, ist daher hoch. Sie liegt üblicherweise
bei 6 bis 8. Bei Kochsalz etwa, einem sehr typischen Ionenkristall, ist jedes
46 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Abb. 1.17: Ein Ausschnitt aus dem kubischen Kristallgitter von Natriumchlorid.
Als Folge der starken Anziehungskräfte und der hohen Koordinationszahl sind
Ionenkristalle sehr hart und schmelzen erst bei hohen Temperaturen.
Riesenmoleküle
Ein typischer Vertreter dieser Klasse ist der Diamant, eine der bei Raumtempe-
ratur stabilen Modifikationen (Erscheinungsformen) des Elements Kohlenstoff.
Jedes Kohlenstoffatom sitzt in diesem Kristallgitter im Zentrum eines gedachten
Tetraeders, dessen Eckpunkte wiederum von vier weiteren Kohlenstoffatomen
besetzt werden. Zwei unterschiedliche Ansichten dieses hochsymmetrischen Git-
ters zeigt Abb. 1.18.
Abb. 1.18: Zwei unterschiedliche Ansichten eines Ausschnitts aus einem Diamantkristall. Jedes C-
Atom ist Mittelpunkt eines Tetraeders, der aus den 4 nächsten Nachbaratomen aufgespannt wird.
1.8 Kristalline Festkörper 47
Die niedrige Koordinationszahl von vier kommt dadurch zustande, dass in diesen
Kristallen ganz andere Bindungskräfte wirken als in einem Ionenkristall, nämlich
kovalente Bindungen, die – im Gegensatz zur räumlich ungerichteten elektro-
statischen Ionenbindung – nur in ganz bestimmten Raumrichtungen ausgebildet
werden können. Die extreme Härte und der hohe Schmelzpunkt des Diamants
über 3550 ◦ C sind Konsequenzen der starken kovalenten Bindungen zwischen
den Kohlenstoffatomen.
Kohlenstoff kann aber auch eine ganz andere Struktur ausbilden. Im Graphit
ist jedes C-Atom von drei C-Atomen in planarer Anordnung umgeben, da sich in
der so entstehenden ebenen Schicht sehr stabile polyzentrische Molekülorbitale
ausbilden (Abb. 1.19).
Abb. 1.19: Zwei ebene Schichten aus einem Graphitkristall: Die Bindungsabstände zwischen den
C-Atomen innerhalb der hexagonal strukturierten Schicht sind viel kleiner als die Abstände zwischen
den Schichten. Der umschriebene Quader dient lediglich der besseren Erfassung der dreidimensionalen
Struktur.
Die Weichheit des Graphits etwa erklären wir dadurch, dass zwischen den von-
einander relativ weit entfernten ebenen Schichten nur schwache Wechselwirkun-
gen bestehen und die Schichten deshalb relativ leicht gegeneinander verschieb-
bar sind. Die elektrische Leitfähigkeit und die starke Lichtabsorption wiederum
kommen von den leicht beweglichen Elektronen in den polyzentrischen Mole-
külorbitalen. Die Valenzelektronen des Graphits verhalten sich fast wie Metall-
elektronen.
Molekülkristalle
Abb. 1.20 zeigt für ein charakteristisches Beispiel für diese Klasse von Kristallen,
den Iodkristall, die Anordnung der Bausteine (zweiatomige Iodmoleküle I2 ).
Abb. 1.20: Struktur des festen Iods. Der umschriebene Quader dient lediglich der besseren Erfassung
der dreidimensionalen Struktur.
Basis dieser speziellen Bindungsform. Die Schmelzpunkte sind meist eher nied-
rig. Dank der Stabilität der H-Brückenbindung, die doch wesentlich größer ist als
die von Van der Waals-Kräften, sind solche Kristalle härter und spröder als viele
typische Molekülkristalle.
1.9 Gase
Lehrziel
In diesem Abschnitt spüren wir den fundamentalen Gesetzmäßigkeiten nach, die das Verhalten
von Gasen beherrschen. Wir werden sehen, dass sehr einfache und einleuchtende Beziehun-
gen zwischen den so genannten Zustandsvariablen bestehen, die den Zustand eines Gases in
makroskopischer Hinsicht beschreiben. Ganz nebenbei werden wir hier tiefe und fundamentale
Naturgesetze kennen lernen, die in ihrer Bedeutung weit über das Thema „Gase“ hinausgehen.
Die wichtigsten Gase werden wir auch kurz vorstellen.
Merke: Der Zustand eines beliebigen Gases lässt sich beschreiben durch Angabe der Stoff-
menge, des Volumens, des Druckes und der Temperatur.
Merke: Eine Verdoppelung des Drucks bewirkt die Abnahme des Volumens gerade auf die
Hälfte; eine Verdreifachung des Drucks lässt das Volumen auf ein Drittel schrumpfen.
P1 · V1 = P2 · V2
Dies gilt allerdings nur, wenn gleichzeitig die Temperatur (T) des Gases konstant
gehalten wird; wir sprechen von einem isothermen Prozess. Außerdem gilt das
Gesetz in dieser einfachen Formulierung natürlich nur, wenn auch die betrachtete
Stoffmenge (n) konstant bleibt.
Die exakteste Schreibweise für unser Problem ist daher
(P · V)T,n = const.
Durch diese Ausdrucksweise soll der isotherme, bei konstanter Stoffmenge ablau-
fende Vorgang repräsentiert werden.
Der Tatbestand, der dem Boyle’schen Gesetz zugrunde liegt, lässt sich sehr
instruktiv wie in Abb. 1.21 grafisch darstellen.
Das Boyle’sche Gesetz beschreibt offenbar Hyperbeln im Volumen-Druck-
Koordinatensystem (V,P-Diagramm). Wir finden hier das Verhalten einer be-
stimmten Gasmenge einmal bei einer höheren (500 ◦ C) und einmal bei einer
niedrigeren Temperatur (0 ◦ C) eingezeichnet. Die Hyperbel, der die höhere Tem-
1.9 Gase 51
Abb. 1.21: Graphische Darstellung des Gesetzes von Boyle für eine bestimmte Gasmenge bei zwei
verschiedenen Temperaturen. Die Flächen aller Rechtecke, die von beliebigen Punkten einer der Hyper-
beln mit den Koordinatenachsen gebildet werden können, sind gleich groß. Zwei solcher Rechtecke
sind eingezeichnet.
peratur zugrunde liegt, befindet sich an allen Punkten oberhalb der zweiten
Hyperbel, die das Gas bei der tieferen Temperatur beschreibt. Die Flächen aller
bei willkürlich gewählten Punkten A und B einer Hyperbel mit den Koordina-
tenachsen gebildeten Rechtecke – das sind geometrisch gerade die jeweiligen
Produkte Druck mal Volumen – sind gleich groß.
besitzt, nimmt bei gleichem Druck bei 1 ◦ C ein Volumen von 274 mL, bei 5 ◦ C ein
Volumen von 278 mL, und bei 100 ◦ C ein Volumen von 373 mL ein.
Bezeichnen wir das Volumen einer Gasmenge bei 0 ◦ C als V0 , so können wir
schreiben:
V0 1
bei 1 ◦ C: V1 = V0 + · 1 = V0 · 1 +
273 273
V0 2
bei 2 ◦ C: V2 = V0 + · 2 = V0 · 1 +
273 273
und allgemein
52 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Abb. 1.22: Graphische Darstellung des Gesetzes von Charles und Gay-Lussac für eine bestimmte
Gasmenge bei zwei verschiedenen Drücken. Die gedachten Verlängerungen der Geraden schneiden sich
in einem Punkt, der auf der Abszisse bei einem Volumen von Null und bei der Temperatur −273;15 ı C
liegt.
V0 t
bei t ◦ C: V1 = V0 + · t = V0 · 1 +
273 273
Diese einfache Beziehung gilt natürlich nur dann, wenn sowohl der Druck als auch
die Stoffmenge während der Temperaturveränderung konstant gehalten werden.
Der mittlere Ausdruck in der letzten Gleichung zeigt uns außerdem, dass die
grafische Darstellung dieses Zusammenhanges in einem Volumen-Temperatur-
Diagramm (V,t-Diagramm) eine Gerade sein muss mit einem Ordinatenabschnitt
V0
V0 und einer Steigung 273 (Abb. 1.22)
Unterschiedliche Drücke werden durch verschiedene Geraden repräsentiert,
wobei ihre Steigung ebenso wie ihr Ordinatenabschnitt umso kleiner ist, je höher
der Druck ist: Die bei den jeweiligen Drücken gemessenen Volumina V0 bestim-
men die Steigung der Geraden.
Nun kommt ein entscheidender theoretischer Schritt. Wir sehen, dass die bei-
den Geraden einander in einem gemeinsamen Punkt schneiden, dem formal das
Volumen Null zukommt. Dieser Schnittpunkt ist allerdings in der experimentellen
Praxis nicht erreichbar; kühlen wir ein Gas ab, so wird die Temperatur irgendwann
den Siedepunkt des betreffenden Gases unterschreiten, und das Gas kondensiert
zur Flüssigkeit, die ganz anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Die Temperatur
dieses also nur hypothetischen Schnittpunktes der verschiedenen Geraden im
Volumen-Temperatur-Diagramm ist – für jedes beliebige Gas (!) – 273,15 ◦ C.
Hier sind wir auf etwas ganz Besonderes gestoßen: Lange Zeit war die Tem-
peratur nur unter Bezugnahme auf irgendeinen willkürlich gewählten Standard
messbar. Die Celsius-Temperaturskala etwa nimmt den Schmelzpunkt von Eis
als Nullpunkt (0 ◦ C) an. Der Siedepunkt des Wassers auf Meeresniveau definiert
den Punkt 100 ◦ C. Die Temperaturdifferenz dazwischen wird in 100 gleich große
Temperaturintervalle geteilt. Andere Temperaturskalen, etwa die von Fahrenheit,
verwenden andere Bezugspunkte. Jetzt aber gewinnen wir etwas ganz Neues,
1.9 Gase 53
eine besonders einfache Form des Gesetzes von Charles und Gay-Lussac:
t 273,15 + t T
V = V0 · 1 + = V0 · = V0 ·
273,15 273,15 T0
oder
V V0
=
T T0
wenn wir für die Temperatur 0 ◦ C = 273,15 K das Symbol T0 schreiben. In exakter
Schreibweise können wir auch formulieren:
V
= const.
T P,n
Dies ist die Gleichung einer Geraden durch den Ursprung des neuen Koordina-
tensystems, dessen Abszisse durch die absolute Temperatur gebildet wird.
Merke: Gleiche Volumina beliebiger idealer Gase enthalten unter gleichen äußeren Bedin-
gungen (gleicher Druck, gleiche Temperatur) gleich viele Teilchen („Moleküle“).
In Anlehnung an die beiden Gesetze von Boyle sowie Gay-Lussac können wir
auch schreiben:
V
= const.
n P,T
54 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Merke: Je höher die Temperatur und je niedriger der Druck eines Gases ist, desto idealer ist
sein Verhalten; das heißt, desto exakter befolgt dieses Gas die besprochenen Gesetze.
Das Verhalten typischer Gase, etwa der Bestandteile der Luft, kann bei Normal-
bedingungen praktisch als ideal angesehen werden.
P ·V = n ·R ·T
R
S = k · lnW mit k=
NA
Für eine Gasmenge von 1 Mol stellt Abb. 1.23 die Allgemeine Gasgleichung gra-
fisch dar.
Die Abbildung zeigt einerseits, wenn wir eine konstante Temperatur betrach-
ten, den hyperbelförmigen Verlauf des Volumens in Abhängigkeit vom Druck ent-
sprechend dem Gesetz von Boyle (siehe fette schwarze Kurve in Abb. 1.23); hält
man hingegen den Druck konstant, so finden wir exakt die im Gesetz von Charles
1.9 Gase 55
Abb. 1.23: Graphische Darstellung der Allgemeinen Gasgleichung, die die Gesetze von Boyle, Charles
und Gay-Lussac, und Avogadro zusammenfasst.
Welche Aussagen können wir anhand des neu gewonnenen Begriffs des Molvolumens
machen?
Merke: Der Gesamtdruck einer Mischung von idealen Gasen ist gleich der Summe der Parti-
aldrücke der Komponenten der Mischung.
Jedes Gas benimmt sich sozusagen so, als ob es alleine anwesend wäre. Das gilt
natürlich streng nur für ideale Gase bzw. Gase, die sich bei den entsprechenden
Bedingungen genügend ideal verhalten. Die Hauptgase der Luft, N2 und O2 ,
können wir bei normalen Lebensbedingungen problemlos als ideal betrachten.
Wir verwenden Partialdrücke auch, um die Zusammensetzung eines feuchten
Gases zu beschreiben. Der Gesamtdruck in unserer Lunge setzt sich beispiels-
1.9 Gase 57
weise so zusammen:
P = PTrockenluft + PH2 O
Nun wissen wir, dass Wasser in einem geschlossenen Gefäß so lange verdampft,
bis ein Gleichgewicht zwischen Verdampfung und Kondensation erreicht wird,
der so genannte Sättigungsdampfdruck. Dieser ist, wie jedes chemische Gleich-
gewicht, abhängig von der Temperatur. In erster Näherung können wir auch die
Lunge so behandeln. Bei 37 ◦ C beträgt der Dampfdruck von H2 O 6266 Pa. Daher
ist der Partialdruck der Trockenluft in der Lunge bei normalen Wetterbedingun-
gen auf Meereshöhe etwa
s = kH · P
Dabei ist kH die Henry-Konstante. Die folgende Tabelle listet kH für verschiedene
Gase in Wasser bei 20 ◦ C auf:
Abb. 1.24 zeigt für einige Gase die durch das Henry’sche Gesetz repräsentierte
lineare Proportionalität
Abb. 1.24: Die Löslichkeit einiger Gase in Wasser in Abhängigkeit vom Partialdruck des jeweiligen
Gases. Die Steigungen der Geraden entsprechen der jeweiligen Henry-Konstante.
sO2 = kH · PO2 = 1,28 · 10−8 · 0,21 · 101325 = 2,73 · 10−4 mol · L−1
In diesem Abschnitt wollen wir zuerst Vorgänge betrachten, die ablaufen, wenn
zwei Lösungen, die einen Stoff A in verschiedenen Konzentrationen enthalten,
voneinander durch eine poröse Membran getrennt sind. Die Membran verhin-
dert ein einfaches mechanisches Vermischen der beiden Lösungen; die Größe
der Poren kann aber variabel sein, so dass sich entweder nur Lösungsmittelmo-
leküle oder sowohl Lösungsmittelmoleküle als auch der gelöste Stoff A durch die
Membran hindurch bewegen können. Wir werden sehen, dass die Beschreibung
für derartige Vorgänge ganz wesentlich von der Zahl der beteiligten Teilchen der
Substanz A abhängt, überraschenderweise aber nicht von der chemischen Natur
von A. Es gibt übrigens noch einige andere Eigenschaften von Lösungen, die nur
von der Zahl, nicht aber von den chemischen Charakteristika der gelösten Teil-
chen bestimmt werden. Wir wollen auch diese so genannten kolligativen Gesetze
im Anschluss kurz besprechen.
Diffusion
Ist die Membran für Lösungsmittelmoleküle und den gelösten Stoff A durchlässig,
so spricht man von freier oder ungehinderter Diffusion. Ein ursprünglich quer
zur Membran bestehender Konzentrationsgradient (Konzentrationsunterschied)
wird im Laufe der Zeit verringert, und schließlich gleichen sich die Konzentratio-
nen auf beiden Seiten der Membran aus. Wir können diesen Konzentrationsaus-
gleich gut verstehen, wenn wir die mikroskopischen Vorgänge betrachten. Auf
jeder Seite der Membran ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teilchen auf die
andere Seite der Membran überwechselt, proportional der jeweiligen Konzen-
1.11 Die Osmolalität und andere kolligative Eigenschaften 61
tration. Je mehr Teilchen da sind, desto mehr haben pro Zeiteinheit die Chance,
im Zuge ihres regellosen „Herumirrens“ durch die Membran hindurch zu treten.
Daher werden zu Beginn mehr Teilchen von der Seite der höheren Konzentration
auf die Seite der niedrigen Konzentration übertreten als umgekehrt, wodurch
aber die höhere Konzentration verringert und die niedrige erhöht wird. Schließ-
lich, wenn auf beiden Seiten dieselbe Konzentration an Teilchen vorliegt, stellt
sich ein dynamisches Gleichgewicht ein, und wir können makroskopisch keine
Änderung des Zustandes mehr feststellen.
Die Diffusionsfähigkeit und -geschwindigkeit einer Substanz hängt von mehre-
ren Faktoren ab; so beispielsweise von der Teilchengröße, der Art des Lösungsmit-
tels, insbesondere seiner Viskosität, und natürlich der Temperatur. Kleine Mole-
küle diffundieren leichter. In leichtbeweglichen Flüssigkeiten und insbesondere
in Gasen ist die Diffusion schneller. Ebenso erleichtert eine höhere Temperatur
aufgrund der erhöhten kinetischen Energie der diffusiblen Teilchen die Diffusion.
Merke: Freie Diffusion kommt in biologischen Systemen selten vor: Typisch für lebende Zellen
ist vielmehr die stete – Energie erfordernde – Aufrechterhaltung von Konzentrati-
onsgradienten gegenüber der Umgebung.
Osmose
Die freie Diffusion ist leicht verständlich und bietet wenige Überraschungen.
Wenn aber die Membran zwar für Lösungsmittelmoleküle durchlässig ist, für
die gelöste Teilchen der Substanz A jedoch undurchlässig (semipermeable Mem-
bran), so treten interessante Phänomene auf.
Abb. 1.25 zeigt den Aufbau einer Pfeffer’schen Zelle. Eine Lösung befindet
sich in einem von einer semipermeablen Membran begrenzten Gefäß mit einem
Steigrohr, und diese Zelle wird in ein größeres Gefäß mit reinem Lösungsmittel
eingetaucht. Das System versucht nun spontan, den zwischen Innenraum und
Außenraum der Zelle existierenden Konzentrationsgradienten zu verringern. Da
die semipermeable Membran das Übertreten der gelösten Teilchen vom Innen-
raum zum Außenraum verhindert, kann der Ausgleich nur dadurch geschehen,
dass Lösungsmittelmoleküle von außen in die Zelle einströmen. Durch dieses
einströmende Lösungsmittel steigt die Flüssigkeit im Steigrohr an, und zwar so
lange, bis der entstehende hydrostatische Druck der Flüssigkeitssäule im Steig-
rohr so groß wird, dass er ein weiteres Einströmen von Lösungsmittel verhindert.
Dann herrscht dynamisches Gleichgewicht. Der hydrostatische Druck „drückt“
in der Zeiteinheit gleich viele Lösungsmittelmoleküle von innen nach außen wie
der osmotische Druck von außen nach innen. Die Triebkraft des osmotischen
62 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Druckes ist daher – ebenso wie bei der freien Diffusion – das Bestreben des Sys-
tems, den Konzentrationsunterschied zwischen Innenraum und Außenraum der
Zelle zu vermindern.
Der osmotische Druck einer Lösung gegenüber dem reinen Lösungsmittel
hängt primär ab von der Konzentration der gelösten Teilchen.
Merke: Van’t Hoff hat gezeigt, dass für den osmotischen Druck verdünnter Lösungen eine
einfache Gesetzmäßigkeit gilt, auf die wir auch bei der genaueren Beschreibung von
Gasen stoßen (siehe Abschnitt 1.9 „Gase“):
V = n R T
wobei der osmotische Druck, V das Volumen, n die Zahl der Mole der gelösten
Teilchen unabhängig von ihrer stofflichen Identität und auch Ladung, R die Allge-
meine Gaskonstante (8;314 J K−1 Mol−1 ) und T die thermodynamische (absolute)
Temperatur ist.
= c ·R ·T
Von großer Wichtigkeit bei der Berechnung des osmotischen Drucks ist, dass bei
Salzen, die in wässriger Lösung in Ionen dissoziieren, die Gesamtzahl der gelös-
ten Ionen für die Berechnung des osmotischen Druckes maßgeblich ist.
Wir verwenden für die resultierende osmotisch wirksame Teilchenzahl die
Größe Osmol (Einheit osmol). Ein Osmol bezeichnet daher eine Stoffmenge
ebenso wie eine Teilchenzahl:
Einige Beispiele sollen den Unterschied zwischen dem „Mol“ und dem „Osmol“
erläutern:
In Analogie zu den idealen Gasen, bei welchen 1 Mol bei so genannten Normal-
bedingungen (Druck p = 101,325 kPa, Temperatur T = 273,15 K = 0 ◦ C) ein Volu-
men von 22,414 Litern besitzt, das so genannte Molvolumen, schließen wir, dass
der osmotische Druck von 22,414 Litern einer Lösung, in der sich 1 Osmol gelöste
Teilchen befinden, bei 0 ◦ C gerade 101,325 kPa, oder 1,013 bar beträgt. Umge-
kehrt besitzt eine Lösung von 1 Osmol in nur 1 Liter Lösung, das ist 1 Tausendstel
eines Kubikmeters, bei 0 ◦ C einen 22,414-mal höheren osmotischen Druck von
1 ·R ·T
= = 1000 · 8,314 · 273,15 = 2270969 Pa (SI − Einheiten)
10−3
Die Kenntnis der osmotischen Verhältnisse spielt eine wichtige Rolle in der
Nephrologie bei der Beurteilung des Wasserhaushalts von Patientinnen und
Patienten oder beim intravenösen (= parenteralen) Ersatz von Flüssigkeit nach
großen Blutverlusten, etwa im Gefolge von Unfällen.
Merke: Vorweg wollen wir festhalten, dass in der Medizin eher von Osmolalität die Rede
ist als von Osmolarität: Wir wissen bereits, dass die (Os)Molarität immer einen
Bezug der interessierenden osmotisch wirksamen Stoffmenge X auf das Volumen der
Lösung impliziert und deshalb temperaturabhängig ist, während die (Os)Molalität die
osmotisch wirksame Stoffmenge auf die temperaturunabhängige Masse des reinen
Lösungsmittels bezieht.
Bei verdünnten wässrigen Lösungen wie etwa dem Harn unterscheiden sich die
beiden Angaben numerisch fast gar nicht, da 1 L ziemlich genau 1 kg wiegt.
Anders liegen die Verhältnisse im Blutplasma oder gar im Inneren von Zellen.
Im Blutplasma, welches wir erhalten, wenn wir aus ungerinnbar gemachtem Blut
die zellulären Bestandteile abtrennen, etwa durch Zentrifugation, sind pro Liter
etwa 70 g Proteine enthalten, daher entspricht 1 L Blutplasma nur etwa 930 g
=˜0,93 kg Wasser. Noch drastischer: In einem Liter der Intrazellulärflüssigkeit von
Erythrozyten, den roten, Sauerstoff-transportierenden Blutkörperchen, sind rund
300 g des Proteins Hämoglobin enthalten, so dass 1 L dieser Intrazellulärflüssigkeit
gar nur 700 g = 0,7 kg Wasser enthält, in dem sich die osmotisch wirksamen
Teilchen aufhalten und bewegen können.
Daher ist die Angabe der Osmolalität hier viel aussagekräftiger!
Merke: Normales Blutplasma hat so wie die Intrazellulärflüssigkeit von Zellen eine osmotische
Konzentration von etwa 0,290 osmol/kg Wasser.
64 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Würde man einem Patienten als Flüssigkeitsersatz reines Wasser mit der osmo-
tischen Konzentration 0 infundieren, so würden seine Erythrozyten anschwellen
und schließlich platzen (Hämolyse), da aus dem solcherart verdünnten Blut Was-
ser in die Erythrozyten einströmen würde. Reines Wasser ist – im Vergleich zum
Intrazellulärraum – eine hypotone Flüssigkeit.
Im Vergleich zu reinem Wasser besitzt eine etwa 0,9% Lösung von Kochsalz,
das entspricht 9 g NaCl pro Liter Lösung, annähernd die korrekte Osmolari-
tät/Osmolalität. Bei derart verdünnten wässrigen Lösungen können wir übrigens
beide Angaben als etwa gleichwertig ansehen. Die Molarität einer solchen Lösung
beträgt
9
9 g/L NaCl = = 0,154 mol/L.
22,99 + 35,453
Die Lösung ist aufgrund der Dissoziation in 2 Ionensorten daher 0,308 osmolar, was
ungefähr den Verhältnissen im Blutplasma entspricht. Wir nennen diese Lösung
eine isotone oder physiologische Kochsalzlösung.
Eine zu konzentrierte Lösung schließlich würde dazu führen, dass Wasser aus
den Erythrozyten in das gegenüber dem physiologischen Zustand zu konzen-
trierte Blutplasma herausströmt. Die Blutkörperchen würden in einer solchen
hypertonen Lösung zu so genannten Stechapfelformen schrumpfen und eben-
falls ihre Funktionsfähigkeit einbüßen.
Abb. 1.26: Dampfdruckkurve der festen und flüssigen Phase eines reinen Lösungsmittels und einer
Lösung. Die beiden etwas dicker gezeichneten Pfeile zeigen die Absenkung des Schmelzpunktes (FP
steht für „Festpunkt“) und die Erhöhung des Siedepunktes (KP steht für “Kochpunkt“) der Lösung
gegenüber dem reinen Lösungsmittel.
PH 2O
Lösung = x(H2 O) · P
H2 O
Wir lösen 5,00 g Glucose mit der chemischen Formel C6 H12 O6 in 100 g Wasser
mit einer Temperatur von konstant 90 ◦ C. Diese Formel ist übrigens eine so
genannte Bruttoformel, die nur die Zusammensetzung des Glucosemoleküls
aus 6 C-, 12 H- und 6 O-Atomen angibt, uns aber sonst nichts über das Molekül
erzählt. Wir werden später auch andere, viel aussagekräftigere Formelarten
kennen lernen. Der Dampfdruck des Wassers bei dieser Temperatur beträgt
69861 Pa. Wie groß ist der Dampfdruck unserer Glucoselösung?
66 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
• Wir halten fest, dass Glucose nicht so wie Kochsalz in Ionen dissoziiert, son-
dern in einer Glucoselösung befinden sich vollständige Glucosemoleküle.
• Wir berechnen die Molzahl von Glucose: 1 Mol Glucose wiegt 180 g, da
6 · 12 + 12 · 1 + 6 · 16 = 180 ist. Die relativen Atommassen von C, H und O
entnehmen wir wie immer dem Periodensystem der Elemente.
mGlucose 5,00
nGlucose = = = 0,0277
MGlucose 180
• Analog ermitteln wir die Molzahl von Wasser:
mH2 O 100
nH2 O = = = 5,555
MH2 O 18
Der Dampfdruck wurde also um 349 Pa, das sind 0,5% oder 5‰, abgesenkt.
Merke: Eine Lösung zeigt gegenüber dem reinen Lösungsmittel eine Gefrierpunktserniedri-
gung.
Merke: Eine Lösung zeigt gegenüber dem reinen Lösungsmittel eine Siedepunktserhöhung.
Auch diese Änderungen des Schmelzpunktes und des Siedepunktes sind – wie
die osmotischen Phänomene – nur abhängig von der molaren Konzentration der
gelösten Teilchen, jedoch unabhängig von ihrer chemischen Natur und auch ihrer
Ladung.
Die Änderung des Siedepunktes und (experimentell wesentlich bequemer) des
Schmelzpunktes kann man zur Bestimmung der Konzentration gelöster Stoffe
ausnützen. Es gelten folgende Beziehungen:
Gefrierpunktserniedrigung:
n
TFP = · EFP
m(H2 O)
Siedepunktserhöhung:
n
TKP = · EKP
m(H2 O)
EFP und EKP sind für das Lösungsmittel charakteristische Konstanten, die so
genannte molale Gefrierpunktserniedrigung und die molale Siedepunktserhö-
hung. Für Wasser etwa gilt
Anhand zweier Beispiele wollen wir diese für die Praxis wichtigen Beziehungen de-
monstrieren.
Lösen wir 0,1 Mol NaCl in 1 Liter (1 kg) Wasser auf, so zeigt die entstehende
Lösung eine Gefrierpunktserniedrigung von
ihr Schmelzpunkt liegt bei −0,37 ◦ C. Der Faktor 2 berücksichtigt, wie bei der
Osmolalität, die Dissoziation von NaCl in zwei Ionensorten.
Umgekehrt können wir für eine Glucose-Lösung in Wasser, die bei −1,00 ◦ C
friert, die Glucose-Molalität berechnen:
n
TFP = · (−1,86) = −1,00 und
m(H2 O)
n −1,00
[ = = 0,54 mol · kg−1
m(H2 O) −1,86
68 1. Allgemeine Grundlagen stofflicher Systeme
Die Glucose-Konzentration ist also 0,54 molal. Hier ist, wie beim Beispiel
mit der Dampfdruckerniedrigung bereits ausgeführt, keine Dissoziation zu
berücksichtigen, da Glucose in Wasser nicht dissoziiert.
Übrigens, da wir ja bereits wissen, dass 1 Mol Glucose 180 g wiegt, lässt
sich leicht berechnen, wie viel g Glucose unsere 0,54 molale Glucoselösung
pro kg Wasser enthält, nämlich
Merke: Die Osmolalität von Körperflüssigkeiten wird mit dem Osmometer bestimmt, welches
nach diesem Prinzip der Gefrierpunktserniedrigung arbeitet.
Wir können grob drei Gründe benennen, die bei unserem Patienten zu der Hyper-
natriämie, einer viel zu hohen Plasmakonzentration an Na+ -Ionen (168 mmol/L
1
anstelle des Sollwerts von 140 mmol/L) beitragen:
• Die geistige Verwirrtheit lässt ihn Durst nicht ausreichend empfinden.
• Wegen des Fiebers aufgrund der Infektion verliert er mehr Wasser als sonst
durch Verdunstung über die Haut.
• Die Diarrhoe trägt zusätzlich zum Wasserverlust und zum Anstieg der osmotisch
wirksamen Ionen bei, da die Durchfallsflüssigkeit üblicherweise ärmer an Na+ -
Ionen ist als Blutplasma.
Wie können wir abschätzen, wie groß das Wasserdefizit sein muss, damit die
Plasma-Natrium-Konzentration vom Sollwert 140 mmol/L auf den beobachteten
Wert von 168 mmol/L angestiegen ist? Dazu müssen wir wichtige Überlegungen
zum Konzept der Konzentration generell machen:
Merke: Das Produkt aus Konzentration und Volumen ist die Substanzmenge.
n = c V
Wir können davon ausgehen, dass die Natrium-Substanzmenge durch den Was-
serverlust nicht wesentlich berührt wurde, sondern dass die gleiche Substanz-
menge an Na+ -Ionen im Körper des Patienten vorliegt wie vor Auftreten der Pro-
bleme. Mit anderen Worten: Das Produkt der Konzentration der Na+ -Ionen jetzt,
Auflösung zur Fallbeschreibung 1 69
Für unseren Patienten erwarten wir im gesunden Zustand einen Wert für WNormal
von etwa 36 kg. Das sind 60% der Körpermasse von 60 kg. Daher können wir nun
leicht die offenbar zu niedrige Wassermenge in unserem Patienten abschätzen:
140 10
WPatient = · WNormal = · 36 = 30 kg
168 12
Daher beträgt das Wasserdefizit unseres Patienten etwa 6 kg oder 6 Liter.
Um dieses Wasserdefizit von 6 Litern auszugleichen, wobei wir die empfoh-
lene Geschwindigkeit der Absenkung der Hypernatriämie von täglich maximal
12 mmol/L nicht überschreiten wollen, können wir folgende Überlegung anstel-
len:
• Unser Patient hat eine um 28 mmol/L zu hohe Plasma-Natrium-Konzentration.
Daher benötigen wir
28
= 2,33 Tage oder 56 Stunden
12
• Innerhalb dieser Zeit wollen wir dem Patienten 6 Liter Wasser, ungefähr in
stündlichen 100 mL Portionen geben. Dafür würden wir ca. 60 Stunden benö-
tigen.
• Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass der Patient ja weiterhin aufgrund
seines Fiebers und seiner Diarrhoe zusätzlich Wasser verliert; daher ist 150 mL
Wasserzufuhr pro Stunde ein guter Anhaltswert für unser Vorgehen.
• Wenn wir zusätzlich das Defizit an Kalium-Ionen (K+ ) durch Zufügen von
40 mmol/L K+ -Ionen korrigieren wollen, so müssen wir berücksichtigen, dass
K+ -Ionen osmotisch genau gleich wirksam sind wie Na+-Ionen. Unsere Was-
serzufuhr dürfen wir daher nur zu etwa einem Dreiviertel in Rechnung stellen,
da die 40 mmol/L K+ -Ionen ungefähr ein Viertel der Konzentration der Na+ -
Ionen ausmachen. Wir werden dem Patienten daher pro Stunde etwa 200 mL
der K+ -hältigen Lösung zuführen; das sind gerade vier Drittel von 150 mL pro
Stunde und damit korrigieren wir diesen zusätzlichen osmotischen Effekt.
SÄUREN, BASEN UND BLUTGASE
Fallbeschreibung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2
Fallbeschreibung
Eine 45 Jahre alte Frau mit einer Krankengeschichte wegen chronischer Bron-
chitis und Asthma wird in ein Krankenhaus eingeliefert, und in ihrem arteri-
2
ellen Blut werden folgende Befunde ermittelt:
Welche Art von Störung des Säure-Base-Haushalts liegt bei der Patientin vor?
Lehrziele
Dieses Fallbeispiel führt uns in die Chemie der Säuren und Basen sowie der
Blutgase und ihrer Homöostase (Selbstregulation) im menschlichen Orga-
nismus. Viele Detailfragen, insbesondere Einzelheiten der komplexen Rege-
lungsvorgänge, kann erst das Studium der Physiologie und der Pathophysio-
logie klären. Wichtige chemische Grundlagen aber wollen wir erarbeiten.
• Die Chemie von Säuren und Basen zu verstehen, ist unser erstes Anlie-
gen. Ein gutes Verständnis dieses Teilbereichs der Chemie ist nicht nur für
die Biochemie sowie für die Physiologie und Pathophysiologie von zentra-
ler Bedeutung; auch für die Pharmakologie und die Innere Medizin, für
die Diagnostik von Krankheiten ebenso wie für deren Behandlung ist die
sichere Beherrschung der Gesetzmäßigkeiten, die wir hier erlernen wollen,
unabdingbare Voraussetzung.
• Wir werden uns, um uns in der Chemie der Säuren und Basen gut bewe-
gen zu können, auch Grundlagen der Thermodynamik sowie solide und
anwendungsfähige Kenntnisse der Theorie des Chemischen Gleichge-
wichts und des Massenwirkungsgesetzes erarbeiten.
• Wir wollen uns schließlich einen kurzen Überblick über die Blutgaschemie
verschaffen sowie das Zusammenspiel des Säure-Base-Haushalts mit der
Atmung andiskutieren.
Merke: Eine Säure ist eine Substanz, die Wasserstoff-Ionen an geeignete Akzeptorsubstanzen
abgeben kann. Solche Stoffe, die Wasserstoff-Ionen aufnehmen können, werden als
Basen bezeichnet.
Die Brønsted’sche Definition orientiert sich offenbar primär nicht an der konkreten
chemischen Zusammensetzung einer Substanz, sondern an ihren Reaktionsmög-
lichkeiten. Tab. 2.1 listet einige Beispiele auf.
Tab. 2.1: Säuren und ihre konjugierten Basen. Die Namen von amphoteren Substanzen sind kursiv
geschrieben.
Bei der Betrachtung dieser Beispiele fällt auf, dass jede Substanz in der Basen-
Spalte sich von der entsprechenden in der Säure-Spalte jeweils durch das Fehlen
eines Wasserstoff-Ions (H+ -Ions) unterscheidet. Wir bezeichnen solche Stoffpaare
als konjugierte Säure-Base-Paare.
Außerdem enthält die Liste der Säuren und Basen einige Substanzen, die
sowohl als Säure als auch als Base auftreten können (H2 O, HSO−4 ). Solche Stoffe
bezeichnen wir als Ampholyte (amphotere Stoffe).
Merke: Säuren können ihre Wasserstoff-Ionen nur abgeben, wenn Basen anwesend sind, um
die Wasserstoff-Ionen aufzunehmen.
H+ -Ionen sind ja eigentlich Protonen, da sie aus H-Atomen entstehen, denen ihr
einziges Elektron „geraubt“ wird, sodass nur der Atomkern – und der ist bei H
eben nur ein Proton – übrig bleibt. Sie können in normaler Materie nicht längere
Zeit isoliert existieren, weil sie als „nackte“ Atomkerne eine im Vergleich zu „nor-
malen“ Ionen wie Na+ extrem hohe Ladungsdichte besitzen. Die Ladungsdichte
ist das Verhältnis aus Ladung dividiert durch Oberfläche. Protonen haben einen
um 104 bis 105 mal kleineren Radius als Atome oder „normale“ Ionen, die noch
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 75
eine Elektronenhülle haben, und ihre Oberfläche ist daher um den Faktor 108 bis
1010 mal kleiner!
Merke: Für eine vollständige Säure-Base-Reaktion (eine Protolyse) müssen immer zwei kon-
jugierte Säure-Base-Paare (I und II) gekoppelt sein.
HA(SäureI ) + B(BaseII ) A− (BaseI ) + HB+ (SäureII )
HA H+ + A−
Nach Abspaltung bzw. Dissoziation des Protons bleibt ein negativ gelade-
ner Molekülrest A− übrig, der natürlich wiederum ein H+ -Ion aufnehmen
und zu HA zurückreagieren kann. Der Doppelpfeil deutet die prinzipi-
elle Umkehrbarkeit der Reaktion an. Nach der Brønsted’schen Definition
ist A− daher eine Base, und zwar genau die zu HA konjugierte Base.
• Nun sehen wir uns Säure-Base-Paar II an. Hier starten wir mit der Basen-
komponente, die wir mit B bezeichnen wollen. Lassen wir B ein H+ -Ion,
welches von HA abgegeben wurde, aufnehmen:
B + H+ HB+
Aus der Base B entsteht eine Verbindung HB+ , die in der entsprechenden
Umkehrreaktion ein H+ -Ion abgeben kann, und die daher die zu B konju-
gierte Säure darstellt.
• Wenn wir die beiden Teilreaktionen kombinieren, so erhalten wir genau
die oben angegebene chemische Gleichung.
Merke: Eine vollständige Säure-Base-Reaktion ist eine Interaktion von zwei Säure-Base-
Paaren. Eines liefert Protonen, das zweite konsumiert diese.
Wasser besitzt, wie wir gesehen haben, die Fähigkeit, als Säure oder Base auf-
zutreten. Dies müssen wir bei unseren Überlegungen berücksichtigen, und so
wollen wir uns einer weiteren Besonderheit von Wasser zuwenden, der so genann-
ten Autoprotolyse:
Obwohl im Wassermolekül nur kovalente Bindungen vorhanden sind, leitet
selbst reinstes Wasser – allerdings in sehr geringem Aumaß – den elektrischen
Strom. Der amphotere Charakter des Wassers ist dafür verantwortlich. Ein Was-
sermolekül kann als Säure fungieren und an ein weiteres Wassermolekül, das als
Base auftritt, ein Proton übertragen. Dabei entstehen gemäß der Gleichung
H2 O + H2 O H3 O+ + OH−
[H3 O+ ] · [OH− ]
K =
[H2 O]2
In dieser Gleichung taucht der Ausdruck [H2 O]2 auf, der die molare Konzen-
tration von Wasser, zum Quadrat genommen, symbolisiert. Da uns bei unseren
Überlegungen noch öfter die molare Konzentration von Wasser in ähnlichen Glei-
chungen begegnen wird, wollen wir eine wichtige Vereinfachung besprechen.
Wie groß ist eigentlich der Zahlenwert des Ausdrucks [H2 O]? Eckige Konzen-
trationsklammern bedeuten in der Chemie immer „Mol pro Liter“; wir müssen
also nur berechnen, wie viel Mol Wasser ein Liter Wasser enthält. Ein Mol Wasser
wiegt 18 g, ein Liter Wasser wiegt 1000 g. Daher gilt:
1000
[H2 O] = = 55,55̇ M
18
So wie die Dichte von Wasser bei konstanter Temperatur konstant ist, ist auch
dieser Zahlenwert bei konstanter Temperatur eine Konstante und kann in die
Gleichgewichtskonstante miteinbezogen werden. Der resultierende Wert kann
experimentell mit Hilfe von Leitfähigkeitsmessungen bestimmt werden:
Wir haben hier die bewusst mit „K’“ bezeichnete Gleichgewichtskonstante mit der
konstanten Wassermolarität zum Quadrat multipliziert und eine neue, einfachere
Konstante K erhalten. (Im Abschnitt 2.3 „Das Chemische Gleichgewicht“ sind
am Ende einige allgemeine Regeln für die Handhabung des Massenwirkungs-
gesetzes festgehalten; die zweite dieser Regeln haben wir soeben angewandt.)
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 77
Merke: In verdünnten wässrigen Lösungen ist das Ionenprodukt des Wassers nicht nur für
reines Wasser, sondern auch bei Anwesenheit von Säuren und Basen gültig.
Die hier getroffene Aussage ist von außerordentlicher Bedeutung. Sie stellt einen
Spezialfall der allgemeinen Regel dar, der zufolge Gleichgewichtskonstanten
nur von der Temperatur, nicht aber von den Konzentrationen der Reaktionspart-
ner abhängig sind, und sich im Gegenteil die Gleichgewichtskonzentrationen
der Reaktionspartner aus der Gleichgewichtskonstante berechnen lassen (siehe
Abschnitt 2.3 „Das Chemische Gleichgewicht“).
Betrachten wir reines Wasser, so müssen wegen der Autoprotolyse-Reaktion
des Wassers die Konzentrationen der entstehenden Hydronium-Ionen und Hydro-
xid-Ionen exakt gleich groß sein. Für jedes entstehende Hydronium-Ion entsteht
ja genau ein Hydroxid-Ion. Wir können auch sofort berechnen, wie groß diese
Konzentrationen sein müssen:
[H3 O+ ] = [OH− ] = KW = 10−14 = 10−7 mol · L−1
An dieser Stelle wollen wir einen kleinen Exkurs einschieben, der von Bedeutung
für das richtige Verständnis vieler Überlegungen in der modernen Naturwissen-
schaft ist:
Das heißt, von jeweils 555 Millionen Wassermolekülen ist in neutralem Wasser
gerade einmal eines dissoziiert! Würden wir auf einer Buchseite 300 Wasser-
moleküle abbilden, so müssten wir eine Bibliothek mit 3000 Büchern mit je
600 solchen Seiten drucken, um ein einziges Hydronium-Ion unter all diesen
Wassermolekülen zu finden!
78 2. Säuren, Basen und Blutgase
Lösen wir nun eine Säure in Wasser auf, so steigt die Konzentration der Hydro-
nium-Ionen an, da nunmehr die Säuremoleküle Protonen an die Base Wasser über-
tragen:
Jetzt aber kommt die Gleichgewichtskonstante ins Spiel: Wegen des Anstiegs der
Konzentration der Hydronium-Ionen muss die Konzentration der Hydroxid-Ionen
abnehmen, und zwar genau in dem Ausmaß, dass die Gleichgewichtskonstante,
die das Produkt der beiden Ionenkonzentrationen ist, erfüllt ist:
Umgekehrt ist es bei der Auflösung einer Base in Wasser. Da die nun als Säure
fungierenden Wassermoleküle Protonen an die Base übertragen, steigt die Kon-
zentration der Hydroxid-Ionen an:
HCl + H2 O H3 O+ + Cl−
10−14
[OH− ] = = 2,0 · 10−14
0,5
Die Zugabe von HCl hat die Konzentration der Hydroxid-Ionen gegenüber
der Situation in reinem Wasser noch einmal extrem verringert. Entsprechend
unserem obigen Beispiel benötigten wir jetzt 5 Millionen der Bibliotheken mit
jeweils 3000 Büchern, deren je 600 Seiten mit jeweils 300 Wassermolekülen
bedruckt sind, um ein einziges Hydroxid-Ion anzutreffen!
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 79
Der pH-Wert
Auch das Anschreiben von Zehnerpotenzen ist noch recht lästig, und so führen
wir zur weiteren Vereinfachung eine logarithmische Transformation der Konzen-
trationen der Hydronium- und Hydroxid-Ionen durch. Wir definieren:
Merke: Der pH-Wert ist der negative dekadische Logarithmus der Konzentration der
Hydronium-Ionen.
pOH ≡ − lg[OH−]
pH + pOH = pKW = 14
In dieser Form sehen wir die Gegenläufigkeit von pH und pOH sehr schön. Steigt
das pH, so sinkt das pOH, da die Summe der Werte immer 14 ergeben muss.
Merke: • Reines Wasser besitzt ein pH = 7. Also gilt für reines Wasser: pOH = 7.
• Lösungen von Säuren sind durch pH < 7 (und pOH > 7) charakterisiert.
• Lösungen von Basen haben ein pH > 7 (und pOH < 7).
Abb. 2.1 zeigt grafisch den Zusammenhang zwischen pH-Werten und Konzentra-
tionen der Hydronium-Ionen und die Gegenläufigkeit von pH und pOH.
Abb. 2.1: Die Zusammenhänge zwischen dem pH-Wert und der Konzentration der Hydronium-Ionen
(links) und dem pH-Wert und dem pOH-Wert (rechts).
80 2. Säuren, Basen und Blutgase
Merke: Die Basis für die Beurteilung der Stärke einer Säure (Base) ist das chemische Gleich-
gewicht, welches sich bei der Reaktion dieser Säure (Base) mit einer Standard-Base
(Standard-Säure) einstellt.
HA + H2 O H3 O+ + A−
Die Gleichgewichtskonstante dieser Standardreaktion ist ein Maß für die Säure-
stärke. Die Konzentration von H2 O schreiben wir wieder gemäß den Regeln zur
Aufstellung des Massenwirkungsgesetzes nicht explizit an:
H3 O+ · [A− ]
K= ≡ KS
[HA]
pKS = − lgKS
Ganz analog gestaltet sich die mathematische Behandlung der Reaktion einer
beliebigen Base B (die konjugierte Säure ist HB+ ) mit der Standard-Säure H2 O:
B + H2 O HB+ + OH−
Die Gleichgewichtskonstante dieser Standardreaktion ist ein Maß für die Basen-
stärke:
HB+ · [OH−]
K= ≡ KB
[B]
pKB = − lgKB
HA + H2 O H3 O+ + A− und
[H3 O+ ] · [A− ]
KS(HA) =
[HA]
• Zweitens überlegen wir, was mit „Basenkonstante der konjugierten Base A− “
genau gemeint ist. Entsprechend unserer allgemeinen Definition der Basen-
konstante ist das die Gleichgewichtskonstante der Reaktion einer beliebigen
Base mit Wasser. Im speziellen Fall für A− gilt daher:
A− + H2 O HA + OH−
den Nenner mit dem gleichen Faktor. Für diesen Erweiterungsfaktor wählen
wir die Konzentration der Hydronium-Ionen:
Der erste Ausdruck in der geschwungenen Klammer ist aber genau der Kehr-
wert von KS , und das Produkt der beiden noch übrigen Konzentrationen haben
wir bereits als KW kennen gelernt. Daher gilt:
KW
KB(A− ) = oder KS(HA) · KB(A− ) = KW = 10−14
KS(HA)
Das bedeutet:
Merke: Die Stärke einer Säure ist umgekehrt proportional der Stärke ihrer konjugierten Base.
Das Produkt der Säurekonstante der Säure und der Basenkonstante ihrer konjugierten
Base ist gleich dem Ionenprodukt des Wassers.
Bevor wir uns mit diesem wichtigen Resultat weiter beschäftigen werden, wollen
wir den kleinen „Trick“ mit der Erweiterung des Massenwirkungsgesetzes noch
ein wenig genauer studieren. Was haben wir da eigentlich getan?
Wir haben abgeleitet, dass unsere gesuchte Basenkonstante das Produkt des
Kehrwerts der Säurekonstante HA und des Ionenprodukts des Wassers ist. Die
diesen beiden Gleichgewichtkonstanten zugrunde liegenden chemischen Reak-
tionen aber können wir – sozusagen in Umkehrung der Aufstellung des Massen-
wirkungsgesetzes aus Reaktionsgleichungen – leicht ermitteln:
1
• Der Kehrwert der Säurekonstante, also , ist
KS(HA)
1 [HA]
=
KS(HA) [A− ] · [H3 O+]
und repräsentiert die Reaktion (die Konzentration von Wasser taucht ja in der
Gleichgewichtskonstante nicht auf!)
H3 O+ + A− HA + H2 O
Dies aber ist die Umkehrreaktion der Reaktion der Säure mit Wasser. Durch
Einsetzen können wir die Richtigkeit dieser Behauptung leicht verifizieren.
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 83
• Der zweite Faktor, das Ionenprodukt des Wassers, steht für die Reaktion
H2 O + H2 O H3 O+ + OH−
• Nun schreiben wir diese beiden Reaktionen untereinander an und addieren sie
gemäß den Regeln der Algebra:
H3 O+ + A− HA + H2 O (1)
H2 O + H2 O H3 O + OH+ −
(2)
A− + H2 O HA + OH− (3)
Merke: • Wenn wir die Gleichgewichtskonstante einer Reaktion kennen, so kennen wir auch
die Gleichgewichtskonstante der Umkehrreaktion – sie ist einfach der Kehrwert
der ursprünglichen Gleichgewichtskonstante.
• Die Gleichgewichtskonstante einer Reaktion, die sich aus zwei (oder mehreren)
Teilreaktionen zusammensetzt, ist durch das Produkt der Gleichgewichtskon-
stanten aller Teilreaktionen gegeben.
• Wenn es uns also gelingt, eine kompliziertere Reaktion in Teilreaktionen zu „sezie-
ren“, für die die Gleichgewichtskonstanten jeweils bekannt sind, so finden wir die
Gleichgewichtskonstante der Gesamtreaktion einfach durch Produktbildung aller
Teil-Gleichgewichtskonstanten.
Dieses Ergebnis ist sehr wichtig. Es lehrt uns, dass die konjugierte Base einer
starken Säure eine extrem schwache Base ist. Salzsäure etwa (die wässrige Lösung
von Chlorwasserstoff HCl) ist eine sehr starke Säure: KS(HCl) = 1000 = 103 und
pKS(HCl) = −3. Daher ist das Chlorid-Ion Cl− , die zu Chlorwasserstoff konjugierte
Base, extrem schwach, so schwach, dass es mit Wasser überhaupt nicht reagiert
und wässrige Lösungen von Chloriden daher völlig neutral reagieren: pKB(Cl− )
= 14 − pKS(HCl) = 14 − (−3) = 17 und KB(Cl− ) = 10−17 .
Im Gegensatz dazu ist die konjugierte Base einer schwachen Säure eine schwa-
che Base und die konjugierte Base einer sehr schwachen Säure eine starke Base.
Allgemein gilt:
Merke: Je schwächer sauer eine Säure ist, desto stärker basisch ist die dazu konjugierte Base.
Blausäure HCN etwa ist eine sehr schwache Säure mit KS(HCN) = 10−9,4 und
pKS(HCN) = 9,4; die dazu konjugierte Base, das Cyanid-Ion CN− , ist deutlich
basisch: pKB(CN− ) = 14 − pKS(HCN) = 14 − 9,4 = 4,6 und KB(CN− ) = 10−4,6 , das ist sogar
84 2. Säuren, Basen und Blutgase
etwas stärker basisch als die bekannte schwache Base Ammoniak NH3 (pKB(NH3 )
= 4,75).
Tab. 2.2: Wichtige starke Säuren und ihre konjugierten Basen. Wir beachten, dass die Zeilensumme
der Zahlenwerte für pKS und pKB immer gleich 14 ist.
Mittelstarke Säuren: (1 > KS > 10−4,5 bzw 0 < pKS < 4,5)
Tab. 2.3 listet einige wichtige Beispiele für diese Klasse von Säuren auf.
Schwache Säuren:
In dieser Klasse finden sich die meisten organischen und einige anorganische
Säuren. Tab. 2.4 listet wichtige Vertreter auf.
Wir entnehmen dieser exemplarischen Aufstellung einige wichtige allgemeine
Schlussfolgerungen:
• Es gibt Neutralsäuren, Anionsäuren (negativ geladen) und Kationsäuren (posi-
tiv geladen).
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 85
Wir betrachten zuerst die Dissoziation von Säuren. Wir lösen eine einbasige Säure
HA (nur ein Proton kann abgegeben werden) in reinem Wasser. Die Totalkonzen-
tration der Säure (dissoziierter und undissoziierter Teil) bezeichnen wir mit c0S . Das
bedeutet, dass in einem Liter der Lösung c0S Mol der Säure gelöst sind. Sofort nach
dem Auflösen – Protonenübertragungsreaktionen gehören zu den allerschnells-
86 2. Säuren, Basen und Blutgase
HA + H2 O A− + H3 O+
Tab. 2.5: Tabelle zur Berechnung des pH-Werts einer starken Säure.
(c0S − x) · (c0S − x)
KS =
x
Wenn wir diesen Ausdruck nach x auflösen, so erhalten wir eine quadratische
Gleichung. Allerdings können wir uns durch geschickte Wahl der Unbekannten
x die exakte Auflösung der quadratischen Gleichung ersparen. Wir berücksichti-
gen, dass eine starke Säure in Wasser praktisch vollständig in Ionen dissoziiert
ist, dass also die Konzentration x der im Gleichgewicht noch vorliegenden undis-
soziierten HA-Moleküle sehr viel kleiner sein muss als die Totalkonzentration der
Säure:
x c0S
(c0S − x) ≈ c0S
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 87
Merke: Bei der Dissoziation einer starken einbasigen Säure ist die Konzentration der konju-
gierten Base im chemischen Gleichgewicht praktisch gleich der Totalkonzentration
der Säure.
[H3 O+ ] = [A− ] c0S
Das pH der Lösung ist also gegeben durch den negativen dekadischen Logarith-
mus der Totalkonzentration der Säure:
pH ≈ − lgc0S
(c0S )2
x≈
KS
Wir berechnen das pH einer 0,01 M Lösung der sehr starken Säure Chlorwas-
serstoff HCl (KS = 1000):
pH ≈ − lgc0S = − lg10−2 = 2
und
(c0S )2 (10−2 )2
x≈ = = 10−7
KS 103
Die Konzentration x der undissoziierten HCl-Moleküle im Gleichgewicht, ver-
glichen mit der Totalkonzentration von 0,01 M, ist also tatsächlich winzig. Das
Verhältnis der beiden Konzentrationen beträgt mit
x 10−7
= = 10−5
c0S 10−2
nur Eins zu Hunderttausend. Dies rechtfertigt die gemachte Näherung im
Nachhinein sehr gut.
Lösen wir für dieses Beispiel übrigens die quadratische Gleichung exakt, so
erhalten wir dasselbe Ergebnis. Die Übereinstimmung zwischen angenäher-
tem und exaktem Ergebnis ist so exzellent, weil die gemachte Voraussetzung
der vollständigen Dissoziationbei der sehr starken Säure HCl wirklich zutrifft.
Dieselbe Vereinfachung ist auch zulässig, wenn man sich für das pH einer Lösung
einer starken Base interessiert. Auch hier kann vollständige Dissoziation voraus-
88 2. Säuren, Basen und Blutgase
gesetzt werden. Das Rezept zur Berechnung des pH-Wertes einer starken Base,
in Wasser gelöst, lautet:
• Ersetze die Totalkonzentration der Säure, c0S , durch die Totalkonzentration der
Base, c0B .
• Berücksichtige die Relation:
pH + pOH = 14
Dann folgt in diesem Fall für das pOH die einfache Beziehung:
Wir berechnen das pH einer Lösung von 0,001 Mol der sehr starken Base
Natriumhydroxid NaOH in Wasser in einem Liter Wasser:
Tab. 2.6: Tabelle zur Berechnung des pH-Werts einer schwachen Säure.
x c0S
c0S − x ≈ c0S
Merke: Bei der Dissoziation einer schwachen einbasigen Säure kann man die Gleichge-
wichtskonzentration der undissoziierten Säuremoleküle HA näherungsweise gleich
der Totalkonzentration der Säure setzen.
x2
KS ≈
c0S
und somit ergibt sich für die Konzentration der H3 O+ -Ionen und ebenso für die
Konzentration der konjugierten Base A− :
x ≈ KS · c0S
subtraktiven Termen, niemals aber, wenn x als Faktor in einer Multiplikation oder
als Divisor oder Dividend in einer Division auftritt.
und es gilt:
pKS = 4,75
KS · (c0S − x) = x2
x2 + KS · x − KS · c0S = 0
KS KS2 + 4 · KS · c0S
x1,2 = − ±
2 4
Das negative Ergebnis interessiert uns nicht, da negative Konzentrationen
physikalisch sinnlos sind, und so erhalten wir:
+ 10−4,75 (10−4,75 )2 + 4 · 10−4,75 · 10−2
x = [H3 O ] = − + = 0,000413
2 4
pH = − lg0,000413 = 3,384
Die Näherung ist also ausgezeichnet; die Differenz beträgt nur 0,009 pH-
Einheiten!
Merke: Das pH einer Lösung einer schwachen Säure ist größer (die Konzentration der
Hydronium-Ionen daher dementsprechend kleiner) als bei einer gleich konzentrierten
Lösung einer starken Säure.
Säuren mit pKS < 0 können bei üblicherweise verwendeten Konzentrationen für
diese pH-Berechnungen als starke Säuren angesehen werden; Säuren mit pKS > 3
hingegen als schwache.
Bei sehr verdünnten Säuren stimmen die angegebenen Bereiche nicht sehr
gut. Die Näherung der starken Säure ist umso besser, je kleiner der pKS -Wert ist,
die Näherungsformel für schwache Säure stimmt umso genauer, je größer pKS
ist. Etwas präziser können wir zur Abhängigkeit des Gültigkeitsbereiches der
gezeigten Näherungen von der Totalkonzentration der Säure c0S festhalten, dass
die Näherungsformeln vom exakten Ergebnis merklich abweichen, wenn die Säu-
restärke im Bereich pKS = − lgc0S ±1 liegt. In diesem Bereich sollte die quadratische
Gleichung exakt gelöst werden. Bei kleineren Werten sollte die Formel für starke
Säuren verwenden werden, bei größeren die für schwache Säuren.
Wir wollen das pH einer Lösung einer schwachen Base in Wasser berechnen.
Auch hier können wir die Analogie mit den entsprechenden schwachen Säu-
ren vorteilhaft ausnützen:
92 2. Säuren, Basen und Blutgase
Wir ersetzen
• pH durch pOH
• pKS durch pKB
• c0S durch c0B .
So finden wir für eine 0,001 M Lösung der Base Ammoniak (pKB = 4,75) fol-
gendes Ergebnis:
1 4,75 − lg10−3 4,75 + 3
pOH = · (pKB − lgc0B ) = = = 3,875
2 2 2
und daher:
Merke: Das pH einer Lösung einer schwachen Base ist kleiner (die Konzentration der
Hydronium-Ionen daher dementsprechend größer) als bei einer gleich konzentrierten
Lösung einer starken Base.
Das folgende Beispiel zeigt, dass diese Vermutungen auch tatsächlich korrekt sind.
Wir finden also wirklich eine schwach basische Reaktion der Lösung von
Natriumacetat.
Merke: • Lösungen von Salzen schwacher Säuren mit starken Basen, wie zum Beispiel
Natriumacetat NaOAc als Salz der schwachen Essigsäure HOAc mit der starken
Base Natriumhydroxid NaOH, reagieren in wässriger Lösung schwach basisch.
• Lösungen von Salzen schwacher Basen mit starken Säuren, etwa Ammonium-
chlorid als Salz der schwachen Base Ammoniak mit der starken Säure Chlorwas-
serstoff HCl, reagieren in wässriger Lösung schwach sauer.
• Salze starker Säuren mit starken Basen, etwa Kochsalz NaCl als Salz der starken
Säure Chlorwasserstoff HCl mit der starken Base Natriumhydroxid NaOH, reagie-
ren in wässriger Lösung neutral.
Wir lassen eine Säure HX mit bekannter Säurestärke KS(HX) mit einer Base B mit
ebenfalls bekannter Basenstärke KB(B) reagieren und wollen die Gleichgewichts-
konstante für diese Reaktion ermitteln. Zuerst schreiben wir die Reaktion an:
HX + B X− + HB+
Diese Reaktion wollen wir jetzt „sezieren“, indem wir die Reaktionen der Säure
und der Base mit Wasser mitberücksichtigen. Das Vorgehen ist ganz ähnlich wie
oben, wo wir uns für die Basenstärke der konjugierten Base einer Säure interes-
sierten, deren Säurestärke wir kennen:
HX + H2 O H3 O+ + X− (1)
−
B + H2 O HB + OH
+
(2)
94 2. Säuren, Basen und Blutgase
Wenn wir diese drei Reaktionen gemäß den Regeln der Algebra addieren, so
erhalten wir gerade die gesuchte Reaktionsgleichung. Da wir auch für alle
drei Teilreaktionen die Gleichgewichtskonstanten kennen, können wir sofort die
Gleichgewichtskonstante für die gesuchte Reaktion der Säure HX mit der Base B
hinschreiben:
1
K = KS(HX) · KB(B) ·
KW
Merke: Die Gleichgewichtskonstante für die Reaktion einer Säure mit einer Base ist das
Produkt der Säurekonstante mit der Basenkonstante, dividiert durch das Ionenprodukt
des Wassers.
Bemerkenswert ist, dass wegen des sehr hohen Zahlenwerts des Kehrwerts
des Ionenprodukts des Wassers, also der Zahl 10+14 , auch Reaktionen zwischen
schwachen Säuren und Basen eine hohe Gleichgewichtskonstante haben, also
praktisch quantitativ verlaufen.
Puffersysteme
Merke: Wir kommen jetzt nach ausführlicher Diskussion der Grundlagen der Säure-Base-
Reaktionen zu einem ganz besonders wichtigen und für viele medizinischen Diszi-
plinen außerordentlich bedeutsamen Kapitel: Wie können wir – etwa für eine emp-
findliche Untersuchung – das pH einer Lösung auf einen gewünschten Wert bringen
und selbst dann möglichst konstant halten, wenn während unserer Arbeit Säure oder
Base entstehen sollte. Und noch viel spannender: Wie gelingt diese Aufgabe unseren
Zellen oder auch unserem Körper, wo auf der einen Seite ständig durch den Stoff-
wechsel Protonen erzeugt werden und auf der anderen Seite viele Reaktionen im
Körper extrem pH-empfindlich sind?
Wir haben uns bisher dafür interessiert, wie sich Säuren oder Basen beim Auf-
lösen in Wasser verhalten. Jetzt wollen wir studieren, wie sich Mischungen einer
schwachen Säure und ihrer konjugierten Base verhalten.
Als ersten Schritt berechnen wir den pH-Wert, der sich einstellt, wenn wir in
einem Liter Wasser c0S Mol einer schwachen Säure HA mit einer Säurekonstanten
KS und c0B Mol der konjugierten Base A− ebendieser Säure auflösen. Nachdem
ein chemisches Gleichgewicht grundsätzlich unabhängig von den Konzentratio-
nen ist, die aktuell im Spiel sind, gilt die uns schon bestens vertraute Gleichung
auch hier:
[H3 O+ ] · [A− ]
KS =
[HA]
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 95
Wir haben oben gesehen, dass eine schwache Säure wie Essigsäure in Was-
ser so schwach dissoziiert, dass wir durchaus die Näherung machen dürfen,
die Gleichgewichtskonzentration der schwachen Säure praktisch gleich ihrer
Totalkonzentration zu setzen. Dieses Argument der geringen Dissoziation gilt im
gegenwärtigen Fall natürlich noch stärker, da die bereits vorhandenen A− -Ionen
die Dissoziation
HA + H2 O A− + H3 O+
nach dem Prinzip des kleinsten Zwanges (siehe Abschnitt 2.4 „Das Chemische
Gleichgewicht“) behindern und die Dissoziation der Säure noch schwächer aus-
fällt als in reinem Wasser. Da bereits A− -Ionen vorhanden sind, wird das Gleich-
gewicht „auf die Seite der Ausgangsstoffe verschoben“; die bereits vorhandenen
A− -Ionen erhöhen die Geschwindigkeit der Rückreaktion. Daher dürfen wir in
ausgezeichneter Näherung schreiben:
KS · c0S
lg = lgx = lg[H3 O+ ] bzw.
c0B
c0S
− lg [H3 O+ ] = − lgKS − lg und schließlich:
c0B
c0S c0B
pH = pKS − lg = pKS + lg
c0B c0S
Merke: • Eine Mischung aus einer schwachen Säure mit ihrer konjugierten Base nennen
wir Puffersystem oder kurz Puffer.
• Der pH-Wert eines Puffers wird in allererster Linie durch die Säurekonstante der
Säurekomponente des Puffers bestimmt.
• Äquimolare Puffer, das sind Puffersysteme mit einem 1:1 Verhältnis der Kon-
zentrationen der Säure- und der Basenkomponente, haben einen pH-Wert, der
numerisch exakt dem pKS-Wert entspricht.
• Weicht das Konzentrationsverhältnis der Puffersäure und -base von 1 ab, so ändert
sich der pH-Wert des Puffers nur um einen durch die Logarithmusfunktion klein
gehaltenen Korrekturterm, der durch den Quotienten der Konzentrationen der
c0
Pufferkomponenten bestimmt wird, also lg B0 .
cS
Wir wollen das Verständnis dieser für die Chemie und Biochemie des Lebens außer-
ordentlich wichtigen Wirkung anhand einiger Beispielsrechnungen erarbeiten:
• Zuerst berechnen wir, wie sich das pH ändert, wenn wir zu einem Liter
Wasser 0,01 Mol Salzsäure HCl (das sind 0,364 g HCl) zusetzen. Die Ant-
wort ist einfach: Wasser besitzt ein pH = 7, eine 0,01 M Lösung von HCl
(starke Säure!) hat ein pH = 2, und somit ändert sich das pH der Lösung um
5 Einheiten (7 → 2). Es ist nützlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass
mit dieser pH-Absenkung ein Anstieg der Konzentration der [H3 O+ ]-Ionen
um den Faktor 105 ,also auf das Hunderttausendfache (!), einher geht.
• Wie groß aber ist die entsprechende pH-Änderung, wenn wir dieselbe
Menge an HCl (0,01 Mol) zu einem Liter einer Pufferlösung hinzufügen,
die 0,1 molar an Essigsäure und 0,1 molar an Natriumacetat ist?
Aufgrund der Henderson-Hasselbalch-Gleichung wissen wir auch ohne
Rechnung, dass dieser Puffer vor der HCl-Zugabe ein pH = 4,75 besitzt,
da der pKS von Essigsäure gerade 4,75 ist.
Folgende Überlegung hilft uns, die Änderungen aufgrund der HCl-Zugabe
berechnen zu können: Säuren sind ja definiert als Protonendonatoren, die
Protonen an Basen, also an Protonenakzeptoren, übertragen. Welche Base
aber ist in dem Puffersystem primär enthalten? Natürlich die Basenkompo-
nente des Puffers, also die Acetat-Ionen. Wassermoleküle sind wegen des
amphoteren Charakters von Wasser prinzipiell zwar auch Basen; sie sind
aber viel, viel schwächere Basen als Acetat-Ionen und daher vernachlässig-
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 97
bar. Die starke Säure HCl reagiert daher praktisch vollständig mit der kon-
jugierten Base Acetat, wobei undissoziierte Essigsäure und Chlorid-Ionen
entstehen:
Somit sinkt die Konzentration der Acetat-Ionen von 0,1 M um 0,01 M auf
0,09 M. Dann ist die zugesetzte HCl-Menge von 0,01 M vollständig ver-
braucht. Die Essigsäurekonzentration ist durch diese Reaktion von 0,1 M
um 0,01 M auf 0,11 M gestiegen. Das pH berechnet sich nach der Henderson-
Hasselbalch’schen Formel dann zu:
c0B 0,09
pH = pKS + lg = 4,75 + lg = 4,66
c0S 0,11
Abb. 2.3: Das Dissoziationsverhalten von Essigsäure. Totalkonzentration der Essigsäure: 0,1 mol/L;
pKS = 4;75.
Abb. 2.4: Relative Anteile von undissoziierter Essigsäure und Acetat-Ionen in einem Essigsäure-
Acetat-Puffer in Abhängigkeit vom pH-Wert. Bei einem pH-Wert von 4,75 liegt der Puffer in äqui-
molarer Form vor; Zusatz von Salzsäure oder Natronlauge bewirkt eine Verschiebung in der ange-
gebenen Richtung. Das Rechteck um den zentralen Punkt der Kurve bezeichnet den Pufferbereich.
der konjugierten Base bzw. mit den pH-Änderungen im Gefolge von Zusätzen
von starker Säure oder starker Base.
Wir beachten, dass Abb. 2.4 zwei Abszissenbeschriftungen besitzt, nämlich den
Prozentanteil an Essigsäure und gegenläufig den Prozentanteil an Acetat-Ionen.
Wir starten unsere Überlegungen beim äquimolaren Puffer, also einem Anteil
beider Komponenten von je 50%. Hier ist das pH zahlenmäßig genau gleich dem
pKS = 4,75, im Bild durch den zentralen Punkt der Kurve repräsentiert.
Nun überlegen wir uns, was beim Zusatz von HCl passieren muss. Die starke
Säure überführt einen Teil der Acetat-Ionen in Essigsäure; wir bewegen uns im
2.1 Die Chemie von Säuren und Basen 99
Diagramm also nach rechts. Wir sehen, dass wir über einen relativ weiten Bereich
kaum eine pH-Änderung haben. Erst bei einem Anteil Essigsäure von ungefähr
90% ist der pH-Wert um eine pH-Einheit auf den Wert pKS − 1 = 3,75 abgesunken.
Jetzt begreifen wir die minimale pH-Änderung von 0,09 pH-Einheiten in unserem
obigen Berechnungsbeispiel besser.
Was passiert, wenn wir nicht HCl zusetzen, sondern NaOH?
Die starke Base überführt einen Teil der Essigsäuremoleküle in Acetat-Ionen;
wir bewegen uns im Diagramm also nach links. Nun gilt symmetrisch dasselbe
wie oben. Erst bei einem Anteil Acetat-Ionen von ungefähr 90% ist der pH-Wert
um eine pH-Einheit auf den Wert pKS + 1 = 5,75 angestiegen.
Der Bereich von 10 % bis 90 % wird als Pufferbereich bezeichnet; erst wenn
wir diesen Bereich durch übermäßigen Säurezusatz über- oder durch Basenzusatz
unterschreiten, wird die pH-Kurve viel steiler, und die Pufferwirkung ist nicht
mehr gegeben.
Den Pufferbereich von 10 % bis 90 % können wir auch durch das Verhältnis
[HA] 1 10
[A ] ausdrücken; dieses darf näherungsweise zwischen 10 und 1 variieren. Aus
−
unserem Diagramm können wir ablesen, dass der Pufferbereich auf der pH-Achse
im Bereich zwischen pKS − 1 und pKS + 1 liegt.
Bei Zusatz einer starken Säure puffert das System Essigsäure / Acetat bis zu
einem pH von etwa 3,75. Wenn noch mehr Säure zugesetzt wird, verliert der Puffer
seine Wirksamkeit und das pH sinkt sehr steil ab. Bei Zusatz einer starken Base
hingegen ist bis zu einem pH von etwa 5,75 die Pufferwirkung gegeben. Darüber
verliert der Puffer seine Wirksamkeit und das pH steigt sehr rasch an.
Wie viel starke Säure oder starke Base einem Puffer zugesetzt werden darf, die
so genannte Pufferkapazität, hängt primär von den Konzentrationen der Puffer-
komponenten ab. Ist ein Puffer 1 M an Säure und 1 M an konjugierter Base, so
ist seine Pufferkapazität natürlich größer als bei einem Puffer, der nur 0,01 M an
Säure und 0,01 M an Base ist. Der pH-Wert des Puffers aber ist in beiden Fällen
gleich dem pKS -Wert der Säure, da das Verhältnis von Säure zu konjugierter Base
jeweils 1 beträgt.
Sehr genau reguliert ist das pH des Blutes, welches im schwach alkalischen
Bereich liegt und nur zwischen 7,35 und 7,45 schwanken darf. Dies entspricht
einer Hydronium-Ionenkonzentration von 40 nmol/l. Eine Abweichung in den
sauren Bereich (niedrigeres pH) wird als Acidose bezeichnet; steigt das pH über
den angegebenen oberen Wert an, so spricht man von einer Alkalose (siehe
Abschnitt 2.4 „Der Säure-Base-Haushalt des Menschen“).
H2 CO3 H2 O + CO2
Damit ist über eine schnellere oder langsamere Atmung eine sehr rasche
Regulierung des Blut-pH möglich (siehe Abschnitt 2.4 „Der Säure-Base-
Haushalt des Menschen“).
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 101
3. Proteine/Proteinanionen:
Den größten Anteil an der Pufferkapazität machen die Eiweißkörper des
Blutes aus: Erythrozytenproteine (80%) und Serumproteine (13%). Ihre Puf-
ferwirkung beruht darauf, dass sie freie Carboxylgruppen und/oder Amino-
gruppen tragen, die als schwache Säuren bzw. schwache Basen fungieren.
Diese funktionellen Gruppen liegen bei physiologischem pH hauptsächlich
als Carboxylat-Anionen bzw. Ammonium-Kationen ionisiert vor und bilden
somit wirkungsvolle Puffermischungen (siehe Kapitel 8, Abschnitt 1 „Amino-
säuren, Peptide und Proteine“).
Die Thermodynamik wurde im 19. Jahrhundert, noch deutlich vor der experimen-
tellen Bestätigung des Aufbaues der Materie aus kleinsten Teilchen, entwickelt
und bereits zu sehr hoher Blüte ausgebaut.
Im Zuge des zunehmenden Wissens über den Mikrokosmos am Ende des 19.
und insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine Syn-
these der klassischen Thermodynamik mit den neuen Theorien der Atome und
Moleküle entwickelt, die Statistische Thermodynamik, die wir aber nicht weiter
behandeln wollen.
Warum Thermodynamik?
Warum müssen wir uns im Rahmen der Chemie in der Medizin mit Thermodyna-
mik befassen? Ist das nicht nur eine Theorie, die für Techniker und Konstrukteure
von Gefrierschränken, Wärmekraftmaschinen oder Automotoren interessant ist?
Hat diese Theorie für das so subtile Geschehen in einer lebenden Zelle denn
irgendwelche Bedeutung?
102 2. Säuren, Basen und Blutgase
Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig „Ja!“: Die Thermodynamik bildet die
theoretische Grundlage für die quantitative Beschreibung der Energetik – also der
auftretenden Energieumsätze – chemischer wie biochemischer Reaktionen. Sie
erklärt, warum gewisse Reaktionen spontan oder nicht spontan, vollständig oder
nur teilweise ablaufen, und sie ist absolut unumgänglich, wenn wir verstehen
wollen, woher eine Zelle oder ein Organ oder auch ein Mensch seine Energie
bezieht und wofür diese Energie genutzt werden kann.
Die Thermodynamik gestattet auch, wie wir sehen werden, die Berechnung
des so genannten Chemischen Gleichgewichtszustandes, bei dem makroskopisch
keine weitere stoffliche Änderung eines Systems mehr stattfindet. Die daraus
resultierenden Gesetzmäßigkeiten werden uns entscheidend helfen, uns in der
verwirrenden Vielfalt chemischer und biochemischer Reaktionen zurechtzufin-
den, wichtige und immer wieder vorkommende Reaktionstypen klassifizieren zu
können und für diese die wesentlichen Regelmäßigkeiten herauszuarbeiten und
zu verstehen.
Thermodynamische Systeme
Ein zentraler Begriff der Thermodynamik ist der eines Systems. Dies ist ein Reakti-
onsraum, der von seiner Umgebung durch reale oder gedachte Wände abgegrenzt
ist und bei dem nur kontrollierte Einflüsse der Umgebung zulässig sind (Abb. 2.6).
Abb. 2.6: Schematische Darstellung der drei Arten von thermodynamischen Systemen. Die Pfeile
bezeichnen den Austausch von Energie (E) und/oder Materie (M) zwischen dem System und der
Umgebung.
konstant, so ist das System isotherm. In offenen Systemen kann sowohl Energie
als auch Materie mit der Umgebung ausgetauscht werden: Lebende Zellen, aber
auch lebende Organismen insgesamt sind gute Beispiele für offene Systeme.
Zustandsfunktionen
In der Thermodynamik bemühen wir uns um eine quantitative Beschreibung von
Zusammenhängen empirisch gefundener Eigenschaften, die den Zustand eines
Systems charakterisieren.
Systemeigenschaften, die den augenblicklichen Zustand des entsprechenden
Systems eindeutig charakterisieren, nennen wir Zustandsfunktionen, Zustands-
variablen oder Zustandsgrößen. Beispiele dafür sind Druck, Temperatur, Volu-
men, Konzentrationen der Systemkomponenten. Nur solche Systemeigenschaf-
ten sind Zustandsfunktionen, deren Wert nicht davon abhängig ist, auf welchem
Weg das System den jeweiligen Zustand erreicht hat.
Ein wichtiges Beispiel für Zustandsfunktionen und eine kompakte naturgesetz-
liche Beschreibung ihrer Zusammenhänge durch eine Zustandsgleichung ist die
Ideale Gasgleichung (siehe Kapitel 1, Abschnitt 9 „Gase“):
P·V = n·R·T
Wir haben hier vier Zustandsvariablen, nämlich den Druck P, das Volumen V, die
Stoffmenge n und die absolute Temperatur T, die über die wichtige Naturkon-
stante R (die Allgemeine Gaskonstante) miteinander verknüpft sind.
Wir können Zustandsfunktionen in zwei Gruppen ordnen:
Intensive Zustandsfunktionen hängen nicht von der Größe des betrachteten Sys-
tems ab. Beispiele sind Druck, Dichte, Temperatur, aber auch die Konzentration
einer Lösung. Isotone Kochsalzlösung ist 0,154 molar; egal, ob wir 1 mL oder 100 L
davon untersuchen. Wenn wir ein ideales Gas bei bestimmten äußeren Bedingun-
gen betrachten, so sind seine intensiven Zustandsfunktionen nicht nur dem Gas
als ganzes zu eigen. Wir finden dieselben Werte für Druck, Dichte und Temperatur
in jedem beliebigen Teilvolumen des betrachteten Gases.
Extensive Größen dagegen hängen in erster Linie von der Größe des betrachteten
Systems ab. Beispiele sind Volumen, Wärmeinhalt, Stoffmenge, innere Energie,
Masse. Das Volumen von 10 mol eines idealen Gases beträgt das Zehnfache des
Volumens, welches 1 mol des Gases bei gleichen Bedingungen der Temperatur
und des Druckes einnimmt.
Eine zentrale Rolle in dem für uns interessanten Teil der Thermodynamik spielen
energetische Zustandsfunktionen. Wir benötigen diese zur quantitativen Erfas-
sung der Energieänderungen, zum Beispiel im Verlauf einer chemischen Reak-
tion.
Die Menschheit hat im Verlauf der Jahrtausende wichtige Erfahrungen über
das Verhalten der Natur zusammengetragen, und aus all diesem Wissen wurden
durch die Thermodynamik einige ganz zentrale Erfahrungssätze „herausdestil-
liert“, die sich als überaus fruchtbar erwiesen haben, die so genannten Hauptsätze
104 2. Säuren, Basen und Blutgase
U = Q + W
Merke: Die von einem geschlossenen System mit der Umgebung ausgetauschte Summe von
Wärme und Arbeit ist gleich der Änderung der inneren Energie des Systems.
Für diesen aus der Erfahrung gewonnenen Satz gibt es mehrere andere Formu-
lierungen, die dasselbe aussagen:
• Es ist unmöglich, eine Maschine zu konstruieren, die ohne Energiezufuhr kon-
tinuierlich Arbeitsleistung erzeugt (Satz von der Unmöglichkeit eines Perpe-
tuum mobile 1. Art).
• In einem geschlossenen System bleibt die Summe aller Energieformen kon-
stant: Energie kann nicht vernichtet oder neu erschaffen werden (Energie-
erhaltungssatz).
Ein wichtiger Hinweis: Die klassische Thermodynamik hat keine Möglichkeit,
die Innere Energie eines Systems, etwa eines Gases oder einer Lösung, absolut
zu bestimmen. Alles, worüber sie Auskunft geben kann, sind Änderungen die-
ses Energiegehalts; darüber allerdings kann sie sehr exakte und klare Aussagen
treffen. Die oben angesprochene Statistische Thermodynamik geht hier weiter
und versucht – unter Zuhilfenahme komplizierter theoretischer Konzepte wie der
Quantenmechanik – die Innere Energie eines Systems zu berechnen. Die gute
Nachricht: Wir kommen für unsere Zwecke sehr gut mit der klassischen Thermo-
dynamik aus!
Wichtig bei allen thermodynamischen Betrachtungen ist die bereits bespro-
chene systemozentrische Vorzeichengebung. Wenn man dem System Wärme
zuführt oder Arbeit am System verrichtet, so sind Q, W und U positiv. Wenn das
System Wärme an die Umgebung abgibt oder Arbeit an der Umgebung leistet, so
sind diese Größen negativ.
Wärme und Arbeit sind keine Zustandsfunktionen. Je nachdem nämlich, wie
wir einen bestimmten Prozess lenken, kann mehr Arbeit oder mehr Wärme umge-
setzt werden. Stellen Sie sich beispielsweise ein besonders ungeschickt konstru-
iertes Auto vor, bei dem in den Lagern, die die Achse fixieren, sehr große Rei-
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 105
bungskräfte auftreten. Dann wird von der Energie, die durch die Verbrennung
des Kraftstoffes gewonnen wird, sehr viel als Reibungswärme verloren gehen und
nur ein kleiner Teil für die mechanische Arbeit, nämlich die Bewegung des Autos,
nutzbar sein.
In der Chemie tritt Arbeit meist in Form von Volumsarbeit oder elektri-
scher Arbeit auf. Volumsarbeit ist gleich dem negativ genommenen Produkt aus
Volumsänderung V und Druck P:
W = −P · V
Sie tritt insbesondere bei Reaktionen auf, an denen Gase beteiligt sind.
U = QV , wenn V = const.
QV ist die bei konstantem Volumen umgesetzte Wärme. Im Gegensatz zum Wär-
meumsatz bei einer beliebigen Prozessführung, wo sich sowohl Druck als auch
Volumen ändern können, ist QV eine Zustandsfunktion, ebenso wie U. Wir kön-
nen das Ergebnis auch so formulieren:
Merke: Bei einer chemischen Reaktion ohne Volumsänderung ist die umgesetzte Wärme ein
Maß für die Änderung der inneren Energie.
Chemische Reaktionen spielen sich aber meist bei konstantem Druck ab. Dann
lautet der erste Hauptsatz:
U = QP − P · V
H ≡ U+P·V
Bei konstantem Druck erhält man also für die Änderung der Enthalpie
H = U + P · V = QP
Merke: Bei einer unter konstantem Druck verlaufenden chemischen Reaktion ist der auftre-
tende Wärmeumsatz ein Maß für die Änderung der Enthalpie des Systems.
106 2. Säuren, Basen und Blutgase
Abb. 2.7: Der Kreislauf der Lebensenergie. Im Prozess der Photosynthese werden die leicht verfüg-
baren Substanzen Wasser und Kohlendioxid unter Verwendung von Sonnenenergie (E) zu molekularem
Sauerstoff und komplexen organischen Molekülen wie Zucker umgewandelt. Im Prozess der Zellatmung
wird der Prozess umgekehrt; durch Oxidation der organischen Moleküle mit Hilfe von Sauerstoff
werden wieder Wasser und Kohlendioxid erzeugt. Die freigesetzte Energie steht der Zelle zur Verfügung.
Ist das nicht sehr theoretisch und technisch? Müssen wir uns mit solchen Über-
legungen wirklich „herumschlagen“?
Merke: Ein Verständnis der Lebensvorgänge – im Großen ebenso wie im Kleinen – ohne
Betrachtung der umgesetzten Energieänderungen ist schlechterdings nicht möglich!
der Konstanz des Drucks anstelle der inneren Energieänderungen stets Enthal-
pieänderungen betrachten.
Lassen Sie sich durch den Begriff „Enthalpieänderung“ bitte nicht verwirren.
Es ist einfach ein Name für eine ganz spezielle Form von Energieänderung, näm-
lich eine Energieänderung unter konstanten Druckbedingungen. Der Vorteil die-
ser Zustandsgröße ist, dass sie einfach als Wärmeaufnahme oder -abgabe im Zuge
der Reaktion messbar ist.
Je nachdem, ob bei einer chemischen Reaktion die Enthalpieänderung negativ
oder positiv ist, bezeichnen wir Reaktionen als exotherm (H < 0, das System gibt
Enthalpie an die Umgebung ab) oder endotherm (H > 0; das System nimmt aus
der Umgebung Enthalpie auf).
Nochmals zurück zur schematischen Abbildung des Energieflusses von der
Sonne über die autotrophen zu den heterotrophen Organismen: Bei der Photo-
synthese wird Energie aus dem Sonnenlicht aufgenommen, damit der Aufbau
der energiereichen organischen Verbindungen gelingt (H > 0; endotherm); der
Abbau dieser Verbindungen mit Hilfe des Sauerstoffs im Prozess der Zellatmung
hingegen liefert Energie (H < 0; exotherm).
Thermochemie
Da die Enthalpien der Ausgangsstoffe und der Endprodukte und gleichermaßen
die Reaktionsenthalpien vom Druck und der Temperatur abhängen, geben wir
sie – um sie vergleichbar zu machen – für einen Standardzustand an.
Merke: Als Standardzustand wählt man bei Gasen den idealen Zustand, bei Flüssigkeiten und
Feststoffen den Zustand der reinen Phase, und zwar bei einem Druck von 1,01325 bar
(101325 Pa, alte Einheit 1 atm) und einer definierten Temperatur (meistens 25 ı C
= 298 K).
H0298
Der Index 298 gibt die gewählte Temperatur [in K] an. Für viele chemische Reak-
tionen sind solche Werte bekannt und in Tabellenwerken verfügbar. Da die Ent-
halpie eine extensive Größe ist, beziehen wir uns immer auf die Bildung von 1 Mol
Endprodukt (molare Bildungsenthalpien).
Ein wichtiger Spezialfall ist die so genannte Standardbildungsenthalpie. Diese
Größe gibt an, wie groß die Enthalpieänderung bei der Bildung von 1 mol der
Substanz aus ihren Elementen unter Standardbedingungen ist.
Wir wollen uns ein einfaches Beispiel ansehen, welches für unsere Zwecke
sehr geeignet ist. Wir können die lebenswichtige Erzeugung von Energie in
unseren Zellen nämlich – ungeachtet der tatsächlichen Komplexität – ganz grob
zusammenfassend als eine sehr einfache Reaktion betrachten, nämlich die Umset-
zung von Wasserstoff mit Sauerstoff zu Wasser („Verbrennung“ des Wasserstoffs,
108 2. Säuren, Basen und Blutgase
(Die tiefgestellten Indices (g) und (l) geben den Aggregatzustand an: „g“ steht
für „gaseous“ oder „gasförmig“, „l“ hingegen für „liquid“ oder „flüssig“.)
Experimentell sind, wie bereits erwähnt, grundsätzlich nur Enthalpieänderun-
gen messbar. Absolute Enthalpien kann man nicht messen. Wir behelfen uns mit
einer Definition:
Merke: Die Enthalpien der Elemente im Standardzustand werden willkürlich gleich Null
gesetzt.
Die Differenz von +42 kJ/mol aber ist gerade der Enthalpiebetrag, den wir auf-
wenden müssten, um bei der Temperatur von 25 ◦ C (298 K) 1 mol flüssiges Was-
ser zu gasförmigem Wasser zu verdampfen, die molare Verdampfungsenthalpie.
Umgekehrt betrachtet: Bei der Kondensation von gasförmigem zu flüssigem Was-
ser wird bei 25 ◦ C eine molare Kondensationsenthalpie von −42 kJ/mol frei.
Der gesamte Sachverhalt lässt sich kurz zusammenfassen:
Merke: Wir können Teilreaktionen zu einer Gesamtreaktion addieren; die Summe der Reak-
tionsenthalpien der Teilreaktionen ergibt die Reaktionsenthalpie der Gesamtreaktion.
Was wir hier ausführlich besprochen haben, ist eigentlich eine Konsequenz des
ersten Hauptsatzes: Die Energie bleibt erhalten. Sie kann weder neu erzeugt noch
vernichtet werden.
Merke: Bei gleichem Anfangs- und Endzustand der Reaktion ist die Reaktionsenthalpie für
jeden Reaktionsweg gleich groß.
Tab. 2.8: Physikalischer und biologischer Brennwert der Hauptnährstoffe und von Ethanol.
Der physikalische Brennwert ist die Verbrennungsenthalpie, die bei der voll-
ständigen Verbrennung einer Substanz in einem Kalorimeter gemessen werden
kann. Bei Kohlenhydraten, Fetten und Ethanol wird dieser Wert bei der biologi-
schen Verbrennung tatsächlich erreicht, bei Proteinen jedoch ist der biologische
Brennwert deutlich geringer als der physikalische. Dies kommt daher, dass Pro-
teine im Gegensatz zu Fetten und Kohlenhydraten neben Kohlenstoff und Was-
serstoff, die bei der physikalischen Verbrennung zu Kohlendioxid und Wasser
verbrannt werden, auch wertvollen Stickstoff enthalten, der in der Zelle nicht
zu den eigentlichen Verbrennungsprodukten mit Sauerstoff, den so genannten
110 2. Säuren, Basen und Blutgase
Ein Maß für die Unordnung: Die Entropie und der 2. Hauptsatz
In vielen Bereichen des Alltags könnten wir den Eindruck gewinnen, dass in
einem System Prozesse und Reaktionen dann spontan, das heißt freiwillig, ohne
äußere Energiezufuhr, ablaufen, wenn der Energiegehalt des Systems nach dem
Ablaufen des Prozesses geringer ist als vor dem Prozess:
• Ein hochgehaltener Stein etwa, der losgelassen wird, fällt spontan zu Boden,
wobei seine ursprüngliche potentielle Energie zuerst – streng nach dem
1. Hauptsatz – in kinetische Energie und, nach dem Aufprall am Boden, in
Wärmeenergie (Deformationsenergie) umgewandelt und letztendlich an die
Umgebung abgegeben wird.
• Ein anderes Beispiel: Kohle (fast reiner Kohlenstoff) verbrennt nach Anzün-
den mit Sauerstoff spontan zu Kohlendioxid CO2 , wobei die Umgebung stark
erwärmt wird. Das System Kohle-Sauerstoff hat eine viel höhere Enthalpie als
das entstehende Kohlendioxid; die Differenz wird – streng nach dem 1. Haupt-
satz – bei der Verbrennung als Wärme an die Umgebung abgegeben.
Betrachten wir diese Systeme isoliert, so nimmt die Energie (oder Enthalpie) bei
derartigen spontanen Prozessen zwar ab, aber da Energie nach dem 1. Hauptsatz
nicht verloren gehen kann, findet sich jeweils in der Umgebung des betrachteten
Systems ein ebenso großer Energiezuwachs.
Was aber hielten wir von den folgenden „Systemen“?
• Warum hat noch nie jemand beobachtet, dass sich der Boden rund um einen am
Boden liegenden Stein spontan abkühlt und die dabei gewonnene Energie den
Stein hochhebt, ihm also zuerst in Form kinetischer und schließlich potentieller
Energie zugeführt wird? Nach dem 1. Hauptsatz sollte das prinzipiell möglich
sein!
• Warum kommt uns die Vorstellung geradezu widersinnig vor, dass die Um-
gebung einer gewissen Kohlendioxidmenge sich spontan abkühlt, und in glei-
chem Maße Kohlendioxid wieder in Kohlenstoff und Sauerstoffgas zurück-
verwandelt wird? Der 1. Hauptsatz würde hier ebenfalls nicht verletzt werden!
Offenbar gibt es in der Natur neben der Energie als Triebkraft noch ein weiteres
wichtiges Prinzip, das dafür mitverantwortlich ist, ob Prozesse tatsächlich spontan
ablaufen. Anders gesagt: Diese neue Triebkraft muss auch etwas mit dem „Rich-
tungspfeil“ der Zeit zu tun haben, denn die – offenbar widersinnigen – Beispiele
oben „lassen den Film sozusagen rückwärts ablaufen“.
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 111
Merke: Das zusätzliche über das Streben nach minimaler Energie hinausgehende Kriterium
ist das Streben nach zunehmender Unordnung (Entropie) eines Systems.
Während wir mit dem Konzept der Energie gedanklich meist kaum Probleme
haben, ist die Idee dieser neuen Zustandsfunktion Entropie etwas sperriger. Hier
soll uns ein Gedankenexperiment weiterhelfen:
Stellen wir uns ein extrem einfaches „Universum“ vor, welches nur vier Atome
enthält und maximal neun Atomen Platz bieten kann. In dieser imaginären Welt
wollen wir Anordnungen, bei denen die vier verfügbaren Atome ein „dicht-
gepacktes“ Quadrat bilden, als „Kristall“ bezeichnen, alle anderen Anordnun-
gen aber als „Gas“. Abb. 2.8 zeigt einige mögliche Zustände in unserem Mini-
Universum.
Abb. 2.8: Veranschaulichung der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit von „Kristall“- und „Gas“-
Zuständen in einem winzigen Modelluniversum.
Merke: Geordnete Zustände haben immer eine viel kleinere thermodynamische Wahrschein-
lichkeit als ungeordnete. Generell streben natürliche Systeme nach einer Zunahme
der Zahl der möglichen Anordnungsmöglichkeiten (Zunahme der thermodynamischen
Wahrscheinlichkeit W).
S = k · ln W
Merke: Die Entropie ist ein quantitatives Maß für die molekulare Unordnung – und damit für
die thermodynamische Wahrscheinlichkeit – eines Zustandes. Der Zustand, der die
geringste Ordnung aufweist, ist der wahrscheinlichste und besitzt daher die größte
thermodynamische Wahrscheinlichkeit und den größten Entropiegehalt.
Bislang haben wir die neue Zustandsgröße Entropie vom molekularen Standpunkt
betrachtet, da dies dem intuitiven Verständnis dieser Größe am dienlichsten ist.
Die Thermodynamik ist aber streng genommen eine makroskopische Disziplin,
das heißt, wir sollten eigentlich ohne Rückgriff auf molekulare Eigenschaften aus-
kommen. Wie fügt sich die Entropie in dieses Gedankengebäude?
Merke: Jeder spontane (= freiwillig ablaufende) Prozess kann zur Arbeitsleistung verwendet
werden.
Denken wir etwa an die Erzeugung elektrischer Arbeit durch die Ausnützung der
beim spontanen Zutalstürzen eines Flusses freiwerdenden potentiellen Energie.
Die aus einem spontanen Prozess gewinnbare maximale Arbeitsleistung erhalten
wir dann, wenn wir durch geschickte Prozessführung Reibungsverluste möglichst
vermeiden (so genannte reversible Prozesse). Die Thermodynamik lehrt nun, dass
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 113
die maximale Arbeitsleistung sich gemäß der folgenden Formel berechnen lässt:
wmax = H − T · S
Das Produkt T · S wird als gebundene Energie bezeichnet. Dieser Anteil der
Enthalpieänderung lässt sich selbst bei optimaler Prozessführung nicht als Arbeit
ausnützen, sondern wird in die Zunahme der inneren Unordnung des Systems
investiert. Dieser Verlust an Arbeitsfähigkeit eines Systems ist prinzipieller Natur
und kann durch keine noch so geschickte Prozessführung vermieden werden.
Merke: Diese Betrachtung macht auch klar, warum die Thermodynamik so sehr an spon-
tanen Prozessen interessiert ist: Wir Menschen versuchen seit jeher, uns „die Erde
untertan“ zu machen; mit anderen Worten, wir waren und sind höchst geschickt und
erfindungsreich, wenn es darum geht, Prozesse zu finden, die wir zur Arbeitsleistung
„einspannen“ können. Und nicht nur wir Menschen, sondern alle lebenden Systeme
haben nur deshalb erfolgreich überlebt, weil sie dieses Streben ebenfalls erfolgreich
bewältigen können: Ein Beispiel ist die „Erfindung“ der zellulären „Verbrennung“ von
Nährstoffen mit Hilfe von Sauerstoff durch die Evolution.
Wir können nun für abgeschlossene Systeme, bei denen kein Energieaustausch
mit der Umgebung möglich ist, ein neues Kriterium zur Beantwortung der Frage
heranziehen, ob ein bestimmter Prozess spontan abläuft oder nicht:
Merke: Prozesse in abgeschlossenen Systemen laufen nur dann spontan ab, wenn dabei die
Entropie zunimmt (S>0).
Das Streben nach Entropiezunahme ist die Triebkraft für Prozesse, bei welchen
die innere Energie bzw. Enthalpie konstant bleibt. Dies ist eine der möglichen
Formulierungen des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik.
Auch andere Formulierungen sind gängig:
• Da auch das Universum als Ganzes als ein System angesehen werden kann,
muss die Entropie des Universums bei jedem Prozess zunehmen. Man spricht
vom Wärmetod des Alls, der am Ende der Entwicklung des Universums stehen
sollte.
• Eine weitere Aussage spricht von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile
2. Art: Dies wäre eine Maschine, die – ohne Zufuhr sonstiger Energie – nichts
anderes tut, als der Umgebung ständig Energie zu entziehen und damit Arbeit
zu leisten. Vom Standpunkt des 1. Hauptsatzes wäre, da ja keine Energie neu
erzeugt oder vernichtet würde, eine solche Maschine erlaubt. Die Erfahrung
aller Ingenieure aber zeigt, dass man in eine solche Maschine tatsächlich mehr
Energie hineinstecken müsste, als man letztlich an Arbeit gewinnen kann.
Zur Angabe von Entropien reiner Verbindungen benützt man üblicherweise die
Standardentropie. Diese bezeichnet die Entropie eines Mols reiner Phase bei
25 ◦ C und dem Standarddruck von 101325 Pa.
114 2. Säuren, Basen und Blutgase
wmax = H − T · S
können wir die Dimension der Entropie ableiten, die eine Energie geteilt durch
die Temperatur ist, bezogen auf ein Mol:
dim(wmax − H)
dim(S) = = J · K−1 · mol−1 .
dim(T)
Merke: Die Entropie einer idealen kristallinen Substanz beim absoluten Nullpunkt der Tem-
peratur ist Null.
W=1
S = k · ln W = k · ln 1 = 0
G ≡ H−T·S
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 115
G wird als Freie Enthalpie (im angelsächsischen Schrifttum auch „Gibbs free
energy“) bezeichnet. Die Einheit dieser neuen Zustandsfunktion ist die einer
Energie pro mol (kJ/mol).
Da für G wie für alle anderen energetischen Zustandsfunktionen nur Differen-
zen messbar sind, gilt für die Änderung der Freien Enthalpie eines isothermen
(T = const.) und isobaren (P = const.) Prozesses:
G ≡ H − T · S
Merke: Die Änderung der Freien Enthalpie ist das Höchstmaß an Arbeit, das sich bei dem
Prozess gewinnen lässt.
Der Energiebetrag T · S, die gebundene Energie, kann prinzipiell nicht in Arbeit
umgewandelt werden. Mit diesem Energiebetrag wird vielmehr die innere Unord-
nung des Systems erhöht.
Die Zustandsfunktion G dient zur Definition des so genannten Gleichge-
wichtszustandes, dem jeder spontan ablaufende Prozess zustrebt. Generell strebt
die Freie Enthalpie einem Minimum zu. Das bedeutet:
• Wenn G während eines Prozesses abnimmt (G < 0), so läuft der Prozess spon-
tan ab. Wir sprechen von einer exergonischen Reaktion.
• Nimmt G hingegen zu (G > 0), so verläuft der Prozess nicht freiwillig und
spontan. Eine endergonische Reaktion liegt vor.
• Wenn sich G nicht mehr ändert (G = 0), ist das System im thermodynamischen
Gleichgewicht.
Merke: Ein spontaner Prozess läuft nur solange ab, bis G Null wird. Dann ist der Gleich-
gewichtszustand erreicht.
Je nachdem, wie die beiden Triebkräfte (Streben nach minimaler Energie und
nach maximaler Entropie) nun für einen interessierenden Prozess gerichtet sind,
lassen sich vier Fälle unterscheiden (Tab. 2.9).
Ein medizinisch interessantes Beispiel für eine Reaktion entsprechend dem
zuletzt besprochenen Fall (stark endotherm, aber dennoch exergonisch) ist die
folgende Reaktion zwischen zwei Festsubstanzen:
Tab. 2.9: Die unterschiedlichen Kombinationen von Enthalpie und Entropie und die Folgerungen für
die Freie Enthalpie und damit für die Spontaneität oder Nicht-Spontaneität eines Prozesses.
H < 0 S > 0 Bei der Reaktion wird Energie freigesetzt und die innere Prozess spontan
Unordnung nimmt zu. G ist auf jeden Fall negativ
(exergonisch).
H > 0 S < 0 Bei der Reaktion wird vom System Energie aufgenom- Prozess nicht spontan
men, die innere Unordnung nimmt ab. G ist jedenfalls
positiv (endergonisch).
H < 0 S < 0 Hier „ziehen“ die beiden Triebkräfte in entgegenge- Prozess spontan
setzte Richtungen. Bei niedrigen Temperaturen ist der bei Temperaturen
H
Term −T · S kleiner als H, und die Reaktion ist exer- unterhalb von T = S
.
gonisch. Ab einer bestimmten Grenztemperatur T = H S
allerdings dominiert der Entropiebeitrag, und die Reak-
tion wird endergonisch.
H > 0 S > 0 Es gilt - mit umgekehrten Vorzeichen - dasselbe wie Prozess spontan
oben. Bei Temperaturen unterhalb der Grenztempera- bei Temperaturen
tur überwiegt der Enthalpieterm, und die Reaktion ist oberhalb von T = H
S
.
endergonisch. Bei Temperaturen über der Grenztempe-
ratur hingegen überwiegt der auf die Entropiezunahme
zurückzuführende Beitrag, und die Reaktion wird exer-
gonisch.
ordneter als Kristalle!), dass G insgesamt negativ ist und die Reaktion spontan
abläuft.
Derartige endotherme, aber exergonische Reaktionen werden in den Kälte-
packungen in der Ersten Hilfe praktisch angewandt.
Das griechische Sigma ∑ bedeutet dabei den Summenoperator. Wir müssen also
die G0 -Werte aller Produkte summieren und davon die Summe der G0 -Werte
der Ausgangsstoffe subtrahieren.
2.2 Grundlagen der Thermodynamik 117
Bisher reden wir über den Standardzustand (25 ◦ C, 101325 Pa und 1 molare
Konzentrationen aller Reaktionspartner). Das ist natürlich noch nicht sehr befrie-
digend, da sehr oft – und in Zellen praktisch immer – andere Temperatur-, Druck-
und Konzentrationsbedingungen herrschen.
Wir können die Standardwerte nach der folgenden Formel auf Freie Reaktions-
enthalpien bei beliebigen Bedingungen umrechnen:
[C]‚ · [D]ƒ
Gr = G0r + R · T · ln
[A] · [B]
wobei wir die allgemeine chemische Reaktion
A + B ‚C + ƒD
mit den Ausgangsstoffen A und B, den Endstoffen C und D und den stöchio-
metrischen Koeffizienten , , ‚ und ƒ zugrunde legen.
Das schaut kompliziert aus! Wie kann dieser Ausdruck interpretiert werden?
Zuerst die Erklärung für G0r : Dies ist die Freie Standardreaktionsenthalpie,
eine für die betrachtete Reaktion charakteristische Größe. Offenbar ist die tat-
sächliche Freie Reaktionsenthalpie Gr bei beliebigen Bedingungen berechen-
bar aus G0r und einem Korrekturfaktor, der durch die Temperatur T und die
molaren Konzentrationen der Reaktionspartner, symbolisiert durch die eckigen
Klammern, bestimmt wird.
Nehmen wir an, G0r sei negativ. Dann kann die betrachtete Reaktion auf jeden
Fall spontan ablaufen, wenn beim Start der Reaktion alle Reaktionspartner (Aus-
gangsstoffe und Endstoffe) in 1-molarer Konzentration vorliegen. Der logarithmi-
sche Ausdruck in der Gleichung beträgt dann Null, und es gilt Gr = G0r .
Was passiert im Zuge des weiteren Reaktionsverlaufes?
Die Konzentrationen der Ausgangsstoffe nehmen ab, und simultan dazu neh-
men die Konzentrationen der Produkte zu. Der logarithmische Ausdruck wird
positiv, und zwar umso mehr, je weiter die Reaktion fortschreitet. Er wird zuneh-
mend die negative Freie Standardreaktionsenthalpie G0r kompensieren. Das
heißt, im Verlauf der spontanen Reaktion ist Gr zunächst stärker negativ, wird
aber dann immer weniger negativ, bis schließlich G0r durch den logarithmischen
Ausdruck kompensiert und Gr daher Null wird:
Die Reaktion kann nun nicht weiter spontan ablaufen, da die Freie Reaktions-
enthalpie nicht mehr abnimmt. Ein Gleichgewichtszustand ist erreicht, und die
Konzentrationen der beteiligten Stoffe ändern sich nicht mehr.
Der Gleichgewichtszustand ist also durch die mathematische Bedingung
Gr = 0 charakterisiert. Eine einfache Umformung der oben angegebenen Glei-
chung ergibt für diesen Fall:
[C]‚ · [D]ƒ
Gr = 0 = G0r + R · T · ln
[A] · [B]
G0r [C]‚ · [D]ƒ
− = ln = ln K
R·T [A] · [B] Gleichgewicht
118 2. Säuren, Basen und Blutgase
Merke: Für das Argument der Logarithmusfunktion mit den erreichten Gleichgewichtskon-
zentrationen haben wir eine neue Größe K, die Gleichgewichtskonstante definiert.
Wir haben damit eine thermodynamische Ableitung des Massenwirkungsgesetzes
erzielt (siehe Abschnitt 2.3 „Das Chemische Gleichgewicht“).
Lehrziel
Die Entdeckung des Chemischen Gleichgewichts war ein Meilenstein in der Geschichte der
wissenschaftlichen Chemie. Sie bildet für das quantitative Verständnis chemischer Reaktionen
im weitesten Sinne ein solides Fundament.
[HI]2
[H2 ] · [I2 ]
2.3 Das Chemische Gleichgewicht 119
zahlenmäßig bei all ihren Experimenten immer denselben Wert hatte, wenn sie
die Reaktion lange genug ablaufen ließen, bis sich die Zusammensetzung des
Reaktionsgemisches nicht mehr änderte.
Wie sollte man dieses seltsame Resultat verstehen?
Guldberg und Waage stellten dazu Überlegungen zur Geschwindigkeit der von
ihnen untersuchten Reaktionen an, die wir im Folgenden nachvollziehen wollen:
Nun kommt die zentrale Überlegung: Experimentell beobachten wir nach einiger
Zeit keine weitere Änderung der Violettfärbung. Die Konzentrationen der drei
Gase gelangen also nach einiger Zeit der Reaktion in einen stationären Zustand,
den Gleichgewichtszustand. In diesem Zustand ist nach Guldberg und Waage die
Geschwindigkeit der Hinreaktion gleich der Geschwindigkeit der Rückreaktion,
also
→ ←
v=v
und daher:
→ ←
2
k · [H2 ] · [I2 ] = k · [HI]
Da aber der Quotient zweier konstanter Größen selbst auch wieder eine Konstante
ist, die wir K nennen wollen, folgt:
→
k [HI]2
← = = K.
[H2 ] · [I2 ]
k
Das ist genau das Resultat, welches Guldberg und Waage experimentell gefunden
hatten!
120 2. Säuren, Basen und Blutgase
Merke: Im chemischen Gleichgewicht ist der Quotient, der aus dem Produkt der Konzen-
trationen der Endstoffe und dem Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffe
gebildet wird, wobei jede Konzentration in eine Potenz gehoben wird, die dem stö-
chiometrischen Koeffizienten des entsprechenden Stoffes zahlenmäßig gleich ist,
bei konstanter Temperatur und konstantem Druck eine für die betreffende Reaktion
charakteristische Gleichgewichtskonstante. Diese Konstante ist unabhängig von den
jeweiligen Konzentrationen.
Wir wollen dieses zentrale Gesetz anhand der Abb. 2.9 noch etwas weiter ver-
deutlichen.
Abb. 2.9: Eine allgemeine chemische Reaktion und die entsprechende Form des Massenwirkungsge-
setzes.
Tab. 2.10: Verschiedene Umrechnungsformeln für die Änderung der Freien Standardreaktionsenthal-
pie und der Gleichgewichtskonstante K.
G0r G0r
ln K = − lg K = − G0r = −R · T · lnK
R·T 2;3 · R · T
G0
r G0r
K = e− R·T K = 10− 2;3·R·T G0r = −2;3 · R · T · lg K
• Ist hingegen K < 1 (und damit G0r > 0, also eine endergonische Reaktion), so
liegt das „Gleichgewicht auf der Seite der Ausgangsstoffe“ und die Ausgangs-
stoffe oder „Edukte“ überwiegen im Gleichgewicht. Die Reaktion läuft nur zu
einem geringen Grad ab.
Tab. 2.11 hilft uns, den Überblick zu behalten.
Tab. 2.11: Bedingungen für die Spontaneität oder Nicht-Spontaneität eines Prozesses.
Reaktion ist spontan G0r K Reaktion ,,liegt auf der Seite der“
Merke: Das chemische Gleichgewicht ist ein dynamisches Gleichgewicht: Dies bedeutet, dass
zwar makroskopisch keine Reaktion mehr nachweisbar ist, aber auf molekularem
Niveau, also mikroskopisch, laufen sowohl die Hinreaktion als auch die Rückreaktion
weiterhin ab, allerdings gleich schnell.
Wir wollen noch eine weitere und vielleicht nicht unmittelbar einleuchtende all-
gemeine Regel festhalten:
Merke: Gleichgewichtskonstanten sind nur von der Temperatur, nicht aber von irgendwelchen
Konzentrationen abhängig.
Merke: Von primärer Bedeutung ist die Gleichgewichtskonstante, eine für jede chemische
Reaktion charakteristische Größe. Die sich bei den jeweils aktuellen Bedingungen ent-
sprechend ergebenden Gleichgewichtskonzentrationen sind von sekundärer Bedeu-
tung.
Merke: Wir bezeichnen dieses allgemeine Prinzip als Gesetz von Le Chatelier oder Gesetz des
kleinsten Zwanges.
124 2. Säuren, Basen und Blutgase
Lehrziel
Üblicherweise halten die subtil regulierten Stoffwechselprozesse des Körpers den pH-Wert des
Blutes im engen Sollbereich von pH = 7,4 ± 0.05. Überschreitungen dieses pH-Bereichs nach
oben (Alkalose) oder unten (Acidose) führen schnell zu lebensbedrohlichen Zuständen. Werden
die Abweichungen größer als 0,3 pH-Einheiten, so tritt der Tod ein.
Folglich ist die unmittelbarste Bedrohung bei schweren Unfällen oder Verbren-
nungen höheren Grades die durch die Schockprozesse hervorgerufene pH-
Änderung des Blutes, und die rasche intravenöse Versorgung von solcherart
traumatisierten Patienten mit Flüssigkeit (physiologischer Kochsalzlösung) hat
oberste Priorität.
H2 CO3 H2 O + CO2
[HCO− ]
Das Verhältnis H2 CO33 beträgt etwa 20
1 ; der größte Teil der Kohlensäure liegt dabei
als im Blut gelöstes Kohlendioxid CO2 vor.
Wenn dieses Verhältnis durch Zunahme der Konzentration der Hydrogencarbo-
nat-Ionen, die oft auch als Bicarbonat-Ionen bezeichnet werden, oder durch
Abnahme der Kohlensäure-Konzentration ansteigt, so steigt auch der pH-Wert
an; sinkt der Wert des Verhältnisses, so sinkt auch der pH-Wert.
Merke: Sowohl das Ansteigen (Alkalose) als auch das Absinken des Blut-pH (Acidose) sind
lebensbedrohliche Zustände, die sofort in ihren Ursachen erkannt und entsprechend
behandelt werden müssen.
Der Körper reguliert normalerweise den pH-Wert des Blutes über zwei Mecha-
nismen:
• Atmung: Beim Ausatmen wird CO2 und damit H2 CO3 aus unserem Organis-
mus entfernt – das pH nimmt zu. Schnelleres und tieferes Atmen erhöht die
abgeatmete Menge an CO2 und lässt das Blut-pH rascher ansteigen.
• Ausscheidung: Über die Ausscheidung von HCO−3 im Harn kann das Blut-pH
ebenfalls reguliert werden.
Wir unterscheiden vier Arten von Störungen des Säure-Base-Haushaltes:
2.4 Der Säure-Base-Haushalt des Menschen 125
Respiratorische Acidose
Eine pathologisch verringerte Atmung lässt das Blut-pH absinken. Asthma, Lun-
genentzündung, Emphyseme (Lungenaufblähungen), Einatmen von Rauch und
andere, die Atemfähigkeit einschränkende Ursachen können dazu führen. Die
Behandlung erfolgt in der Regel mechanisch mit einem die Atmung unterstüt-
zenden Ventilator oder auch, wie etwa bei Asthma, durch Medikamente, die die
verengten Bronchialwege wieder erweitern und die Atmung erleichtern.
Metabolische Acidose
Wenn Milchsäure oder andere, sauer reagierende Stoffwechselprodukte, in zu
hoher Konzentration in den Blutkreislauf gelangen, so können sie durch Reaktion
[HCO− ]
mit HCO−3 , wobei CO2 gebildet wird, das Verhältnis H2 CO33 absenken und somit
eine Acidose auslösen. Solche Zustände können als Folge von übermäßigem Sport
oder körperlicher Arbeit, bei Diabetes oder auch im Gefolge von Fasten auftreten.
Normalerweise reagieren wir deshalb durch erhöhte Atemfrequenz (Schnaufen,
Hecheln) auf besondere körperliche Anstrengungen; erhöhtes Abatmen von CO2
soll der metabolischen Ansäuerung entgegenwirken.
Auch schwere Verbrennungen können Ursache für eine metabolische Aci-
dose sein. Dabei gelangt Blutplasma aus dem Blutkreislauf in die verletzten
Bereiche und führt dort zu Schwellungen. Gleichzeitig aber nimmt das Blutvolu-
men dadurch ab, und dieser Volumsverlust kann so stark sein, dass der Blut-
fluss und in weiterer Folge die Sauerstoffversorgung im restlichen Körperge-
webe beeinträchtigt werden. Dieser Sauerstoffmangel wiederum führt zur Anhäu-
fung von Milchsäure durch anaerobe metabolische Mechanismen (Milchsäuregä-
rung).
Kann die eintretende Acidose durch vermehrte Atemtätigkeit nicht mehr kom-
pensiert werden, so kommt es zu einem circulus vitiosus: Die Blutzirkulation sinkt
weiter, die Abatmung von CO2 verschlechtert sich fortwährend und das pH sinkt
weiter ab. Ein Schockzustand stellt sich ein, der absolut lebensbedrohlich ist. Die
Substitution von Blutflüssigkeit durch intravenöse Zufuhr von isotonischer Koch-
salzlösung ist hier dringend geboten. Dadurch kann das Blutvolumen, die Blutzir-
[HCO− ]
kulation und die Sauerstoffversorgung verbessert werden, das Verhältnis H2 CO33
normalisiert sich wieder und die Überlebenschance steigt an.
Respiratorische Alkalose
Eine zu intensive Atmung lässt das Blut-pH ansteigen. Gründe für eine solche
Hyperventilation können hohe Fieberschübe oder Angstzustände sein. Eine mög-
liche Reaktion des Körpers ist eine Ohnmacht, die die Atmung verlangsamt. Um
eine Ohnmacht zu vermeiden, kann die betreffende hyperventilierende Person
auch in eine Papier- oder Plastiktüte ausatmen und die Ausatemluft wieder einat-
men. Dadurch steigt die CO2 -Konzentration und das pH des Blutes sinkt wieder
auf Normalwerte.
126 2. Säuren, Basen und Blutgase
Metabolische Alkalose
Häufiges Erbrechen oder der Missbrauch harntreibender Medikamente können
Ursachen einer metabolischen Alkalose sein, auf die der Körper normalerweise
durch verringerte Atemfrequenz reagiert, wodurch die CO2 -Konzentration im
Blut wieder ansteigt und das pH des Blutes absinkt.
[CO2 ] = · PCO2
Dabei ist der Löslichkeitskoeffizient für CO2 und besitzt den Zahlenwert:
Merke: In einem gesunden Organismus kann eine beispielsweise durch den Stoffwechsel
entstehende Protonenanflutung, die einen Teil des Hydrogencarbonats HCO−3 in CO2
umwandelt, durch schnelleres Atmen und damit Elimination von CO2 aufgefangen
[HCO− ]
werden; das Verhältnis [CO23] behält trotz Verringerung der Konzentrationen beider
Reaktionspartner dennoch etwa den Wert 20. Der pH-Wert bleibt unverändert, und
der Säure-Base-Stoffwechsel ist in Ordnung.
Bei unserer Patientin ist dies offenbar nicht der Fall. Sie hat eine sehr ausgeprägte
Acidose mit deutlich erhöhtem PCO2 . Wenn wir die gemessenen Werte in die
Henderson-Hasselbalch-Gleichung einsetzen, so finden wir:
[HCO−3] 22
pH = 6,1 + lg = 6,1 + lg = 7,06
0, 225 · PCO2 0,225 · 10,7
Der berechnete pH-Wert stimmt mit dem gemessenen genau überein.
Bei der Patientin ist zusätzlich der Partialdruck des Sauerstoffs im arteriellen
Blut deutlich vermindert. Die Sauerstoffsättigung beträgt normalerweise etwa
13,3 kPa. Der verminderte Wert weist deutlich auf eine massiv eingeschränkte
Atmung hin. Dies kann ein Folge von chronischer Bronchitis oder Asthma sein.
Merke: Insgesamt ergibt sich als Diagnose für unsere Patientin eine deutlich ausgeprägte
respiratorische Acidose. Ihre Atemtätigkeit muss schleunigst wirkungsvoll unterstützt
werden.
OXIDATION, REDUKTION UND DIE ZELLULÄRE
PRODUKTION VON ENERGIE
Fallbeschreibung 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
3
Fallbeschreibung
3
Ein 48-jähriger Landwirt wird von seiner Gattin im Keller seines Hauses
bewusstlos aufgefunden, kurz nachdem sie sich mit ihm durch Rufkontakt
noch klar verständigen hatte können. Er hatte mit einem alten Destillierofen
illegal Schnaps gebrannt und – um Geruchsentwicklung zu vermeiden – Tür
und Kellerfenster fest verschlossen. Die Gattin lüftet sofort den Raum, kann
den Bewusstlosen aber nicht ins Freie tragen.
Der Notarzt findet einen tief comatösen Patienten mit unauffälligem, rosi-
gem Hautcolorit, im Elektrokardiogramm imponieren polytope ventrikuläre
Extrasystolen. Bei der Untersuchung beginnt der Patient generalisiert zu
krampfen. Das Pulsoxymeter zeigt bei Raumluftatmung eine Sättigung von
100%. Bei der Intubation hat der Notarzt den Eindruck, Ethanolgeruch
(foetor aethylicus) wahrzunehmen.
Lehrziele
Kohlenmonoxid (CO) ist bekanntlich eines der stärksten Atemgifte. Durch
Hemmung der zellulären Atmung wird die Energieproduktion des Körpers
massiv beeinträchtigt. Um den Vergiftungsvorgang zu verstehen, müssen wir
der Frage nachgehen, wie denn die zelluläre Atmung vor sich geht und welche
chemischen Reaktionen hier für die Produktion von Energie für die vielfäl-
tigen Körperfunktionen verantwortlich sind.
• Die Basis für die zelluläre Energieerzeugung ist die Chemie der Elek-
tronenübertragungsreaktionen (Oxidation, Reduktion). So wie die Che-
mie der Protonentransfer-Reaktionen sind auch diese als Redoxreaktionen
bezeichneten Vorgänge von immenser Bedeutung für die Lebensvorgänge.
• Die Grundlagen der Thermodynamik und die Theorien des Chemischen
Gleichgewichts und des Massenwirkungsgesetzes sind für das Verständnis
von Redoxreaktionen unverzichtbar.
• Wir wollen uns schließlich einen Überblick über die zelluläre Energieerzeu-
gung von der Glycolyse über den Citrat-Zyklus bis hin zur Atmungskette
verschaffen und uns überlegen, wie die Zelle mit der gewonnenen Energie
wirtschaftet.
• Die Substanzklassen der Carbonylverbindungen und der Carbonsäuren
und ihrer Derivate sind wichtige Substrate und Metabolite der genannten
Reaktionspfade.
Allerdings könnte sich noch eine andere Erklärung anbieten: Eine Vergiftung
mit Ethanol, eine so genannte Alkoholintoxikation. Welche Diagnose ist auf-
grund des Geschehens eher korrekt? Und wie wird der Patient aufgrund der
richtigen Diagnose korrekt therapiert?
132 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Lehrziel
Die chemische Basis der Zellatmung und damit der Energieproduktion des Körpers sind Redox-
reaktionen. Dieser Abschnitt vermittelt eine Einführung in das Gebiet der Redoxchemie.
Merke: Der moderne Oxidationsbegriff ist synonym mit Elektronenabgabe, der Reduktions-
begriff hingegen mit Elektronenaufnahme
• Ebenso wie freie Protonen nicht über längere Zeit existieren können, sind freie
Elektronen auch nicht beständig.
• So wie Säuren immer nur in Gegenwart von Basen Protonen abgeben können,
kann eine Substanz Elektronen nur dann abgeben, wenn eine weitere Substanz
anwesend ist, um die Elektronen aufzunehmen. Während die erste Substanz
selbst als Reduktionsmittel in Erscheinung tritt und oxidiert wird, fungiert die
zweite Substanz selbst als Oxidationsmittel und wird reduziert.
Eine typische Redoxreaktion ist die Reaktion zwischen Natrium und Chlor.
Jedes Natrium-Atom gibt ein Elektron ab und wird zu einem einfach positiv ge-
ladenen Natrium-Ion oxidiert. Die so genannte Teilgleichung oder Halbreaktion
der Oxidation ist:
Na → Na+ + e−
Jedes Chlor-Atom nimmt ein Elektron auf und wird zu einem einfach negativ
geladenen Chlorid-Ion reduziert. Die Halbreaktion der Reduktion ist somit:
Für die Aufstellung der korrekten Gesamtreaktion aus den beiden Teilreaktionen
beachten wir, dass die Oxidation so viele Elektronen liefern muss wie in der
Reduktion konsumiert werden. Wir müssen also die Halbreaktion der Oxidation
mit dem Faktor 2 multiplizieren und erhalten, da sich nun die Elektronen links
und rechts des Reaktionspfeils „aufheben“, als Gesamtgleichung:
Wie bei Säure-Base-Reaktionen führen wir den zentralen Begriff des konjugierten
(korrespondierenden) Redoxpaares ein. Dies sind Stoffpaare, die sich nur durch
die Zahl ihrer Elektronen unterscheiden. Bei dem Beispiel der Reaktion zwischen
Natrium und Chlor bilden Na/Na+ und 2Cl−/Cl2 zwei konjugierte Redoxpaare.
Eine Halbreaktion kann daher immer in der allgemeinen Form
geschrieben werden.
Merke: Eine vollständige Redoxreaktion kann nur stattfinden, wenn zwei konjugierte Redox-
paare anwesend sind. Ein Redoxpaar liefert Elektronen, das andere nimmt sie
auf.
Formale Oxidationszahlen
Redoxreaktionen können häufig recht kompliziert sein. Mit Hilfe der Oxidations-
zahlen gelingt die Aufstellung korrekter Reaktionsgleichungen von Redoxreak-
tionen wesentlich leichter. Das Konzept der Oxidationszahlen ist ein gedankliches
Konstrukt, das nicht mit den tatsächlichen Bindungsverhältnissen übereinstimmt.
Sein Zweck ist ausschließlich die Vereinfachung der korrekten Aufstellung und
die Erleichterung des Verständnisses komplizierter Redoxgleichungen.
Merke: Die Oxidationszahl eines Atoms in einer beliebigen Verbindung ist eine fiktive
Ladungszahl, die wir für dieses Atom erwarten würden, wenn die betrachtete Verbin-
dung ausschließlich aus Ionen aufgebaut wäre.
134 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
und die Summe der Oxidationszahlen wäre -2, was offenbar nicht stimmen
kann, da H2 O2 ein neutrales Molekül ist. Wir können diesen Widerspruch
auflösen, wenn wir die Prioritätenreihenfolge beachten. Die schwächste Regel
ist Regel 6, daher ordnen wir den beiden (gleichberechtigten) Sauerstoffato-
men abweichend von dieser Regel die Oxidationszahl -1 zu, um die stärkeren
Regeln 2 und 4 zu befriedigen. Somit lautet die korrekte Formel:
+1 −1
H2 O2
Abb. 3.1: Das Glucose-Molekül mit der konventionellen Nummerierung der C-Atome.
136 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
und die gesuchte Oxidationszahl für C1 ist +1. Analog erhalten wir für C2 mit
+1 x −2 +1
HCOH
Merke: Eine Oxidation ist mit der Zunahme der Oxidationszahl eines Atoms verbunden, eine
Reduktion mit der Abnahme der Oxidationszahl eines Atoms.
Merke: Wir erkennen eine Redoxreaktion an der Änderung der Oxidationszahlen von Atomen.
Eine Säure-Base-Reaktion ist daher keine Redoxreaktion. Wenn eine Base ein
Proton aufnimmt, so erhöht sich zwar ihre reale Ladung um eine Einheit. Die Oxi-
dationszahlen ihrer Atome bleiben jedoch unverändert. Analog wird eine Säure
bei der Abgabe eines Protons um eine Einheit negativer geladen, wobei die Oxi-
dationszahlen ihrer Atome jedoch unverändert bleiben. Die Beispiele oben über
Schwefelsäure und Sulfat haben uns dies ja schon gezeigt.
3.1 Die Chemie der Oxidation und Reduktion 137
Wie hilft uns das Konzept der formalen Oxidationszahlen beim Aufstellen komplexer
Reaktionsgleichungen?
Als Beispiel wollen wir die Umsetzung von Kaliumpermanganat KMnO4 mit
Natriumsulfit Na2 SO3 in einer sauren Lösung betrachten. Diese beiden Salze
lösen sich in Wasser gemäß folgender Reaktionsgleichungen auf:
KMnO4 K+ + MnO−4
Na2 SO3 2Na+ + SO2−
3
Wir beschränken uns dabei auf die wirklich an der Reaktion beteiligten
Stoffe; die Kalium- und Natrium-Ionen, die an der Reaktion gar nicht teil-
nehmen, lassen wir außer acht, da wir uns auf die relevanten Ionengleichun-
gen beschränken. Das Permanganat-Ion MnO−4 , ein starkes Oxidationsmittel,
wird bei der Reaktion zu einem zweifach positiv geladenen Mangan-Kation
Mn2+ reduziert, Sulfit-Ionen SO2−3 fungieren als Reduktionsmittel und werden
zu Sulfat-Ionen SO2−
4 oxidiert. Die – stöchiometrisch noch nicht korrekte – Glei-
chung für die Reaktion schreiben wir vorerst in vereinfachter Form.
MnO−4 /SO2−
3 Mn /SO4
2+ 2−
• Als ersten Schritt trennen wir die Gesamtreaktion in die beiden Halb-
reaktionen auf, das heißt, wir betrachten beide konjugierten Redoxpaare
einzeln und ermitteln gleichzeitig die Oxidationszahlen der Mangan- und
Schwefelatome.
+7 +2 +4 +6
Mn O−4 → Mn2+ und S O3 → S O4
2− 2−
Atome und der Ladungen herrscht. Wir führen nun eine Bilanzierung der
verschiedenen Atome durch, und hierbei machen wir Gebrauch von der Tat-
sache, dass die betrachtete Reaktion in wässrigem Milieu abläuft. Wir glei-
chen zunächst die Zahl der Sauerstoffe links und rechts aus, wobei wir H2 O-
Moleküle benutzen.
Mit dem Konzept der Oxidationszahlen vereinfacht sich die Nomenklatur der Sau-
erstoffsäuren und ihrer konjugierten Basen erheblich.
Wir bilden den Namen der Säure aus dem Elementnamen und „-säure“ und
ergänzen durch Angabe der Oxidationszahl des Elements in nachgestellter Klam-
mer mit römischen Zahlzeichen. So heißt H2 SO4 Schwefelsäure-(VI), H2 SO3
dagegen Schwefelsäure-(IV). Die Namen der konjugierten Basen setzen sich aus
dem Wortstamm des lateinischen Elementnamens, einem nachgestellten „-at“
und der Angabe der Oxidationszahl zusammen. ClO−4 ist Chlorat-(VII), und ClO−
heißt Chlorat-(I). Leider hat sich diese viel einfachere und vor allem eindeutigere
Bezeichnungsweise nicht wirklich durchgesetzt, und wir müssen auch die kom-
pliziertere traditionelle Nomenklatur beherrschen.
140 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Elektrochemische Spannungsreihe
Wie können wir verschiedene Redoxsysteme bezüglich ihrer Stärke als Redukti-
onsmittel oder als Oxidationsmittel klassifizieren?
Kombinieren wir zwei konjugierte Redoxpaare, so liefert das Redoxpaar mit der
höheren Tendenz, Elektronen abzugeben, Elektronen an das zweite Redoxpaar.
Die Tendenz zur Elektronenabgabe eines Redoxsystems bezeichnen wir als sein
Potential (Symbol E).
Analog zur Säurekonstante oder Basenkonstante bei Säure-Base-Reaktionen
ist das Potential E ein quantitatives Maß für die Stärke eines Oxidations- oder
Reduktionsmittels.
Vereinbarungsgemäß ordnen wir dem Redoxpaar, das die höhere Tendenz zur
Elektronenabgabe besitzt, ein negativeres Potential zu. Damit fließen in der Reak-
tion (Red und Ox stehen für die reduzierte und oxidierte Form eines konjugierten
Redoxpaares)
ze−
Red1 /Ox1 → Red2 /Ox2
die Elektronen stets vom negativeren zum positiveren Potential. (Die Zahl der bei
der Reaktion umgesetzten Elektronen ist durch z bezeichnet.)
Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied zwischen Säure-Base-Reaktionen
und Redoxreaktionen:
Merke: Bei Säure-Base-Reaktionen befinden sich die beiden miteinander reagierenden kon-
jugierten Säure-Base-Paare immer in derselben Lösung (Eintopf). Im Gegensatz dazu
können wir die konjugierten Redoxpaare (die Halbreaktionen) bei einer Redoxreak-
tion räumlich trennen, da die übertragenen Elektronen über einen elektrischen Leiter,
beispielsweise durch einen Metalldraht, ausgetauscht werden können.
G = −z · F · E
die elektrische Arbeit, −z · F ist die umgesetzte Ladung, und E ist die herrschende
Potentialdifferenz, also die Spannung,
Abb. 3.2: Ein Zinkstab taucht in Wasser ein, und es stellt sich ein Gleichgewicht ein, bei dem einige
Zink-Ionen in Lösung gehen und sich der Zinkstab entsprechend negativ auflädt.
Abb. 3.3: Ein Zinkstab taucht in eine Lösung mit Kupfer-Ionen ein. Zink-Ionen gehen in Lösung und
die edleren Kupfer-Ionen werden als metallisches Kupfer am Zinkstab entladen.
Potentialdifferenz der beiden konjugierten Redoxpaare Cu2+ /Cu und Zn2+ /Zn so
lange vor sich, bis praktisch alle Cu2+ -Ionen reduziert sind (Abb. 3.3).
Im gerade betrachteten Beispiel sind beide konjugierten Redoxpaare in dersel-
ben Lösung anwesend (Eintopf). Wie oben angedeutet, können wir eine solche
vollständige Redoxreaktion
Cu2+ + Zn → Cu + Zn2+
Abb. 3.4: Ein galvanisches Element (Daniell-Element), bei dem die Oxidation des Zinks und die Reduk-
tion der Kupfer-Ionen voneinander räumlich getrennt ablaufen.
Diese Bezugselektrode können wir jetzt mit einer anderen Elektrode koppeln, an
der sich eine beliebige Halbreaktion
Ox + ze− Red
Merke: Die bei Standardbedingungen gemessene Spannung, also die Potentialdifferenz zwi-
schen der beliebigen Ox/Red-Elektrode und der Normal-Wasserstoffelektrode, ist
numerisch gleich dem Normal- oder Standardpotential E0ox=Red dieser Elektrode, da
wir das Potential E0H+ = 1 H2 definitionsgemäß gleich Null setzen.
2
Tab. 3.1: Die elektrochemische Spannungsreihe. Die beiden für die biologische Energiegewinnung
zentralen Redoxpaare sind hervorgehoben.
Die „Wasserscheide“, also die Grenze zwischen negativen und positiven Normal-
potentialen, bildet das konjugierte Redoxpaar
1
H+ / H2
2
G = −z · F · E
Was heißt das? Aus der Elektrizitätslehre in der Physik ist bekannt, dass die elek-
trische Arbeit gleich dem Produkt aus Ladung und Spannung ist.
Merke: G, die Freie Enthalpie, ist die maximal verfügbare Arbeit, die wir aus einem Prozess
gewinnen können (Siehe Kapitel 2, Abschnitt 2 „Grundlagen der Thermodynamik“).
G0 = −z · F · E0
G0 = −R · T · ln K
z·F
lnK = · E0
R·T
bzw. (siehe oben zur Umrechnung):
z
lgK = · E0
0,059
und schließlich:
z 0
K = 10 0,059 ·E
3.1 Die Chemie der Oxidation und Reduktion 147
Merke: Dieser Zusammenhang ist sehr wichtig, gestattet er doch, aus bequem zugänglichen
elektrischen Messgrößen Gleichgewichtskonstanten, die auf anderem Wege oft nur
sehr schwer messbar sind, zu bestimmen.
Die Nernst’sche Gleichung ist für das Verständnis der Energieproduktion durch
die Zellatmung von entscheidender Wichtigkeit. Daher wollen wir, bevor wir
ihre praktische Anwendung anhand von Beispielen kennen lernen, noch einen
etwas theoretischeren Blick auf sie werfen. In Tab. 3.2 vergleichen wir die
Nernst’sche Gleichung mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung von Säure-
Base-Puffersystemen und finden eine ganz bemerkenswerte Analogie zwischen
beiden Gleichungen, die jedoch verständlich ist, wenn wir die Analogie der zen-
tralen Definitionen berücksichtigen.
Tab. 3.2: Die Analogien zwischen der Nernst’schen Gleichung und der Henderson-Hasselbalch-
Gleichung.
Redoxreaktionen Säure-Base-Reaktionen
0;059 [Ox] [Base]
Zentrales Gleichgewicht E = E0 + lg pH = pKS + lg
z [Red] [Säure]
System Konjugiertes Redoxpaar Konjugiertes Säure-Base-Paar
Übertragene Teilchen Elektronen Protonen
Donor Reduzierte Form Säure
Akzeptor Oxidierte Form Base
Stärke E0 pKS
Aktueller Zustand E pH
Einige konkrete Beispiele zeigen uns im Folgenden, wie wir all diese Formeln
und Zusammenhänge nutzbringend anwenden können.
Als erstes Beispiel berechnen wir die Gleichgewichtskonstante für das oben beschrie-
bene galvanische Element Cu2+ =Cu==Zn=Zn2+, das so genannte Daniell-Element.
Hier brauchen wir die Nernst’sche Gleichung gar nicht; die Normalpotentiale
der beiden beteiligten konjugierten Redoxpaare genügen für diese Berech-
nung.
148 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Cu2+ + Zn Cu + Zn2+
[Zn2+ ] z 0 2
K= = 10 0,059 ·E = 10 0,059 ·1,10 = 1036,67 ≈ 5 · 1036
[Cu2+ ]
Dieser Wert ist unvorstellbar hoch. Die Reaktion läuft so lange, bis Gleichge-
wicht eintritt. Dies ist dann der Fall, wenn die Konzentration der Zn2+ Ionen um
den Faktor der Gleichgewichtskonstante größer ist als die Konzentration der
Cu2+-Ionen. Bedenken wir, dass ein Mol „nur“ etwa 6 · 1023 Teilchen sind, so
36
folgt, dass wir im Chemischen Gleichgewicht in etwa 5·106·1023
≈ 1013 Litern einer
1 M Zn2+ -Lösung, das sind 10 Billionen Liter, ein einziges Cu2+ -Ion antreffen.
Das heißt, die Reaktion läuft vollständig ab. Der Zinkstab löst sich solange
auf, bis alle Cu2+ -Ionen restlos zu metallischem Kupfer reduziert sind.
Die Umkehr-Reaktion
Zn2+ + Cu → Zn + Cu2+
Merke: Mit Hilfe von E0 können wir also feststellen, ob eine Redoxreaktion tatsächlich
spontan möglich ist.
Aufgrund des Normalpotentials des Wasserstoffs, E0 + = 0,00 Volt gilt zum Bei-
H / 12 H2
spiel, dass alle Metalle, die in der Spannungsreihe ein negatives Normalpotential
besitzen, in 1-molarer Säure löslich sind. In reinem Wasser jedoch finden wir für
3.1 Die Chemie der Oxidation und Reduktion 149
die Halbreaktion
1
H + + e− → H2
2
0,059
E = E0 + lg[H+ ] = −0,059 · pH = −0,42 V
1
In dieser Halbreaktion ist die oxidierte Form das H+-Ion. Für den gasförmi-
gen Wasserstoff H2 nehmen wir der Einfachheit halber den Normaldruck von
101,325 kPa an. Dann entfällt die explizite Berücksichtigung von H2 in der
Nernst’schen Gleichung.
Die letzte Berechnung bedeutet, dass sich nur besonders unedle Metalle, die
ein negativeres Normalpotential als −0,42 Volt aufweisen, auch in reinem Wasser
lösen.
Noch etwas können wir aus dieser letzten Berechnung mitnehmen. So wie
das Potential einer Wasserstoff-Elektrode sind die Normalpotentiale vieler Redox-
paare pH-abhängig. Immer dann, wenn in der korrekten Halbreaktion Protonen
aufscheinen, finden wir diese pH-Abhängigkeit. Ein wichtiges Beispiel bietet die
Berechnung der Oxidationskraft von Sauerstoff; wichtig deshalb, da Sauerstoff
das zentrale Oxidationsmittel für die biologische Energiegewinnung durch „Ver-
brennen“ der Nahrung darstellt.
0,059 0,059
E = E0 + lg([H+ ]4 · PO2 ) = 1,24 − · 4 · pH = 1,24 − 0,42 V
4 4
Bei einem Sauerstoffdruck PO2 von 101,325 kPa – auf diesen Druck ist auch R und
damit 0,059 bezogen – kann PO2 gleich 1 gesetzt werden, und wir erhalten das
Ergebnis, dass Sauerstoff in neutraler Lösung um −0,42 V schwächer oxidierend
wirkt als in stark saurer Lösung.
Merke: In vielen Biochemiebüchern finden wir übrigens für biologisch interessante Redox-
systeme, die in der gezeigten Weise vom pH abhängen und in denen H+ -Ionen in der
Reaktionsgleichung eine Rolle spielen, gleich anstelle der „echten“ Normalpotentiale,
die eigentlich eine Konzentration der H+ -Ionen von 1 M voraussetzen, so genannte
effektive Normalpotentiale E0eff , die um 0,42 Volt negativer sind als die jeweiligen
Standard-Normalpotentiale E0 .
150 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Wir werden sehen, dass die komplizierten Reaktionen, die notwendig sind, um
zum Beispiel Kohlenhydrate oder Fette unter Zuhilfenahme von eingeatmetem
Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxid zu „verbrennen“, sich im Wesentlichen –
wenn wir allen „Ballast“ vernachlässigen – auf die Oxidation von Wasserstoff mit
Sauerstoff zu Wasser reduzieren lassen.
Wieviel Energie liefert die Verbrennung von Wasserstoff mit Sauerstoff eigentlich?
Ein Gemisch aus Wasserstoffgas und Sauerstoffgas ist zwar bei Raumtempe-
ratur metastabil, doch genügt ein Funke, und das Gemisch explodiert, wobei
unter heftigster Wärmeentwicklung Wasser entsteht (Knallgasexplosion). Die
zugrunde liegenden Halbreaktionen sind:
und
1
O2 + 2H+ + 2e− → H2 O; E0 = +1,24 Volt
2
Die Differenz der Normalpotentiale – und damit die Triebkraft für die Reak-
tion – ist also:
Diese bei der Reaktion freiwerdende Standardenthalpie ist stark negativ. Die
Reaktion besitzt daher eine große Triebkraft. Das manifestiert sich auch sehr
überzeugend dadurch, dass das Gemisch so explosiv reagieren kann.
Merke: In lebenden Zellen dient der eingeatmete Sauerstoff der Luft zur Oxidation (Verbren-
nung) der Nährstoffe; sein hohes Oxidationspotential liefert die Triebkraft dazu und
bietet so die Grundlage für alle Lebensvorgänge, die Energie erfordern.
3.1 Die Chemie der Oxidation und Reduktion 151
Der wichtigste Teil dieses komplexen Moleküls ist die hervorgehobene Nicoti-
namid-Gruppe. Sie kann in der hier dargestellten oxidierten Form (NAD+ ) von
reduzierten Nährstoffen wie Glucose Wasserstoff aufnehmen. Die entstehende
reduzierte Form des Coenzyms, NADH + H+ , stellt die bedeutendste zelluläre
Speicherform von Wasserstoff dar. Abb. 3.7 zeigt, dass die für die Funktion dieses
Coenzyms relevante Reaktion sich im Nicotinamidteil des Moleküls abspielt.
Abb. 3.7: Die Reduktion des NAD+ führt zur Bildung von NADH, der biologischen Speicherform von
Wasserstoff.
152 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
2H+ + 2e− → H2
mit E0 = 0,00 V (E0eff = −0,42 V). Dennoch ist der Potentialunterschied zum
Sauerstoffsystem mit E0 = 1,14 V nicht wesentlich kleiner als bei Wasserstoff
selbst. Die damit verbundene Änderung der freien Enthalpie
stellt ebenfalls eine sehr große Triebkraft für die Oxidation durch Sauerstoff
dar.
Merke: Wenn Sauerstoff mit der Wasserstoff-Speicherform der Zelle, dem reduzierten Coen-
zym NADH, reduziert wird, wird fast genau so viel Energie frei wie bei der Knallgas-
explosion!
Die Energie wird nicht in einem Schritt frei wie bei der Knallgasexplosion,
sondern die Zelle führt die Oxidation in mehreren Einzelschritten durch. Die
Elektronen werden kaskadenartig auf biologische Redoxsysteme übertragen,
die ein zunehmend positiveres Normalpotential besitzen, bis schließlich Sauer-
stoff selbst vom letzten Redoxsystem zu Wasser reduziert wird. Wir können uns
hier die Analogie mit einem System von mechanischen Turbinen vorstellen, die
durch Kaskaden von Wasserfällen angetrieben werden – die vom hohen Energie-
niveau des NAD+/NADH-Redoxpaares zum tiefen Energieniveau des Redox-
paares Sauerstoff-Wasser „fallenden“ Elektronen treiben chemische Turbinen an
(Abb. 3.8).
Die Einzelschritte liefern die Energie in einem Ausmaß, welches die Zelle ver-
werten kann. Sie erzeugt damit eine chemische Speicherform von Energie, näm-
lich Adenosintriphosphat (ATP; siehe Kapitel 9, Abschnitt 1 „Nucleinsäuren“).
Dieses Molekül kann bei Bedarf gespalten werden, wobei die in den energierei-
chen Bindungen des Moleküls gespeicherte Energie frei wird und von der Zelle
je nach ihrer spezifischen Aufgabe genutzt werden kann, etwa für Muskelarbeit.
Merke: Der mit der Reduktion des Sauerstoffmoleküls zu Wasser verbundene Energiege-
winn, der in der lebenden Zelle in Form chemischer Energie speicherbar und nutzbar
gemacht wird, stellt die energetische Grundlage für das Leben dar.
3.2 Die zelluläre Produktion von Energie 153
Abb. 3.8: Schematische Darstellung der Atmungskette: Die Wasserstoffe der Nährstoffe – in Form
von NADH chemisch gebunden – „fallen“ entlang des Gradienten des elektrochemischen Potentials
„hinunter“ zum Sauerstoff, der dadurch zu Wasser reduziert wird. Die dabei freiwerdende Energie
„treibt die ATP-Generatoren“: ATP als chemische Speicherform für Energie wird produziert und steht
der Zelle anschließend für verschiedenste Zwecke zur Verfügung.
Woher kommen die notwendigen Protonen und Elektronen, die NAD+ erst zu
NADH reduzieren? Und wie sieht dieses elektronengetriebene Kraftwerk mit den
ATP-Generatoren chemisch aus?
Diesen Fragen gehen wir in den Abschnitten 3.3 „Zelluläre Produktion von
Energie“, 3,4 „Die Glycolyse“, 3,5 „Der Citrat-Zyklus“ und 3,6 „Die Atmungs-
kette“ genauer nach.
Lehrziel
Die Evolution hat eine ausgeklügelte molekulare Maschinerie „erfunden“, die es Zellen ermög-
licht, aus dem Abbau der Nahrung die erforderliche „Lebensenergie“ zu beziehen.
In diesem und den folgenden drei Abschnitten werden wir die chemischen Aspekte dieser
unglaublich raffinierten Kette von hintereinander geschalteten Reaktionen kennen lernen.
Lebende Organismen sind nicht nur durch ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung aus-
gezeichnet, sondern auch durch das Vorliegen eines Stoffwechsels. Sie sind im
Sinne der Thermodynamik offene Systeme. Sie nehmen aus der Umgebung
komplexe organische Substanzen auf, bauen diese für ihre Zwecke ab und in
vielfältiger Weise zu eigenen Bestandteilen um und geben schließlich Abbau-
Endprodukte wieder an die Umwelt ab. Die aufgenommenen Substanzen haben
generell einen relativ höheren Organisationsgrad und damit geringere Entropie
als die Abbauprodukte. Bei ihrer Degradation wird Freie Enthalpie erzeugt. Diese
154 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
steht den Lebewesen in Form von Wärme und von gespeicherter chemischer Ener-
gie zur Verfügung.
Wir wollen einen ersten Eindruck von der komplexen (bio)chemischen Maschi-
nerie gewinnen, die solche Reaktionen bewerkstelligen kann. Zu diesem Zweck
verfolgen wir das Schicksal eines Glucose-Moleküls, welches – kurz gesagt – zu
Kohlendioxid und Wasser „verbrannt“ wird.
Dabei wollen wir uns bewusst auf die chemischen Transformationen der Glu-
cose und der zahlreichen Zwischenstoffe beschränken, ohne auf die Komplexität
der dahinter stehenden zellulären Realität einzugehen. Diese Komplexität stellt
sicher, wo und an welchen Strukturen die einzelnen Schritte sich abspielen, wo
Enzyme und Coenzyme für ein sowohl geordnetes als auch hinlänglich rasches
Reaktionsgeschehen sorgen, und wo diverse Schnittstellen zu anderen ab- und
aufbauenden (katabolen und anabolen) Stoffwechselwegen existieren, über die
weitere Moleküle eingeschleust oder abgezweigt werden. Die molekularen Reak-
tionsmechanismen werden uns hierbei nur am Rande interessieren.
Trotz all dieser Einschränkungen wird uns diese Reise mit Staunen erfüllen. Wir
Menschen können zwar die plumpe Verbrennung von Glucose mit Sauerstoff mit
etwas Geschick mittels eines Stückes Traubenzucker und einem Feuerzeug (und
etwas Zigarettenasche als Katalysator) bewerkstelligen. Diese Verbrennung aber
liefert soviel Energie, dass jede Zelle unwiderruflich zerstört würde. Die Evolution
der Lebewesen hat in genialer Weise das Problem gelöst, diese Verbrennung so
zu gestalten, dass die freiwerdende Energie mit hoher Effizienz in nutzbare che-
mische Energie transformiert wird. Außerdem können dabei biologisch wichtige
Zwischenprodukte für andere Zwecke abgezweigt werden. Die ganze Maschine-
rie funktioniert unter sehr unterschiedlichen Bedingungen – aeroben ebenso wie
anaeroben – und garantiert damit ein Höchstmaß an Flexibilität und Anpassungs-
fähigkeit.
Ein – zugegebenermaßen stark vereinfachtes – Schema des komplizierten
Apparats zeigt Abb. 3.9.
Wir unterscheiden drei Teilbereiche:
Links oben wird ein Glucose-Molekül, ein aus 6 C-Atomen bestehendes (C6 )
Substrat, in die Maschinerie eingespeist. In einer weitgehend linearen Reak-
tionssequenz werden daraus zuerst C3 - und schließlich, unter Abspaltung eines
ersten C-Atoms von jedem der entstandenen C3 - Körper als CO2 , C2 -Bausteine
generiert. Diese Reaktionsstrecke ist die Glycolyse, eine entwicklungsgeschicht-
lich sehr alte, noch nicht besonders effiziente, aber sehr robuste Art der Energie-
gewinnung, die nicht an die Verfügbarkeit von Sauerstoff gebunden ist. Sie ist
eine anaerobe Reaktionsfolge.
Die so erzeugten C2 -Bausteine werden anschließend in einen sehr interessan-
ten Kreisprozess eingespeist, der die beiden C-Atome zu CO2 verarbeitet und –
wie in geringerem Ausmaß auch die Glycolyse – „Wasserstoffe“ liefert. Diese sind
an bestimmte Wasserstoff-Übertragungsmoleküle gebunden und werden dann an
den dritten Teilprozess geliefert. Dort reduzieren sie schließlich Sauerstoff zu Was-
ser. Der Kreisprozess, bekannt als Citrat-Zyklus (Tricarbonsäurezyklus, Krebs-
zyklus), nimmt nach seiner am Ende eines Durchlaufs erfolgenden Regeneration
wiederum einen C2 -Baustein auf und baut ihn in gleicher Weise ab, usw.
3.2 Die zelluläre Produktion von Energie 155
HH
2
C H
C6 HO
O
HO H
HO
H OH
H OH
C3
NADH NAD쎵
CO2
FPH2 I FP
C2
UQH2 UQ
cII cIII
aII IV aIII
a3II a3III
H2O O2
Abb. 3.9: Schematische Darstellung der zellulären Energieproduktion: Ein komplexes C6-Molekül
wie Glucose wird schrittweise zuerst zu zwei C3-Körpern und dann unter Freisetzung von Kohlen-
dioxid zu C2-Körpern abgebaut (Glycolyse). Diese werden in einen Kreisprozess – den Citratzyklus –
eingespeist und weiter abgebaut, wobei wiederum Kohlendioxid und Wasserstoff freigesetzt wird.
Letzterer ermöglicht durch seine Oxidation zu Wasser in der Atmungskette die Erzeugung von ATP
(siehe auch Abb. 3.8).
Der dritte Teilprozess schließlich, die Atmungskette, stellt das zelluläre Pendant
zur bekannten Knallgasexplosion dar, der explosionsartigen Reaktion von Wasser-
stoff mit Sauerstoff zu Wasser. Er wird in einer höchst eleganten Reaktionsführung
über mehrere Reaktionskaskaden realisiert, die das „Auffangen“ der beträcht-
lichen freiwerdenden Reaktionsenergie in Form energiereicher ATP-Moleküle
erlaubt. Diese stehen dann der Zelle als eine Art „Kleingeld“ für die Erledigung
ihrer vielfältigen Aufgaben zur Verfügung.
156 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Lehrziel
Der älteste Teilprozess der Energiegewinnung ist die Glycolyse – der Abbau von Kohlenhydraten.
Dieser Prozess erfordert keinen Sauerstoff. Er wird auch heute noch von vielen Organismen als
primäre Energiequelle genutzt. Bei großer und länger andauernder Anstrengung spielt dieser
anaerobe Mechanismus auch für unsere Muskeln eine wichtige Rolle.
Die Glycolyse stellt die erste der drei großen Reaktionssequenzen (Glycolyse,
Citrat-Zyklus, Atmungskette) im Rahmen der zellulären Energieproduktion dar.
Aus einem Molekül Glucose (C6 ) werden zwei Pyruvat-Bausteine (C3 ) erzeugt
(Abb. 3.10), die unter aeroben Bedingungen unter CO2 -Freisetzung zu Acetyl-
CoA (C2 ) abgebaut werden. Dieses wird zur völligen Umsetzung auch der beiden
restlichen C-Atome zu CO2 in den Citrat-Zyklus eingeschleust.
Die Glycolyse-Enzyme finden sich im Cytosol. Alle unsere Zellen sind zu die-
ser Reaktionsfolge befähigt, die evolutionsgeschichtlich viel älter ist als etwa die
Atmungskette, die im Gegensatz zur Glycolyse an das Vorhandensein von Sau-
erstoff in der Atmosphäre geknüpft ist.
Die Glycolyse vollzieht sich in zwei Phasen: In der Vorbereitungsphase wird
Glucose unter Aufwendung von zwei ATP-Molekülen in zwei C3 -Einheiten frag-
mentiert; in der Phase der Energieerzeugung werden aus diesen 2 Pyruvat-
Moleküle gebildet, wobei jetzt 4 ATP-Moleküle und 2 NADH-Moleküle gebildet
werden, die – in die Atmungskette eingespeist – weitere ATP-Moleküle liefern
können.
Selbst unter anaeroben Bedingungen, also auch ohne Atmungskette, beispiels-
weise in den Erythrocyten, liefert die Glycolyse eine – wenn auch bescheidene –
Energieproduktion, da mehr ATP erzeugt wird als eingesetzt werden muss.
Die erste Reaktion ist eine ATP-getriebene Phosphorylierung der Glucose
(Abb. 3.11).
Glucose wird in dieser Reaktion durch die Umwandlung zu Glucose-6-phosphat
aktiviert. ATP überträgt einen Phosphat-Rest und wird zu ADP (Adenosindiphos-
phat) degradiert.
Der nächste Schritt ist die reversible Isomerisierung des Glucose-6-phosphats
zu Fructose-6-phosphat (Abb. 3.12).
Es folgt eine zweite ATP verbrauchende Phosphorylierung, diesmal am C1 , zu
Fructose-1,6-bisphosphat (Abb. 3.13).
Das „bis“ im Namen des Produkts bedeutet, dass die beiden Phosphatreste
esterartig an unterschiedlichen C-Atomen gebunden sind. Im ADP hingegen
bedeutet das „diphosphat“, dass ein Phosphatrest esterartig an einem C-Atom
hängt, der zweite Phosphatrest aber durch eine Säureanhydrid-Bindung direkt
an den ersten gebunden ist.
Der nun folgende Schritt ist besonders interessant: Fructose-1,6-bisphosphat
wird enzymatisch in zwei C3 -Fragmente gespalten, und zwar in einer so genann-
ten Retro-Aldol-Umwandlung, also der Umkehrung einer Aldol-Addition (siehe
Abschnitt 3.6 „Carbonylverbindungen“). Dabei entstehen phosphorylierte Trio-
3.3 Die Glycolyse 157
HH
2
C H
HO
O
HO H
HO
H OH
H OH O
HH
앥 2
O P O C H
앥 O
O O HO H
앥
HO
O P O
CH2OH H OH
앥
O OH
H
H HO
H OH O O
앥 앥
O P O O P O
앥 H2C 앥
O O
H HO
H OH
H2C OH HC O
O C O HC OH
앥
H2C O P O H2C O
앥 앥
O O P O
앥
O
Pi
O
앥
O P O O
앥
C
O
HC OH
҂2 O
앥
O
H2C O C
앥
O P O HC OH
앥
O H2C O
앥
O O O P O
앥
C O
앥
앥 O
HC O P O
앥
CH2OH O H2O
앥
O O
C O
앥
C O P O
앥
CH2 O
앥
O O
C
C O
CH3
O
HH HH
2 앥 2
C H O P O C H
HO ATP ADP
O 앥 O
HO H O HO H
HO HO
H OH H OH
H OH H OH
Glucose Glucose-6-phosphat
Abb. 3.11: Die Startreaktion der Glycolyse ist die Phosphorylierung der Glucose.
O
O
HH 앥
앥 2
H O P O
O P O C CH2OH
앥
앥 O O
O HO H
HO H HO
H OH H OH
H OH
Glucose-6-phosphat Fructose-6-phosphat
sen, und zwar die Phosphorsäureester der Ketotriose Dihydroxyaceton und der
Aldotriose Glycerinaldehyd.
Dihydroxyaceton-phosphat wird durch ein Enzym in Glycerinaldehyd-3-
phosphat isomerisiert (Abb. 3.14). Die letztere Verbindung wird für die weite-
ren Reaktionen verwendet. Das Isomerisierungsgleichgewicht liegt zwar stark auf
der Seite des Dihydroxyaceton-phosphats. Da aber Glycerinaldehyd-3-phosphat
schnell durch die weiteren Reaktionen verbraucht wird, ist dies relativ belanglos.
Wir haben jetzt also aus einem Molekül Glucose zwei Moleküle Glycerinaldehyd-
3-phosphat erhalten; alle folgenden Reaktionen laufen also pro Mol Glucose zwei-
mal ab. Dies ist für die Energiebilanz wichtig. Bis hierher haben wir zwei ATP
verbraucht. Im Folgenden erhalten wir pro Glycerinaldehyd-3-phosphat für die
3.3 Die Glycolyse 159
Umsetzung zu Pyruvat 2 ATP; insgesamt also 4 ATP und damit einen Netto-
Energiegewinn von 2 ATP nur durch die „nackte“ Glycolyse, ohne Atmungskette.
Die nun folgende Reaktion ist sehr interessant: Glycerinaldehyd-3-phosphat
wird gleichzeitig an der Aldehydfunktion zur Carbonsäure oxidiert und diese
mit Hilfe von anorganischem, freien Phosphat, also ohne ATP-Verbrauch, zu
einem energiereichen Säureanhydrid, dem 1,3-Bisphosphoglycerat, umgesetzt
(Abb. 3.15).
Abb. 3.15: Glycerinaldehyd-3-phosphat wird unter Bildung von NADH unter Verbrauch von anor-
ganischem Phosphat (Pi ; i steht für englisch inorganic = anorganisch) zu 1,3-Bisphosphoglycerat
oxidativ phosphoryliert.
Abb. 3.16: 1,3-Bisphosphoglycerat führt zur Bildung von ATP aus ADP; die Spaltung der energie-
reichen Säureanhydrid-Bindung zwischen 3-Phosphoglycerinsäure und Phosphorsäure liefert die dazu
nötige Energie.
Nun folgt wieder eine einfache Isomerisierung; die Phosphatgruppe wird von C3
zu C2 umgeestert (Abb. 3.17).
Und jetzt kommt PEP ins Spiel! Durch eine enzymkatalysierte Wasserabspal-
tung entsteht Phosphoenolpyruvat, die Verbindung mit dem höchsten Phosphat-
gruppen-Übertragungspotential (G0 ≈ 60 kJ · Mol−1 ; Abb. 3.18).
PEP ist wesentlich energiereicher selbst als ATP (G0 ≈ 30 kJ · Mol−1 ) und deshalb
bestens geeignet für eine nachfolgende Phosphorylierung von ADP zu ATP. Das
Produkt dieser letzten Reaktion ist Pyruvat, unser Zielmolekül (Abb. 3.19).
Abb. 3.19: PEP ist besonders energiereich – wieder kann ein ATP gebildet werden und Pyruvat, das
Endprodukt der Glycolyse im Menschen, bleibt „übrig“ – bereit für die Einspeisung in den Citratzyklus.
Abb. 3.20: Vor der Einspeisung in den Citratzyklus wird aerob ein C-Atom des Pyruvats als Kohlen-
dioxid abgespalten. Als „Nebenprodukt“ fällt gleich auch ein NADH, also gebundener Wasserstoff,
an.
Bei dieser Reaktion wird das Carbonyl-C-Atom des Pyruvats zu einem Carboxyl-
C oxidiert – ein Thioester ist ein Derivat einer Carbonsäure. Die entstehenden
Elektronen reduzieren ein NAD+ zu NADH. Dieses wird in die Atmungskette
eingespeist. Das Acetyl-CoA hingegen tritt in den Citrat-Zyklus ein und wird
dort völlig abgebaut,
Menge zur Verfügung steht – mit dem Citrat-Zyklus und der Atmungskette kom-
biniert, so werden unterm Strich aufgrund der sehr stark exergonischen Oxidation
der freigesetzten Wasserstoff-Äquivalente 32 (!) ATP-Moleküle produziert. Trotz
dieser offensichtlich viel höheren Energieausbeute der aeroben Atmungskette
war die Glycolyse entwicklungsgeschichtlich außerordentlich wichtig, da sie ein
anaerober Prozess ist und keinen Sauerstoff benötigt.
Die Glycolyse spielt aber auch im menschlichen Organismus nicht nur eine
wichtige Rolle als Vorbereitung für Citrat-Zyklus und Atmungskette, sondern
repräsentiert den zentralen Mechanismus der Energieproduktion dort, wo kein
oder zu wenig Sauerstoff verfügbar ist. In den Erythrozyten, die nicht mehr über
Mitochondrien – und damit weder über Citrat-Zyklus noch Atmungskette ver-
fügen – stellt die Glycolyse die erforderliche Energie bereit, und im Skelettmuskel
wird ebenfalls bei hoher Anstrengung, wenn die Sauerstoffkonzentration nicht
mehr ausreicht, die Glycolyse zur Energieproduktion wichtig. In diesen anaero-
ben Situationen wird Pyruvat nicht zu Acetyl-CoA abgebaut, sondern durch die
Lactatdehydrogenase zu Lactat, der konjugierten Base der Milchsäure, reduziert
(Abb. 3.21).
Abb. 3.21: Unter anaeroben Bedingungen wird Pyruvat unter Verbrauch von NADH zu Lactat, dem
Salz der Milchsäure, reduziert. Beim Muskelkater spüren wir dies.
Lehrziel
Der Citrat-Zyklus ist ein Kreisprozess, der den weiteren Abbau des aus der Glycolyse stammenden
Acetats zu CO2 , H+ -Ionen und Elektronen bewirkt. Die H+ -Ionen und Elektronen dienen in der
anschließenden Atmungskette zur Reduktion von Sauerstoff zu Wasser.
Abb. 3.22 zeigt ein erstes und wohl noch etwas verwirrendes Übersichtsbild dieses
zentralen Schlüsselprozesses in der zellulären Energieproduktion.
Würden wir alle Facetten dieses Kreisprozesses berücksichtigen, wäre die
Abbildung noch um einiges komplizierter. Wir verzichten ganz bewusst auf viele
Details wie etwa die genaue Besprechung der beteiligten Katalysatoren (Enzyme
3.4 Der Citrat-Zyklus 163
Abb. 3.22: Übersicht über den weiteren Verlauf des Abbaus der Glucose im genialen Kreisprozess des
Citratzyklus: Die C-Atome des Pyruvats ergeben Kohlendioxid; die Reduktionsäquivalente, das sind die
Wasserstoffe, werden in Form von NADH für die „Verbrennung“ mit Sauerstoff in der Atmungskette
bereitgestellt.
In der Tat ist die Funktion des Citrat-Zyklus noch vielschichtiger, da er auch von
anderen Stoffwechselwegen her eingespeist werden kann und seine Zwischen-
produkte auch in wichtige andere Biosynthesewege eingreifen können. Diese
Details überlassen wir Lehrbüchern der Biochemie.
Abb. 3.23: Die „Einspeisungsreaktion“: Hier wird die Glycolyse unter aeroben Bedingungen im Citrat-
zyklus angekoppelt; es entsteht Citrat – Namensgeber des gesamten Kreisprozesses.
Die nächste Reaktion ist eine Isomerisierung des Citrats zu Isocitrat (Abb. 3.24).
Die tertiäre Alkoholgruppe (siehe Kapitel 5, Abschnitt 2 „Alkohole und Ether“)
wird zu einer sekundären Alkoholgruppe umgelagert.
Der Sinn dieser Maßnahme ist es, die weitere Oxidation des Moleküls zu ermög-
lichen. Tertiäre Alkohole können chemisch nicht sinnvoll weiter oxidiert werden,
sekundäre Alkohole dagegen können zu Ketonen oxidiert werden.
Und in der Tat: Die nächste Reaktion (Abb. 3.25) erledigt gleich mehrere
Aufgaben: Das Isocitrat wird decarboxyliert. Damit ist das erste der beiden
C-Atome aus dem Acetat erfolgreich in CO2 umgewandelt. Die sekundäre Alko-
holfunktion wird zum Keton oxidiert. Die entstehenden Protonen und Elektronen
„schnappt sich“ der Elektronentransporter NAD+, der – zu NADH reduziert – in
die Atmungskette eingespeist werden kann.
Abb. 3.25: Das zweite C-Atom des Pyruvats ist zu Kohlendioxid umgewandelt und außerdem entsteht
ein wertvolles NADH – „Brennstoff“ für die Atmungskette.
166 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Die nächste Reaktion ist ähnlich (Abb. 3.26). Auch hier erfolgt eine oxida-
tive Decarboxylierung. Allerdings wird hier die freigesetzte Energie gleich dazu
benutzt, mit einem CoA einen aktiven, energiereichen Thioester zu bilden. Dabei
entsteht Succinyl-CoA. Das ist die mit CoA aktivierte Form der Bernsteinsäure.
Der ursprüngliche Carbonyl-Kohlenstoff des -Ketoglutarats – das ist die kon-
jugierte Base der -Ketoglutarsäure – wird dabei zum Carboxyl-Kohlenstoff des
Succinyl-CoA oxidiert. Die freigesetzten Elektronen reduzieren zusammen mit
einem Proton des Coenzyms A (HSCoA) ein NAD+ zu NADH, das in die Atmungs-
kette eingespeist werden kann.
Abb. 3.26: Das letzte C-Atom des Pyruvats ist oxidiert – und wieder entsteht ein NADH.
Übrigens – haben Sie bemerkt, dass nun auch das zweite C-Atom des Acetyl-CoA
in CO2 umgewandelt ist?
In unserem Übersichtsschema ist die nächste Reaktion einfach als Hydrolyse
des Succinyl-CoA durch Wasser zu Succinat, der konjugierten Base der Bernstein-
säure, vereinfacht dargestellt. In Wahrheit ist es etwas aufregender (Abb. 3.27).
Aufgrund der hohen Energie der Thioesterbindung wird das Wasser aus der
Kondensationsreaktion von Guanosindiphosphat (GDP) mit organischem Phos-
phat zu Guanosintriphosphat GTP (siehe Kapitel 9, Abschnitt 1 „Nucleinsäuren“)
gewonnen. Diese Reaktion liefert somit gleich auch einen biologischen Energie-
träger, der praktisch völlig analog zu ATP ist. Normalerweise muss ja für die stark
endergonische Reaktion
GDP + Pi → GTP + H2 O
Abb. 3.27: Jetzt beginnt die Regeneration des Kreisprozesses. Die Hydrolyse des aktiven Esters
Succinyl-CoA liefert ein GTP, das ebenso gut Energie bereitstellt wie ATP.
3.4 Der Citrat-Zyklus 167
Energie aufgewendet werden; hier wird sie der Hydrolyse der energiereichen
Thioesterbindung entnommen.
Nach diesen Schritten erfolgt die Regeneration des Oxalacetats, damit der
Kreislauf mit einem neuen Acetyl-CoA erneut starten kann. Dabei muss wie-
der ein O-Atom in das Molekül eingebaut werden. Dies geschieht in drei Reak-
tionsschritten, die ein Wassermolekül als Sauerstofflieferant miteinbeziehen und
nochmals 2 reduzierte NADH-Moleküle als „Brennstoff“ für die Atmungskette
liefern.
Wie geschieht der Einbau des Sauerstoffs? Mit einem genialen Trick. Die zen-
trale C–C-Bindung im Succinat wird zu einer C==C-Doppelbindung oxidiert. Dies
liefert wiederum verwertbaren „Wasserstoff“ und ermöglicht am Produkt, dem
Fumarat, der konjugierten Base der Fumarsäure, die Addition von Wasser zum
sekundären Alkohol Malat. Dieses ist die konjugierte Base der Äpfelsäure. Noch-
malige Oxidation unter Bildung eines weiteren NADH bringt uns das gewünschte
Oxalacetat. Diese Reaktionssequenz ist in Abb. 3.28 bis Abb. 3.30 dargestellt.
Die Oxidation des Succinats kann NAD+ nicht reduzieren, da NAD+ ein zu
wenig positives Normalpotential besitzt. Jedoch kann das Flavin-Coenzym FAD
(siehe Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vitamine und Coenzyme“) reduziert werden
(Abb. 3.28).
Abb. 3.28: Bei dieser Oxidation fällt nochmals gebundener Wasserstoff an, der ebenso wie NADH in
der Atmungskette „verbrannt“ werden kann.
Das Enzym, das hier im Spiel ist, die Succinat-Dehydrogenase, begegnet uns übri-
gens als Komplex II bei der Besprechung der Atmungskette. Es kann Ubichinon
gleich direkt zu Ubichinol reduzieren. Damit bildet es einen alternativen und sehr
direkten Einstieg in die Atmungskette neben NADH.
Danach folgt die reversible Addition von Wasser (Abb. 3.29).
Abb. 3.29: Addition von Wasser an die Doppelbindung des Fumarats liefert Malat.
168 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Die Oxidation zu Oxalacetat schließt den Zyklus ab, indem sie das Startmolekül
wieder regeneriert (Abb. 3.30).
Abb. 3.30: Die abschließende Oxidation des Malats liefert NADH und das für einen neuerlichen
Durchgang durch den Zyklus benötigte Oxalacetat: Der Kreis ist geschlossen.
Lehrziel
Der letzte Teilprozess der biologischen Energiegewinnung sorgt für eine schrittweise Oxidation
der H+ -Ionen und Elektronen aus dem vorangegangenen Abbau von Glucose durch Glycolyse
und Citrat-Zyklus. Die Energieproduktion in der Atmungskette ist sehr hoch und übertrifft die
Energieerzeugung durch die anaerobe Glycolyse bei weitem.
G = −z · F · E
Energiebeträge freigesetzt, die an drei Stellen die Produktion von ATP aus anorga-
nischem Phosphat PO3− 4 und ADP ermöglichen. ATP stellt gespeicherte chemische
Energie dar. Es ist das „Kleingeld der Zelle“, das unentwegt synthetisiert wird,
um die vielen biochemischen Reaktionen in der Zelle am Laufen zu halten.
Die folgenden Erklärungen beschränken sich auf die wesentlichen Redoxre-
aktionen, die in der Atmungskette eine Rolle spielen. Diese Reaktionen finden
in einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Enzymsysteme statt, die als
Komplex I, III und IV bezeichnet werden und uns im Detail nicht weiter interes-
3.5 Die Atmungskette 169
Abb. 3.31: Übersicht über das weitere Schicksal des in Form von NADH gebundenen Wasserstoffs:
Er wird über eine Kaskade von gekoppelten Redoxsystemen mit jeweils positiverem Potential letztlich
zu Sauerstoff transportiert und zu Wasser oxidiert. Die Energie der vom negativem zum positivem
Potential „stürzenden“ Elektronen wird zur Produktion von ATP benutzt.
sieren. (Es gibt daneben eine weitere Einstiegstelle in die Atmungskette, Kom-
plex II, den wir der Einfachheit wegen hier vernachlässigen. Siehe dazu auch
Abschnitt 3.4 „Der Citrat-Zyklus“.)
Der zelluläre Wasserstoffspeicher NADH, mengenmäßig der wichtigste Liefe-
rant von chemisch gebundenem Wasserstoff, überträgt die Elektronen in einem
ersten Schritt auf ein Flavoprotein (FP), welches dadurch reduziert wird. Die redu-
zierte Form kürzen wir mit FPH2 ab:
Abb. 3.33: Die Reduktionsäquivalente werden zuerst von einem Flavinmolekül übernommen.
Der nächste Schritt ist die Übertragung der Elektronen und der H+ -Ionen vom
reduzierten Flavinmononucleotid FMNH2 auf Ubichinon. Dieses wird dabei von
der chinoiden Form zur Diphenolform (siehe Kapitel 8, Abschnitt 3 „Phenole und
Chinone“) reduziert, die wir als Ubichinol bezeichnen (Abb. 3.34).
Abb. 3.34: Der weitere Transport führt über ein Chinonsystem, das Ubichinon, welches zu Ubichinol
reduziert wird.
3.5 Die Atmungskette 171
Die Seitenkette rechts unten in Ubichinon und Ubichinol müssen wir uns als lan-
gen, beim Menschen insgesamt 50 C-Atome umfassenden, apolaren Molekül-
teil vorstellen. Er besteht aus 10 Einheiten des C5 -Moleküls 2-Methyl-buta-1,3-
dien (Isopren) und dient als lipophiler Anker zur Befestigung des Ubichinons/
Ubichinols in der apolaren Mitochondrienmembran (siehe auch Kapitel 10,
Abschnitt 1 „Lipide“).
Ubichinon ist die zentrale Sammelstelle der Elektronen. Es nimmt von NADH
über den Komplex I und auch vom Komplex II Elektronen auf und reicht sie an
Komplex III weiter.
Ab hier übernehmen verschiedene Proteine, die durch Kleinbuchstaben (a, b, c)
unterschiedenen Cytochrome, den Weitertransport der Elektronen. Die H+ -Ionen
des Ubichinols werden direkt an den Sauerstoff weitergereicht, da die Cyto-
chrome nur Elektronen transportieren können.
Wir wollen uns hier nicht mit den komplizierten biochemischen Prozessen
befassen, nur ein interessantes molekulares Detail wollen wir genauer betrachten:
Einige der beteiligten Cytochrome, wie Cytochrom c, enthalten als elektronen-
übertragendes Coenzym die Häm-Gruppe, die wir auch im Hämoglobin finden.
Hämoglobin transportiert bekanntlich Sauerstoff aus der Lunge ins Gewebe, wo
dieser dann in der Atmungskette zu Wasser reduziert wird.
Diese beiden unterschiedlichen Funktionen der Hämgruppe, Elektronentrans-
port im Cytochrom c und Sauerstofftransport im Hämoglobin, können durch
unterschiedliche Bindungsverhältnisse der Hämgruppe innerhalb der beiden Pro-
teine Cytochrom c und Hämoglobin gut verstanden werden.
Abb. 3.35 zeigt verschiedene Ansichten von Cytochrom c. Links oben in
Abb. 3.35 sehen wir ein Kalottenmodell des gesamten Holoenzyms, in dem die
Atome durch Kugeln in einer ihrem wahren Durchmesser proportionalen Größe
und in unterschiedlichen Farben dargestellt sind (hellgrau = C, dunkelgrau = H,
rot = O, blau = N, gelb = S, türkis = Fe). Die Darstellung zeigt ein eher kleines,
recht kompaktes Protein.
Rechts oben in Abb. 3.35 werden mehr Details sichtbar: Wir stellen hier
den Proteinteil durch das so genannte „backbone“ dar. Dieses zeigt den Ver-
lauf der Proteinkette, ohne verwirrende atomare Details wiederzugeben. In das
Protein eingebettet, ist eine auffällige flache Struktur sichtbar, die durch ein
Kalottenmodell dargestellt ist. Dieses scheibchenförmige Molekül ist eine Häm-
Gruppe, deren zentralen und wichtigen Teil, eine Porphyrin-Struktur, Abb. 3.36
zeigt.
Dieses ausgedehnte aromatische Molekülsystem hat an den vier Fünfringen
jeweils einen zum Zentrum hin orientierten Stickstoff. Mit Fe2+ -Ionen bildet
sich unter Freisetzung von 2 H+ -Ionen von den beiden NH-Gruppen der rechts
gezeigte, sehr stabile Eisenkomplex des Häm. In diesem wird das Fe2+-Ion durch
vier Komplexbindungen in Form eines Chelatkomplexes fixiert (siehe Kapitel 6,
Abschnitt 2 „Koordinative kovalente Bindung“). In Abb. 3.35 erkennen wir das
besonders gut im Bild links unten, wo nur die Eisen-komplexierende Häm-Gruppe
nunmehr als elementspezifisch eingefärbtes Stabmodell dargestellt ist. Das zen-
trale Fe2+ -Ion ist als Kalotte hervorgehoben, die durch die vier blau dargestellten
N-Atome festgehalten wird.
172 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Abb. 3.35: Verschiedene Schnappschüsse des Cytochroms (Details sind im Text erklärt)
Abb. 3.36: Das Herz aller Häm-Proteine: Der zentrale Porphyrinring, einmal ohne (rechts) und einmal
mit einem komplex gebundenen Eisen-(II)-Zentralion (rechts)
Das letzte Teilbild der Abb. 3.35 rechts unten schließlich zeigt noch etwas mehr an
Details. Wir blicken von vorne direkt auf die Kante der Häm-Ebene, die als Stab-
modell dargestellt ist. Das zentrale Fe2+ -Ion ist als Kalotte gut erkennbar. Ober-
halb und unterhalb der Hämebene finden wir zwei neue Einzelheiten. Wir sehen
zwei Aminosäure-Reste des Proteinteiles, nämlich Histidin (His) und Methio-
nin (Met), dargestellt als Stabmodelle. Diese Bestandteile des Proteins besetzen
oberhalb und unterhalb der Häm-Ebene die beiden verbleibenden der sechs Bin-
3.5 Die Atmungskette 173
dungsstellen des Fe2+ -Ions, indem sie mit diesem koordinative Bindungen über
ein N-Atom (His) und ein S-Atom (Met) eingehen. So ist nun das Fe2+ -Ion wie
von einem Oktaeder von sechs Komplexbindungen umgeben. Vier stammen
vom Häm, je eine von His und Met. Das Fe2+ -Ion kann daher nicht mehr als
Sauerstoff-Überträger wirken. Dazu müsste eine der sechs Bindungsstellen für
das O2 -Molekül frei bleiben. Aufgrund der leichten und reversiblen Oxidierbar-
keit des Fe2+ -Ions gemäß
Fe2+ → Fe3+ + e−
Abb. 3.37: Verschiedene Schnappschüsse des Hämoglobins (Details sind im Text erklärt)
174 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
darstellung rechts unten in Abb. 3.37 zeigt, nur ein Histidinrest direkt am Fe2+ -Ion
gebunden. Die 6. Bindungsstelle am Fe2+ -Ion wird durch ein Sauerstoffmolekül
besetzt (Teilbild rechts unten in Abb. 3.37).
Diese Detaileinblicke in die molekulare Struktur zweier verschiedener Häm-
enzyme, die beide zentral an der Energieproduktion der Zelle beteiligt sind, ver-
deutlichen sehr gut die beiden unterschiedlichen Funktionsweisen.
3.6 Carbonylverbindungen
Aldehyde und Ketone enthalten die Carbonylgruppe als charakteristische funk-
tionelle Gruppe (Abb. 3.38).
Abb. 3.38: Die Carbonylgruppe mit ihrer starken Polarisierung aufgrund der elektronegativen Wirkung
des doppelt gebundenen Sauerstoffs
Am Sauerstoff befindet sich eine starke negative Partialladung, der eine betrags-
mäßig gleich starke Positivierung des Carbonyl-C-Atoms gegenübersteht.
Die neben dem doppelt gebundenen O-Atom am Carbonyl-C-Atom zusätz-
lich gebundenen Atome dürfen nur C- und H-Atome sein. Aldehyde entstehen
durch Oxidation aus primären Alkoholen, Ketone aus sekundären (siehe Kapitel 5,
Abschnitt 2 „Alkohole und Ether“). Der Name Aldehyd deutet das an: Aldehyd
= alcohol dehydrogenatus. Aldehyde unterscheiden sich von Ketonen dadurch,
dass sie an der Carbonylgruppe (mindestens) ein H-Atom besitzen, Ketone aber
zwei C-Atome.
Die rationelle Benennung der Aldehyde und Ketone ist einfach. An den Namen
der Stammverbindung, das ist die längste Kette von C-Atomen, die die Carbonyl-
gruppe enthält, werden die Endungen -al bei einem Aldehyd oder -on bei einem
Keton angefügt.
Müssen wir bei Verbindungen mit mehreren funktionellen Gruppen das dop-
pelt gebundene Atom als Substituent bezeichnen, so wählen wir die Vorsilbe -oxo.
Neben den rationellen Namen sind Trivialnamen sehr gebräuchlich. Da ins-
besondere in den Lehrbüchern der Biochemie immer noch hauptsächlich diese
letzteren verwendet werden, müssen wir uns mit ihnen befassen. Bei Aldehyden
beruhen die Trivialnamen auf der Tatsache, dass sie zu Carbonsäuren (siehe
Abschnitt 3.7 „Carbonsäuren und ihre Derivate“) oxidierbar sind: An den Wort-
stamm des lateinischen Trivialnamens der entsprechenden Carbonsäure wird der
Name -aldehyd angehängt. Einige Beispiele zeigt die folgende Tabelle:
3.6 Carbonylverbindungen 175
Tab. 3.3: Nomenklatur von Aldehyden und die Beziehung ihrer Trivialnamen zu den Trivialnamen der
entsprechenden Carbonsäuren.
O Methanal Methansäure
[Ameisensäure]
C {Formaldehyd} {acidum formicum}
H H
O Ethanal Ethansäure
[Essigsäure]
C {Acetaldehyd} {acidum aceticum}
H3C H
O Propanal Propansäure
[Propionsäure]
H3C C {Propionaldehyd} {acidum propionicum}
CH2 H
O Butanal Butansäure
[Buttersäure]
CH2 C {Butyraldehyd} {acidum butyricum}
H3C CH2 H
Bei Ketonen nennen wir die Namen der an die Carbonylgruppe gebundenen
Alkylreste und fügen die Endung –keton hinzu (Tab. 3.4).
Bei der in Tab. 3.4 zuletzt angeführten Verbindung müssen wir die Stellung
der Carbonylgruppe angeben, da eine stellungsisomere Verbindung Pentan-2-on
auch existiert.
O Propanon Dimethylketon
[Aceton]
C
H3C CH3
176 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
O Butanon Ethylmethylketon
H3C C
CH2 CH3
O Pentan-3-on Diethylketon
H3C C CH3
CH2 CH2
Schließlich sehen wir uns noch die Strukturen und Namen von zwei aromatischen
Aldehyden an:
O Phenylmethanal Phenylmethansäure
C [Benzoesäure]
H {Benzaldehyd} {acidum benzoicum}
OH 2-Hydroxy-phenylmethanal 2-Hydroxy-phenylmethansäure
O [Salicylsäure]
C {Salicylaldehyd} {acidum salicylicum}
H
Die Carbonylgruppe ist – wie in Abb. 3.38 gezeigt – stark polarisiert. Daher wei-
sen Carbonylverbindungen beträchtliche zwischenmolekulare Wechselwirkun-
gen, so genannte Dipol-Dipol-Kräfte, auf. Sie schmelzen und sieden folgerichtig
bei höheren Temperaturen als die entsprechenden Alkane.
Aldehyde und Ketone mit 1 bis zu etwa 5 C-Atomen sind gut bis vollständig
wasserlöslich, da sie über das negativ polarisierte O-Atom mit H2 O-Molekülen
Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden können.
3.6 Carbonylverbindungen 177
Abb. 3.39: Die Bildung eines Halbacetals aus einer Carbonylverbindung und einem Alkohol
Abb. 3.40: Ein Halbacetal reagiert mit überschüssigem Alkohol weiter zu einem (Voll-)Acetal
178 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Die Aldol-Addition
Eine sehr interessante Reaktion ist die Verknüpfung zweier Moleküle einer
Carbonylverbindung zu einem Produkt mit doppelt so großem Kohlenstoffgerüst.
3.7 Carbonsäuren und ihre Derivate 179
Wir sehen uns diese Reaktion anhand der Addition von zwei Molekülen Acetal-
dehyd (ein C2 -Körper) zu 3-Hydroxybutanal (ein C4 -Körper ) an (Abb. 3.42).
Das Produkt, 3-Hydroxy-butanal, ist ein Aldol (ein Aldehyd-alkohol). Diese Reak-
tion ist sehr wichtig. Kohlenhydrate besitzen zum Beispiel eine Aldolstruktur. Die
Aldol-Addition ist reversibel, das heißt umkehrbar. Die Umkehrreaktion bezeich-
nen wir als Retro-Aldol-Addition. Die Zelle benützt im Stoffwechsel diese Reak-
tion zur Spaltung von Kohlenhydratmolekülen in kleinere Bruchstücke (siehe
Abschnitt 3.3 „Die Glycolyse“).
Wir bilden ihre rationellen Namen, indem wir an den Namen des entsprechen-
den Alkans die Endung -säure anhängen. Es existiert außerdem eine alternative
Bezeichnungsweise, wobei das Alkan mit einer um ein C-Atom verminderten
Kettenlänge als Stammverbindung gewählt wird und die Endung -carbonsäure
nachgesetzt wird. Viele, insbesondere die einfachen Carbonsäuren, die in der
Biochemie eine sehr zentrale Rolle spielen, haben sehr geläufige Trivialnamen,
die wir ebenso wie die Bezeichnungen der konjugierten Basen der Carbonsäuren
kennen müssen (Tab. 3.6).
In der Tabelle finden wir zuerst die einfachsten Carbonsäuren, dann eine
Gruppe von Carbonsäuren mit langen Alkylgruppen, die so genannten Fett-
säuren, und schließlich zwei aromatische Carbonsäuren (siehe auch Abschnitt 3.9
„Acetylsalicylsäure – ein Tausendsassa unter den pharmakologischen Wirk-
stoffen“).
180 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Tab. 3.6: Struktur und Benennung wichtiger Carbonsäuren und ihrer konjugierten Basen.
O Methansäure Ameisensäure
H C [Formiat ]
OH
O Ethansäure Essigsäure
H3C C [Methylcarbonsäure] [Acetat]
OH
O Propansäure Propionsäure
H3C CH2 C [Ethylcarbonsäure] [Propionat]
OH
O Butansäure Buttersäure
H3C CH2 C [Propylcarbonsäure] [Butyrat]
2 OH
... ... ...
O Dodecansäure Laurinsäure
H3C CH2 C [Undecylcarbonsäure] [Laurat]
10 OH
O Tetradecansäure Myristinsäure
H3C CH2 C [Tridecylcarbonsäure] [Myristat]
12 OH
O Hexadecansäure Palmitinsäure
H3C CH2 C [Pentadecylcarbonsäure] [Palmitat]
14 OH
O Octadecansäure Stearinsäure
H3C CH2 C [Heptadecylcarbonsäure] [Stearat]
16 OH
... ... ...
O Phenylmethansäure Benzoesäure
C [Benzoat]
OH
OH 2-Hydroxy-phenylmethansäure Salicylsäure
O [Salicylat]
C
OH
3.7 Carbonsäuren und ihre Derivate 181
In der Tabelle sind auch die Namen der konjugierten Basen der Carbonsäuren
angeführt. Wie bei den Aldehyden bilden wir den Stamm des lateinischen Trivial-
namen und hängen die Silbe -at an.
Carbonsäuren besitzen viel höhere Siedepunkte als Alkane gleicher Ketten-
länge. Der Grund dafür ist die Ausbildung relativ starker H-Brückenbindungen
zwischen den Carbonsäuremolekülen selbst, aber auch mit Wasser.
Aufgrund der Polarität der Carboxylgruppe und der Ausbildung von H-Brü-
ckenbindungen lösen sich Carbonsäuren mit bis zu 4 Atomen vollständig in Was-
ser. Bei den höher molekularen Vertretern überwiegt die Apolarität des Alkyl-
restes, und sie lösen sich daher in Wasser unvollkommen oder gar nicht.
Carbonsäuren geben das Proton an der Carboxylgruppe relativ leicht ab.
Gemessen an den meisten organischen Verbindungsklassen sind Carbonsäuren
relativ stark sauer. Sie sind jedoch erheblich schwächer als die starken anorgani-
schen Mineralsäuren wie etwa HCl.
Die Säurestärke der Carbonsäuren hängt vom Rest R ab. Reste wie etwa
Alkylgruppen, die nicht besonders elektronenanziehend oder gar elektronenreich
sind, setzen die Säurestärke herab (der pKS -Wert steigt). Daher ist Ameisensäure
(pKS = 3,7) etwas stärker als Essigsäure (4,75) und Propionsäure (4,9). Elektronen-
anziehende Substituenten dagegen verstärken die Acidität (pKS sinkt). Daher
sind Chlorethansäure (Chloressigsäure; pKS = 2,8), Dichlorethansäure (Dichlor-
essigsäure; 1,3) und Trichlorethansäure (Trichloressigsäure; 0,65) wesentlich stär-
ker als Essigsäure und erreichen fast die Stärke anorganischer Mineralsäuren.
Abb. 3.47: Die Reaktionen verschiedener Typen von Hydroxycarbonsäuren beim Erhitzen
3.8 Sauerstoff – ein Gas mit vielen Gesichtern 185
Lehrziel
Sauerstoff ist für das Leben, wie wir es heute kennen, unverzichtbar. Als Bestandteil der Atmo-
sphäre ist er aber auch ein Produkt des Lebens. In diesem Abschnitt lernen wir dieses Element
und einige seiner medizinisch sehr wichtigen Verbindungen etwas genauer kennen.
Sauerstoff ist das häufigste Element in der festen Erdkruste und nach Stickstoff
der zweitwichtigste Bestandteil der Luft: Als Disauerstoff O2 macht er etwa 21%
des Luftvolumens aus.
Die Uratmosphäre der Erde enthielt keinen freien Sauerstoff. Wegen seiner
relativ hohen Reaktivität kam Sauerstoff praktisch nur in Form von Wasser und
gebunden in oxidischen und anderen Erzen vor. Erst die „Erfindung“ der Photo-
synthese durch autotrophe Organismen wie Pflanzen und photosynthetisierende
Algen führte zu einer allmählich ansteigenden Konzentration des Gases in der
Luft und – gleichlaufend – zu einer Umstellung eines überwältigenden Groß-
teils der Lebensformen auf aerobe Energiegewinnung (siehe Abschnitt 3.5 „Die
Atmungskette“).
Sauerstoff existiert noch in einer weiteren, ebenfalls gasförmigen Modifika-
tion, dem Ozon O3 . Ozon bildet in höheren Schichten der Atmosphäre einen
„Schutzschild“ für das Leben auf der Erde, da es aus dem Sonnenlicht gefähr-
liche kurzwellige UV-Strahlen (UV = Ultraviolett) absorbiert. Durch die großtech-
nische Verwendung der so genannten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) als
Treibgas, Kältemittel und Lösungsmittel gelangen diese Substanzen in die Atmo-
sphäre und beschleunigen die Zersetzung des thermodynamisch instabilen Ozons
(Ozonloch). Durch diese besonders über der Antarktis weit fortgeschrittene Zer-
störung der Ozonschicht beobachten wir in Ländern wie Australien und Neu-
seeland in den letzten Dekaden einen starken Anstieg des Risikos, bösartigen
Hautkrebs zu entwickeln (siehe auch Kapitel 9, Abschnitt 3 „Chemie und Krebs-
entstehung“).
Bodennahes Ozon, welches sich bei starker Sonneneinstrahlung unter dem
Einfluss von Autoabgasen bilden kann, stellt bei direkter Einwirkung auf den
Menschen ein starkes Gift dar, wobei besonders die Atemwege in Mitleiden-
schaft gezogen werden. Aufgrund seiner kräftigen Oxidationswirkung ist Ozon
ein starkes Zellgift. Es wird deshalb für Desinfektionszwecke, beispielsweise in
Schwimmbädern, benutzt.
Wasser, die wichtigste Verbindung des Sauerstoffs, wird in diesem Lehrbuch
gesondert besprochen (siehe Kapitel 1, Abschnitt 3 „Wasser, eine vertraute Sub-
stanz mit überraschenden Eigenschaften“).
Eine Sonderstellung nimmt Wasserstoffperoxid H2 O2 ein. Wie alle Peroxide
enthält es eine O − O Bindung. Die beiden Sauerstoffatome haben die Oxidations-
zahl −1. Wasserstoffperoxid ist instabil und zersetzt sich leicht gemäß
−1 −2 0
2H2 O2 → 2H2 O + O2
186 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
Die Zahlen oberhalb der Elementsymbole sind die Oxidationszahlen. Bei der Zer-
setzung werden also aus 4 O-Atomen mit der Oxidationszahl -1 zwei O-Atome
mit -2 und zwei O-Atome mit 0. Eine solche Reaktion, bei der ein Element, aus-
gehend von einer mittleren Oxidationszahl, zwei verschiedene Oxidationszahlen
annimmt, bezeichnen wir als Redox-Disproportionierung.
Wegen seiner mittleren Oxidationszahl kann H2 O2 als Reduktionsmittel und
als Oxidationsmittel reagieren (es ist redoxamphoter). Die Halbreaktion der Oxi-
dation, bei der H2 O2 das Reduktionsmittel ist, lautet:
−1 0
H2 O2 → O2 + 2H+ + 2e−
Die Halbreaktion der Reduktion, bei der H2 O2 das Oxidationsmittel ist, lautet:
−1 −2
H2 O2 + 2H+ + 2e− → 2H2 O
H2 O2 ist eine sehr schwache Säure. Die Salze sind die Peroxide. Sie enthalten
das Peroxid-Anion O2− 2 .
H2 O2 entsteht bei verschiedenen biochemischen Reaktionen innerhalb von
Zellen. Es ist ein Zellgift und wird mit Hilfe des Enzyms Katalase, eines Hämpro-
teins, durch Beschleunigung der oben beschriebenen Zersetzung zu Wasser und
Sauerstoff unschädlich gemacht. H2 O2 findet zum Bleichen von Haaren, Federn
und Knochenpräparaten weit verbreitete Anwendung. In der Medizin dient es
auch als Desinfektionsmittel in Mund- und Gurgelwässern sowie in der Wund-
behandlung.
Ein verwandtes, sehr reaktives und daher ebenfalls potentiell gefährliches
Molekül ist das Hyperoxid-Radikalanion (früher auch Superoxid-Radikalanion
genannt), welches durch Übertragung eines Elektrons auf molekularen Sauerstoff
entsteht:
•
O2 + e− → O−2
Merke: Das Hyperoxid-Radikalanion besitzt ein ungepaartes Elektron; deshalb ist es ein Freies
Radikal. Dies soll der Punkt über dem Elementsymbol anzeigen. Radikale sind meist
extrem reaktiv und können zu unkontrollierbaren Reaktionen führen. So kann gerade
das Hyperoxid-Radikalanion Ausgangspunkt für die nachfolgende Bildung anderer,
wesentlich aggressiverer Radikale wie des Hydroxyl-Radikals (O H) sein.
Die Oxide der Metalle sind meist salzartig aufgebaut. Sie enthalten das Oxid-
Ion O2−. Beim Auflösen wasserlöslicher Oxide wie etwa Natriumoxid Na2 O oder
Magnesiumoxid MgO in Wasser wird das Oxid-Ion aufgrund seiner extrem hohen
Basenstärke vollständig zu Hydroxid-Ionen protoniert:
O2− + H2 O → 2OH−
Abb. 3.48: Die chemische Konstitution von Acetylsalicylsäure, des Essigsäureesters der Salicylsäure
Die Wirkung dieses Esters besteht darin, dass er einen Acetyl-Rest auf das
Enzym Cyclooxygenase überträgt und dieses damit irreversibel ausschaltet. Die-
ses Enzym kommt in Körper in zwei Isoformen – COX I und COX II – vor, und
beide Isoformen werden durch Acetylsalicylsäure blockiert. COX I wird von fast
allen Zellen konstitutiv, das heißt ohne spezielle Induktion, gebildet, COX II hin-
gegen kommt nur in einigen Zelltypen vor wie den Leukozyten und Makrophagen
des Immunsystems, und seine Biosynthese wird durch bestimmte Wirkstoffe wie
Cytokine und Wachstumsfaktoren induziert. Beide Enzym-Isoformen sind verant-
wortlich für die Synthese von Prostaglandinen und Thromboxanen, die auf eine
Vielfalt von Zellen auf sehr unterschiedliche Weisen wirken können.
Insbesondere COX II-Produkte sind für drei Effekte verantwortlich, wegen wel-
cher COX-Hemmstoffe wie Acetylsalicylsäure so häufig verschrieben werden:
188 3. Oxidation, Reduktion und die zelluläre Produktion von Energie
4
Fallbeschreibung
Ein 4-jähriges Mädchen kommt mit ihrer Mutter in die Praxis einer Zahnärztin.
Diese findet stark kariöse Milchzähne vor. Auf Befragen der Mutter stellt sich
4
heraus, dass das Mädchen abends vor dem Einschlafen immer ein Fläschchen
mit gesüßtem Früchtetee erhält und bis zum Einschlafen daran herumnuckelt.
Welche Ursache hat zu dem starken Kariesbefall der Zähne geführt?
Lehrziele
Wir werden in diesem Kapitel die Anwendung der Gesetze des Chemischen
Gleichgewichts für Auflösungs- und Fällungsprozesse fester Substanzen ken-
nen lernen.
Lehrziel
Welche Gesetzmäßigkeiten beherrschen die Auflösung fester Substanzen, und welche Bedingun-
gen müssen vorliegen, damit sich feste Niederschläge aus Lösungen bilden? Auch hier spielen
Gleichgewichtsreaktionen eine zentrale Rolle.
Wenn wir feste Molekülkristalle oder Ionenkristalle in eine Flüssigkeit wie Wasser
geben, so lösen sie sich auf, wenn die Wechselwirkungen zwischen den Molekü-
len der Flüssigkeit und den Bausteinen des Feststoffes stärker sind als die Wech-
selwirkungen zwischen den Bausteinen. Das kristalline Gitter wird zerstört, und
die nun frei in der Lösung befindlichen Moleküle oder Ionen des ursprünglichen
Kristalls werden durch Ausbildung von Hüllen aus Lösungsmittelmolekülen sta-
bilisiert. Dieses Phänomen nennen wir Solvatation. Im Fall des Lösungsmittels
Wasser sprechen wir auch von Hydratation.
Allerdings können wir in einem bestimmten Volumen des Lösungsmittels nicht
unbegrenzt viel Feststoff auflösen. Erreicht die Konzentration der gelösten Teil-
chen einen bestimmten, für das jeweilige System aus Feststoff und Lösungsmit-
tel bei konstanter Temperatur charakteristischen Wert, so wird bei Zugabe noch
weiterer Mengen des Feststoffes keine weitere Zunahme der Konzentration der
gelösten Teilchen mehr beobachtet. Ein Gleichgewicht hat sich eingestellt.
Mikroskopisch betrachtet gehen zwar weiterhin in jedem Zeitintervall Teilchen
in Lösung, gleichzeitig aber treten gleich viele Teilchen aus der Lösung wieder
in den Kristall ein. Da sich dieses Gleichgewicht an der Phasengrenze zwischen
dem Feststoff und der Lösung ausbildet, ist es ein heterogenes Gleichgewicht.
194 4. Auflösung und Fällung
Abb. 4.1: Das Gleichgewicht beim Auflösen einer nicht-dissoziierenden Substanz. Der tiefgestellte
Index „s“ bedeutet „fest“ (von englisch solid). Der Index „aq“ bedeutet, dass eine Hydrathülle aus
Wassermolekülen die gelösten Moleküle der Substanz A stabilisiert (von englisch aqueous).
Nach den Regeln zur Aufstellung des Massenwirkungsgesetzes können wir für
dieses Gleichgewicht schreiben:
A(s) A(aq)
[A(aq)]
K =
[A(s) ]
K · [A(s) ] ≡ K = [A(aq) ]
Hier haben wir die Tatsache benutzt, dass die Konzentration des festen A wegen
der Inkompressibilität von Feststoffen eine Konstante ist. Sie entspricht der kon-
stanten Dichte der festen Substanz und wir müssen sie daher nicht explizit an-
schreiben, sondern beziehen sie in die Gleichgewichtskonstante mit ein. Dieselbe
Vereinfachung haben wir bei Säure-Base-Konzentrationen für die Konzentration
von H2 O angewandt.
Der Ausdruck [A(aq) ] in der letzten Gleichung bedeutet die im Gleichgewicht
vorhandene Konzentration von A, die wir auch Sättigungskonzentration nennen.
In Worten bedeutet unser Ergebnis, dass bei einem Löseprozess ohne Dissoziation
die Gleichgewichtskonstante gleich der Sättigungskonzentration der Substanz
4.1 Lösungs- und Fällungsgleichgewichte 195
A ist. Diese besitzt bei konstanter Temperatur einen charakteristischen und kon-
stanten Wert, eben den der Gleichgewichtskonstante.
Die Voraussetzung für die Gültigkeit unseres Ergebnisses ist, dass tatsächlich
Sättigung vorliegt. Nicht jede beliebige Konzentration der gelösten Substanz ist
gleich K, sondern ausschließlich die Sättigungskonzentration. Die können wir
immer dann beobachten, wenn soviel Substanz A gelöst ist, dass jeder weitere
Zusatz von festem A nur die Menge des festen Bodensatzes vergrößert, auf die
Konzentration der gelösten Substanz A jedoch keine Auswirkungen mehr hat.
Abb. 4.2: Das Gleichgewicht beim Auflösen eines AB-Salzes. Dieser Fall ist für alle Ionenkristalle
von Salzen gültig. Die feste Substanz dissoziiert in positiv geladene Kationen und negativ geladene
Anionen, die beide von den Wasser-Dipolmolekülen mit einer Hydrathülle umgeben werden.
Der einfachste Fall liegt vor, wenn wir ein so genanntes binäres AB-Salz betrach-
ten, welches durch eine Sorte von Kationen und eine Sorte von Anionen im zahlen-
mäßigen Verhältnis 1 : 1 aufgebaut wird. Hier können wir die chemische Reaktion
beschreiben als:
Wir haben hier wiederum von der konstanten Konzentration [AB(s) ] Gebrauch
gemacht. Die Gleichgewichtskonstante für diesen Spezialfall wird allgemein als
Löslichkeitsprodukt bezeichnet. Daher stammt die Abkürzung KL .
Merke: Das Löslichkeitsprodukt, die Gleichgewichtskonstante für die unter Dissoziation ver-
laufende Auflösung einer Substanz, ist das Produkt der Ionenkonzentrationen in einer
gesättigten Lösung.
196 4. Auflösung und Fällung
Merke: Positive Werte von pKL sind gleichbedeutend mit KL < 1. Je größer pKL ist, umso
schlechter löslich ist das entsprechende Salz.
Einige Beispiele aus dem Bereich der Medizin zeigen den Nutzen solcher Überlegun-
gen:
Anhand der Berechnung der molaren Löslichkeit mL einiger Salze mit gege-
benem KL wollen wir sehen, wie wir die notwendigen Gleichgewichtsberech-
nungen durchführen können. Wir beginnen mit dem einfachsten Fall eines
AB-Salzes.
• Als ersten Schritt empfiehlt sich, die Reaktionsgleichung der Auflösung
des Salzes ebenso anzuschreiben wie die genaue Form des Löslichkeits-
produkts. Dies ist insbesondere bei komplizierteren Salzen unabdingbar.
Für ein AB-Salz kennen wir beide Ausdrücke bereits:
AB(s) A+(aq) + B−(aq)
KL = [A+(aq)] · [B−(aq) ]
KL = [A+ ] · [B− ] = x · x
Am Bn mAn+ + nBm−
KL = [An+ ]m · [Bm− ]n
KL = [Ba2+ ] · [SO2−
4 ] = 1,0 · 10
−10
mol2 · L−2
mL = 1,0 · 10−10 = 1,0 · 10−5 mol · L−1
In 1 Liter Wasser löst sich also nur ein Hunderttausendstel Mol des Salzes
BaSO4 auf. Die Konzentration an Ba2+ -Ionen ist ebenfalls 0,00001 Mol und
damit so gering, dass keine toxischen Wirkungen auftreten.
Unser zweites Beispiel ist Calciumfluorid CaF2 , ein Bestandteil von Zahn-
schmelz, der härtesten Substanz im menschlichen Körper. Dieses Beispiel ist
besonders interessant, da CaF2 ein AB2 -Salz ist. Es besteht aus Ca2+-Kationen
und F− -Anionen im Verhältnis 1:2.
Das Löslichkeitsprodukt von CaF2 ist mit 10−10,46 noch etwas kleiner als
jenes von BaSO4 . Wie groß ist die molare Löslichkeit dieses Salzes?
Wie gehen wir vor, wenn wir die Löslichkeitsverhältnisse bei Salzen unter-
suchen wollen, die nicht binär sind?
Wir wählen als Beispiel Magnesiumammoniumphosphat MgNH4 PO4 , wel-
ches unter Umständen eine Ursache für die Bildung von Konkrementen
(„Nierensteine“) sein kann. Wie können wir hier die molare Löslichkeit aus
dem Löslichkeitsprodukt ermitteln, welches 3 · 10−13 beträgt?
Wir gehen ganz analog vor wie bisher:
MgNH4 PO4 ist offenbar ein ABC-Salz, welches aus 3 unterschiedlichen Ionen-
sorten im zahlenmäßigen Verhältnis 1:1:1 besteht. Tab. 4.3 hilft uns weiter.
Tabelle 4.3: Tabelle zur Berechnung des Lösegleichgewichts des ABC-Salzes Magnesiumammo-
niumphosphat.
Der Eigenioneneffekt
Wir haben gesehen, dass Bariumsulfat BaSO4 trotz der Giftigkeit der Ba2+ -Ionen
als orales Kontrastmittel verabreicht werden kann, weil es sehr schwerlöslich ist.
Nur 0,00001 Mol lösen sich in einem Liter Wasser. Wir wollen nun zeigen, dass
wir die ohnehin schon sehr geringe Löslichkeit von BaSO4 noch deutlich weiter
verringern können, wenn wir nicht reines Wasser als Lösungsmittel verwenden,
sondern das BaSO4 in einer wässrigen Lösung des leichtlöslichen und ungiftigen
Salzes Natriumsulfat Na2 SO4 aufschlämmen. Diese Lösung enthält Na+ -Ionen,
die wir nicht weiter beachten müssen, und SO2−4 -Ionen, die eine umso interessan-
tere Wirkung haben: SO2− 4 -Ionen sind in diesem Fall so genannte Eigenionen,
weil sie auch in dem Lösungsgleichgewicht von BaSO4 auftreten:
Wie ändert sich die molare Löslichkeit BaSO4 , wenn wir anstelle von reinem
Wasser beispielsweise eine 0,01 M Lösung von Na2 SO4 verwenden?
Qualitativ können wir jedenfalls vorhersagen, dass die molare Löslichkeit,
die in reinem Wasser schon sehr klein ist, aufgrund des Le Chatelier-Effekts
(Prinzip des kleinsten Zwanges; siehe Kapitel 2, Abschnitt 3 „Das Chemische
Gleichgewicht“) noch kleiner sein wird. Die durch das Na2 SO4 zusätzlich
zur Verfügung gestellten SO2− 4 -Ionen erzwingen eine Verringerung der Kon-
zentration der Ba2+ -Ionen, damit das Löslichkeitsprodukt nicht überschritten
wird.
Tab. 4.4 hilft uns, das Problem auch quantitativ zu erfassen. Wir müssen
jetzt berücksichtigen, dass in der 0,01 M Na2 SO4 -Lösung bereits vor der Auf-
lösung von BaSO4 0,01 M SO2− 4 -Ionen vorhanden sind. Durch die Auflösung
von BaSO4 kommen noch SO2− 4 -Ionen hinzu:
Tabelle 4.4: Tabelle zur Berechnung der Löslichkeit von Bariumsulfat bei Vorhandensein von
Sulfat-Ionen. Diese sind für das Salz Bariumsulfat Eigenionen, da sie auch im Lösegleichgewicht
des Salzes auftreten.
vor der Auflösung im Gleichgewicht
2+
[Ba ] 0 x
[SO2−
4 ] 0,01 0;01 + x
KL = [Ba2+ ] · [SO2−
4 ] = x · (0,01 + x) = 1,0 · 10
−10
mol2 · L−2
Das ist eine quadratische Gleichung für x. Allerdings können wir diese Glei-
chung mit ein wenig chemischem Hausverstand noch vereinfachen. Da die
Auflösung zur Fallbeschreibung 4 201
molare Löslichkeit von BaSO4 in reinem Wasser schon sehr klein ist (0,00001
0,01) und jetzt wegen des Le Chatelier-Effekts noch kleiner sein muss, können
wir x im Ausdruck (0,01 + x) getrost vernachlässigen und erhalten die sehr
einfache Näherungsgleichung:
Merke: Durch den Zusatz von Eigenionen, das sind Ionen, die in der betrachteten Gleich-
gewichtsreaktion eine Rolle spielen, können wir die Löslichkeit eines schwerlöslichen
Salzes noch wesentlich verringern.
KL = [Ca2+ ]5 · [PO3− 3 −
4 ] · [F ]
Mundbakterien wie Streptococcus mutans bauen den Zucker des gesüßten Früch-
tetees durch Glycolyse zu Säuren wie Milchsäure ab. Die Säure aber entfernt die
202 4. Auflösung und Fällung
relativ stark basischen Phosphat-Ionen nach folgender Gleichung aus dem Löse-
gleichgewicht:
H+ + PO3−
4 HPO2−
4
Für die Reaktion zwischen der Milchsäure und dem Phosphat-Ion errechnen wir
so eine Gleichgewichtskonstante von:
−1
K = KS(Milchsäure) · KB(PO3− ) · KW = 10−3,08 · 10−1,32 · 10+14 = 109,6
4
5
Fallbeschreibung
Eine Gerichtsmedizinerin nimmt nach einem Verkehrsunfall, der vor 2 Stun-
den geschehen ist, dem Fahrer des Unfallautos Blut zur genauen Bestim-
5
mung des Blutalkoholspiegels ab. In der Blutprobe wird ein Alkoholgehalt
von 0,85‰ festgestellt.
Wie kann sie auf den Alkoholgehalt des Blutes zum Zeitpunkt des Unfalls
zurück schließen?
Lehrziele
Die Konzentration von Alkohol oder auch von Medikamenten im Blut unter-
liegt aufgrund verschiedenster Vorgänge wie Metabolisierung und Aus-
scheidung ständig zeitlichen Veränderungen. Zeitliche Veränderungen sind
Thema der Kinetik. Die Gesetze der Kinetik gehen weit über den Bereich
chemischer oder biochemischer Reaktionen hinaus. So ist insbesondere die
Pharmakokinetik ein sehr wichtiges Teilgebiet der wissenschaftlichen Medi-
zin, in dem kinetische Gesetze die zentrale Rolle spielen.
Lehrziel
Die Geschwindigkeit physikalischer, chemischer oder physiologischer Phänomene lässt sich mit
sehr einheitlichen Gesetzen und mathematischen Formalismen beschreiben. In diesem Abschnitt
lernen wir die Grundlagen des wichtigen Gebiets der Kinetik kennen.
Die Thermodynamik gibt uns mit der Freien Enthalpie ein Kriterium, ob eine
Reaktion grundsätzlich spontan ablaufen kann. Darüber hinaus erlaubt uns die
Gleichgewichtslehre als Teilgebiet der Thermodynamik auch die Berechnung der
Lage des Gleichgewichtszustandes, zu dem sich ein chemisches Reaktionssystem
hin entwickelt.
Wie schnell allerdings eine chemische Reaktion verläuft, darüber erfahren wir
von der Thermodynamik nichts. Im Gegenteil: Neben Reaktionen, die extrem
schnell ablaufen, wie etwa Protonenübertragungsreaktionen, gibt es Reaktionen,
die zwar stark exergonisch (G0 < 0) sind, aber bei normalen Bedingungen gar
nicht stattfinden. Ein Beispiel ist die Verbrennung oder Oxidation organischer,
kohlenstoffhaltiger Materie in einer oxidierenden Atmosphäre, wie sie unsere
Erde besitzt. Vom thermodynamischen Standpunkt dürfte es auf der Erde mit
ihrer sauerstoffreichen Atmosphäre gar keine organische Materie und damit auch
kein Leben in der uns geläufigen Form geben! Offensichtlich aber existiert auf
206 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
der Erde organische Materie. Wegen der bei gewöhnlichen Druck- und Tem-
peraturbedingungen unmessbar langsam verlaufenden Reaktion kann sich das
chemische Gleichgewicht nicht einstellen.
Merke: Die Chemische Kinetik befasst sich mit der Reaktionsgeschwindigkeit und im weiteren
Sinne auch mit den detaillierten Mechanismen chemischer Reaktionen.
Wir wollen an dieser Stelle festhalten, dass die Kinetik bzw. die zugrunde liegen-
den Gesetzmäßigkeiten keineswegs auf chemische Reaktionen beschränkt sind.
Vielmehr lassen sich die im Folgenden besprochenen Überlegungen und Regeln
für die Behandlung zeitabhängiger Phänomene auch in ganz anderen Wissen-
schaftsbereichen anwenden.
Wir werden in folgenden Schritten vorgehen:
• Zuerst wollen wir den Begriff der Reaktionsgeschwindigkeit definieren und
verstehen.
• Die Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationen der
beteiligten Stoffe und die prägnante Formulierung dieser Abhängigkeit im so
genannten Geschwindigkeitsgesetz wird unser nächstes Thema sein. Hier wer-
den wir auch sehen, wie wir aus der Kenntnis dieses Gesetzes und so genannter
Rand- oder Anfangsbedingungen Vorhersagen über den Zustand des reagie-
renden Systems für zukünftige Zeitpunkte machen können.
• Die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen ist temperaturabhängig. Die
Kenntnis dieser Temperaturabhängigkeit ermöglicht uns die Diskussion der so
genannten Aktivierungsenergie ebenso wie der wesentlichen Eigenschaften
von Katalysatoren.
• Eine einführende Diskussion der Kinetik von enzymkatalysierten Reaktionen
wird uns mit der wichtigen Michaelis-Menten-Kinetik bekannt machen.
Die Reaktionsgeschwindigkeit
Eine sinnvolle Definition für den Begriff der Reaktionsgeschwindigkeit liefert uns
folgende Überlegung.
Bei einer chemischen Reaktion nehmen innerhalb eines Zeitintervalls t die
Konzentrationen c der Ausgangsstoffe ab, die der Endprodukte hingegen zu.
Wenn wir das Zeitintervall gegen Null gehen lassen (t → dt), können wir für
die Reaktionsgeschwindigkeit r folgenden Differentialquotienten schreiben:
dcAusgangsstoffe dcProdukte
r=− =+
dt dt
Das Geschwindigkeitsgesetz
In den allermeisten Fällen hängt die Reaktionsgeschwindigkeit in irgendeiner
Weise von den Konzentrationen der Reaktionspartner ab. Wie diese Abhängig-
keit bei einer bestimmten Reaktion aussieht, muss in jedem Fall experimentell
bestimmt werden.
Das ist ein gewichtiger Unterschied zum Chemischen Gleichgewicht, das seine
Begründung in der Thermodynamik hat.
Merke: Im Unterschied zum Massenwirkungsgesetz, welches wir bei Kenntnis der Reak-
tionsgleichung ohne weiteres anschreiben können, muss das Geschwindigkeitsgesetz
einer Reaktion, also die Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzen-
trationen der beteiligten Stoffe, immer experimentell bestimmt werden.
H2 + Br2 → 2HBr
√
d[HBr] ka · [H2 ] · [Br2 ]
=
dt kb + [HBr]
[Br2]
Der scheinbare Nachteil, dass wir das Geschwindigkeitsgesetz für jede Reaktion
experimentell ermitteln müssen, verkehrt sich allerdings in einen wichtigen Vor-
teil:
Merke: Die Kenntnis des detaillierten Geschwindigkeitsgesetzes einer Reaktion kann tiefe
Einblicke in den Mechanismus der Reaktion vermitteln.
Dies wird besonders bedeutsam, wenn wir bedenken, dass die meisten chemi-
schen Reaktionen nicht in einem einzigen Reaktionsschritt erfolgen, sondern sehr
häufig in einer Sequenz von aufeinander folgenden und einander beeinflussen-
den, relativ einfachen Teilreaktionen. Wir werden insbesondere bei der Behand-
lung der Enzymkinetik von den Möglichkeiten, die sich hier öffnen, Gebrauch
machen.
Die Reaktionsordnung
Ein im Zusammenhang mit kinetischen Überlegungen sehr häufig gebrauch-
ter Begriff ist die Reaktionsordnung. Wir wollen aber ausdrücklich festhalten,
dass dieser wichtige Terminus technicus nur für eine ganz bestimmte Klasse von
Geschwindigkeitsgesetzen sinnvoll anwendbar ist.
Wenn wir ein Geschwindigkeitsgesetz der Form
vor uns haben, wenn also die Geschwindigkeit der Reaktion ausschließlich pro-
portional einem Produktausdruck aus den Konzentrationen der beteiligten Stoffe
und deren ganzzahligen Exponenten ist, so bezeichnen wir die Summe dieser
Exponenten l + m + n + . . . als Ordnung der Reaktion.
Wenn diese Einschränkung zutrifft, ist der Begriff der Reaktionsordnung außer-
ordentlich wichtig und hilfreich, da die Gesetzmäßigkeiten von Reaktionen unter-
schiedlicher Reaktionsordnungen sehr gut bekannt sind.
A → Produkte
Wir interessieren uns hier für die Abnahme der Konzentration [A] in Abhängigkeit
von der Zeit. Folgende Geschwindigkeitsgesetze könnten beispielsweise experi-
mentell gefunden werden:
Wie sehen eigentlich die Konzentrationsverläufe von A als Funktion der Zeit für
Reaktionen mit verschiedenen Reaktionsordnungenaus?
Wie sehen nun für solche Reaktionen verschieden hoher Ordnungen die Kon-
zentrationsverläufe von A als Funktion der Zeit aus?
5.1 Grundlagen der Kinetik 209
t
[A] t
d[A] = −k0 dt
[A]0 0
[A]
|A|[A]t0 = −k0 |t|t0
[A]t = [A]0 − k0 · t
Wir haben unser Ziel erreicht. Wir können für jede beliebige Zeit berechnen, wie
viel von unserer Substanz noch vorliegt. Die Abhängigkeit der Konzentration von
der Zeit wird also durch die Gleichung einer Gerade mit dem Ordinatenabschnitt
[A]o und der Steigung −k0 beschrieben.
Abb. 5.1: Bei einem Prozess (pseudo-)nullter Ordnung nimmt die Konzentration linear mit der Zeit
ab (oder zu).
210 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
Wie Abb. 5.1 zeigt, besteht bei Reaktionen 0. Ordnung keinerlei Abhängigkeit der
Geschwindigkeit von der Konzentration von A, sondern ausschließlich von der
Zeit. Reale Reaktionen zeigen ein derartiges Verhalten niemals über den gesam-
ten Konzentrationsbereich von A, sondern höchstens in bestimmten Konzentra-
tionsbereichen. Streng genommen gibt es nur Reaktionen pseudonullter Ord-
nung. Wir finden diese Reaktionsordnung zum Beispiel bei Reaktionen, die durch
kleine Mengen eines Katalysators oder eines Enzyms ermöglicht werden. Wenn
der Ausgangsstoff im Vergleich zum Katalysator in sehr hoher Konzentration vor-
liegt, so bewirkt eine zusätzliche Steigerung der Konzentration des Ausgangs-
stoffs keine Geschwindigkeitsänderung. Der Grund ist, dass der Katalysator mit
maximaler Geschwindigkeit arbeitet; er ist voll ausgelastet.
Besonders interessant – und in vielen Bereichen der Physik, der Chemie, der Biologie
und der Medizin anzutreffen – sind Prozesse erster Ordnung.
Wir wollen uns mit diesen etwas ausführlicher beschäftigen. Zuerst sehen
wir uns die mathematische Integration der Geschwindigkeitsgleichung erster
Ordnung an.
d[A]
− = k1 · [A]
dt
d[A]
= −k1 · dt
[A]
t
[A] t
d[A]
= −k1 dt
[A]
[A]0 0
[A]
|lnA|[A]t0 = −k1 |t|t0
ln[A]t = ln[A]0 − k1 · t
Die Konzentration nimmt mit der Zeit gemäß einer exponentiellen Funktion ab.
Grafisch zeigt Abb. 5.2 dieses Verhalten in einem gewöhnlichen und einem halb-
logarithmischen Diagramm.
In der üblichen Darstellung (links) sehen wir die zu Beginn steilere, und im wei-
teren Zeitverlauf, wenn die Konzentration von A abnimmt, zunehmend flachere
Abnahme von [A]. Eine semilogarithmische Darstellung (rechts) transformiert die
5.1 Grundlagen der Kinetik 211
Abb. 5.2: Bei einem Prozess erster Ordnung nimmt die Konzentration exponentiell mit der Zeit ab
(oder zu). Links: Konzentrationsverlauf in einem gewöhnlichen Koordinatensystem. Rechts: Konzen-
trationsverlauf in einem halblogarithmischen Koordinatensystem.
exponentiell fallende Kurve in eine Gerade mit der Steigung −k1 . Diese Darstel-
lung entspricht der vorletzten Gleichung in der obigen Ableitung.
Noch etwas fällt uns auf: Die Geschwindigkeitskonstante −k1 in dem Beispiel
ist gerade so groß gewählt, dass die Anfangskonzentration von 4 Einheiten inner-
halb von 2 Zeiteinheiten auf die Hälfte (2 Konzentrationseinheiten) abfällt. Nach
weiteren 2 Zeiteinheiten ist noch 1 Einheit von A übrig, also wiederum gerade
die Hälfte der zur Zeit t = 2 vorhandenen Konzentration.
Diese Beobachtung gilt allgemein:
Merke: Bei Reaktionen oder Prozessen erster Ordnung existiert eine konzentrationsunabhän-
gige Halbwertszeit, die ausschließlich von der Geschwindigkeitskonstante abhängt.
ln 2 0,693
HWZ = =
k1 k1
212 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
Abb. 5.3 zeigt, wie [A]t , bei jeweils konstanter Anfangskonzentration [A]0 , je nach
Reaktionsordnung verschieden schnell abnimmt.
Abb. 5.3: Die unterschiedlichen Konzentrationsverläufe bei Reaktionen (pseudo-)nullter, erster und
zweiter Ordnung.
Die Ordnung und die Molekularität einer Reaktion können, müssen aber nicht,
gleich sein. Wenn nur ein Reaktionsschritt vorliegt oder der rls deutlich langsamer
als alle übrigen Schritte ist, so ist eine Übereinstimmung wahrscheinlich.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Ordnung/Molekularität einer
Reaktion fast nie mit den stöchiometrischen Faktoren in der Reaktionsgleichung
übereinstimmt.
Wie groß ist der Bruchteil der Moleküle, deren kinetische Energie mindestens
10 kJ/mol beträgt, in einem Gas bei einer Temperatur 273 K (0 ı C); wie groß ist
der Bruchteil bei 773 K (500 ı C)?
Bei 773 K vergrößert sich der Bruchteil fast auf das Zwanzigfache:
Ea −10000
−
e R·T = e 8,314·773 = e−1,556 = 0,211 = 21,1%
Wir verstehen somit, dass bei der höheren Temperatur viel mehr erfolgreiche
Stöße stattfinden als bei der niedrigen.
Merke: • Eine Reaktion verläuft umso langsamer, je größer – bei gegebener Temperatur –
die Aktivierungsenergie ist.
• Bei gegebener Aktivierungsenergie verläuft die Reaktion umso schneller, je höher
die Temperatur ist.
Abb. 5.4: Das Energieprofil einer einstufigen Reaktion mit einem instabilen Übergangszustand.
5.1 Grundlagen der Kinetik 215
Abb. 5.5: Das Energieprofil einer zweistufigen Reaktion mit einer Zwischenstufe.
Katalyse
Durch Temperaturerhöhung erhöhen wir den Anteil der Moleküle, die aufgrund
ihrer Energie die Aktivierungsschwelle überwinden können; die Reaktion verläuft
schneller. Temperaturerhöhung ist aber nicht immer möglich, um eine Reaktion
zu beschleunigen. Wir können im menschlichen Organismus nicht einfach ein
Streichholz anzünden, um die Oxidation von Glucose durch Sauerstoff zu ermög-
lichen, sondern diese Reaktion muss bei etwa 37 ◦ C ablaufen.
Katalysatoren helfen hier: Ein Katalysator ist eine Substanz, deren Anwesen-
heit die Aktivierungsenergie einer chemischen Reaktion absenkt, wodurch diese
schneller verläuft (Abb. 5.6).
Die Erniedrigung der Aktivierungsenergie (Ea (Kat) < Ea ) wird dadurch be-
wirkt, dass die Reaktion in Anwesenheit des Katalysators einen im Vergleich mit
der nicht katalysierten Reaktion geänderten Verlauf nehmen kann. Der Reak-
tionsmechanismus wird verändert. Der Katalysator nimmt intermediär zwar an
der Reaktion teil, aber nach Bildung der Produkte liegt der Katalysator aber wie-
der in derselben Form vor wie vor Beginn der Reaktion. Die Thermodynamik
der Reaktion, die nur vom Anfangs- und Endzustand abhängt, da G, H und
S Zustandsfunktionen sind, wird durch den Katalysator nicht beeinflusst. Damit
216 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
Abb. 5.6: Energieprofile einer einstufigen Reaktion mit einem Übergangszustand, ohne und mit Kata-
lysator.
wird auch die Lage des chemischen Gleichgewichtes nicht verändert. Der Kata-
lysator erhöht nur die Geschwindigkeit der Gleichgewichtseinstellung.
Ein Katalysator beschleunigt sowohl die Hinreaktion als auch die Rückreaktion.
Diese Behauptung lässt sich anhand von Abb. 5.6 leicht verifizieren.
Die lebende Zelle vollbringt die erstaunlichsten chemischen Transformationen
bei der niedrigen Temperatur von etwa 37 ◦ C. Dies ist unter anderem nur durch ein
höchst raffiniertes System von biologischen Katalysatoren, den Enzymen, mög-
lich. Die Evolution des Lebens wird tatsächlich dadurch ermöglicht und in Gang
gehalten, dass lebende Systeme einen Weg gefunden haben, die Information für
die Herstellung der richtigen und geeigneten Biokatalysatoren an ihre Nachkom-
men weiterzugeben.
[ES] = Et
und
Für den allgemeinen Fall, wenn das Enzym nicht gesättigt ist, müssen wir die
zeitliche Abhängigkeit von [ES] betrachten, um die Geschwindigkeitsgleichung
lösen zu können. Schauen wir uns den ersten Reaktionsschritt an, so können wir
für die Bildungsgeschwindigkeit von ES schreiben:
d[ES]
= k+1 · [E] · [S]
dt
Die Konzentration von freiem Enzym E ergibt sich als Differenz der Konzentration
aller Enzymmoleküle minus der in den Enzym-Substrat-Komplexen gebundenen:
[E] = Et − [ES]
Zugleich aber wird [ES] durch die Rückreaktion zu E und S und durch die Bildung
des Produkts auch vermindert:
d[ES]
− = k−1 · [ES] + k+2 · [ES] = (k−1 + k+2 ) · [ES]
dt
Im Fließgleichgewicht (steady state) der Enzymreaktion sind die Bildungs- und
Zerfallsgeschwindigkeiten von ES gleich groß, und es gilt:
Et · [S]
[ES] =
KM + [S]
rmax · [S]
r=
KM + [S]
rmax1 = 0,1
rmax2 = 0,2
5.1 Grundlagen der Kinetik 219
Wie Abb. 5.7 zeigt, kann man durch Erhöhung von [S] die Anfangsgeschwindig-
keit erhöhen, doch auch durch beliebig hohe Substratkonzentrationen kann man
r nicht über die jeweilige Maximalgeschwindigkeit hinaus erhöhen. Noch etwas
sehen wir: Die Parallele zur Ordinate mit der Gleichung [S] = KM = 1 schneidet die
beiden Geschwindigkeitskurven genau dort, wo die beiden Reaktionsgeschwin-
digkeiten gerade halb so groß sind wie die jeweiligen Maximalgeschwindig-
keiten.
Ein höherer Wert von KM hat offensichtlich zur Folge, dass die Enzymreaktion
bei steigender Substratkonzentration langsamer gegen die maximal erreichbare
Geschwindigkeit konvergiert.
Wir können den Zusammenhang zwischen KM und der halben Maximalgeschwin-
digkeit auch leicht mathematisch beweisen:
Wir setzen in der Michaelis-Menten-Gleichung einfach
[S] = KM
Lehrziel
Ersetzen wir im Wassermolekül eines oder beide H-Atome durch organische Reste, so gelangen
wir zu den Alkoholen bzw. den Ethern.
Alkohole
Alkohole leiten sich von Alkanen (siehe Kapitel 6, Abschnitt 4 „Kohlenwasser-
stoffe“) durch Substitution eines oder mehrerer H-Atome, die nicht am selben
C-Atom gebunden sind, durch Hydroxyl-Gruppen (OH-Gruppen) ab. Alternativ
können wir sie auch als Substitutionsprodukte des H2 O-Moleküls auffassen, in
dem ein H-Atom durch einen Alkyl-Rest ersetzt wurde.
In der rationellen Nomenklatur verwenden wir für Alkohole die Endung -ol.
Bei komplizierteren Alkoholen ist die namensgebende Hauptkette die längste
unverzweigte Kette von C-Atomen, die die Hydroxylgruppe trägt.
Bei einfach gebauten Alkoholen ist auch die Bezeichnungsweise als Alkylal-
kohol gebräuchlich. So kann etwa der einfachste Alkohol, H3 C − OH, alternativ
als Methanol oder Methylalkohol bezeichnet werden.
Für Alkohole existieren zwei Einteilungsschemata:
• Einteilung nach der Stellung der OH-Gruppe: Je nach der Art des C-Atoms
(primär, sekundär, tertiär; siehe unten), an dem die OH-Gruppe gebunden ist,
unterscheiden wir primäre, sekundäre und tertiäre Alkohole. Der einzig mög-
liche nulläre Alkohol ist übrigens Methanol.
• Einteilung nach der Zahl der OH-Gruppen: Je nach der Zahl der alkoholischen
Gruppen unterscheiden wir einwertige und mehrwertige Alkohole, wobei sich
bei letzteren die Gruppen an verschiedenen C-Atomen befinden.
5.2 Alkohole und Ether 221
Merke: Primäre C-Atome sind mit einem, sekundäre C-Atome mit zwei, tertiäre C-Atome mit
3 und quartäre C-Atome mit vier weiteren C-Atomen direkt verbunden.
Die OH-Gruppe ist – wie auch im Wassermolekül – sehr stark polar, und so
unterscheiden sich Alkohole von den entsprechenden Alkanen in chemischer
und physikalischer Hinsicht ganz beträchtlich. Außerdem sind Alkohole über ihre
OH-Gruppe(n) ausgezeichnet zur Wasserstoff-Brückenbindung befähigt.
Daraus erklären sich die gegenüber den entsprechenden Alkanen wesentlich
höheren Schmelz- und Siedepunkte der Alkohole. Insbesondere Alkohole mit
kleinen Alkylresten sind gut bis unbeschränkt wasserlöslich und auch zur Auf-
lösung polarer Substanzen befähigt.
Bei Alkoholen mit größeren Alkylresten kommt die apolare Natur desselben
stärker zum Tragen. Sie verhalten sich mit zunehmender Größe des Alkyl-Anteils
zunehmend ähnlicher wie die entsprechenden Alkane.
Auch die chemische Reaktivität der Alkohole wird durch die OH-Gruppe domi-
niert. Sie hat sowohl Säure- als auch Base-Eigenschaften, und sie kann substitu-
iert, eliminiert und oxidiert werden.
R − OH + H+ → R − OH+2
Mit sehr starken Basen oder (besser) mit Alkalimetallen in wasserfreiem Milieu
bildet ein Alkohol ein Alkoholat-Ion. Das ist die konjugierte Base des Alkohols.
Ein Alkoholat-Ion kann mit Metall-Kationen Salze bilden:
2R − OH + 2Na → 2R − O− + 2Na+ + H2
Bei dieser Reaktion wird das acide H-Atom des Alkohols (das ist das H-Atom der
OH-Gruppe) vom Na zu Wasserstoff reduziert.
Wegen der höheren Acidität von Wasser im Vergleich zum Alkohol werden
solche Salze der Alkohole (Alkoholate) in Wasser unter Rückbildung des Alkohols
zersetzt:
R − O− + H2 O → R − OH + OH−
In stark saurem Milieu wird die OH-Gruppe nucleophil substituiert: Es bildet sich
zuerst das Alkyloxonium-Ion, welches eine ausgezeichnete Fluchtgruppe bilden
kann, nämlich H2 O, und deshalb von der konjugierten Base A− der starken Säure
HA substituiert wird:
R − OH+2 + A− → R − A + H2 O.
222 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
R − OH + HO − SO3 H → R − O − SO3 H + H2 O
Phosphorsäureester (Phosphate):
R − OH + HO − PO3 H2 → R − O − PO3 H2 + H2 O
ist die Esterbildung. Bei mittelstarken und starken Säuren funktioniert sie nach
dem eben beschriebenen Mechanismus einer nucleophilen Substitution der OH-
Gruppe des Alkohols. Bei schwachen Säuren wie Carbonsäuren verläuft der
detaillierte Mechanismus zwar etwas anders, die Gesamtreaktionsgleichung ist
aber analog (Abb. 5.9).
Einige Vertreter
Der einfachste Alkohol ist Methanol. Methanol ist ein billiges Lösungsmittel und
Grundlage zur Herstellung von Kunststoffen. Methanol ist sehr giftig. Der Genuss
von etwa 12 g führt bei Erwachsenen zur Erblindung und etwa 50 g sind tödlich.
5.2 Alkohole und Ether 223
Ethanol ist der Trinkalkohol. Ethanol wird durch Vergärung von Monosacchari-
den wie Glucose unter der Einwirkung von Enzymen der Hefe hergestellt, weil
die Glycolyse bei Hefe nicht wie beim Menschen zum Pyruvat, sondern eben zu
Ethanol führt. Die Bruttogleichung für die Reaktion, bei der auch Kohlendioxid
entsteht, ist
Der einfachste zweiwertige Alkohol ist Ethan-1,2-diol. Es ist auch unter dem
Trivialnamen Glycol bekannt. Glycol wird als Frostschutzmittel verwendet und
schmeckt süß.
Der einfachste dreiwertige Alkohol ist Propan-1,2,3-triol – das Glycerin. Gly-
cerin ist eine wichtige Komponente vieler Lipide wie von Fetten, Ölen und Phos-
phoglyceriden. Außerdem stellt es in der Zubereitung von nicht austrocknenden
Salben und Kosmetika eine wichtige Komponente dar, weil es schwach hygro-
skopisch (wasseranziehend) ist.
Ether
Wir können formal Alkohole als Derivate des Wassers betrachten, in welchen ein
H-Atom durch einen organischen Rest ersetzt ist. In dieser Betrachtungsweise sind
Ether Derivate des Wassers, in welchen beide H-Atome durch organische Reste
substituiert sind (Abb. 5.11). Ether weisen also als charakteristisches Merkmal
eine C – O – C-Gruppierung auf.
Abb. 5.11: Alkohole und Ether sind organische Derivate des Wassers.
224 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
Wir benennen Ether, indem wir der Endung -ether die Namen der beiden organi-
schen Reste voranstellen. Sind die beiden Reste gleichartig, so sprechen wir von
symmetrischen, andernfalls von unsymmetrischen Ethern. Beispiele sind:
H3 C − O − CH3 Dimethylether
H3 C − CH2 − O − CH2 − CH3 Diethylether
H3 C − CH2 − O − (CH2 )2 − CH3 Ethylpropylether
Ether sind relativ apolare Substanzen. Sie können – da sie am O-Atom kein
H-Atom tragen – keine Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden. Sie sieden
daher bei viel niedrigeren Temperaturen als Alkohole ähnlicher Molekülmasse.
Ether sind wegen ihrer apolaren Natur gute Lösungsmittel für unpolare Substan-
zen. Wir können zum Beispiel Fette und fettähnliche Substanzen wie Lipide gut
mit Ethern aus Geweben extrahieren.
Chemisch gesehen sind Ether relativ reaktionsträge Substanzen. Sie sind
jedoch wegen ihrer hohen Flüchtigkeit leicht entflammbar. Außerdem können
sie beim Stehen an der Luft explosive Peroxide bilden. Beim Umgang mit Ethern
ist daher Vorsicht geboten. Diethylether wurde früher in der Medizin als Narkose-
mittel verwendet.
Wie kann man die aus dem Konsum eines alkoholischen Getränkes resultierende
Alkoholisierung („Promille“) abschätzen?
Dazu ein Beispiel: Ein 80 kg schwerer Mann trinkt sehr rasch eine Flasche (0,5 L)
Normalbier. Dieses hat einen Volumenanteil Ethanol von 5%. Wie groß wird seine
Alkoholisierung etwa sein?
Auflösung zur Fallbeschreibung 5 225
Dazu müssen wir wissen, dass sich Ethanol aufgrund seiner relativ hohen Pola-
rität sehr rasch nicht nur im Blut, sondern im gesamten Körperwasser verteilt.
Wir berechnen zuerst, wie viel g Ethanol (Dichte etwa 0,8 g/cm3 ) in einer Fla-
sche Bier enthalten sind. Ein Volumenanteil von 5% entspricht 50 mL Ethanol pro
Liter Bier und 25 mL Ethanol pro Flasche Bier. Bei einer Dichte von 0,8 sind dies
25 · 0,8 = 20 g Ethanol pro Flasche Bier.
Das Gesamtkörperwasser lässt sich für normal gebaute, nicht adipöse Men-
schen abschätzen. Bei Frauen beträgt der Anteil des Wassers an der Körpermasse
etwa 55%. Bei Männern rechnen wir mit etwa 60% der Körpermasse. Unser 80 kg
Mann besteht daher zu etwa 80 · 0,60 = 48 kg aus Wasser. In dieser Wassermasse,
die wir zur Erleichterung der Rechnung auf 50 kg (50000 g) aufrunden, verteilt
sich das Ethanol. Der Massenanteil von 20 g Ethanol ist daher:
20 0,4
= = 0,4‰
50000 1000
das sind 0,4 Promille.
Was passiert mit Ethanol im Körper?
Ethanol wird in der Leber durch enzymatische Oxidation, katalysiert durch die
Alkoholdehydrogenase, zu Acetaldehyd abgebaut. Dieser wird anschließend
durch die Aldehyddehydrogenase zu Essigsäure metabolisiert.
Die Oxidation zum Aldehyd erfolgt durch das Enzym Alkoholdehydrogenase
und verläuft, wie Experimente gezeigt haben, bereits ab einer nur geringgradigen
Alkoholisierung nach einer Kinetik nullter Ordnung.
Das heißt, über einen weiten Konzentrationsbereich des Ethanols wird pro Zeit-
einheit eine bestimmte Menge an Ethanol abgebaut, unabhängig von der Kon-
zentration:
d[Ethanol]
− = k0
dt
Die Geschwindigkeit des Ethanolabbaus ist also konzentrationsunabhängig. Gra-
fisch entspricht dieses Verhalten einem linearen Abbau des Ethanols. Die Integra-
tion des Geschwindigkeitsgesetzes liefert die lineare Lösung:
[Ethanol]t = [Ethanol]0 − k0 · t
In der Praxis gehen wir üblicherweise von einem Abbau von 0,1–0,2 Promille
pro Stunde aus.
Bei unserem Verkehrsunfall wurde von der Gerichtsmedizinerin 2 Stunden
nach dem Unfall eine Ethanolkonzentration von 0,85‰ gemessen. Setzen wir
eine langsamere Abbaurate von 0,1‰/h an, so schätzen wir den Grad der Alko-
holisierung zum Unfallzeitpunkt mit 0,85 + 2 · 0,1 = 1,05‰ ein. Wählen wir hin-
gegen die höhere Abbaurate von 0,2‰/h, schätzen wir den Ethanolspiegel auf
0,85 + 2 · 0,2 = 1,25‰.
Es gäbe die recht einfache Methode, in jedem Fall die individuelle Abbau-
geschwindigkeit durch eine zweite Blutabnahme zu einem späteren Zeitpunkt,
etwa 1 h später, exakt zu bestimmen. Dies wird aber in der Praxis offenbar nicht
angewandt.
226 5. Die Geschwindigkeit von Prozessen
Hier bedeuten rmax und KM vom jeweiligen System abhängige Konstanten, die
Maximalgeschwindigkeit bei voller Enzymsättigung und die Michaelis-Menten-
Konstante. Diese nichtlineare Geschwindigkeitsgleichung besitzt keine Ord-
nung, da die Abhängigkeit der Geschwindigkeit nicht als reines Produkt der Kon-
zentrationen geschrieben werden kann.
Wir können aber zwei interessante Grenzfälle unterscheiden:
• Wenn die Substratkonzentration [S] numerisch viel größer als die Michaelis-
Konstante KM ist, kann man diese im Nenner vernachlässigen und erhält
rmax · [S] rmax · [S]
r= ≈ = rmax
KM + [S] [S]
Das bedeutet, die Geschwindigkeit wird gleich der Konstante rmax , also gleich
der Maximalgeschwindigkeit. Dieser Grenzfall ist gerade das, was wir oben
für unsere Abschätzungen benutzt haben. Die Geschwindigkeit ist unabhängig
von [S] und somit erscheint die Reaktion nullter Ordnung.
• Sinkt aber infolge der fortschreitenden Reaktion [S] schließlich so weit ab, dass
[S] wesentlich kleiner wird als KM , so folgt als zweiter Grenzfall:
rmax · [S] rmax
r= ≈ · [S]
KM + [S] KM
Es resultiert nun eine Reaktion scheinbar erster Ordnung, da der Quotient der
beiden Konstanten wiederum eine Konstante ist. In diesem Grenzfall nimmt
die Konzentration nicht mehr linear mit der Zeit ab, sondern die Konzentrati-
onsabnahme folgt nunmehr einem exponentiellen Gesetz.
Beim Abbau von Ethanol tritt dieser zweite Grenzfall allerdings erst bei sehr klei-
nen Ethanolkonzentrationen von 0,1 Promille und darunter auf. Bei höheren und
auf jeden Fall bei strafrechtlich relevanten Ethanolkonzentrationen können wir
immer mit der Kinetik nullter Ordnung rechnen.
EIN STREIFZUG DURCH DAS PERIODENSYSTEM
DER ELEMENTE
Fallbeschreibung 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
6
Fallbeschreibung
Ein 17-jähriger Patient wird wegen Leistungsschwäche, Übelkeit und Druck-
gefühls im rechten Oberbauch auf eine internistische Station eingeliefert.
6
Bei der klinischen Untersuchung wird eine vergrößerte Leber getastet, in
der Labordiagnostik ergeben sich erhöhte Spiegel für die Aminotransferasen
ALT und AST. Daraus ergibt sich als Verdachtsdiagnose eine Entzündung der
Leber (Hepatitis. Bei der Ursachensuche stellt sich heraus, dass der Gehalt von
Caeruloplasmin und von Kupfer-(II)-Ionen im Plasma erniedrigt ist. Dagegen
findet sich im 24-Stunden Sammelharn des Patienten ein erhöhter Spiegel an
Kupfer-(II)-Ionen. Daraufhin wird der Patient einem Augenarzt vorgeführt,
der einen so genannten Kayser-Fleischer-Cornealring, eine goldbraungrüne
Verfärbung des Hornhautrandes feststellt.
Lehrziele
Dieses Beispiel führt uns in das Gebiet der Spurenelemente und ihrer Bedeu-
tung in der Medizin.
• Wir werden uns mit den chemischen Elementen in unserem Körper
beschäftigen. Dabei werden wir einen Streifzug durch das Periodensystem
der Elemente unternehmen. Die biochemisch relevanten Hauptgruppen-
elemente ebenso wie die wichtigen Übergangselemente werden in Hin-
blick auf ihre Bedeutung in der Chemie in der Medizin ausführlich vorge-
stellt.
• Wir wollen die koordinative kovalente Bindung (Komplexbindung) ken-
nen lernen, die für die wichtigen Verbindungen der Spurenelemente ent-
scheidend ist.
• Welche Diagnose liegt anhand dieser Symptome und Befunde nahe und
wie kann eine entsprechende Verdachtsdiagnose verifiziert werden?
Bis zum Jahr 2006 sind 112 chemische Elemente identifiziert worden. Diese Liste
wird wohl noch etwas weiter wachsen, da in den Großlabors der Kernphysiker
immer wieder neue Elemente „erzeugt“ werden, allerdings in den meisten Fällen
in unvorstellbar kleinen Mengen. So wurden bei der künstlichen Erzeugung des
Elements mit der Ordnungszahl 110 („Ununnilium“ oder „Darmstadtium“ Uun)
gerade einmal zwei (!) Atome gebildet, die auch nur einen winzigen Bruchteil
einer Sekunde existierten, bevor sie wieder zerfielen.
Alle Elemente mit Ordnungszahlen > 94 sind synthetischer Natur!
Für das Leben spielen diese exotischen Produkte aus den „Hexenlabors“ der
Kernphysik natürlich keinerlei Rolle. Die Elemente, die die lebende Materie auf-
bauen, sind stabil und kommen auf der Erde in durchaus nennenswerten Mengen
vor. Bevor wir uns diesen elementarsten Bausteinen des Lebens näher zuwenden,
wollen wir einen Blick auf den „Katalog“ der chemischen Elemente, auf das Peri-
odensystem der Elemente, werfen.
Übergangselemente (b-Gruppen)
Ab der vierten Periode werden die d-Orbitale der zweitäußersten Schale gefüllt.
Diese Elemente heißen daher auch d-Elemente. Entsprechend den jeweils fünf
d-Orbitalen zu einer Hauptquantenzahl gibt es ab der vierten Periode jeweils
zehn Übergangselemente pro Periode.
Die Übergangsmetalle haben in der Valenzschale praktisch immer 1 oder 2
Elektronen. Ihre chemischen Eigenschaften innerhalb einer Periode sind daher
viel weniger unterschiedlich als dies bei den Hauptgruppenelementen einer Peri-
ode der Fall ist. So sind alle Übergangselemente Metalle. Einige von ihnen spielen
fundamental wichtige Rollen in der Biochemie der Zelle, zum Beispiel als Bestand-
teile von Enzymen. Eine moderne Richtung der Biochemie, die so genannte Bio-
anorganische Chemie, befasst sich mit den vielfältigen Struktur- und Reaktions-
möglichkeiten, die diese Elemente besitzen.
Tab. 6.1: Die Verteilung der wichtigsten Elemente in der Erdrinde. Übergangselemente sind kursiv
gesetzt.
Tab. 6.2: Die Verteilung der wichtigsten Elemente im menschlichen Organismus. Übergangselemente
sind kursiv gesetzt.
H, C, N, O Hauptelemente
(99,35% aller Atome)
Ein grober Überblick über die Lebenselemente, geordnet nach ihrer quantitativen
Bedeutung, und ihre wichtigsten Funktionen, zeigt Tab. 6.3.
Im Folgenden wollen wir uns einen Überblick über medizinisch interessante Ver-
bindungen der Hauptgruppenelemente verschaffen.
Edelgase
Die Edelgase Helium (He), Neon (Ne), Argon (Ar), Krypton (Kr) und Xenon (Xe)
sind extrem reaktionsträge. Verbindungen der Edelgase sind außerordentlich
schwer herzustellen und besitzen praktisch keine medizinische Bedeutung.
Bei energetischer Anregung, etwa durch elektrische Entladungen in einer
Röhre, senden Edelgase charakteristische Lichtspektren aus. Dies wird in Leucht-
stoffröhren technisch ausgenutzt.
234 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Wasserstoff
Wasserstoff (Elektronenkonfiguration 1s1 , chemisches Symbol H von hydro-
genium) nimmt bei den Hauptgruppenelementen eine gewisse Sonderstellung
ein, die eine Besprechung in einem eigenen Kapitel rechtfertigt.
Das Wasserstoffatom ist das kleinste und leichteste Atom und besitzt die ein-
fachste Elektronenhüllstruktur. Bei Abgabe des Elektrons bleibt wie bei den Al-
kalimetallen ein positiv geladenes Ion (ein H+ -Kation) zurück. Das H+ -Kation ist
aber einzigartig. Es ist ein nackter Atomkern ohne verbleibende Elektronenhülle,
ein Proton. Das Proton ist in freier Form nur kurzfristig existent. Es spielt die zen-
trale Rolle bei Säure-Base-Reaktionen.
Wasserstoff kann aber wie die Halogene auch ein Elektron aufnehmen. Dann
resultiert ein negativ geladenes Hydrid-Ion H− , welches wie die ebenfalls einfach
negativ geladenen Halogenid-Ionen Edelgaskonfiguration besitzt.
Wasserstoff „passt“ daher zu keiner der Hauptgruppen wirklich gut hinzu.
Er hat eine wesentlich höhere Ionisierungsenergie und Elektronegativität als
die Alkalimetalle und tritt Metallen gegenüber als elektronegativer Partner auf.
Auf der anderen Seite besitzt Wasserstoff eine wesentlich geringere Elektronen-
affinität und Elektronegativität als die Halogene. Gegenüber Nichtmetallen tritt
er praktisch immer als elektropositiver Partner auf.
Wasserstoff ist ein typisches Nichtmetall. Er ist bei gewöhnlichen Temperatur-
und Druckbedingungen gasförmig und bildet zweiatomige Moleküle H2 . H2 ist
ein farb-, geschmack- und geruchloses Gas (FP 14 K, KP 20 K).
Von Wasserstoff existieren drei Isotope (Protium 1 H, Deuterium 2 H, Tritium 3 H).
Tritium ist radioaktiv (− -Strahler; siehe Abschnitt 6.5 „Wenn Elemente instabil
werden: Kernreaktionen und Radioaktivität“). Es wird in der Biochemie als Tracer
eingesetzt. Interessante Verbindungen, deren Schicksal im Organismus oder im
Stoffwechsel man erforschen will, werden gezielt durch Einbau von Tritiumato-
men anstelle gewöhnlicher Wasserstoffatome markiert. Dann sind solche Verbin-
dungen selbst oder ihre Umwandlungsprodukte durch die radioaktive Strahlung
gut verfolgen.
Die wichtigsten Wasserstoffverbindungen sind Verbindungen mit Nichtmetal-
len, Halbmetallen, und einigen Metallen. Beispiele sind etwa mit Kohlenstoff
(C) Methan (CH4 ) und unzählige andere Kohlenwasserstoffe, mit Silicium (Si)
Silan (SiH4 ), mit Zinn (Sn) Stannan (SnH4 ), mit Stickstoff (N) Ammoniak (NH3 ),
mit Sauerstoff (O) Wasser (H2 O), mit Fluor (F) Fluorwasserstoff (HF) und andere
mehr. Charakteristisch ist für diese Verbindungen, dass H den elektropositiven
6.1 Die Elemente des Lebens 235
Halogene
Zu den Halogenen gehören die Elemente Fluor (F), Chlor (Cl), Brom (Br), Iod (I)
und das radioaktive Astat (At). Das letztere besitzt keine Bedeutung und wird
daher nicht näher besprochen.
Die Elektronenkonfiguration in der Valenzschale ist ns2 p5 . Ein Elektron fehlt
zur Edelgaskonfiguration, daher besitzen die Halogene eine hohe Elektronen-
affinität und Elektronegativität. F ist das elektronegativste Element überhaupt!
Die Halogene (griechisch für Salzbildner) bilden zweiatomige Moleküle. Sie bil-
den entweder als einfach negativ geladene Halogenid-Anionen salzartige Ver-
bindungen mit Metall-Kationen oder sind negativ polarisierte Bindungspartner
in kovalenten Verbindungen. Bei Fluor sind nur zwei Oxidationszahlen möglich,
nämlich 0 in elementarer Form als F2 und -1 in allen F-Verbindungen. Bei Chlor,
Brom und Iod sind die Verhältnisse analog. Nur in kovalenten Verbindungen mit
den besonders stark elektronegativen Elementen F und O sind auch positive Oxi-
dationszahlen möglich.
Aufgrund der hohen Reaktivität kommen Halogene in der Natur nicht in ele-
mentarer Form vor, sondern vorzugsweise als Bestandteile der festen Erdkruste in
Salzen. Daneben stellt auch das Meerwasser eine Halogenquelle dar. Es enthält
2% Chloridionen und 0,01% Bromidionen. Iod ist in Tang angereichert.
Fluor ist ein gelbliches, extrem giftiges und aggressives Gas. Es reagiert prak-
tisch mit allen Elementen. Chlor, ein grünes, erstickend riechendes Gas, ist eben-
falls chemisch außerordentlich aggressiv und zellschädigend. In stark verdünn-
ter Lösung wird es zur Desinfektion von Schwimmbädern eingesetzt. Brom ist
neben Quecksilber Hg das einzige bei 25 ◦ C flüssige Element. Die braunrote,
unangenehm riechende Flüssigkeit erzeugt auf der Haut schmerzhafte Wun-
den. Iod bildet als I2 grauschwarze, metallisch aussehende Kristalle. Beim Erhit-
zen entsteht ohne Übergang über eine flüssige Phase direkt ein tiefvioletter
Dampf (Sublimation), der sich beim Abkühlen wieder als festes Iod niederschlägt
(Resublimation). Von medizinischem Interesse ist die desinfizierende Wirkung
einer alkoholischen Lösung von Iod, die bei der Wunddesinfektion Anwendung
findet („Iodtinktur“).
Halogene reagieren mit Wasserstoff zu Halogenwasserstoffen. Diese Verbin-
dungen sind mit Ausnahme von HF gasförmig und lösen sich sehr gut in Wasser.
236 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Der Pfeil ↑deutet an, dass die Verbindung als Gas entweicht.
Bei dieser technischen Verwendung der Fluss-Säure kann es zu sehr lästigen
und schwer heilenden Wunden kommen, wenn die Verbindung mit Haut in Kon-
takt kommt. Hier empfiehlt sich als Therapie tiefes Unterspritzen der betroffe-
nen Hautstellen mit Lösungen von Calcium-Salzen. Das Ca2+ -Ion eliminiert freie
Fluorid-Ionen durch Bildung von schwerlöslichem Calciumfluorid:
Der Pfeil ↓ bedeutet das Ausfällen eines festen Niederschlages (eines festen Sal-
zes). Diese Reaktion bietet übrigens auch die Erklärung für die Gerinnungshem-
mung des Blutes durch Fluorid-Ionen. Durch die Bildung des schwerlöslichen
Calciumfluorids wird dem Blut das für die Gerinnungsreaktion erforderliche Cal-
cium entzogen.
Die Salze der Halogenwasserstoffsäuren (Fluoride, Chloride, Bromide und
Iodide) mit Metallen sind typische Ionenkristalle und als solche meist gut wasser-
löslich. Ausnahmen sind die schwerlöslichen Chloride, Bromide und Iodide von
Silber-(I), AgX (X steht für das Halogen), Quecksilber-(I), HgX, Blei-(II), PbX2 ,
und Thallium-(I), TlX.
Die wichtigsten Verbindungen aller Halogene außer Fluor mit Sauerstoff sind
die so genannten Sauerstoffsäuren HXOn . Diese können 1 bis 4 O-Atome enthal-
ten. Die wichtigsten Vertreter sind die Chlorsäure-(V) („Chlorsäure“) HClO3 und
die Chlorsäure-(VII) („Perchlorsäure“) HClO4 . Die letztere stellt mit pKS = −9 die
stärkste bekannte Säure in wässrigem Milieu dar. Ihre Salze sind die Chlorate-
(VII) (Perchlorate). Chlorate-(V) und Chlorate-(VII) ergeben aufgrund ihrer sehr
starken Oxidationskraft in Verbindung mit organischen Substanzen außerordent-
lich explosive Mischungen. Darauf beruht ihre Verwendung in Feuerwerkskör-
pern und in Streichholzköpfchen.
Chalkogene
Die Chalkogene (= Erzbildner), die Elemente der 6. Hauptgruppe, umfassen
Sauerstoff (O von oxygenium), Schwefel (S von sulfur), Selen (Se), Tellur (Te)
und das instabile, radioaktive Polonium (Po).
Mit der Elektronenkonfiguration ns2 p4 in der Valenzschale fehlen diesen Ele-
menten zwei Elektronen zur Edelgaskonfiguration, daher besitzen sie ebenfalls
hohe Elektronenaffinität und Elektronegativität. Dies gilt insbesondere für Sauer-
stoff, das nach Fluor zweitstärkste elektronenanziehende Element.
Wie Halogene kommen auch Chalkogene in der Natur verbreitet in Form von
kristallinen Salzen vor, wo sie Ionenkristalle bilden. Daneben aber sind sie auch
elektronegative Bindungspartner in polarisierten kovalent gebauten Verbindun-
gen. Sauerstoff hat in Verbindungen fast immer die Oxidationszahl -2. Nur in
Peroxiden, die eine kovalente O – O-Bindung enthalten, ist seine Oxidationszahl
-1. Die übrigen und nicht mehr so stark elektronenaffinen Elemente der Gruppe
können alle Oxidationszahlen von -2 bis +6 annehmen.
Sauerstoff ist mit seinen wichtigsten Verbindungen von so zentraler Bedeu-
tung für die Medizin, dass wir ihm ein eigenes Kapitel widmen (siehe Kapitel 3,
Abschnitt 8 „Sauerstoff – ein Gas mit vielen Gesichtern“). Als einziges Element der
6. Hauptgruppe ist er bei Raumtemperatur gasförmig. Die übrigen Elemente sind
fest. Schwefel kommt elementar in kristalliner Form (gelbe Kristalle) vor. Beide
Elemente kommen auch in gebundener Form in Erzen vor (Oxide, Sulfide). Selen
und Tellur sind als Selenide und Telluride spurenweise in sulfidischen Erzen ent-
halten. Tellur kommt selten auch in gediegener Form vor.
238 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Sauerstoff und Schwefel sind typische Nichtmetalle, Selen und Tellur kommen
hingegen auch in metallischen Modifikationen mit Halbleitereigenschaften vor.
Polonium schließlich ist ein typisches Metall.
Die Wasserstoffverbindungen H2 X der Chalkogene sind mit Ausnahme des
Wassers gasförmig. Wasser dagegen ist wegen seiner Wasserstoff-Brücken-
bindungen flüssig. Sie sind in Wasser löslich und reagieren schwach sauer, wobei
die Säurestärke – wie bei den Halogenen – mit zunehmender Größe des Chalkoge-
natoms zunimmt. Dagegen nimmt die Säurestärke von wässrigen Lösungen der
stabilsten Sauerstoffsäuren von der Schwefelsäure-(VI) H2 SO4 über die Selen-
säure-(VI) H2 SeO4 zur Tellursäure-(VI) H2 TeO4 hin ab.
Schwefel kommt elementar als Mineral vor. Als Schwefelwasserstoff H2 S
und Schwefeldioxid SO2 findet sich das Element in vulkanischen Dämpfen, so
genannten „Exhalationen“. In der festen Erdkruste ist Schwefel in Salzen anzu-
treffen. Beispiele sind Sulfate wie das medizinisch wichtige Calciumsulfat (Gips)
und Sulfide. Letztere kennen Mineralogen als „Blenden“, „Kiese“ und „Glanze“.
Schwefel ist ein Bestandteil von Eiweiß (Protein), da er in zwei proteinogenen
Aminosäuren vorkommt, nämlich in Cystein und Methionin. Außerdem finden
wir Schwefel in zwei Vitaminen, dem Thiamin und dem Biotin.
Die Wasserstoffverbindung H2 S, der Schwefelwasserstoff, ist ein extrem gif-
tiges und in größter Verdünnung noch deutlich übel riechendes Gas. Faule Eier
verdanken ihm ihren Gestank. H2 S ist gut wasserlöslich („Schwefelwasserstoff-
Wasser“); er ist eine schwache zweibasige Säure und bildet zwei Reihen von Sal-
zen, die Hydrogensulfide mit dem Hydrogensulfid-Anion HS− und die Sulfide mit
dem Sulfid-Anion S2− . Viele Sulfide, besonders von Schwermetallen, sind sehr
schwerlöslich.
Die Bildung von H2 S in Senkgruben, Gerbereien und Abwasserkanälen führt
immer wieder zu tödlichen Vergiftungsunfällen.
Von den Sauerstoffverbindungen ist das gasförmige, stechend riechende und
besonders für die Atemwege sehr schädliche Schwefeldioxid SO2 am wichtigs-
ten. Es entsteht durch Verbrennung von Schwefel. SO2 ist ein starkes Zellgift.
Besonders Pflanzen werden durch „Ausbleichen“ wegen der Zerstörung des für
die Photosynthese wichtigen grünen Blattfarbstoffs Chlorophyll bei höheren Kon-
zentrationen in der Luft stark in Mitleidenschaft gezogen. SO2 ist außerdem das
Anhydrid der Schwefeligen Säure und bildet mit Luftfeuchtigkeit diese mittel-
starke Säure:
SO2 + H2 O → H2 SO3
Wegen dieser Reaktion ist SO2 ein Hauptverursacher des sauren Regens. H2 SO3
ist in freier Form nicht beständig, wohl aber in Form ihrer Salze, der Hydrogen-
sulfite mit dem Ion HSO−3 und der Sulfite mit dem Ion SO2−3 .
Schwefelige Säure besitzt starke bakterizide Eigenschaften, von denen man
bei der Weinherstellung und bei der Konservierung von Trockenobst Gebrauch
macht.
Die zweite wichtige Sauerstoffverbindung des Schwefels ist Schwefeltrioxid
SO3 . Es wird technisch in großen Mengen durch katalytische Oxidation von SO2
6.1 Die Elemente des Lebens 239
hergestellt. Es ist bei Raumtemperatur fest und löst sich unter Hitzeentwicklung
begierig in Wasser, wo es zur sehr starken Schwefelsäure reagiert:
SO3 + H2 O → H2 SO4
Sie bildet zwei Reihen von Salzen, die Hydrogensulfate mit dem Ion HSO−4 und
die Sulfate mit dem Ion SO2− 4 . Medizinisch sind die schwerlöslichen Salze Cal-
ciumsulfat und Bariumsulfat von besonderem Interesse. Calciumsulfat bildet als
CaSO4 · 2H2 O ein hartes Mineral (Gips). Beim Erhitzen verliert Gips Kristallwas-
ser und zerfällt zu einem weißen Pulver mit der Formel CaSO4 · 12 H2 O. Wird dieses
mit Wasser zu einem Brei angerührt, verbindet es sich mit diesem langsam wieder
zu CaSO4 · 2H2 O und härtet dabei aus. Gipsverbände werden bei der Versorgung
von Knochenfrakturen verwendet. Bariumsulfat BaSO4 ist für Röntgenstrahlen
nahezu undurchlässig und wird daher als Röntgenkontrastmittel verwendet. Dies
ist trotz der hohen Giftigkeit von Ba2+ -Ionen möglich, da es extrem schwerlös-
lich ist.
Die gut löslichen, kristallwasserhältigen Salze Na2 SO4 · 10H2 O (Glaubersalz)
und MgSO4 · 7H2 O (Bittersalz) sind wichtige Laxantien, das sind Abführmittel.
Die „Bitterwässer“ genannten Mineralwässer verdanken ihnen ihre abführende
Wirkung.
H2 SO4 kommt als Zellbestandteil auch in chemisch gebundener Form vor, etwa
in Form von Schwefelsäure-Estern kovalent gebunden an Membranlipide. Solche
Verbindungen werden als Sulfatide bezeichnet.
Stickstoffgruppe
Die Elemente der 5. Hauptgruppe werden als Stickstoffgruppe bezeichnet. Sie
umfassen Stickstoff (N von nitrogenium), Phosphor (P), Arsen (As), Antimon (Sb
von stibium) und Bismut (Bi). Wir werden uns nur mit Stickstoff und Phosphor
näher beschäftigen.
Stickstoff bildet als zweiatomiges N2 mit etwa 78% Anteil die Hauptkompo-
nente der Luft. In gebundener Form kommt er in mineralischen Nitraten („Sal-
peter“) vor. Außerdem ist er wie Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff eines der
wichtigsten Elemente beim Aufbau organischer Materie. Proteine enthalten etwa
16% Stickstoff. Phosphor ist reaktiv. Er kommt daher in der Natur nur in gebun-
dener Form in mineralischen Phosphaten vor. In Form von Apatit bildet Phosphor
einen Hauptbestandteil von Knochen und Zahnschmelz.
Stickstoff ist als einziges Element der Gruppe bei Raumtemperatur gasförmig.
Phosphor ist fest und kommt in metallischen und in nichtmetallischen Modifika-
tionen vor.
240 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Die Wasserstoffverbindung Ammoniak NH3 ist schwach basisch. NH3 ist ein
farbloses, giftiges Gas mit einem charakteristischen stechenden Geruch und löst
sich wegen der Ausbildung von Wasserstoffbrücken außerordentlich begierig in
Wasser (Salmiak). Die konjugierte Säure des Ammoniaks ist das tetraedrisch
gebaute Ammonium-Ion NH+4, welches etwa gleich groß ist wie das Kalium-Ion.
Die Ammoniumsalze verhalten sich daher in ihren Eigenschaften, insbesondere
hinsichtlich ihrer Wasserlöslichkeit, sehr ähnlich wie die entsprechenden Kalium-
salze.
Die Stickstoffwasserstoffsäure HN3 bildet mit Basen sehr instabile Salze, die
Azide, die vielfach explosiv sind und oft zu Sprengunfällen führen. Blei- und Sil-
berazid werden daher in Sprengkapseln verwendet. Außerdem sind Azide bak-
terizid. Natriumazid NaN3 wird daher für Desinfektionszwecke verwendet, etwa
bei der Durchführung von Zellkulturexperimenten.
Stickstoff bildet verschiedene Sauerstoffverbindungen. Diese sind allgemein
weniger stabil als bei den schwereren Elementen der 5. Hauptgruppe, da der
Stickstoff selbst relativ elektronegativ ist und daher mit Sauerstoff weniger stabile
Bindungen ausbildet als die elektropositiveren Elemente der Gruppe.
Distickstoffmonoxid N2 O wird als Narcoticum therapeutisch eingesetzt. Es
besitzt eine betäubende Wirkung und verursacht eine auffallende Munterkeit und
Euphorie (Lachgas).
Das zweiatomige Stickstoffmonoxid NO ist ein farbloses, giftiges Gas, welches
an der Luft schnell zu rotbraunem Stickstoffdioxid NO2 oxidiert wird. NO2 ist
etwas wasserlöslich und disproportioniert dabei zu Salpetriger Säure HNO2 und
Salpetersäure HNO3 :
+4 +3 +5
2N O2 + H2 O → H N O2 + H N O3
Beide Gase (nitrose Gase) sind sehr giftig. Sie entstehen auch bei der Verbren-
nung von Kraftstoffen und tragen über die Umwandlung in die beiden Sauerstoff-
säuren wesentlich zur Entstehung des sauren Regens bei. Nitrose Gase entstehen
auch oft bei Arbeiten mit Salpetersäure und sind nicht selten Ursache schwerer
Vergiftungen.
Die Anzahl der Elektronen in den beiden Oxiden NO und NO2 ist ungerade.
So enthält NO 11 Valenzelektronen, NO2 besitzt 17 Valenzelektronen. Die beiden
Verbindungen besitzen daher als freie Radikale eine erhöhte Reaktivität.
Ein giftiges Gas als lebensnotwendige Verbindung? Die zwei Gesichter des Stick-
stoffmonoxids NO
Salpetrige Säure HNO2 ist eine instabile mittelstarke Säure. Ihre Salze heißen
Nitrite und enthalten das Ion NO−2. Salpetrige Säure und Nitrite sind gesundheit-
lich sehr bedenklich, da sie im sauren Milieu des Magens mit sekundären Aminen
N-Nitrosamine bilden, die cancerogen wirken (siehe Kapitel 9, Abschnitt 3 „Che-
mie und Krebsentstehung“).
Salpetersäure HNO3 ist eine sehr starke Säure. Ihre Salze heißen Nitrate und
enthalten NO−3 . Salpetersäure ist ein starkes Oxidationsmittel und vermag edle
Metalle wie Silber zu lösen.
Silbernitrat AgNO3 besitzt als Höllenstein (lapis infernalis) eine gewisse medi-
zinische Bedeutung, da es auf der Haut oxidierend wirkt und – unter Abscheidung
von schwarzem, elementarem Silber – Hautwucherungen entfernt.
Von Phosphor ist eine Verbindung von zentraler Wichtigkeit für die Bioche-
mie und Physiologie des Menschen, die mittelstarke Phosphorsäure H3 PO4 . Als
dreibasige Säure ist sie in der Lage, drei Reihen von Salzen zu bilden: Dihy-
drogenphosphate H2 PO−4 , Hydrogenphosphate HPO2− 3−
4 und Phosphate PO4 . Das
3−
PO4 -Ion ist tetraedrisch gebaut; das P-Atom ist tetraedrisch von vier O-Atomen
umgeben. Die sauren (aciden) Wasserstoffatome sind, wie Abb. 6.1 zeigt, nicht
direkt an das Zentralatom gebunden, sondern immer an die Sauerstoffatome, die
das Zentralatom umgeben.
Abb. 6.1: Der tetraedrische Bau der Phosphorsäure und ihrer verschiedenen Dissoziationsstufen.
242 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Analog sind auch andere Sauerstoffsäuren mit 4 O-Atomen aufgebaut wie etwa
die Schwefelsäure H2 SO4 oder die Perchlorsäure HClO4 . Bei Sauerstoffsäuren mit
nur drei Sauerstoffatomen wie der Salpetersäure HNO3 oder Kohlensäure H2 CO3
ist eine ebene (planare) Anordnung der Sauerstoffatome um das Zentralatom die
Regel. Bei zwei Sauerstoffatomen wie bei Salpetriger Säure HNO2 finden wir eine
gewinkelte Anordnung der Sauerstoffatome am Zentralatom.
Im Knochen und im Zahnschmelz ist Phosphorsäure wichtiger Bestandteil der
Hartsubstanzen Hydroxylapatit Ca5 (PO4 )3 OH und Fluorapatit Ca5 (PO4 )3 F.
Biochemisch besonders wichtig sind Phosphorsäureester, die auch als Phos-
phate bezeichnet werden. Sie entstehen durch Wasserabspaltung zwischen
H3 PO4 und Alkoholen. Nucleotide etwa sind die Bausteine des genetischen Mate-
rials (DNA, RNA) und – in Form von ATP und verwandten Verbindungen – die
wichtigsten Energieüberträger. Zuckerphosphate spielen vielfältige Rollen bei
biochemischen Prozessen, und Phospholipide sind essentielle Komponenten bio-
logischer Membranen.
Ein Abkömmling der Phosphorsäure ist Diphosphorsäure (Pyrophosphor-
säure) H4 P2 O7 , deren Salze Diphosphate (Pyrophosphate) heißen. Sie ist ein
Säureanhydrid, das heißt, sie entsteht formal unter Wasserabspaltung aus zwei
Molekülen H3 PO4 (Abb. 6.2), wobei Energie benötigt wird:
Abb. 6.2: Die Bildung von Diphosphorsäure („Pyrophosphorsäure“) durch Erhitzen von Phosphorsäure.
Sie enthält eine P–O–P-Brücke, die sehr energiereich ist. Sie kann durch eine
Umkehrung der in Abb. 6.2 gezeigten Reaktion leicht gespalten werden, wobei
wieder Energie frei wird. Solche energiereichen Bindungen bieten Zellen die
Möglichkeit, chemische Energie zu speichern und zu transportieren, etwa in Form
von ATP, welches ebenfalls solche Säureanhydridbindungen enthält. Die gespei-
cherte Energie kann bei Bedarf durch Hydrolyse der energiereichen Bindung,
also die Aufspaltung der Bindung durch Wasser, freigesetzt werden.
Kohlenstoffgruppe
Die 4. Hauptgruppe enthält die Elemente Kohlenstoff (C), Silicium (Si), Germa-
nium (Ge), Zinn (Sn von stannum) und Blei (Pb von plumbum). Wir wollen uns
nur mit dem ersten Element der Gruppe, dem Kohlenstoff beschäftigen. Seine
Bedeutung für das Leben ist so zentral und fundamental, dass der Großteil der
unübersehbar vielen Verbindungen dieses Elements eine „eigene“ Chemie, die
Organische Chemie, rechtfertigt.
Aufgrund seiner Stellung in der Mitte der ersten Achterperiode des Perioden-
systems bildet Kohlenstoff sehr stabile Bindungen zu weiteren Kohlenstoffatomen,
aber auch zu Wasserstoffatomen aus. C − C- Bindungen und C − H- Bindungen sind
6.1 Die Elemente des Lebens 243
sehr stabil und daher sehr reaktionsträge. Auch mit anderen Nichtmetallen wie
N, P, O, S, F, Cl, Br und I bildet C stabile, durch Polarisierungseffekte allerdings
auch reaktivere Bindungen aus.
Die Neigung zur Ausbildung von C − C- Bindungen manifestiert sich nicht nur
in den Strukturen von Diamant und Graphit (siehe Kapitel 1, Abschnitt 8 „Kristal-
line Festkörper“). Kohlenstoffatome können sowohl unverzweigte und verzweigte
Ketten beliebiger Größe als auch Ringe und dreidimensional aufgebaute Struk-
turen ausbilden. Daneben ist Kohlenstoff zur Ausbildung stabiler Mehrfachbin-
dungen (Doppelbindungen, Dreifachbindungen) in der Lage. Es gibt im Prinzip
unendlich viele unterschiedliche Kohlenstoffverbindungen.
Der bei weitem größte Teil dieser Verbindungen wird traditionell der Orga-
nischen Chemie (Abschnitt 6.3, „Grundlagen der Organischen Chemie“) zuge-
rechnet. In diesem Abschnitt besprechen wir nur das Element selbst und
seine Oxide (Kohlenmonoxid, Kohlendioxid), die Kohlensäure und deren Salze
(Hydrogencarbonate und Carbonate), und schließlich die Blausäure HCN und
ihre Salze, die Cyanide.
Mit Sauerstoff verbrennt Kohlenstoff zu Kohlendioxid CO2 oder – im Falle einer
unvollständigen Verbrennung – zu Kohlenmonoxid CO. Dieses ist farblos und
wegen seiner Geruch- und Geschmacklosigkeit eines der gefährlichsten Giftgase.
Seine Giftwirkung beruht darauf, dass es als Ligand mit dem Eisen-Zentralion des
Hämoglobins einen stabileren Komplex bildet als der eingeatmete Sauerstoff und
diesen von der vorgesehenen Koordinationsstelle am Eisen-Ion verdrängt. Bereits
bei einer Konzentration von 0,5% CO in der Atemluft sinkt die Transportfähigkeit
des Blutes für Sauerstoff soweit ab, dass es in wenigen Minuten zum Tod kommt
(siehe Kapitel 3).
CO2 , ein ebenfalls farbloses Gas, bildet zu etwa 0,03% einen Nebenbestand-
teil der Erdatmosphäre und ist bis zu etwa 4% in der Ausatmungsluft enthalten.
Unterhalb von −78 ◦ C ist es fest, bei höheren Temperaturen sublimiert es, geht
also direkt – ohne flüssig zu werden – in den gasförmigen Zustand über. Nur
unter höherem Druck lässt sich CO2 verflüssigen. Das feste, weiße CO2 ist unter
dem Namen Trockeneis ein auch im Labor vielverwendetes Kühlmittel.
CO2 ist 1,5 mal schwerer als Luft und sammelt sich daher an den tiefsten Stel-
len, unmittelbar über dem Boden, an. Eine brennende Kerze erlischt bei einem
CO2 -Gehalt der Luft von etwa 10%. Dadurch wird gerade die Konzentration des
Gases angezeigt, die für den Menschen lebensgefährlich ist. Dies ist wichtig zur
Entdeckung gefährlicher Konzentrationen von CO2 , beispielsweise in Weinkel-
lern oder Silos.
In Wasser ist CO2 gut löslich. Ein kleiner Teil der gelösten Moleküle reagiert
chemisch mit Wasser zur instabilen Kohlensäure:
CO2 + H2 O H2 CO3
CO2 stellt somit das Säureanhydrid der Kohlensäure dar. Kohlensäure ist eine
sehr schwache Säure mit einem pKS = 6,1. Ihre Salze heißen Hydrogencarbonate
mit dem Anion HCO−3 und Carbonate mit dem Anion CO2− 3 ). Diese Verbindun-
gen spielen als offenes Puffersystem eine außerordentlich wichtige Rolle bei der
244 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Vorgänge die Membran der Nervenzellen für kurze Zeit ionendurchlässig und
der Gradient bricht zusammen (Depolarisation), wodurch das elektrische Signal
weitergeleitet wird.
Magnesium und Calcium spielen ebenfalls in der belebten Natur eine ganz
hervorragende Rolle. Magnesium ist das Zentralion im Chlorophyll der grünen
Pflanzen, wo es – ähnlich wie Eisen bei Hämoglobin – in Form eines sehr stabilen
Chelatkomplexes durch ein dem Häm sehr ähnliches Molekül gebunden wird.
Auch beim Menschen ist eine ausreichende Magnesiumversorgung für das
Funktionieren des intrazellulären Stoffwechsels sehr wichtig. So spielt das Ion
eine wichtige Rolle bei Phosphatgruppen-Übertragungsreaktionen, bei der Zell-
atmung in den Mitochondrien, bei der Proteinbiosynthese im Cytosol, bei der
Biosynthese von Nucleinsäuren im Zellkern und bei der Übertragung von Ner-
venreizen. Bei Magnesiummangel kommt es daher auch schnell zu nervösen Stö-
rungen, tetanischen Zuständen oder Kribbeln in den Gliedmaßen.
Calcium ist eines der wichtigsten Ionen im Organismus. Seine zentrale Rolle
bei der Knochenmineralisierung wurde bereits erwähnt.
Darüberhinaus besitzt das Ca2+ -Ion eine Schlüsselrolle bei der Blutgerinnung,
bei der Signalleitung in Nerven, bei der Stabilisierung von Zellmembranen
und generell bei der Aktivierung von Zellen für die Erfüllung ihrer jeweili-
gen Aufgaben. Ca2+ -Ionen werden heute neben weiteren Substanzen als second
messenger betrachtet. Dies sind Stoffe, die neben den klassischen Botenstoffen
des Organismus, den Hormonen, die auch first messengers genannt werden, bei
der Vermittelung von Kommunikationssignalen zwischen Zellen und Organen
eine zentrale Botenrolle übernehmen, da sie die von den first messengers an die
Außenmembran der Zielzelle übermittelten Signale ins Zellinnere weiterleiten.
Es ist nicht verwunderlich, dass der Calcium-Haushalt des Körpers einer
genauen Regulation unterliegt. Über die Wirkung verschiedener Substanzen,
etwa Vitamin D, kann durch gezielten Auf- oder Abbau von Knochensubstanz
der Calciumspiegel im Blut im erwünschten Konzentrationsbereich (ca. 10 mg in
100 ml) gehalten werden.
räumliche Strukturen, die für die korrekte Funktion der betreffenden Enzyme
wesentlich sind.
Eisen
Eisen ist nach Aluminium das vierthäufigste Element der festen Erdrinde und das
zweithäufigste Metall. In gediegenem, elementarem Zustand findet man Eisen auf
der Erde nur sehr selten (zum Beispiel in Meteoriten). Es kommt hauptsächlich in
oxidischen und sulfidischen Erzen vor. Elementares Eisen finden wir dagegen im
Erdinneren. Der Erdkern (Radius etwa 3500 km) besteht zu 90% aus Eisen und
zu 10% aus Nickel.
Eisen ist das am weitesten verbreitete und wichtigste Übergangsmetall in
lebender Materie. Eisenhaltige Proteine beteiligen sich an zwei fundamentalen
Prozessen – am Sauerstofftransport und an der Elektronenübertragung. Außer-
dem gibt es Proteine, deren Rolle im Transport und in der Speicherung dieses
wichtigsten Übergangsmetalles bestehen.
Die bekanntesten Eisenproteine sind die Häm-Proteine. Sie enthalten eine oder
mehrere Hämgruppen als zentralen Bestandteil. Zu den Häm-Proteinen gehören
Abb. 6.3: Verschiedene Schnappschüsse des Campher-spezifischen Cytochroms P450cam und Kon-
stitutionsformel von Campher (Details sind im Text erklärt).
und dadurch meist besser wasserlöslich machen. Ein bekanntes Beispiel ist das
Cytochrom P450cam, welches spezifisch für die Elimination des Fremdstoffs Cam-
pher ist (Abb. 6.3).
Abb. 6.3 zeigt links oben ein Kalottenmodell des Enzyms. Oben rechts ist das
Protein repräsentiert durch das backbone, durch welches hindurch wir auch das
Häm als dünnes Stabmodell mit dem Fe2+-Zentralion als Kugel und das Campher-
molekül als dickeres Stabmodell sehen. In der Mitte links sehen wir einen ver-
größerten Ausschnitt, und Mitte rechts ist das Protein ausgeblendet, sodass wir
nur das Häm und den Campher im Bild haben. Unten links ist ein Kugel-Stab-
248 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Modell des Camphers zu sehen, wobei hier auch die H-Atome abgebildet sind,
die bei den Teilbildern oben fehlen. Unten rechts sehen wir die Konstitutions-
formel von Campher, welches ein tricyclisches Kohlenwasserstoff-Molekül mit
einer Ketongruppe darstellt. Drei Ringe sind hier miteinander zu einem inter-
essanten dreidimensionalen System verschmolzen. Campher wird durch an das
Häm gebundenen Sauerstoff zu einem Campheralkohol oxidiert. Dieser ist besser
wasserlöslich und wird leicht ausgeschieden.
Cobalt
Cobalt kommt in der Natur ebenfalls in Form von Erzen vor.
Die wichtigste Rolle von Cobalt ist seine Beteiligung am Aufbau des Coenzyms
Cobalamin (Vitamin B12 ), das in Abb. 6.4 gezeigt wird.
Dieser wichtige und essentielle Cofaktor, dessen Mangel die Krankheit Per-
niziöse Anämie verursacht, besitzt eine ziemlich komplexe Struktur, deren zen-
Abb. 6.4: Konstitutionsformel des Cobalamins (Vitamin B12 ) und verschiedene Schnappschüsse der
Methionin-Synthase, die 2 Cobalamin-Coenzyme enthält (Details sind im Text erklärt).
6.1 Die Elemente des Lebens 249
trales Element ein Co3+-Zentralion ist. Dieses ist durch einen dem Porphyrin ähn-
lichen Chelat-Liganden, dem Corrin-Ringsystem, komplexiert. Die chemische
Formel ist in Abb. 6.4 links dargestellt. Rechts oben zeigt Abb. 6.4 schematisch
den Bau der Methionin-Synthase, eines Enzyms für die Biosynthese der proteino-
genen Aminosäure Methionin. Das Enzym besteht aus zwei Proteinketten mit je
einem gebundenen Vitamin B12 , dessen räumliche Struktur in größerem Maßstab
rechts unten in Abb. 6.4 dargestellt ist.
Kupfer
Kupfer, ein Metall, das für den Menschen schon sehr lange große technische
Bedeutung besitzt, kommt als relativ edles Metall in der Natur gediegen, aber
auch in Form verschiedener Erze (Oxide, Sulfide) und Salze (Carbonate und Chlo-
ride) vor. Es ist in reinem Zustand ein zähes, weiches, rötliches Metall mit aus-
gezeichneter thermischer und elektrischer Leitfähigkeit, weshalb es wichtigster
Grundstoff für die Herstellung elektrischer Leitungen ist. Es wird in vielen Legie-
rungen verwendet. Bronze ist eine Kupfer-Zinn-Legierung, Messing eine Kupfer-
Zink-Legierung.
Kupfer kommt in verschiedenen Enzymen sowohl im Pflanzen- als auch im
Tierreich und beim Menschen vor. Die bekannten Kupferproteine sind vorwie-
gend Oxidasen oder Sauerstoffüberträger. Ein Beispiel für eine Oxidase ist die
Ferrooxidase (Caeruloplasmin). Viele niedere Lebewesen wie Schnecken, Lan-
gusten und Krebse enthalten Cuproproteine als Sauerstoffüberträger, analog dem
Hämoglobin der Säugetiere. Diese Proteine werden als Hämocyanine bezeichnet;
sie sind aber mit dem Häm strukturell nicht verwandt.
Zink
Zink ist ein weiches Metall mit niedrigem Schmelzpunkt, welches stark uned-
len Charakter besitzt und daher praktisch nur in Form ionischer Verbindungen
auftritt, wobei Zn immer der elektropositive Partner ist.
Zink wird technisch viel verwendet. Eine Verzinkung von Eisen schützt bei-
spielsweise das Eisen, welches ein positiveres Normalpotential hat, gegen Rosten.
Zink ist eines der biologisch wichtigsten Metalle. In einer Vielzahl von Enzymen
(Dehydrogenasen, Aldolasen, Peptidasen, Phosphatasen, Phospholipasen und
anderen) ist Zn enthalten. Es ist wichtig für den Stoffwechsel von Kohlenhydraten,
Lipiden und Proteinen.
Zink kann auch wichtige Strukturen durch Komplexbindung stabilisieren.
Berühmt sind die Zinkfinger (Abb. 6.5), das sind Zn2+ -Ionen-enthaltende Ab-
schnitte oder Domänen von Proteinen, die Nucleinsäure-bindende Eigenschaften
besitzen. Die Zinkfingerproteine regulieren durch ihre Bindung an DNA die Able-
sung derselben und damit die Expression von Genen.
Links oben zeigt Abb. 6.5 das übliche Kalottenmodell eines Zinkfingerproteins
und einer von diesem gebundenen DNA-Doppelhelix. Rechts oben sehen wir bes-
ser, wie sich das Protein um die DNA herumschmiegt. Das Protein ist hier durch
eine speziell berechnete, weiß eingefärbte Oberfläche dargestellt, und die DNA-
Einzelstränge sind unterschiedlich eingefärbt. Mitte links sehen wir auch das
250 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Abb. 6.5: Verschiedene Schnappschüsse eines Komplexes aus einem Zinkfinger-Protein und einem
DNA-Ausschnitt (Details sind im Text erklärt; His = Histidin, Cys = Cystein).
Protein vereinfacht dargestellt durch das backbone. Die drei Kugeln zeigen die
Zn2+ -Ionen. Ein Ausschnitt aus dieser Gesamtstruktur wird Mitte rechts gezeigt.
Wir sehen, dass 4 Aminosäuren (2 Cysteine, 2 Histidine) des Proteinfadens mit
ihren S-Atomen (gelb) bzw. den N-Atomen (blau) das Zn2+ -Ion tetraedrisch koor-
dinativ binden. Dadurch hält das Zn2+ -Ion den „Finger“ des Proteins sozusagen
„in Form“, also in der korrekten Position. Dies ist links unten in nochmals leicht
veränderter Form gezeigt. Rechts unten schließlich sehen wir isoliert das Zn2+ -
Ion mit den 4 bindenden Aminosäure-Resten des Proteins. Dieselbe molekulare
Umgebung finden wir auch bei den beiden anderen Zn2+ -Ionen.
Molybdän
Molybdän, ein Element der 6. Nebengruppe, ist das einzige essentielle Metall der
zweiten Übergangsreihe. Es kommt in der Natur hauptsächlich als sulfidischer
6.2 Koordinative kovalente Bindung (semipolare Bindung, Komplexbindung) 251
Molybdänglanz vor. Es ist ein typisches Metall mit extrem hohem Schmelzpunkt
(2610 ◦ C). Gegenüber Oxidationsmitteln und Säuren ist es weitgehend inert. Tech-
nisch wird es als Zusatz zu hochwertigen Stählen legiert.
Molybdän spielt in verschiedenen Enzymen eine Rolle. Sein spezieller Nutzen
liegt in der Fähigkeit zu Zwei-Elektronen-Übertragungen, die durch den Über-
gang zwischen Mo(IV) und Mo(VI) katalysiert werden.
Schon lange gesichert ist seine Rolle in der Nitrogenase der Bakterien in
den Wurzelknoten bestimmter Pflanzen, wo es gemeinsam mit Eisen die so ge-
nannte Stickstoff-Fixierung ermöglicht. Dabei wird der chemisch äußerst reak-
tionsträge und somit biochemisch praktisch bedeutungslose Distickstoff N2 zu
dem von der Pflanze gut verwertbaren Ammoniak NH3 reduziert. Die sehr kom-
plexe Struktur des für die Aktivität des Enzyms entscheidenden, schwefel-ent-
haltenden Molybdän-Eisen-Clusters ist seit einigen Jahren aus Röntgen-Kristall-
strukturanalysen bekannt.
Merke: Wir haben hier nur einen kleinen Ausschnitt aus dem faszinierenden Gebiet der
Metall-Protein-Verbindungen vorgestellt, der aber bereits viele interessante Aspekte
aufzeigt.
Merke: Komplexverbindungen bestehen aus Partnern, die auch für sich alleine stabil und
beständig sind.
Merke: Die eckigen Klammern bezeichnen hier nicht wie sonst eine molare Konzentration,
sondern symbolisieren, dass es sich um eine Komplexverbindung handelt.
Sowohl das Fe2+ -Ion als auch die H2 O-Moleküle sind für sich alleine existenz-
fähig. Die Stabilität der koordinativen Bindung – und damit der Komplexverbin-
dungen – hängt sowohl von der Fähigkeit der Liganden ab, Elektronenpaare zur
Verfügung zu stellen, als auch von der Akzeptorqualität des Zentralions.
Merke: Besonders gute Akzeptoren sind die Kationen der Übergangselemente, die teilweise
unbesetzte innere d-Elektronenschalen besitzen.
Wie für alle chemischen Reaktionen gilt das Massenwirkungsgesetz auch für
Komplexreaktionen. Die allgemeine Bildungsgleichung einer Komplexverbin-
dung lautet:
Zn+ + mL [Z(L)n+
m ]
Dabei symbolisiert Z das Zentralkation und L die Liganden. Nach den Regeln für
das Massenwirkungsgesetz gilt im Gleichgewicht:
c[Z(L)n+
m ]
K ≡ Kf =
cZn+ · cm
L
Wir verwenden hier ausnahmsweise anstelle der sonst üblichen eckigen Konzen-
trationsklammern eine andere Schreibweise für molare Konzentrationen, um eine
Verwirrung zu vermeiden
Die Gleichgewichtskonstante wird auch als Komplexbildungskonstante be-
zeichnet (der Index f bedeutet formation, englisch für Bildung).
Die Gleichgewichtskonstante für den umgekehrten Vorgang der Dissoziation
eines Komplexes in seine Bestandteile bezeichnen wir als Komplexdissoziations-
konstante Kd , wobei gilt:
1
Kd =
Kf
Die Bildung oder Dissoziation von Komplexen mit mehr als einem Liganden
erfolgt üblicherweise in Einzelschritten mit je eigener Gleichgewichtskonstante.
Die dadurch etwas kompliziertere detaillierte mathematische Behandlung würde
hier zu weit führen.
• Daran schließt sich die Angabe der chemischen Identität der Liganden, wobei
in den meisten Fällen die Endung -o angehängt wird. Einige Liganden werden
besonders bezeichnet. Tab. 6.4 zeigt einige Beispiele.
Tab. 6.4: Beispiele für wichtige Liganden und ihre Bezeichnungen in Komplexverbindungen.
H2 O aquo- I− iodo-
OH− hydroxo- CN− cyano-
NH3 ammin- SCN− thiocyanato-
F− fluoro- SO2−
4 sulfato-
Cl− chloro- CO2−
3 carbonato-
Br − bromo-
• Nun folgt der Name des Zentralions. Wenn der Komplex als ganzes positiv
geladen ist (Komplexkation), so wird der übliche Elementname verwendet. Ist
der Komplex insgesamt jedoch negativ geladen (Komplexanion), so verwenden
wir den lateinischen oder griechischen Wortstamm des Elementnamens und
hängen die Nachsilbe „-at“ an.
• Den letzten Teil des Namens schließlich bildet die Angabe der Oxidationszahl
des Zentralions in römischen Ziffern in runden Klammern.
Zur Demonstration der Anwendung dieser Regeln zeigt Tab. 6.5 einige Beispiele
für komplexe Ionen.
Komplexkationen Komplexanionen
[Cu(NH3 )2+
4 ] Tetramminkupfer-(II) [HgI2−
4 ] Tetraiodomercurat-(II)
2+
[Fe(H2 O)6 ] Hexaquoeisen-(II) [Ag(CN)−2 ] Dicyanoargentat-(I)
[Fe(H2 O)3+
6 ] Hexaquoeisen-(III) [CuCl2−
4 ] Tetrachlorocuprat-(II)
[Fe(CN)4−
6 ] Hexacyanoferrat-(II)
[Fe(CN)3−
6 ] Hexacyanoferrat-(III)
Chelatkomplexe
Die Liganden, die wir bis jetzt kennen gelernt haben, besitzen jeweils nur
ein koordinationsfähiges Atom, und es kann sich pro Ligand also nur eine
koordinative Bindung ausbilden. Solche Liganden nennen wir auch einzähnig
(monodental). Liganden mit mehreren zur Koordinationsbindung befähigten Ato-
men bezeichnen wir als mehrzähnig (polydental). Gebräuchlich ist auch der Aus-
druck Chelat-Ligand vom griechischen chele = Krebsschere), da ein derartiger
Ligand das Zentralatom wie ein Krebs mit seiner Schere „umfasst“. Abb. 6.6 zeigt
einige Beispiele für solche Liganden und die entsprechenden Chelatkomplexe.
Diaminoethan (auch – nicht ganz korrekt – „Ethylendiamin“ genannt) und Gly-
cinat (die konjugierte Base der Aminosäure Glycin) sind zweizähnig (bidental).
Das 4-fach negativ geladene Salz der Diamino-tetraessigsäure (auch „Ethylen-
diamino-tetraacetat“ EDTA) ist sogar sechszähnig (hexadental).
Abb. 6.6: Verschiedene Chelat-Liganden und Chelatkomplexe. Die in die Komplexbindungen invol-
vierten Atome sind durch Fettdruck hervorgehoben.
6.3 Grundlagen der Organischen Chemie 255
Merke: Chelatkomplexe sind generell stabiler als Komplexe mit einzähnigen Liganden.
Lehrziel
Kohlenstoffverbindungen bilden die Grundlage der allermeisten biologisch/physiologisch wich-
tigen Substanzen. Die Bedeutung dieser Verbindungen ist so überragend sowohl hinsichtlich der
ungeheuer großen Zahl möglicher Kohlenstoffverbindungen als auch der enormen Bandbreite
der Eigenschaften dieser Substanzen, dass sie ein eigenes großes Gebiet der wissenschaftlichen
Chemie für sich beanspruchen, die Organische Chemie.
nen steht daher nicht so wie etwa bei den Elementen der 1. und 2. Hauptgruppe
die Abgabe der Valenzelektronen oder wie bei den Elementen der 6. und 7. Haupt-
gruppe die Aufnahme von Elektronen im Vordergrund: Kohlenstoff bildet prak-
tisch keine stabilen ionischen Verbindungen, dafür aber sehr stabile kovalente
Bindungen sowohl mit weiteren Kohlenstoffatomen als auch mit Atomen anderer
Elemente, besonders des Wasserstoffs. Jedes Kohlenstoffatom ist zur Bindungs-
bildung mit bis zu vier weiteren Kohlenstoffatomen befähigt, die ihrerseits eben-
falls mit weiteren Kohlenstoffatomen verbunden sein können. Während ionische
Bindungen räumlich ungerichtet sind und daher zwar Ionenkristalle, aber keine
hochorganisierten Moleküle ausbilden können, besitzen kovalente Bindungen
eine sehr starke räumliche Vorzugsrichtung. Wir finden am Kohlenstoffatom drei
mögliche Bindungsgeometrien (Tab. 6.6).
Tab. 6.6: Die Bindungsarten am C-Atom (siehe auch Kapitel 1, Abschnitt 4 „Der Aufbau der Atome“).
Alle diese Eigenschaften prädestinieren den Kohlenstoff als idealen Baustein für
den Aufbau selbst der kompliziertesten Moleküle. Wir finden unter den Verbin-
dungen des Kohlenstoffs unverzweigte und verzweigte Kettenmoleküle, einfa-
che und mehrfache Ringsysteme, Schichtmoleküle bis hin zu dreidimensionalen
Gebilden. Graphit und Diamant können wir als Prototypen für die beiden letzteren
Möglichkeiten betrachtet.
Auch bei anderen Elementen gibt es einige wie Bor, Silicium und Schwefel,
die zur Ausbildung von Ketten, Ringen und dergleichen befähigt sind. Allerdings
sind die Bindungen bei diesen Elementen wesentlich schwächer und instabiler
als beim Kohlenstoff. Dazu kommt, dass die Elemente der dritten oder höhe-
rer Perioden keine Mehrfachbindungen ausbilden. Außerdem ist die Bindung
zwischen Kohlenstoff und Wasserstoff, dem zweitwichtigsten Element in orga-
nischen Verbindungen, sogar noch stärker und chemisch stabiler als die Bindung
zwischen zwei Kohlenstoffatomen, und schließlich können auch andere Atome
oder Atomgruppen an C-Atome gebunden werden, ohne dass eine nennenswerte
Schwächung der angrenzenden Bindungen eintritt. Alle diese Phänomene tragen
zusätzlich zur einzigartigen Stellung der Kohlenstoffverbindungen bei. Die unge-
heure Anzahl bekannter Kohlenstoffverbindungen, die aufgrund dieser Eigen-
schaften existieren, rechtfertigt die Sonderstellung der organischen Chemie.
6.3 Grundlagen der Organischen Chemie 257
Bei Additionsreaktionen lagert sich ein Molekül an ein anderes an, welches eine
Mehrfachbindung, meist eine Doppelbindung, enthält (Abb. 6.8). Die Doppel-
bindung wird im Zuge dieser Reaktion zu einer Einfachbindung.
258 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Die Umkehrung der Addition, die Abspaltung eines Moleküls unter Ausbildung
einer Doppelbindung, nennen wir Eliminierungsreaktion.
Bei Umlagerungsreaktionen schließlich tauschen zwei Substituenten ihre
Plätze im Molekül, oder ein Substituent wandert unter gleichzeitiger Verschie-
bung einer Doppelbindung (Abb. 6.9).
Abb. 6.9: Allgemeine Schemata von Umlagerungsreaktionen. Die zweite Reaktion wird auch als
Tautomerisierungsreaktion bezeichnet.
Grundsätzlich gelten für organische Reaktionen wie für alle chemischen Reaktio-
nen die Gesetze der Thermodynamik und der Kinetik. Die Thermodynamik macht
Aussagen darüber, ob eine gegebene Reaktion überhaupt stattfinden kann und
wie die energetischen Zustandsänderungen bei der Reaktion sind. Die Kinetik
dagegen beschäftigt sich mit der Geschwindigkeit einer Reaktion und versucht,
zu Erkenntnissen über den detaillierten Mechanismus der Reaktion zu gelangen.
Bei jeder organischen Reaktion werden kovalente Bindungen getrennt und neu
gebildet. Je nachdem, ob die Reaktion in einem einzigen Schritt (selten) oder in
einer Abfolge zweier oder mehrerer Elementarreaktionen (häufiger) stattfindet,
sprechen wir von einer einstufigen (konzertierten) oder einer mehrstufigen Reak-
tion.
Ein wichtiger Gesichtspunkt bei organischen Reaktionen ist die Unterschei-
dung zwischen dem „angreifenden“ Partner, dem Reagens, und dem „angegrif-
fenen“ Stoff, dem Substrat. Diese Unterscheidung ist natürlich willkürlich und
prinzipiell umkehrbar, in der Praxis aber recht nützlich: Das Substrat ist in der
Regel der Stoff, für dessen Schicksal wir uns interessieren.
Die chemische Natur des Reagens erlaubt es uns, organische Reaktionen noch
weiter zu unterteilen in elektrophile, nucleophile und radikalische Reaktionen:
Ein elektrophiles („elektronen-liebendes“) Reagens (ein Elektrophil) ist eine
Verbindung mit einem Elektronenmangel-Zentrum. Ein Elektrophil greift ein
Substrat an der Stelle im Molekül an, wo eine besonders hohe Elektronendichte
besteht.
6.4 Kohlenwasserstoffe 259
6.4 Kohlenwasserstoffe
Lehrziel
Kohlenwasserstoffe bilden die Grundkörper organischer Verbindungen. Wir wollen die wichtigs-
ten Klassen dieser Substanzen kennen lernen, und bei dieser Gelegenheitwerden wir auch einiges
über die Nomenklatur organischer Verbindungen erfahren.
Alkane
Alkane sind die einfachsten Kohlenwasserstoffe. Sie enthalten nur C–C-Einfach-
bindungen und Wasserstoff. Das einfachste Alkan ist das Methan (CH4 ). Die
homologe Reihe der Alkane leitet sich davon durch fortgesetztes Hinzufügen
von CH2 -Bausteinen ab:
Methan = CH4 ; Ethan = H3 C − CH3 ; Propan =H3 C − CH2 − CH3 ; usw.
Die Namen der Alkane werden folgendermaßen konstruiert. Für die vier einfachs-
ten Vertreter verwenden wir die Namen Methan, Ethan, Propan und Butan. Die
nachfolgenden homologen Glieder werden durch Anhängen der Silbe „-an“ an
den Wortstamm der entsprechenden griechischen Zahlwörter gebildet, welche
die Zahl der C-Atome angeben. So kommen wir zum Pentan mit 5, Hexan mit 6,
Heptan mit 7, Octan mit 8, Nonan mit 9, Decan mit 10 C-Atomen usw.
Organische Verbindungen zeigen die Erscheinung der Isomerie (siehe Kapi-
tel 7, Abschnitt 2 „Isomerie – unterschiedliche Moleküle mit ,gleicher’ Formel“).
Ab der Größe des Butans existieren Gerüstisomere. Butan etwa gibt es in zwei,
Pentan in drei strukturisomeren Formen. Bei Eicosan (20 C-Atome) gibt es bereits
366319 Strukturisomere (!).
Die unverzweigten Alkane charakterisieren wir durch ein vorangestelltes „n“
(für „normal“) vor dem Namen. Verzweigte Alkane benennen wir gemäß den
folgenden, international festgelegten Regeln:
• Wir suchen die längste unverzweigte Kohlenstoffkette und benennen sie wie
das entsprechende Alkan gleicher C-Anzahl. Sind mehrere gleichlange Ket-
ten im Molekül identifizierbar, wählen wir diejenige mit den meisten Verzwei-
gungen.
• Wir nummerieren diese längste Kette so, dass die erste Verzweigungsstelle eine
möglichst niedrige Nummer erhält.
• Die von den Verzweigungsstellen abzweigenden Seitenketten fassen wir als
Substituenten auf und benennen sie mit dem Namen des Alkans gleicher
260 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
C-Anzahl, ersetzen aber die Endung „-an“ durch „-yl“. Solche Alkyl-Reste,
also Alkane, denen ein H-Atom fehlt, werden in Formeln oft allgemein mit R−
symbolisiert.
• Vor jedem Substituenten geben wir noch die Nummer des betreffenden
Verzweigungs-Atoms an.
Die Reihenfolge der Substituenten wählen wir alphabetisch. Sind mehrere gleich-
lange Seitenketten an einem Verzweigungsknoten gebunden, wird dies durch
griechische Zahlworte angegeben.
Ein Beispiel für diese rationelle Benennungsweise zeigt Abb. 6.10.
Abb. 6.10: Ein stärker verzweigtes Alkan. Der rationelle Name ist 6-Ethyl-2,2,4-trimethyl-4-propyl-
octan. Die Stammverbindung Octan ist rot hervorgehoben.
Alkene
Alkene besitzen eine Doppelbindung.
Die Doppelbindung entsteht durch Ausbildung einer -Bindung und einer -
Bindung zwischen den C-Atomen. Da die -Bindung nur entstehen kann, wenn
die involvierten p-Orbitale achsenparallel stehen, existiert bei Alkenen keine
freie Drehbarkeit um die Doppelbindung. Die doppelt gebundenen C-Atome
und die vier an sie gebundenen Atome liegen in einer Ebene. Die Bindungswin-
kel an den C-Atomen betragen 120◦ (siehe Kapitel 1, Abschnitt 5 „Die kovalente
Bindung (Atombindung)“).
6.4 Kohlenwasserstoffe 261
Die Starrheit der Doppelbindung ermöglicht die Existenz von cis, trans-
Isomeren.
Die Bezeichnungsweise von Alkenen ist einfach:
• Wir suchen die längste Kette von C-Atomen, die die Doppelbindung enthält,
und nummerieren die C-Atome so, dass die in die Doppelbindung involvierten
C-Atome möglichst kleine Nummern erhalten.
• Diese Kette benennen wir wie das entsprechende Alkan, ersetzen aber die
Endung „-an“ durch „-en“.
• Die genaue Lage der Doppelbindung geben wir durch die Nummer des Atoms
an, von dem die Doppelbindung ausgeht.
• Sind mehrere Doppelbindungen im Molekül vorhanden, geben wir dies durch
das entsprechende griechische Zahlwort an.
• Substituenten behandeln wir genauso wie bei den Alkanen.
Früher war für Alkene auch eine Bezeichnungsweise als Alkylene üblich. So
nannte man etwa Ethen Ethylen (oder Äthylen), Propen wurde Propylen genannt
usw.
Alkene unterscheiden sich in ihren physikalischen Eigenschaften kaum von
den entsprechenden Alkanen. Die zwischenmolekularen Kräfte sind etwas grö-
ßer, da die Doppelbindung ganz schwach polarisiert ist. Alkene haben daher
etwas höhere Schmelz- und Siedepunkte.
Alkene sind chemisch bereits etwas interessanter als Alkane. Sie können Addi-
tionsreaktionen eingehen. Dabei entstehen anstelle der Doppelbindung zwei Ein-
fachbindungen.
Eine technisch wichtige Reaktionsmöglichkeit der Alkene ist die Addition von
Wasserstoff an die Doppelbindung. Diese Reduktion der Alkene zu den entspre-
chenden Alkanen wird meist mit Katalysatoren – feinverteilte Schwermetalle wie
Platin, Palladium oder Nickel – durchgeführt.
Cycloalkane
Cycloalkane sind ringförmig gebaute Alkane.
Ihre Bezeichnungsweise ist einfach. Vor dem Namen des entsprechenden
Alkans setzen wir das Präfix „Cyclo-“. Die ersten vier Cycloalkane zeigt Abb. 6.11.
Abb. 6.11: Die wichtigsten Cycloalkane in ausführlicher (oben) und abgekürzter Schreibweise (unten).
262 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Wie im unteren Teil von Abb. 6.11 gezeigt, schreiben wir oft aus Bequemlichkeit
nur das nackte Kohlenstoff-Skelett, ohne die C-Atome und die H-Atome explizit
auszuschreiben.
Die Cycloalkane gleichen in ihren physikalischen Eigenschaften sehr den Alka-
nen.
Einige Cycloalkane zeigen in ihrem Verhalten charakteristische Unterschiede
zu den entsprechenden offenkettigen Alkanen. Besonders die kleinsten Ringe,
Cyclopropan und Cyclobutan, sind sehr reaktiv und nur unter Schwierigkei-
ten herstellbar. Der Grund dafür ist die große Abweichung ihrer C–C–C- Bin-
dungswinkel vom idealen Tetraederwinkel von 109◦28 . Die daraus resultierende
Instabilität des Ringsystems nennen wir Klassische Ringspannung oder Baeyer-
Spannung.
Cyclopentan und Cyclohexan dagegen vermeiden diese Ringspannung da-
durch, dass sie nicht eben gebaut sind. Aufgrund der Wichtigkeit der sechsgliedri-
gen Ringe in vielen Naturstoffen (Kohlenhydrate, Terpene, Steroide) besprechen
wir die Stereochemie des Cyclohexanringes etwas ausführlicher.
Wäre Cyclohexan eben gebaut, würden wir einen C–C–C-Bindungswinkel von
120◦ erwarten, was wegen der relativ großen Abweichung vom Tetraederwinkel
zu einer beträchtlichen Baeyer-Spannung führen würde.
Cyclohexan liegt deshalb bevorzugt in der so genannten Sesselform vor
(Abb. 6.12). Dabei unterscheiden wir zwei Arten von H-Atomen. Äquatoriale
H-Atome (in Abb. 6.12 bezeichnet durch „eq“) liegen – bezogen auf eine mittlere
Ringebene – ungefähr in dieser Ebene, axiale H-Atome („ax“) dagegen stehen
senkrecht zu dieser mittleren Ringebene.
Abb. 6.12: Die Sesselkonformation des Cyclohexans und die Lage der äquatorialen (eq) und axialen
Wasserstoffatome (ax).
Aromatische Kohlenwasserstoffe
Ringförmige Verbindungen mit durchgehend konjugierten Doppelbindungen
(das sind alternierende Doppel- und Einfachbindungen) und einer Anzahl von
-Elektronen, die sich durch den Ausdruck 4n + 2 mit n = 0, 1, 2, ...(Hückel‘sche
Regel) beschreiben lässt, weisen besondere Stabilität auf und werden als aroma-
tische Verbindungen bezeichnet. Ihr chemisches Verhalten wird durch das
Bestreben dominiert, das stabile aromatische Bindungssystem beizubehalten.
Der Grundkörper der aromatischen Verbindungen ist das Benzen, dessen Bin-
dungsstruktur bereits besprochen wurde (siehe Kapitel 1, Abschnitt 5 „Die kova-
lente Bindung (Atombindung)“).
Benzen wird durch sechs C-Atome aufgebaut, die ein reguläres Sechseck bil-
den. An jedem Atom ist zusätzlich ein H-Atom gebunden. Durch die Ausbildung
polyzentrischer Molekülorbitale aus den an jedem C-Atom „übrig bleibenden“,
senkrecht zur Molekülebene stehenden und einfach besetzten p-Orbitalen sind
alle C–C-Bindungen völlig gleichwertig. Das Molekül ist planar gebaut, und alle
Bindungswinkel betragen 120◦. Die C–C-Bindungsabstände sind durchgehend
gleich und liegen mit 0,139 nm zwischen einer C–C-Einfachbindung (0,154 nm)
und einer C–C- Doppelbindung (0,133 nm).
Benzen kann drei verschiedene Disubstitutionsisomere bilden, die als 1,2-
(oder ortho-; abgekürzt „o-“); 1,3- (oder meta-; abgekürzt „m-“) und 1,4- (oder
para-; abgekürzt „p-“)-Verbindungen bezeichnet werden. Abb. 6.13 zeigt dies
anhand der drei isomeren Dichlorbenzene.
Abb. 6.13: Die drei möglichen Stellungsisomere disubstituierter Benzenderivate, am Beispiel des
Dichlorbenzens.
• Bei drei gleichen Substituenten kennen wir neben der einfachen Nummerie-
rung noch die älteren Bezeichnungen vicinal = 1,2,3; symmetrisch = 1,3,5 und
asymmetrisch = 1,2,4.
Wie bei den Alkanen durch Wegnahme eines H-Atoms Alkyl-Reste entstehen,
bilden Aromaten durch Entfernung eines H-Atoms Aryl-Reste. Alkylreste werden
in Formeln oft durch R−angegeben. Für Arylreste verwenden wir in Formeln die
Kurzschreibweise Ar−. Im Fall des Benzens nennen wir den Aryl-Rest Phenyl-Rest
(C6 H5 −).
In Formeln wird der aromatische Ring üblicherweise durch ein regelmäßiges
Sechseck mit eingeschriebenem Innenkreis oder durch Grenzstrukturen mit alter-
nierenden Doppel- und Einfachbindungen gezeichnet. Diese Kennzeichnungen
sind wesentlich, da auch gesättigte Cycloalkane wie Cyclohexan in der üblichen
Kurzschreibweise durch ein reguläres Sechseck, aber ohne Innenkreis oder alter-
nierende Doppel- und Einfachbindungen dargestellt werden. Abb. 6.14 erläutert
die unterschiedlichen Schreibweisen und Bedeutungen.
Abb. 6.14: Ausführliche und abgekürzte Schreibweisen von Benzen und Cyclohexan.
Für einige Derivate des Benzens sind neben den rationellen Namen auch Tri-
vialnamen gebräuchlich. Methylbenzen wird auch als Toluen (früher: Toluol)
bezeichnet. Die drei möglichen Dimethylderivate werden auch Xylene (früher:
Xylole) genannt: 1,2-Dimethylbenzen = o-Xylen; 1,3-Dimethylbenzen = m-Xylen;
1,4-Dimethylbenzen = p-Xylen.
Benzen selbst ist eine farblose, charakteristisch riechende, sehr giftige, weil
krebserregende, Flüssigkeit, die bei 80 ◦ C siedet. Benzen ist sehr apolar, löst sich
daher in Wasser fast nicht, ist jedoch gut mischbar mit anderen lipophilen Sub-
stanzen.
6.4 Kohlenwasserstoffe 265
Abb. 6.15: Die Bromierung von Benzen, ein Beispiel für die typische elektrophile Substitution an
aromatischen Verbindungen.
Benzen ist der wichtigste, aber nicht der einzige aromatische Kohlenwasser-
stoff. So genannte kondensierte Aromaten sind Verbindungen, bei welchen meh-
rere aromatische Ringe über eine oder mehrere Ringkanten zusammenhängen.
Abb. 6.16 zeigt einige Beispiele.
266 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Manche Atomkerne aber sind „von Natur aus“ instabil. Sie zerfallen und bieten
so Beispiele für spontan ablaufende Kernreaktionen. Wir sprechen von Radio-
aktivität.
Kernreaktionen haben dem Menschen die Möglichkeit gegeben, den Traum
der früheren Alchimisten zu verwirklichen. Wenn im Zuge einer Kernreaktion
die Protonenzahl (= Ordnungszahl) eines Atomkernes geändert wird, dann wird
definitionsgemäß auch seine chemische Identität geändert.
Die erste künstliche Elementumwandlung sei aus historischen Gründen
erwähnt. Sie gelang Rutherford 1919. Durch Einwirkung von natürlichen -Strah-
len auf Stickstoff erzeugte er über die Zwischenstufe eines instabilen Fluorkernes
Sauerstoff und Wasserstoff entsprechend der Gleichung
14 4
7 N + 2H → 18
9 F → 8 O + 1H
17 1
(zur Schreibweise der Nuclide siehe Kapitel 1, Abschnitt 4 „Der Aufbau der Ato-
me“).
Bei Kernreaktionen bleibt, wie wir an diesem Beispiel sehen, wie bei einer
„normalen“ chemischen Reaktion die Summe der Nucleonenzahlen und die
Summe der Kernladungs- oder Ordnungszahlen gleich. Die Elementbezeichnun-
gen ändern sich aber entsprechend der geänderten Ordnungszahlen der Ele-
mente.
Die allermeisten natürlich vorkommenden radioaktiven Elemente haben eine
hohe Nucleonenzahl – sie sind „schwere Kerne“. Sie stabilisieren sich, indem sie
in leichtere und stabilere Nuclide zerfallen.
Wir können bei radioaktiven Zerfallsprozessen drei unterschiedliche Arten von
Strahlung beobachten. Diese verschiedenen Strahlungsarten erfahren in einem
elektrostatischen Feld unterschiedliche Ablenkungskräfte (Abb. 6.17).
Die -Strahlung (Ablenkung zum negativ geladenen Pol hin) liegt dann vor,
wenn ein radioaktives Nuclid zweifach positiv geladene Heliumkerne mit hoher
Geschwindigkeit emittiert. Solche Heliumkerne nennen wir auch -Teilchen; wir
schreiben sie korrekt als 42 He. Ein derartiger -Zerfall lässt sich auch als Kern-
reaktion schreiben:
N
P [E] → N−4 4
P−2 [E − 2] + 2 He
268 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
[E] steht dabei für ein Element, N ist seine Nucleonenzahl und P seine Protonen-
zahl. [E-2] ist das neu entstehende Element, welches eine um 2 verminderte Kern-
ladungszahl besitzt.
Ein Beispiel ist der Zerfall eines Radiumisotops in Radon:
226
88 Ra → 222 4
86 Rn + 2 He
Beim -Zerfall (Ablenkung zum positiv geladenen Pol hin) hingegen verlässt
ein schnelles Elektron, welches eine negative Ladung trägt, den Kern. Dessen
(positive) Ladungszahl muss sich also um eins vermehren. Allgemein gilt für den
-Zerfall:
N
P [E] →N 0 −
P+1 [E + 1] + −1 e
Die Nucleonenzahl bleibt also unverändert. Ein konkretes Beispiel ist der Zerfall
eines instabilen Kaliumisotops in ein Calciumisotop:
40
19 K → 40 0 −
20 Ca + −1 e
Merke: Das Elektron beim -Zerfall stammt aus dem Kern, nicht aus der Hülle. Ein Kernneutron
(n) wandelt sich dabei in ein Proton (p) um. Das dabei freigesetzte Elektron wird mit
großer Wucht aus dem Kern herausgeschleudert:
01 n ! 11 p + −1
0 −
e
-Zerfälle sind bei solchen Nucliden zu beobachten, die einen großen Überschuss an
Neutronen besitzen, verglichen mit der Zahl ihrer Protonen.
Nuclide. Zu jedem Zeitpunkt ist der Anteil der gerade zerfallenden Nuclide der
soeben noch vorhandenen Zahl von Nucliden N proportional. Mathematisch lässt
sich dieser Sachverhalt als Differentialgleichung formulieren:
dN
− = Š ·N
dt
Das negative Vorzeichen zeigt an, dass es sich bei der Änderung der Nuclidzahl N
um eine Abnahme handelt. Š bezeichnen wir als Zerfallskonstante. Sie ist ein für
ein Nuclid charakteristischer Proportionalitätsfaktor für die Zerfallswahrschein-
lichkeit.
Offenbar folgt der radioaktive Zerfall einer Kinetik erster Ordnung (siehe auch
Kapitel 5, Abschnitt 1 „Grundlagen der Kinetik“).
Wir können daher sofort die Lösung der Differentialgleichung hinschreiben:
N(t) = N0 · e−Š·t
Die Zahl der radioaktiven Kerne als Funktion der Zeit nimmt von einer gegebenen
Anfangszahl N0 entsprechend einer fallenden Exponentialfunktion ab.
Wie bei jedem Prozess erster Ordnung existiert auch für den radioaktiven Zer-
fall eines beliebigen radioaktiven Nuclids eine zeitunabhängige Halbwertszeit
t 1 . Diese steht in engem Zusammenhang mit der Zerfallskonstante Š:
2
ln 2 0,693
t1 = =
2 Š Š
Die Halbwertszeit ist also indirekt proportional der Zerfallskonstante. Da die Halb-
wertszeit die Dimension einer Zeit hat, folgt für die Dimension der Zerfallskon-
stante eine reziproke Zeit (etwa s−1 ; etc). Die Halbwertszeit ist, wie die Zerfalls-
konstante, eine für jedes radioaktive Nuclid charakteristische konstante Größe.
Radioaktivität ist gut messbar. Die radioaktiven Strahlen können aus der
Hülle elektrisch neutraler Atome Elektronen herausschlagen, wodurch negativ
geladene freie Elektronen und positiv geladene Atomrümpfe (Kationen) entste-
hen. Dies wird im Geiger-Müller-Zählrohr ausgenützt. An einen Draht in einem
Metallrohr wird eine elektrische Spannung angelegt; das Auftreten von Ionen
führt zu einem Stromfluss, den man messen kann. Eine andere Möglichkeit bietet
die Wilson’sche Nebelkammer. In einer Kammer mit übersättigtem Wasserdampf
bewirkt das Auftreten von Ionen Tröpfchenbildung, ähnlich wie bei Kondens-
streifen hinter Flugzeugen. Außerdem schwärzen radioaktive Strahlung photo-
graphische Emulsionen (Filme). Diese Eigenschaft wird in der Autoradiographie
verwendet, wobei eine feste Gewebeprobe mit einem photographischen Film in
Kontakt gebracht wird. Nach dem Entwickeln des Filmes sieht man die Stellen, wo
in der Gewebeprobe Radioaktivität vorhanden war. Gewisse Materialien können
die Energie radioaktiver Strahlung in Lichtenergie umwandeln; das entstehende
Licht kann bequem gemessen werden (Szintillationszähler).
Merke: Radioaktivität spielt in der modernen Medizin eine sehr wichtige Rolle. Sowohl in der
biomedizinischen Grundlagenforschung, in der klinischen Diagnostik und in der
Therapie werden verschiedene radioaktive Isotope eingesetzt.
270 6. Ein Streifzug durch das Periodensystem der Elemente
Merke: Jede Handhabung radioaktiven Materials stellt eine potentielle Gefahrenquelle dar.
Radioaktivität gehört immer und ausschließlich in die Hände entsprechend ausgebil-
deter Fachleute!
Das Maß für die Radioaktivität ist das Becquerel (Bq), benannt nach dem franzö-
sischen Entdecker der Radioaktivität von Uran, Henri Becquerel. 1 Bq ist 1 Zerfall
pro Sekunde. Die in Bq ausgedrückte Strahlungsaktivität lässt allerdings keinen
Rückschluss auf die Art der Strahlung zu. Die Strahlenbelastung des mensch-
lichen Organismus wird in Sievert (Sv) angegeben. Dabei handelt es sich um
eine abgeleitete Größe, die der unterschiedlichen biologischen Wirksamkeit der
verschiedenen Strahlenarten Rechnung trägt.
Auflösung zur Fallbeschreibung 6 271
Das Leben auf der Erde ist an die geringfügige natürliche Radioaktivität ange-
passt. Auch der Mensch ist seit Urzeiten an diese natürliche Strahlenbelastung
adaptiert. Aus dem Weltall gelangt ein steter Strom energiereicher Partikel auf
die Erdoberfläche (kosmische Höhenstrahlung). Radioaktive Elemente kommen
in der Erdkruste vor und bilden durch den Zerfall weitere instabile Nuclide, zum
Beispiel das gasförmige Radon.
Jedes Zuviel an radioaktiver Belastung aber ist schädlich. Dies ist heute in
zunehmendem Ausmaß von Bedeutung, da seit dem Ende des zweiten Welt-
krieges eine deutlich zunehmende Strahlenbelastung durch künstlich erzeugte
Radioaktivität (Kernexplosionen, Kernkraftwerke) existiert.
Radioaktivität kann lebende Materie nicht nur zerstören. Durch ganz spezi-
fische Wirkungen der radioaktiven Strahlung insbesondere auf die für die Ver-
erbung verantwortlichen Biomoleküle, die Nucleinsäuren, können einerseits
Krankheiten wie bösartiges Wachstum (Krebs) ausgelöst werden.
Andererseits hat die Wirkung der natürlichen radioaktiven Strahlung auf die
Nucleinsäuren wahrscheinlich wesentlich zur Evolution des Lebens beigetragen.
Wie durch radioaktive Strahlen Krebs ausgelöst werden kann, so können die Ver-
änderungen im Erbmaterial in sehr seltenen Fällen zufällig auch eine günstige
Wirkung für den betreffenden Organismus zur Folge haben. Dadurch kann dessen
Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen verbessert werden, wodurch
seine Chance, sich fortzupflanzen und die günstige Mutation (Veränderung im
Erbmaterial) weiterzuvererben, erhöht wird.
7
Fallbeschreibung
Ein 5 Monate altes Mädchen wird erstmals zusätzlich zur Muttermilch auch
mit einem Brei gefüttert. Daraufhin wird das Mädchen blass und zittrig und
7
erbricht sich im Anschluss heftig. Nach Einlieferung auf eine Kinderstation
wird eine akute Hypoglykämie (Unterzuckerung) festgestellt und in weiterer
Folge eine Fructose-Intoleranz diagnostiziert.
Welche therapeutischen Konsequenzen sind hier angebracht?
Lehrziele
Dieses Kapitel wird uns mit dem weiten Bereich der Kohlenhydrate bekannt-
machen.
Wir werden uns mit der allgemeinen Struktur der Kohlenhydrate beschäf-
tigen und die verschiedenen Einteilungsprinzipien für diese wichtige Verbin-
dungsklasse kennen lernen. Dabei wird es sich als unvermeidlich erweisen,
die in der Organischen Chemie überaus wichtigen Konzepte der Isomerie zu
besprechen. Die chemischen Reaktionen der Kohlenhydrate und ihre bedeu-
tendsten Derivate werden unser Bild dieser Naturstoffklasse abrunden.
Lehrziel
Kohlenhydrate begegnen uns im Bereich der biomedizinischen Chemie häufig. Ob für die Bereit-
stellung biologischer Energie, ob als Bausteine für vielfältigste Naturstoffe oder als „Identitäts-
nachweise“ für Zellen – Kohlenhydratbausteine sind ubiquitär.
Die Klasse der Kohlenhydrate umfasst eine sehr große Zahl biologisch wichtiger
Verbindungen. Sie sind von der Masse her die bedeutendste Naturstoffklasse
überhaupt! Alleine Cellulose, die wichtigste Gerüstsubstanz der Pflanzen, stellt
bereits über 50% der gesamten organischen Masse auf der Erde.
Der Begriff Kohlenhydrat ist historisch bedingt. Einige wichtige Vertreter der
Gruppe besitzen eine Summenformel, die wir formal als Hydrat (= Wasser-Ver-
bindung) des Kohlenstoffs schreiben könnten. So lautet beispielsweise die Brutto-
formel von Glucose C6 H12 O6 = C6 (H2 O)6 . Allerdings könnten wir auch andere
organische Verbindungen, die eindeutig nicht zu den Kohlenhydraten gerech-
net werden, formal als Kohlenstoff-Hydrate schreiben. Ein Beispiel ist die Milch-
säure C3 H6 O3 = C3 (H2 O)3 . Und ebenso kennen wir Verbindungen, die zwar
den Kohlenhydraten zugerechnet werden, aber diesem formalen Schema nicht
276 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
Tab. 7.1: Die drei großen Klassen der Kohlenhydrate und ihre wichtigsten biologischen Funktionen.
Monosaccharide Energieproduktion
Bauelemente wichtiger Biomoleküle
Di- und Oligosaccharide Energieproduktion
Bauelemente wichtiger Biomoleküle
Polysaccharide Kohlenhydratspeicher (Reservekohlenhydrate)
Stütz- und Gerüstsubstanzen
Bindegewebsgrundsubstanz
Monosaccharide
Für das Verständnis der ziemlich einheitlichen und homogenen chemischen
Strukturen von Kohlenhydrat-Molekülen benötigen wir eine gute Kenntnis der
Prinzipien der Isomerie (siehe Abschnitt 7.2 „Isomerie – unterschiedliche Mole-
küle mit ,gleicher’ Formel“).
Wir beginnen mit den Aldosen, das sind Monosaccharide mit einer Aldehyd-
gruppe. Die einfachste Aldotriose ist Glycerinaldehyd (2,3-Dihydroxy-propanal).
Glycerinaldehyd enthält ein asymmetrisches C-Atom und die Verbindung exis-
tiert daher in zwei enantiomeren (= spiegelbildisomeren) Formen, D-Glycerin-
aldehyd und L-Glycerinaldehyd, deren Fischer-Projektionsformeln in Abb. 7.1
gegenüber gestellt werden.
7.1 Mono-, Oligo- und Polysaccharide 277
Abb. 7.1: Die beiden enantiomeren Formen des Glycerinaldehyds in zwei Schreibweisen. In den For-
meln ist das asymmetrische C-Atom rot gezeichnet. Die rot unterlegte OH-Gruppe definiert die Zuge-
hörigkeit zur D- bzw. L-Reihe.
Wenn wir nun systematisch von den Triosen zu den Tetrosen, Pentosen usw. fort-
schreiten, kommt je ein zusätzliches asymmetrisches C-Atom hinzu. Bei Vorliegen
von n asymmetrischen C-Atomen existieren insgesamt 2n diastereomere Formen.
Davon gehört die Hälfte der D-Reihe an, die andere Hälfte der L-Reihe. So erhal-
ten wir insgesamt 22 = 4 stereoisomere Tetrosen, nämlich D- und L-Erythrose sowie
D- und L-Threose, 23 = 8 stereoisomere Pentosen, 24 = 16 stereoisomere Hexosen
usw.
Merke: Die Zugehörigkeit zur D- oder L-Reihe richtet sich jeweils nach der Stellung der
OH-Gruppe am untersten asymmetrischen C-Atom in der Fischer-Projektion.
Abb. 7.2: Der „Stammbaum“ der D-Aldosen. Die rot gezeichneten OH-Gruppen repräsentieren sozu-
sagen die Anordnung der OH-Gruppen in den jeweils darüber stehenden „Stammverbindungen“. Die
grau unterlegten Verbindungen sind biochemisch/biologisch besonders wichtig.
Abb. 7.3: D- und L-Glucose. Die rot gezeichneten OH-Gruppen sind an asymmetrischen C-Atomen
gebunden. Die grau unterlegten OH-Gruppen bestimmen die Zugehörigkeit zur D- bzw. L-Reihe.
Abb. 7.5: Schema der intramolekularen Halbacetalbildung anhand des Beispiels der D-Glucose. Durch
die Halbacetalbildung entsteht ein neues asymmetrisches C-Atom, das „anomere“ C-Atom (durch C*
gekennzeichnet), an dem zwei unterschiedliche Konfigurationen der neu entstandenen OH-Gruppe
möglich sind (siehe Text zur weiteren Erklärung).
sche Grundkörper“). Wir bezeichnen die cyclischen Halbacetale daher als Fura-
nosen (fünfgliedriger Ring) bzw. Pyranosen (sechsgliedriger Ring). Glucose bildet
zum Beispiel bevorzugt einen Sechsring. Diesen bezeichnen wir als Glucopyra-
nose. Fructose oder Ribose bilden Fünfringe und liegen dann als Fructofuranose
bzw. Ribofuranose vor.
Durch die beschriebene Addition der OH-Gruppe an die Carbonylgruppe wird
das Carbonyl-C-Atom, das zuvor einen doppelt gebundenen Sauerstoff trug, ver-
ändert. Es besitzt im cyclischen Halbacetal vier direkte Bindungspartner und –
das ist besonders wichtig – es wird, da diese vier Bindungspartner unterschied-
lich voneinander sind, zu einem neuen asymmetrischen Zentrum. Dies ist in
Abb. 7.5 durch den Stern an diesem C-Atom angedeutet. Die neu gebildete OH-
Gruppe an diesem C-Atom kann in Bezug auf die primäre Alkoholfunktion, das
ist die CH2 OH-Gruppe am C6 , entweder auf der entgegengesetzten (-Form)
oder der gleichen Seite der ungefähren Ringebene (-Form) stehen. -D- und
-D-Glucopyranose sind epimere Moleküle, weil sie sich bezüglich der Kon-
figuration an einem asymmetrischen Zentrum unterscheiden. Wir nennen die-
sen Spezialfall optischer Isomere, die erst durch die intramolekulare Halbacetal-
Bildung entstanden sind, Anomere.
Das ist schon recht kompliziert – daher fassen wir die verschiedenen Arten
optischer Isomere in Tab. 7.2 nochmals zusammen.
Für die grafische Darstellung der cyclischen Halbacetalform eines Kohlen-
hydrats werden meist zwei Möglichkeiten genutzt, die Haworth-Projektion und
7.1 Mono-, Oligo- und Polysaccharide 281
Name Eigenschaft
Enantiomere Spiegelbildisomere
Diastereomere optische Isomere, die nicht Spiegelbildisomere sind
Epimere Diastereomere, die sich an einem asymmetrischen C-Atom unter-
scheiden
Anomere Epimere, die durch intramolekulare Halbacetal-Bildung entstehen
die Darstellung der so genannten Sesselform. In Abb. 7.6 werden diese beiden –
in Biochemiebüchern sehr häufig zu findenden – Formelbilder für das Beispiel der
-D-Glucopyranose mit einem Kugel-Stab-Modell einer möglichen Konformation
des Moleküls verglichen.
HH
2
C H
HO
O
HO H
HO
H OH
H OH
Sesselform
CH2OH
H O H
H
OH H
OH Kugel-Stab-Modell
OH
H OH
Haworth-Projektion
In wässriger Lösung von Glucose stehen, wie Abb. 7.7 zeigt, die beiden mög-
lichen anomeren cyclischen Halbacetalformen -D-Glucopyranose und -D-Glu-
copyranose über die Zwischenstufe der offenkettigen Aldehydform miteinander
in einem dynamischen Gleichgewicht.
Esterbildung
Wie gewöhnliche Alkohole bilden auch Kohlenhydrate mittels ihrer Hydroxyl-
gruppen mit Säuren Ester. Biochemisch besonders wichtig sind die Ester der Phos-
phorsäure, die auch als „Phosphate“ bezeichnet werden. In Zellen spielen Kohlen-
hydrate praktisch nur in Form dieser Ester als „phosphorylierte Monosaccharide“
eine Rolle (siehe Kapitel 3, Abschnitt 3 „Die Glycolyse“).
282 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
O H
HH C HH
2 2
C H C H
HO H C OH HO
O O
HO H HO OH
HO HO C H HO
H OH H C OH H OH
H OH H H
H C OH
a-D-Glucopyranose CH2OH b-D-Glucopyranose
offenkettige
Aldehydform
Abb. 7.7: Das Gleichgewicht zwischen -D-Glucopyranose und -D-Glucopyranose führt über die
offenkettige Aldehydform.
Merke: Die Glucuronsäure ist für die Entgiftung des Organismus von schlecht wasserlöslichen,
lipophilen Giften wichtig.
Diese werden als Glycoside (siehe weiter unten) an die sehr gut wasserlösliche
Glucuronsäure gebunden, die bei zellulärem pH-Wert in Form der konjugierten
Base, also als Anion, vorliegt. Die entstehenden Glucuronide werden über den
Harn ausgeschieden.
Abb. 7.9 zeigt die Bildung eines Glucuronids des Phenols.
7.1 Mono-, Oligo- und Polysaccharide 283
O OH
C HH
2
H C OH C H
HO
O
HO C H HO
HO C
H C OH OH O
H
H C OH H
CH2OH D-Gluconsäure
O H
C
ion
H C OH
dat
O OH
C O
Oxi
HO C H
de H C OH H
H C OH C H
mil
HO C H HO
H C OH starke O
Oxidation HO
H C OH HO
Glu
CH2OH C
OH O
cur
HH H C OH H
oni
2
H H
C C
HO
das
O O OH D-Glucarsäure
HO
e
HO H
C
H OH
OH O H
H C O
H
D-Glucose H C OH H
C
HO C H HO
O
HO H
H C OH HO C
H C OH H OH
H OH
C
O OH D-Glucuronsäure
Abb. 7.8: Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Oxidation von Kohlenhydraten anhand der
D-Glucose.
O
H
C H
앥
O
O
HO H
HO C
H OH
H OH H
O
O
H
C H
앥
O
O
HO H
HO C
H OH
H O
쎵 H 2O
Abb. 7.9: Die Glucuronsäure dient der Elimination von lipophilen Gift- oder Abbaustoffen.
284 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
Während Phenol schlecht wasserlöslich ist, ist das Glucuronid sehr gut löslich.
Diese Reaktion ist übrigens – chemisch gesehen – die Bildung eines Vollacetals.
In der Kohlenhydratchemie werden diese Vollacetale als Glycoside bezeichnet.
Aminozucker
Erwähnen wollen wir auch die so genannten Aminozucker. Sie resultieren aus
dem Ersatz einer OH-Gruppe durch eine NH2 -Funktion (Aminogruppe). Zumeist
findet diese Substitution am C2 -Atom des Zuckers statt, wie Abb. 7.10 am Beispiel
des -D-2-Glucosamins demonstriert.
HH
2
C H
HO
O
HO 2
OH
HO C C1
H NH2
H H
Merke: Das Bauprinzip aller zusammengesetzten Kohlenhydrate (Di-, Oligo- und Polysaccha-
ride) ist die Bildung von O-glycosidischen Bindungen zwischen Monosaccharid-
Bausteinen.
7.1 Mono-, Oligo- und Polysaccharide 285
HH HH
2
C H 2
H
HH HO C
2 O HO
C H C O
HO O 4
HO HO C1 H
O HO C1
HO H OH
HO C1 H H OH
HH H
OH 2
H H H OH
H C Lactose
HO
H C O
O 4
H
HO C1 HH
2
C H
H OH HO
Maltose O H
H OH HO
HO C1
H OH OH H OH
HH H2 H
2
H H H O CH2
C C OH
HO
O H H O
HO OH Saccharose C H HO
HO C C OH 2
O
1 CH2 H
H OH HO H
O HO
H Trehalose H
Abb. 7.11: Die wichtigsten Disaccharide. Maltose und Lactose sind vom Maltosetyp. Die freien halb-
acetalischen C-Atome sind rot unterlegt. Trehalose und Saccharose zeigen den Trehalosetyp. Sie ent-
halten keine freien halbacetalischen C-Atome, daher finden an ihnen auch keine Aldehydreaktionen
mehr statt.
Polysaccharide
Polysaccharide enthalten mehr als 10 Monosaccharid-Bausteine. Wir unterschei-
den Homopolysaccharide oder Homoglycane und Heteropolysaccharide oder
Heteroglycane. Homoglycane liefern bei saurer Hydrolyse nur eine Monosaccha-
rid-Sorte. Heteroglycane dagegen bestehen aus verschiedenartigen Monosaccha-
riden oder aber auch anderen Bausteinen wie Proteinen oder Lipiden.
Die wichtigsten Homoglycane sind Stärke, Glycogen und Cellulose. Ihnen
allen ist gemeinsam, dass sie bei der Hydrolyse nur Glucose liefern. Stärke und
Glycogen sind Reservepolysaccharide. Sie werden von pflanzlichen (Stärke) und
tierischen (Glycogen) Organismen in Zeiten guter Nahrungsversorgung gebildet
und als Nahrungsdepot gespeichert. Bei Bedarf können sie in Glucose gespalten
werden, die schließlich über ihre „Verbrennung“, also die Oxidation zu Kohlen-
dioxid und Wasser, Energie liefert, die in Form von ATP (Adenosintriphosphat)
gespeichert oder genutzt wird (siehe Kapitel 3, Abschnitt 2 „Die zelluläre Pro-
duktion von Energie“).
Stärke besteht aus zwei Anteilen. In der Amylose sind etwa 200 bis 300
Glucose-Bausteine so wie in Maltose streng linear 1 → 4 verknüpft. Die ent-
stehenden Riesenmoleküle sind spiralig aufgebaut. Jeweils 6 Glucose-Einheiten
beschreiben eine volle Schraubendrehung. In diese Helices passen interessanter-
weise I2 -Moleküle vorzüglich hinein. Amylose bildet daher mit Iod eine tiefblau
gefärbte, lockere Einschluss-Verbindung, die zum raschen qualitativen Nachweis
von Amylose oder Iod in der Chemie viel verwendet wird. Abb. 7.12 zeigt ein sol-
ches Amylose-„Rohr“.
Abb. 7.12: Amylose bildet röhrenförmige Moleküle. Links: Kalottenmodell. Rechts: Kugel-Stab-
Modell.
Der zweite Anteil der Stärke ist Amylopectin. Dessen Moleküle sind noch bedeu-
tend größer als Amylose-Moleküle, und sie enthalten Verzweigungsstellen, da
an einigen Glucose-Einheiten zusätzliche glycosidische Bindungen über das
C6 -Atom ausgebildet werden (Abb. 7.13).
288 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
HH
2
C H
HO
O
O H
HO C HH
OH 2
H C H
HO
H C O
O H
HO C HH
OH 2
H C H
HO
H O
O H
HO C
H OH
HH
2 H
C H
HO O
O
O H
HO C HH
HH OH 2
H
2
H H C
C HO
HO H C O
O O
O HO H
HO H C1
C HH
2 H OH
H OH C H
HO H
H C O O
O H
HO C H
OH CH2 H
H 6
H C O
O 4
H
HO C1
H OH
H
O
Abb. 7.13: Ausschnitte aus der rein 1!4 verknüpften linearen Amylose und dem baumartig ver-
zweigten Amylopectin, das neben der 1!4 Verknüpfung der Glucose-Bausteine an durchschnittlich
jedem 25. Glucose-Baustein zusätzlich eine 1!6 Verknüpfung aufweist.
Glycogen ist ganz ähnlich aufgebaut wie Amylopectin, besitzt aber einen noch
höheren Verzweigungsgrad. Amylose, Amylopectin und Glycogen enthalten aus-
schließlich -glycosidische Bindungen. Säugetiere und Menschen können auf-
grund ihrer Enzymausstattung (Amylase) im Verdauungstrakt diese Bindungen
spalten und so die Verbindungen verdauen.
Cellulose ist die mengenmäßig bedeutendste bioorganische Substanz. Sie dient
als Stütz- und Gerüstsubstanz der Pflanzen. In Cellulose finden wir im Gegen-
satz zur -glycosidisch aufgebauten Stärke -glycosidisch verknüpfte Glucose-
Bausteine. Diese können wir Menschen nicht verdauen, da wir im Verdauungstrakt
zwar eine -Glycosidase (Amylase), aber keine -Glycosidase besitzen. Typische
Pflanzenfresser wie Rinder, Schafe usw. beherbergen in ihren komplexen Mägen
Bakterien, die eine -Glycosidase besitzen und so dem Wirtstier die Verwertung
von Cellulose als Kohlenhydratquelle ermöglichen. Die Mikroorganismen spalten
Cellulose zu Glucose, die die Wirtstiere resorbieren können. Im Gegenzug sind die
Bakterien geschützt und erhalten Nahrung, Feuchtigkeit und Wärme. Wir benö-
tigen Cellulosefasern trotzdem als Ballaststoff für unser Verdauungssystem.
Merke: Dieses Beispiel zeigt auf beeindruckende Weise, wie subtile Feinheiten des dreidi-
mensionalen Baues von sonst gleichen Molekülen (- versus -verknüpfte Glucose-
bausteine) offenbar gravierende biologische Auswirkungen haben können!
7.1 Mono-, Oligo- und Polysaccharide 289
Von den Homoglycanen erwähnen wir noch Inulin, ein Polysaccharid aus
Fructose-Bausteinen (Polyfructosan), welches in der Nephrologie (Nierenheil-
kunde) zur Nierenfunktionsprüfung klinische Anwendung findet. Wenn wir Pa-
tienten eine Lösung von Inulin intravenös infundieren, so kann das Polysaccharid
wegen des Fehlens der entsprechenden Enzyme im Blut nicht abgebaut werden. Es
wird vielmehr unverändert über den Harn ausgeschieden – und zwar ausschließ-
lich durch glomeruläre Filtration in der Niere. Durch eine mathematische Analyse
der zeitlichen Abnahme des Inulins im Blut kann so die Filtrationsleistung der Niere
mit hoher Genauigkeit bestimmt werden.
Heteroglycane sind in der Biochemie außerordentlich weit verbreitet. Zum
Beispiel sind sehr viele Proteine mit Oligo- bzw. Polysaccharidketten glycosi-
disch verbunden, wobei die Kohlenhydratkomponenten meist Glucose, Galactose,
Mannose und Xylose sind, oder aber chemisch modifizierte Kohlenhydrate wie
N-Acetyl-glucosamin. Abb. 7.14 zeigt, wie in diesem Molekül die Aminogruppe
des Glucosamins mit einem Acetylrest säureamidartig verbunden ist.
HH
2
C H
HO
O
HO OH
HO C2
C1
H HN H
H
C CH3
O
Spielt in einem Heteroglycan der Proteinanteil die wesentliche Rolle, sprechen wir
von Glycoproteinen. In Proteoglycanen finden wir dagegen ein einfaches Protein-
gerüst, an dem lange, kompliziert aufgebaute Kohlenhydratketten hängen, die in
diesem Falle die wichtigere Komponente darstellen.
Beispiele für wichtige Proteoglycane sind
• Hyaluronsäure, ein Bestandteil des Bindegewebes, des Glaskörpers des Auges,
der Nabelschnur)
• Chondroitinsulfate, die insbesondere im Knorpel zu finden sind und zusätzliche
Schwefelsäureester-Gruppen enthalten
Heparin, eine der wichtigsten gerinnungshemmenden Substanzen
Kohlenhydratanteile findet man auch bei wichtigen Lipiden. Wir nennen solche
Verbindungen Glycolipide (siehe auch Kapitel 10, Abschnitt 1 „Lipide“).
290 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
Merke: Das Auswendiglernen von Bruttoformeln organischer Verbindungen ist daher voll-
kommen sinnlos!
Strukturisomerie Stereoisomerie
Zum besseren Verständnis dieser Einteilung wollen wir drei wichtige Begriffe
definieren, die für die Diskussion von Molekülen als dreidimensionale Gebilde in
Raum und Zeit wesentlich sind.
Die Konstitution eines Moleküls umfasst die Art und Anzahl der Atome und ihr
Bindungsmuster, also die Angabe, welches Atom mit welchen anderen Atomen
direkt chemisch gebunden ist. Verbindungen mit gleicher Art und Anzahl von
Atomen, aber unterschiedlicher Konstitution, nennen wir Konstitutionsisomere.
7.2 Isomerie – unterschiedliche Moleküle mit „gleicher“ Formel 291
Merke: Allerdings beobachten wir bei größeren Molekülen häufig, dass eine bestimmte
Konformation bei gewöhnlichen Bedingungen, etwa 37 ı C Körpertemperatur, ganz
besonders stabil ist. Dieses Phänomen ist bei den großen biologischen Makromole-
külen wie den Proteinen und den Nucleinsäuren ganz außerordentlich wichtig, da
deren Funktion praktisch immer an diese besondere stabilste Konformation gebun-
den ist.
Die Kräfte, die dazu führen, dass eine Konformation eines Moleküls besonders stabil
ist, sind sehr unterschiedlich. Meist sind sie in der chemischen Natur des Moleküls
selbst begründet und werden verstärkt durch Interaktionen mit der Umgebung. So
können mit Wassermolekülen stabilisierende Wasserstoff-Brücken gebildet werden,
oder Ionen in der Umgebung stabilisieren die Konformation durch Ion-Dipol- oder
Ion-Ion-Wechselwirkungen oder es werden Komplexbindungen ausgebildet.
Schließlich gibt es, wie wir sehen werden, eine dritte Klasse von Isomeren, die,
bei Vorliegen gleicher Konstitution, sich auch durch Rotationen um Einfach-
bindungen nicht ineinander überführen lassen. Sie sind also keine Konforma-
tionsisomere. Solche isomeren Molekülformen besitzen eine unterschiedliche
Konfiguration. Diese besonders interessante Art der Isomerie nennen wir Kon-
figurationsisomerie.
Die folgenden Abbildungen helfen uns, anhand verschiedener Darstellungen
des einfachsten Kohlenhydrats, des Glycerinaldehyds, die Begriffe Konstitution,
Konformation und Konfiguration zu verstehen. Abb. 7.15 zeigt die Bruttoformel
und die Konstitutionsformel.
Die Bruttoformel gibt die Art und die Anzahl der das Molekül aufbauenden
Atome an, aber aus dieser Formel können wir keine weiteren Details des Mole-
külaufbaus entnehmen. Wesentlich informativer ist hier schon die Konstitutions-
formel des Moleküls. Wir ersehen daraus, wie und durch welche Art von Bindun-
gen – Einfach- oder Mehrfachbindungen – Atome direkt miteinander verbunden
292 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
sind. Allerdings vermittelt auch diese Formel noch keine wirklich korrekte Vor-
stellung über das dreidimensionale Molekül.
Abb. 7.16 versucht dagegen, die dreidimensionale Struktur des Moleküls bes-
ser zu repräsentieren. Insbesondere konzentriert sich die in Abb. 7.16 links
gezeigte Darstellung auf die lokale Struktur am mittleren, rot unterlegten C-Atom.
Merke: Dieses C-Atom ist ein so genanntes asymmetrisches C-Atom, welches vier unter-
schiedliche Substituenten trägt.
Abb. 7.16: Eine mögliche Konfiguration des Glycerinaldehyds. Das rot unterlegte C-Atom trägt vier
unterschiedliche Substituenten; es ist ein „asymmetrisches C-Atom“.
Die vier Bindungen, die von diesem Atom ausgehen, sind tetraedrisch angeordnet.
Die beiden horizontalen Bindungen sind nach vorne, dem Betrachter zu, orien-
tiert. Die vertikalen Bindungen dagegen sind vom Betrachter weg nach hinten
gerichtet.
Wir werden später sehen, dass zu dieser Geometrie des Moleküls eine genau
spiegelbildliche existiert, bei der die Position der beiden horizontal angeordne-
ten Bindungspartner H und OH vertauscht ist und die durch keine wie immer
geartete Rotation des Moleküls im Raum oder durch Rotationen um Einfachbin-
dungen in die hier dargestellte Form überführt werden kann. Die hier gewählten
Darstellungen zeigen uns also neben der Konstitution auch eine ganz spezifische
Konfiguration an.
Würden wir nun entlang der Bindungsachse zwischen dem C-Atom ganz unten
und dem asymmetrischen C-Atom blicken, so könnten wir vielleicht in einem win-
zigsten Sekundenbruchteil eine Anordnung der an diese beiden Atome gebun-
denen Atome beobachten, wie sie in Abb. 7.17 gezeigt ist.
Das unserem Auge näher gelegene C-Atom sei dasjenige mit den zwei H-Ato-
men und einer OH-Gruppe, also das „unterste“ C-Atom der vorherigen Abbil-
dung. Das mittlere C-Atom sehen wir nicht direkt, da es vom vorderen verdeckt ist.
Wir stellen es durch den rot gezeichneten Kreis dar. Die Substituenten (Bindungs-
partner) an diesem C-Atom könnten gerade in der gezeigten Weise angeordnet
7.2 Isomerie – unterschiedliche Moleküle mit „gleicher“ Formel 293
Abb. 7.17: Eine der unendlich vielen möglichen Konformationen der in Abb. 7.16 gezeigten Kon-
figuration des Glycerinaldehyds in der Newman-Projektion (links) und in der Sägebock-Projektion
(rechts).
sein. Diese Konformation des Moleküls wird sich durch die bei Raumtempera-
tur ständig stattfindenden Rotationen in der nächsten Picosekunde bereits wieder
geändert haben, da um die betrachtete - Bindung fast ungehinderte Drehbarkeit
besteht.
Die in Abb. 7.17 links gezeigte Art der Darstellung nennen wir Newman-Pro-
jektion. Eine leichte seitliche Verdrehung der Newman-Projektion führt uns zur
Darstellung rechts in Abb. 7.17. Diese Art der Formelschreibweise nennen wir
Sägebock-Projektion.
Nach diesen einführenden Grundbegriffen wollen wir uns jetzt den verschie-
denen Arten der Isomerie näher zuwenden.
Strukturisomerie
Unterscheiden sich Moleküle mit gleicher Bruttoformel durch die Anordnung der
Atome und der Bindungen, so spricht man von Strukturisomeren. Strukturisomere
sind immer Konstitutionsisomere.
Kettenisomere besitzen unterschiedliche Kohlenstoffgerüste. Abb. 7.18 zeigt
zwei Beispiele von Kettenisomeren.
Abb. 7.21: Ein Beispiel für die Keto-Enol-Tautomerie. Vinylaldehyd ist ein Enol; eine OH-Gruppe
(charakteristische Silbe „-ol“) ist direkt an eine Doppelbindung („-en“) gebunden.
Stereoisomerie
Stereoisomere besitzen zwar dieselbe Konstitution, aber die räumliche Anord-
nung der Atome im Molekül, die Konfiguration, ist unterschiedlich. Wir kennen
zwei unterschiedliche Arten von Stereoisomerie.
Bei Molekülen mit Doppelbindungen und bei Ringverbindungen ist nicht um
alle Bindungen eine freie Drehbarkeit gewährleistet. Bei solchen Molekülen ken-
nen wir die geometrische Isomerie (cis-trans-Isomerie). Bei der cis-Form des
Moleküls sind die interessierenden Substituenten (Atome oder Atomgruppen) auf
derselben Molekülseite in Bezug auf die Doppelbindung oder auf den Ring, bei
der trans-Form jedoch auf gegenüberliegenden Seiten. Abb. 7.22 zeigt ein Bei-
spiel.
Merke: Moleküle, die ein asymmetrisches C-Atom aufweisen, also ein C-Atom mit vier unter-
schiedlichen Substituenten, sind chiral.
Wenn wir Abb. 7.23 nochmals genau betrachten, so sehen wir, dass das mittlere
der drei C-Atome asymmetrisch ist. Während das C-Atom oben (das Carbonyl-C-
Atom) eine Doppelbindung zum O-Atom aufweist und daher nur drei Bindungs-
partner hat, und das C-Atom unten zwei gleiche Atome trägt, nämlich die beiden
H-Atome, besitzt das mittlere C-Atom tatsächlich vier unterschiedliche Substitu-
enten. Die Anordnung der vier Substituenten an diesem asymmetrischen C-Atom
unterscheidet sich zwischen den beiden Enantiomeren in räumlicher Hinsicht.
Achtung: Diese vier Substituenten müssen wir je als gesamte Gruppe sehen
(also etwa CH=O, die Carbonylgruppe, oder OH, die Hydroxylgruppe, usw.). Nur
ihre Bindungsanordnung am asymmetrischen C-Atom ist von Relevanz, nicht aber
die innere Geometrie des jeweiligen Substituenten, die immer nur eine „Moment-
aufnahme“ einer Konformation ist, die im nächsten Augenblick durch Rotation um
die jeweilige Bindung schon wieder geändert sein wird.
Sehr viele biologisch wichtige Stoffe können in Form von zwei Enantiome-
ren (Bild und Spiegelbild) existieren. Sie sind optisch aktiv. Wenn wir wässrige
Lösungen der reinen Form eines Enantiomers in einem Polarimeter untersuchen,
so beobachten wir eine Drehung der Schwingungsebene von linear polarisiertem
Licht.
Oft ist von den jeweils zwei möglichen Enantiomeren einer Substanz nur eine
biologisch aktiv, und ihr Spiegelbild ist entweder inaktiv oder gar schädlich.
Enantiomere heißen auch optische Antipoden. Sie drehen die Schwingungs-
ebene von linear polarisiertem Licht um den gleichen Betrag, aber in verschiedene
Richtung. Mischt man zwei Lösungen von Enantiomeren, so dass ihre Konzentra-
tionen in der resultierenden Lösung gleich groß sind, so heben sich ihre Wir-
kungen auf linear polarisiertes Licht auf; wir nennen solche 1.1-Gemische von
Enantiomeren ein Racemat oder racemisches Gemisch.
Immer wieder versuchen Betrüger und Scharlatane – oft leider sehr erfolg-
reich –, gutgläubigen Menschen mit mehr oder weniger originellen Schwin-
deleien das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit besonderer Vorliebe werden
hierzu Begriffe aus den Naturwissenschaften missbraucht, da viele Menschen
deren richtige Bedeutung nicht kennen. „Rechtsdrehendes Wasser“ ist so ein
blühender Unsinn, der genügend mystisch und geheimnisvoll klingt, um die
Kassen der „Erfinder“ zum Klingeln zu bringen. Wasser ist weder links- noch
rechtsdrehend, da es nicht chiral ist.
Ärztinnen und Ärzte haben neben der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit
aufgrund ihrer breiten Ausbildung auch hier viele Möglichkeiten, die ihnen
anvertrauten Menschen dadurch zu unterstützen, dass sie ihnen mit ihrem
Wissen helfen, Betrügereien zu durchschauen.
298 7. Energiespeicher, Fasern und Bausteine: Die Kohlenhydrate
Fischer-Nomenklatur
Die historisch ältere Bezeichnungsweise geht auf den deutschen Chemiker Emil
Fischer zurück, der sich sehr mit Kohlenhydratchemie beschäftigte und folgendes
„Rezept“ definierte.
Zuerst drehen wir das zu untersuchende Molekül in eine definierte Lage. Wir
denken uns das asymmetrische Atom, dessen Konfiguration ermittelt werden soll,
in der Bildebene, und wir drehen das Molekül nun so, dass
1. das C-Atom mit der höchsten Oxidationsstufe nach oben orientiert ist,
2. die zwei horizontalen Substituenten räumlich zum Betrachter hin orientiert
sind, also vor der Bildebene liegen, und
3. die beiden vertikal angeordneten Bindungen vom Betrachter weg, also hinter
der Bildebene liegen.
Diese ebene Projektion des dreidimensionalen Moleküls bezeichnen wir als
Fischer-Projektion.
In Abb. 7.23 haben wir für den Glycerinaldehyd bereits diese Projektionsart
gewählt.
Nach Fischer bezeichnen wir nun die in Abb. 7.23 links wiedergegebene
Form des Glycerinaldehyds, bei der sich die OH-Gruppe rechts befindet, als
D-Glycerinaldehyd (von lateinisch dextrum = rechts), ihr Spiegelbild als L-Glyce-
rinaldehyd (von laevum = links). Andere chirale Moleküle, die chemisch auf
D-Glycerinaldehyd zurückgeführt werden können, ordnen wir der D-Reihe zu,
ihre Spiegelbilder aber der L-Reihe. Glycerinaldehyd dient uns als Bezugs-
molekül.
Historisch traf Fischer diese Zuordnung willkürlich durch Berücksichtigung
des optischen Drehsinnes. Der rechtsdrehenden Form des Glycerinaldehyds ord-
nete er die D-Form der Substanz zu, der linksdrehenden die L-Form. Nach
Fischer schreibt man D-(+)-Glycerinaldehyd für die rechtsdrehende und L-(−)-
Glycerinaldehyd für die linksdrehende Form. Die Symbole (+) und (−) geben den
Drehsinn an, in dem die Schwingungsebene des linear polarisierten Lichtes ver-
dreht wird.
Fischer hatte zu seiner Zeit keine Möglichkeiten, die wahre Geometrie des
Moleküls experimentell festzulegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geometrie
des rechtsdrehenden D-(+)-Glycerinaldehyds tatsächlich der in der letzten Abbil-
dung links dargestellten Formel entspricht, ist gerade 50%! In den 1950er Jahren
ist aber die experimentelle Bestimmung der wirklichen Konfiguration möglich
geworden, und es zeigte sich, dass Fischer mit seiner willkürlichen Zuordnung
Glück hatte. Die wahre (absolute) Konfiguration des D-Glycerinaldehyds ent-
spricht tatsächlich der von Fischer angenommenen.
7.2 Isomerie – unterschiedliche Moleküle mit „gleicher“ Formel 299
Merke: Die Bezeichnung D oder L hat grundsätzlich nichts mit dem Drehsinn einer belie-
bigen optisch aktiven Substanz zu tun. Sie gibt lediglich die strukturelle Beziehung
dieser Verbindung zu D- oder L-Glycerinaldehyd in der Fischer-Projektion an, also die
Konfiguration relativ zu dieser Bezugssubstanz.
Der Drehsinn selbst muss für jede Substanz experimentell ermittelt werden, spielt als
solcher aber in der Medizin absolut keine Rolle. Für unseren Organismus und seine
Zellen ist es vollkommen unerheblich, was eine beliebige chirale Verbindung theore-
tisch mit der Schwingungsebene von linear polarisiertem Licht anstellen kann. Es ist
ausschließlich von Bedeutung, wie diese Verbindung mit anderen chiralen Molekülen
im Körper reagieren kann!
Ein Beispiel hilft uns, die hier entwickelten Ideen etwas besser zu verstehen.
Milchsäure (2-Hydroxy-propansäure) ist eine wichtige Substanz im Stoffwech-
sel. Auch diese Verbindung besitzt ein asymmetrisches C-Atom und existiert
daher in zwei enantiomeren Formen (Abb. 7.24).
Abb. 7.24: Die beiden Konfigurationsisomere der Milchsäure in verschiedenen Darstellungen der
Fischer-Projektion. In den Formeln ist das asymmetrische C-Atom rot gezeichnet; die rot unterlegte
OH-Gruppe definiert die Zugehörigkeit zur D- bzw. L-Reihe.
Die in Abb. 7.24 links dargestellte Form ist L-Milchsäure, da die OH-Gruppe am
asymmetrischen C-Atom so wie im L-Glycerinaldehyd in der Fischer-Projektion
links steht. Rechts sehen wir die D-Milchsäure. Allerdings dreht L-Milchsäure
die Schwingungsebene von polarisiertem Licht nach rechts, ist also korrekt
L-(+)-Milchsäure, und folglich geben die rechts dargestellten Formeln die links-
drehende D-(-)-Milchsäure wieder.
Wir drehen nun das Molekül soweit, bis der Substituent mit der niedrigsten
Priorität hinter dem asymmetrischen C-Atom liegt.
Jetzt bilden die drei restlichen Substituenten einen Stern mit drei Strahlen.
Sind diese drei Substituenten so angeordnet, dass man von der Gruppe mit
höchster zur Gruppe mit zweithöchster und schließlich mit dritthöchster Prio-
rität im Uhrzeigersinn voranschreitet, so bezeichnet man die Verbindung als
R-Enantiomer, andernfalls als S-Enantiomer.
Abb. 7.25: Schema zur Bestimmung der absoluten Konfiguration des D-Glycerinaldehyds. Links oben:
Fischer-Projektion mit Angabe der Drehung, die das H-Atom hinter das asymmetrische C-Atom bewegt.
Rechts oben: Ergebnis der Drehung mit eingezeichnetem, im Uhrzeigersinn orientierten, Weg vom
Substituenten höchster Priorität zu den Substituenten mit fallender Priorität (1 ! 2 ! 3). D-Gly-
erinaldehyd besitzt demzufolge R-Konfiguration. Untere Reihe: Dieselben Überlegungen anhand eines
Kugel-Stab-Modells. Das H-Atom, der Substituent niedrigster Priorität, ist zur Verdeutlichung als
Kalotte dargestellt.
7.2 Isomerie – unterschiedliche Moleküle mit „gleicher“ Formel 301
Diastereomerie
Moleküle mit einem asymmetrischen C-Atom können in zwei enantiomeren For-
men (Bild und Spiegelbild) vorkommen. Sind mehrere asymmetrische Zentren im
Molekül vorhanden, so erhöht sich die Zahl der möglichen Stereoisomere.
Merke: Pro asymmetrischem C-Atom sind zwei Enantiomere möglich; bei n asymmetrischen
C-Atomen gibt es daher im allgemeinen Fall 2n Stereoisomere bzw. 2n−1 Enantiome-
renpaare.
Abb. 7.26: Die beiden Konfigurationsisomerenpaare der Aldotetrosen. D-Erythrose ist enantiomer
zu L-Erythrose, aber diastereomer zu den beiden Threosen. D-Threose wiederum ist enantiomer zu
L-Threose, aber diastereomer zu den beiden Erythrosen.
Die beiden Erythrosen verhalten sich zu den beiden Threosen nicht wie Bild
und Spiegelbild.
Die Erythrosen besitzen nämlich – ähnlich wie cis-trans-Isomere – verglichen
mit den Threosen unterschiedliche intramolekulare Abmessungen und daher bei-
spielsweise auch unterschiedliche Schmelz- und Siedepunkte.
Merke: Solche Stereoisomere, die nicht Enantiomere sind, nennen wir Diastereomere.
Abb. 7.27: Die Konfigurationsisomere der Weinsäure: D-Weinsäure ist enantiomer zu L-Weinsäure.
Die beiden gezeichneten Formen der meso-Weinsäure enthalten eine Spiegelebene im Molekül (grauer
Balken). Sie sind daher miteinander identisch. Allerdings ist meso-Weinsäure diastereomer zu D- und
zu L-Weinsäure.
Projektion eine Spiegelebene im Molekül aufweist. Die beiden jeweils gleich sub-
stituierten asymmetrischen Zentren heben einander dann in ihrer Wirkung auf.
Wir sprechen von intramolekularer Kompensation. Die Verbindung ist daher im
Gegensatz zur D- und zur L-Weinsäure optisch nicht aktiv.
Die recht seltene hereditäre Fructose-Intoleranz kommt mit einer Frequenz von
7
etwa 1 : 130.000 vor und betrifft einen wichtigen Schritt der Glycolyse (siehe Kapi-
tel 3, Abschnitt 3 „Die Glycolyse“).
Fructose, die beispielsweise in Form des Disaccharids Saccharose, also des
gewöhnlichen Haushaltszuckers, aufgenommen wird, kann nur in der Leber ab-
gebaut werden. Zuerst wird Fructose durch das Enzym Fructokinase zu Fructose-
1-phosphat phosphoryliert. Dieses wird anschließend – normalerweise – durch die
Aldolase B zu Glycerinaldehyd und Dihydroxyaceton-phosphat gespalten. Gly-
cerinaldehyd wird durch die Triosekinase zu Glycerinaldehyd-phosphat phos-
phoryliert, und damit befinden wir uns im Normalfall mitten in der Glycolyse.
Bei erkrankten Kindern hingegen häuft sich in der Leber Fructose-1-phosphat
an, da bei ihnen statt des Enzyms Aldolase B in Leber und Niere die Enzymform
Aldolase A exprimiert wird, die Fructose-1-phosphat viel langsamer spaltet als
Fructose-1,6-bisphosphat. Fructose-1-phosphat wiederum hemmt die Fructose-
1,6-bisphosphat-Aldolase, die im „normalen“ Glucoseabbau die Spaltung der C6 -
Kette zu den zwei Triosen katalysiert, und auch die Aldolase A selbst, die auch
für die Gluconeogenese, also die Neusynthese von Glucose, verantwortlich ist.
Die kleinen Patienten leiden daher an massiven hypoglykämischen Zuständen,
vor allem nach obsthaltigen Mahlzeiten.
Die einzige Therapie besteht in der Vermeidung fructose- und saccharosehal-
tiger Nahrungsmittel.
ENZYME, REZEPTOREN, VIELSEITIGSTES
BAUMATERIAL: DIE PROTEINE
Fallbeschreibung 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
8
Fallbeschreibung
Bei einem wenige Tage alten Säugling auf der Kinderstation wird bei der
routinemäßigen Screening-Untersuchung der Aminosäure-Konzentrationen
8
im Blut ein sehr stark erhöhter Wert für Phenylalanin gefunden.
Welche Diagnose liegt nahe? Welche Therapie kommt in Frage?
Lehrziele
Dieses Beispiel macht uns mit dem außerordentlich umfangreichen und zen-
tral wichtigen Gebiet der Aminosäuren, Peptide und Proteine bekannt.
Proteinogene L--Aminosäuren
Aminosäuren sind eigentlich Aminocarbonsäuren. Sie enthalten mindestens
eine Aminogruppe und mindestens eine Carboxylgruppe. Wir werden uns prak-
tisch nur mit einem sehr speziellen Typ befassen, den proteinogenen L--
Aminosäuren. Diese sind die Bausteine der Proteine.
L--Aminosäuren, im Folgenden kurz „Aminosäuren“ genannt, besitzen einen
sehr einheitlichen Aufbau. Mit einer Ausnahme, dem Glycin, haben alle Vertreter
306 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Abb. 8.1: Die allgemeine Formel einer L--Aminosäure und ihre intramolekulare Protonenübertra-
gung mit Bildung eines Zwitterions.
Abb. 8.2: Die 9 proteinogenen L--Aminosäuren mit neutralen und hydrophoben Seitenketten. Zu
jeder Aminosäure sind der Name, die Dreibuchstaben-Abkürzung, die Einbuchstaben-Abkürzung und
der isoelektrische Punkt angegeben.
Abb. 8.3: Die 6 proteinogenen L--Aminosäuren mit neutralen und hydrophilen Seitenketten. Zu
jeder Aminosäure sind der Name, die Dreibuchstaben-Abkürzung, die Einbuchstaben-Abkürzung und
der isoelektrische Punkt angegeben.
8.1 Aminosäuren, Peptide und Proteine 309
Abb. 8.4: Die 2 proteinogenen L--Aminosäuren mit sauren Seitenketten. Zu jeder Aminosäure sind
der Name, die Dreibuchstaben-Abkürzung, die Einbuchstaben-Abkürzung und der isoelektrische Punkt
angegeben.
Abb. 8.5: Die 3 proteinogenen L--Aminosäuren mit basischen Seitenketten. Zu jeder Aminosäure
sind der Name, die Dreibuchstaben-Abkürzung, die Einbuchstaben-Abkürzung und der isoelektrische
Punkt angegeben.
Nicht-proteinogene Aminosäuren
Neben den proteinogenen L--Aminosäuren gibt es natürlich unzählige wei-
tere Möglichkeiten, Carboxyl-Gruppen und Amino-Gruppen in einem Molekül
zu kombinieren. Einige nicht-proteinogene Aminosäuren sind biologisch/bioche-
misch interessant. Sie entstehen aus den proteinogenen Vertretern durch gewisse
chemische Reaktionen. Wenn – was häufig der Fall ist – solche Reaktionen nach
der Proteinbiosynthese an den Aminosäureresten in „fertigen“ Proteinen statt-
finden, nennen wir sie posttranslationale Modifikationen (die Translation ist die
„Übersetzung“ der Information aus den Nucleinsäuren in konkrete Proteine, also
die eigentlich Proteinbiosynthese). Abb. 8.6 zeigt einige Vertreter.
Hydroxyprolin entsteht durch Hydroxylierung von Prolin und kommt vermehrt
in der wichtigen Bindegewebsgrundsubstanz Kollagen vor. Citrullin wird aus
Arginin gebildet, und zwar im Rahmen der Biosynthese der wichtigen Substanz
310 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Abb. 8.7: Schema der Strukturfixierung eines Proteins durch Bildung von Cystin-Brücken zwischen
Cystein-Bausteinen.
Abb. 8.8: Das pH-abhängige Dissoziationsverhalten von Aminosäuren mit neutraler Seitenkette
(Beispiel Alanin), basischer Seitenkette (Beispiel Lysin) und saurer Seitenkette (Asparaginsäure).
IEP = isoelektrischer Punkt. Grau unterlegt: Gesamtladung des Molekül-Ions im jeweiligen pH-Bereich.
312 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Merke: Der isoelektrische Punkt ist der pH-Wert, bei dem die positiven und negativen Ladun-
gen im Molekül einander gerade ausgleichen, so dass die Verbindung bei diesem
pH-Wert nach außen hin elektrisch neutral erscheint.
Die Peptidbindung
Die wichtigste Reaktion der Aminosäuren ist ihre Fähigkeit, intermolekulare
Säureamid-Bindungen auszubilden, die wir als Peptidbindungen bezeichnen.
Dabei reagiert die Amino-Gruppe der einen Aminosäure mit der Carboxyl-
Gruppe einer zweiten. Aus zwei Aminosäuren entsteht so ein Dipeptid (Abb. 8.9).
Abb. 8.9: Bildung eines Dipeptids aus zwei Aminosäuren durch Wasserabspaltung.
314 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Ein Dipeptid besitzt – genau wie eine einzelne Aminosäure – immer noch eine
freie Aminogruppe und eine freie Carboxylgruppe. Es kann daher mit weiteren
Aminosäuren in einer ganz analogen Reaktion weiterreagieren und so Tripeptide,
Tetrapeptide usw. zu bilden.
Wir sprechen bei Kettenlängen bis zu etwa 10 Aminosäure-Resten (Decapep-
tide) von Oligopeptiden, bei längeren Ketten von Polypeptiden und ab einer
Kettenlänge von mehr als hundert Aminosäure-Resten von Proteinen.
Die Peptidbindung ist eine Säureamidbindung. Als solche besitzt sie eine rela-
tiv starre Geometrie. Ein Säureamid liegt nämlich in einer mesomeren Struktur
vor (Abb. 8.10).
Abb. 8.10: Die „Amidresonanz“: Aufgrund der Mesomerie besitzt die C-N-Bindung einen partiellen
Doppelbindungscharakter und ist nicht mehr frei drehbar.
für eine bestimmte Aktion bei der Biosynthese des Proteins steht. Die Nucleo-
tide sind quasi „Buchstaben“, und die Codons stellen „Worte“ dar, die entweder
Aminosäuren definieren oder „Satzzeichen“ ergeben. Die solcherart in einem
Nucleinsäure-Molekül gespeicherte Information zur Synthese der entsprechen-
den Proteine stellt den „Wissensschatz“ dar, der von den Lebewesen im Laufe
der Evolution erworben wurde und bei der Zellteilung den Tochterzellen weiter-
gegeben wird.
Die komplizierte dreidimensionale Gestalt, die ein Protein einnimmt und die
für seine Funktion entscheidend ist, wird prinzipiell durch die Primärstruktur dik-
tiert. Leider kennen wir noch kein Verfahren, welches gestattet, die räumliche
Gestalt eines Proteins mit Sicherheit aus der heute experimentell verhältnismä-
ßig einfach bestimmbaren Primärstruktur im Vorhinein zu berechnen. Relativ gut
vorhersagen können wir jedoch bereits dreidimensionale Strukturen in lokalen
Abschnitten (Domänen) eines Proteins, die so genannten Sekundärstrukturen.
Je nach der Art der miteinander verknüpften Aminosäuren bilden sich durch
intramolekulare Wechselwirkungen in lokalen Abschnitten einer Aminosäure-
kette oft bevorzugt charakteristische Sekundärstrukturen aus. Solche Wechsel-
wirkungen sind neben der durch die Amidresonanz bewirkten Starrheit der
Peptidkette im Wesentlichen elektrostatische Wechselwirkungen zwischen gela-
denen und/oder polaren Stellen im Protein und Wasserstoff-Brückenbindungen.
Unterstützt werden diese intramolekularen Wechselwirkungskräfte durch Inter-
aktionen des Proteins mit der Umgebung. Elektrostatische Wechselwirkun-
gen und Wasserstoff-Brückenbindungen können sich auch mit Wassermolekülen
sowie gelösten Ionen oder polaren Molekülen ausbilden. Dazu kommen die so
genannten hydrophoben Wechselwirkungen. Darunter verstehen wir das Bestre-
ben eines Proteins, durch Zusammenlagerung seiner apolaren Seitenketten die
Grenzfläche derselben gegenüber dem polaren Wasser klein zu halten.
Die wichtigsten Sekundärstrukturelemente sind die -Helix, das -Faltblatt
und der Zufallsknäuel (englisch random coil).
Bei der -Helix bildet das Peptidbindungs-Rückgrat eine schraubenförmige
Struktur, durch die jede C==O-Gruppe einer Peptidbindung mit der N−H-Gruppe
der drittnächsten Peptidbindung eine Wasserstoff-Brückenbindung ausbilden
kann, die die helicale Anordnung zusätzlich stabilisiert. Die Seitenketten der
Aminosäuren sind nach außen, von der Schraubenachse weg gerichtet. Abb. 8.11
zeigt diese Grundstruktur anhand eines artifiziellen Strangs aus Alaninresten.
Oben links sehen wir einen Ausschnitt aus dem Peptidstrang, bei dem nur
die Atome des backbone (das sind die Atome N(H)–C(==O)–C ) als Kugel-Stab-
Modell gezeichnet sind. Die Methylgruppen der Alanin-Seitenketten sind als so
genanntes Drahtmodell gezeichnet, um die Übersichtlichkeit der Darstellung zu
erhöhen. Die Wasserstoff-Brücken sind durch grüne Striche markiert. Wir sehen
deutlich, wie jede Wendel der Helix mit der jeweils oberen und unteren Nach-
barwendel über Wasserstoff-Brücken stabilisiert wird. Rechts oben sehen wir die-
selbe Struktur, diesmal mit einer grafischen Verstärkung des backbone. Die Abbil-
dungen links und rechts unten erlauben uns einen Blick von oben durch die Helix
hindurch. Rechts sind auch die wie die Borsten eines Igels vom backbone weg
gerichteten Methylgruppen als Kugel-Stab-Modell ausgeführt.
316 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Abb. 8.11: Ein artifizieller Polyalanyl-Strang mit -Helix-Struktur (Details siehe Text).
Peptidketten, die Aminosäuren mit kleinen Seitenketten enthalten, bilden oft eine
andere geordnete Struktur, das -Faltblatt. Die Faltblatt-Struktur wird bestimmt
durch den partiellen Doppelbindungscharakter der Peptidbindung. Zusätzlich zur
obligaten ebenen Anordnung der Atome einer Peptidbindung liegen die aufein-
ander folgenden Peptidbindungen – mit jeweils alternierender Orientierung –
praktisch alle in einer Ebene.
Die Faltblatt-Struktur begünstigt, wie Abb. 8.12 demonstriert, durch ihre
strenge Geometrie die Ausbildung von Wasserstoff-Brückenbindungen (grün)
zu weiteren Peptidsträngen mit Faltblattstruktur. So können lokale Faltblatt-
Abschnitte eines Proteins, die – bezogen auf die Primärstruktur – weit von einan-
der entfernt liegen, durch geeignete Faltung der dreidimensionalen Gestalt des
Proteins in räumliche Nähe zueinander gelangen und sich parallel zueinander
ausrichten.
Neben -Helix und -Faltblatt gibt es auch lokale Abschnitte eines Proteins,
die keine ersichtliche geometrische Organisation aufweisen. Diese bezeichnen
wir als Zufallsknäuel. Der Name ist eigentlich nicht gut gewählt, da auch die
8.1 Aminosäuren, Peptide und Proteine 317
Abb. 8.12: Zwei artifizielle Polyalanyl-Ketten mit -Faltblatt-Struktur und jeweils alternierender
Orientierung der Methyl-Seitenketten sind durch H-Brücken gebunden (Details siehe Text).
Struktur dieser Abschnitte der Peptidkette keinesfalls zufällig ist, sondern durch
die Primärstruktur bestimmt ist. Nur sind diese Abschnitte so geformt, dass wir
kein charakteristisches geometrisches Motiv erkennen können.
Die Assoziation zweier Faltblatt-Abschnitte, die in Abb. 8.12 gezeigt ist, gehört
eigentlich bereits zur Ebene der Tertiärstrukturen.
Darunter verstehen wir, wie sich ein Protein in seiner Gesamtheit räumlich faltet
und organisiert. Die Aneinanderlagerung von Faltblatt-Abschnitten ist eine solche
Möglichkeit. Andere Wechselwirkungen, die die globale Struktur eines Proteins
herstellen und stabilisieren, sind zum Beispiel die Bildung des Disulfids Cystin aus
zwei in der Primärstruktur nicht benachbarten Cystein-Resten (Abb. 8.7), die Bil-
dung zusätzlicher Säureamid-Bindungen zwischen freien, nicht in Peptidbindun-
gen involvierten, Aminogruppen basischer Aminosäuren und freien Carboxyl-
gruppen saurer Aminosäuren, Ion-Ion oder Ion-Dipol-Wechselwirkungen oder
hydrophobe Wechselwirkungen. Auch Lösungsmittel und Elektrolytgehalt der
Lösung tragen wesentlich zur Ausbildung dreidimensionaler Proteinstrukturen
bei.
Die von einem Protein unter physiologischen Bedingungen eingenommene
Tertiärstruktur heißt native Konformation. Nur in dieser Konformation vermag
das Protein seine Aufgaben zu erfüllen. Die native Konformation reagiert meist
empfindlich auf Abweichungen von den „richtigen“ Umweltbedingungen. Solche
Abweichungen zerstören die native dreidimensionale Struktur – das Protein wird
denaturiert. Schwankungen der Temperatur, des pH-Wertes oder der Elektrolyt-
Konzentration und die Anwesenheit von Detergentien sind die wichtigsten Ursa-
chen der Denaturierung.
Eine Protein-Denaturierung können wir in einfacher Weise beim Zubereiten
eines Spiegeleies beobachten. Die zugeführte Wärmeenergie verwandelt das
ursprünglich durchsichtige Eiklar in eine weiße undurchsichtige Masse – ein deut-
lich sichtbares Indiz für massive Zerstörung der nativen Strukturen der verschie-
denen Proteine des Eiklars.
318 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Amine
Amine leiten sich formal von Ammoniak NH3 ab, indem H-Atome durch orga-
nische Reste ersetzt werden. Je nachdem, wie viele H-Atome ersetzt werden,
sprechen wir von primären, sekundären oder tertiären Aminen. Zu den Aminen
zählen auch die quartären Ammonium-Ionen, die formal vom Ammonium-Ion
NH+4 abgeleitet sind, wobei alle vier H-Atome durch organische Reste substi-
tuiert sind. Die Nomenklatur erfolgt durch Anhängen der Bezeichnung -amin
an die Namen der Kohlenwasserstoffreste, die am Stickstoffatom gebunden sind.
Mehrere gleiche Reste werden wie üblich durch griechische Zahlwörter bezeich-
net. Bei ungleichen Resten wird der größte gemeinsam mit der Aminogruppe
zur Stammverbindung. Die übrigen Reste werden als Substituenten behandelt.
Abb.8.13 zeigt einige Beispiele.
Abb. 8.15: Mesomere Grenzstrukturen eines aromatischen Amins am Beispiel des Anilins.
Organische Schwefelverbindungen
Schwefel kann anstelle von Sauerstoff in organische Verbindungen eingebaut
sein. Dieser Tatsache wird in den Namen der Verbindungen meist durch Angabe
der Bezeichnung thio oder sulfo Rechnung getragen.
Thioalkohole
Thioalkohole enthalten als charakteristische funktionelle Gruppe die SH-
Gruppe. Wir können sie formal als organische Derivate des Schwefelwasserstoffs
H2 S auffassen, in welchen ein H-Atom durch einen organischen Rest ersetzt ist.
Wir bezeichnen sie entweder als Alkanthiole (Beispiel H3 C − CH2 − SH, Ethan-
320 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Abb. 8.16: Die milde Oxidation zweier Cystein-Moleküle führt zum Disulfid Cystin.
Sulfonsäuren sind wegen der hohen Oxidationszahl des S-Atoms starke Säuren.
Sulfonsäure-Gruppen in organischen Verbindungen liegen bei zellulärem pH-
Wert daher anionisch vor, weshalb diese Substanzen generell gut wasserlöslich
sind.
Sulfonsäuren sind Ausgangsmaterial für eine wichtige Gruppe medizinisch
wertvoller Bakterizide, der Sulfonamide. In diesen Verbindungen ist die SO3 H-
Gruppe der Sulfonsäure ersetzt durch eine – oft noch weiter organisch substitu-
ierte – SO2 NH2 -Gruppe. Abb. 8.17 zeigt das Beispiel der Sulfanilsäure (p-Amino-
benzen-sulfonsäure) und des Sulfanilamids.
Thioester
„Ester“ der Thiole mit Carbonsäuren bezeichnen wir als Thioester. Ihre Bildung
sieht formal genauso aus wie die gewöhnliche Esterbildung (Abb. 8.18).
8.3 Phenole und Chinone 321
Thioester sind reaktiver als gewöhnliche Ester. Sie sind insbesondere stärkere
Acylierungsmittel als diese und werden als aktive Ester bezeichnet.
Ein biologisch äußerst wichtiger Thioester ist das Acetyl-Coenzym A (Acetyl-
CoA), welches im Stoffwechsel der Zelle zur Übertragung der Acetylgruppe dient
(siehe Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vitamine und Coenzyme“).
Thioether
Thioether sind formal Derivate von H2 S, in welchen beide H-Atome durch orga-
nische Reste ersetzt sind (R − S − R ). Ein Beispiel ist die Aminosäure Methionin.
Lehrziel
Dieses Kapitel macht uns mit den Grundstrukturen der aromatischen Alkohole – der Phenole – und
ganz spezieller Oxidationsprodukte dieser Verbindungen – der Chinone – vertraut. Wir begegnen
diesen Verbindungsarten an manchen Stellen unserer Reise durch die biomedizinische Chemie,
so etwa bei der Besprechung der Atmungskette.
Phenole
Phenole sind die aromatischen Gegenstücke zu den Alkoholen. Sie tragen eine
Hydroxylgruppe direkt am aromatischen Ring. Ebenso wie bei aliphatischen, also
nicht aromatischen, Alkoholen unterscheiden wir je nach der Zahl der Hydro-
xylgruppen zwischen ein- und mehrwertigen Phenolen. Abb. 8.19 stellt einige
wichtige Vertreter vor.
Meist werden die Trivialnamen verwendet. Die rationellen Namen stehen in
Abb. 8.19 in Klammer. Die rot geschriebenen Abkürzungen beziehen sich auf
eine alternative Bezeichnungsweise (o = ortho, m = meta, p = para, vic = vicinal,
asymm = asymmetrisch, symm = symmetrisch). Pyrogallol etwa können wir auch
vicinales Trihydroxybenzen nennen.
322 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Phenole können wir formal eigentlich als tertiäre Alkohole betrachten. Ihre
Hydroxylgruppen sind wie bei gewöhnlichen tertiären Alkoholen an C-Atome
gebunden, die keine weiteren H-Atome tragen. Ihre Reaktionsweise weicht
jedoch in mancher Hinsicht aufgrund des Einflusses des aromatischen -Elektro-
nensextetts etwas von dem tertiärer aliphatischer Alkohole ab. Insbesondere ist
die Säurestärke von Phenolen (pKS ≈ 10) erheblich größer als die der Alkohole
(pKS ≈ 17). Der Grund für diese erhöhte Acidität ist eine Mesomeriestabilisierung
des Phenolat-Ions, welches durch Abspaltung eines Ions aus Phenolen entsteht.
Abb. 8.20 zeigt diese Mesomerie.
Die erste Zeile der Abb. 8.20 zeigt die Bildung der konjugierten Base Pheno-
lat. Die zweite Zeile erläutert die verschiedenen mesomeren Grenzstrukturen
(die roten Pfeilchen helfen beim Verstehen der Mesomerie). Der entscheidende
Punkt ist, dass die durch die initiale Abspaltung des Protons entstehende negative
Ladung durch diese Mesomerie delokalisiert wird. Sie ist nicht bloß am O-Atom
lokalisiert, wie bei einem gewöhnlichen Alkohol, sondern über das ganze Molekül
„verschmiert“. Solche delokalisierten Ladungen sind grundsätzlich viel stabiler
als an einem Atom lokalisierte Ladungen.
Phenolat-Ionen sind entsprechend der allgemeinen Regel für konjugierte
Säure-Basen- Paare (pKS(HA) + pKB(A− ) = 14) viel schwächer basisch (pKB ≈ 4) als
Alkoholat-Ionen (pKB ≈ −3) und daher in wässrigen Lösungen beständig. Phenole,
auch an sich schlecht wasserlösliche Vertreter, lösen sich gut in stark basischen
wässrigen Lösungen, da sie in die entsprechenden Phenolat-Ionen überführt wer-
den.
Phenol selbst ist ein starkes Zellgift. Mit Wasser ist es beschränkt mischbar. Eine
Mischung von 100g Phenol und 29g Wasser wurde 1867 von Lister als bakterizides
Desinfektionsmittel („Carbolsäure“) in die Medizin eingeführt.
Die vom Methylbenzen (Toluen) abgeleiteten Phenole werden auch als Kre-
sole bezeichnet (o-Hydroxy-toluen = o-Kresol, usw.). Lösungen dieser ebenfalls
giftigen Verbindungen in Ölseife sind unter dem Namen „Lysol“ auch heute als
Desinfektionsmittel in Gebrauch.
Chinone
Die Oxidation von o- oder p-Dihydroxyphenol (Brenzcatechin bzw. Hydrochinon)
führt, wie Abb. 8.21 demonstriert, zur Bildung von o-Chinon bzw. p-Chinon.
Diese enthalten das chinoide Elektronensystem, das in der Abbildung rot her-
vorgehoben ist. Zwei Carbonylgruppen stehen dabei über ein cyclisches System
von alternierenden Einfach- und Doppelbindungen miteinander in Konjugation.
Diese Elektronenanordnung ist zwar nicht ganz so stabil wie die aromatische,
aber doch etwas Außergewöhnliches.
Chinone sind gegen Weiteroxidation ziemlich stabil. Sie können jedoch in
Umkehrung der in Abb. 8.21 gezeigten Reaktion relativ leicht und reversibel zu
den entsprechenden zweiwertigen Phenolen reduziert werden. In der Biochemie
fungieren daher verschiedene Diphenol-Chinon- Redoxpaare als wichtige Kataly-
satoren von Elektronenübergängen. Ein sehr wichtiges Beispiel ist das Ubichinon
(Coenzym Q) als Bestandteil der Atmungskette (siehe Kapitel 3, Abschnitt 5 „Die
324 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Abb. 8.21: Chinone bilden sich durch Oxidation von o- oder p-Dihydroxybenzen-Derivaten.
Lehrziel
In diesem Kapitel wollen wir einen kleinen Einblick in die unglaublich bunte und vielfältige Welt
der Proteine gewinnen. Optimiert in Millionen Jahren der Evolution, repräsentieren diese Mole-
küle wohl das Staunenswerteste, was die Chemie von Molekülen an struktureller und funktionaler
Raffinesse und Eleganz zu bieten hat.
Abb. 8.22: Die typische Tripelhelix von Kollagen. Oben: Backbone mit Seitenketten; unten: Kalotten-
modell mit unterschiedlicher Farbe der drei Polypeptid-Ketten.
Die starren, stabförmigen tripelhelicalen Abschnitte bilden die Grundlage für die
Ausbildung von Fibrillen und letztlich festen Fasern, die Druck- und Zugbelas-
tungen aushalten können.
Abb. 8.23: Zwei Ansichten von Ferritin. Links: Graphische Hervorhebung der helicalen Untereinheiten;
rechts: Kalottenmodell, bei dem einige der Untereinheiten in unterschiedlichen Farben dargestellt sind.
Abb. 8.24: Vier Ansichten von -Hämolysin: a) Kalottenmodell, Blick von oben durch den Kanal
hindurch; b) wie a), mit Hervorhebung der Faltblatt-Struktur; c) Kalottenmodell von der Seite gesehen,
einige Untereinheiten sind unterschiedlich gefärbt; d) wie c), mit Hervorhebung der Faltblatt-Struktur.
8.4 Wunderwelt der Proteine 327
Abb. 8.25: Vier Ansichten eines IgG-Moleküls: a) Blick von der Seite, mit Hervorhebung der Faltblatt-
Struktur; b) wie a), aber als Kalottenmodell; c) wie a), mit farbiger Hervorhebung der leichten (gelb
und rot) und der schweren Ketten (blau und grün); d) Ausschnitt von c), mit Hervorhebung der Cystin-
Brücken und des Kohlenhydrat-Anteils.
328 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Merke: Die in diesem Buch vorgestellten Beispiele für Proteine zeigen nur einen winzigen
Ausschnitt aus der Vielfalt dieser Moleküle. Sie vermitteln aber einen Eindruck von
ihrer außerordentlichen Diversität.
Abb. 8.26: Vereinfachtes Schema der Umwandlungen von Phenylalanin zu Tyrosin und weiter zu den
Catecholaminen.
Um den letzten Punkt besser verstehen zu können, betrachten wir in Abb. 8.26
die Folge von Reaktionsprodukten, die im gesunden Organismus in Folge der
Phenylalanin-Hydroxylierung entstehen.
Der erste Reaktionsschritt, die Hydroxylierung von L-Phenylalanin zu L-
Tyrosin, läuft bei PKU-Patienten nicht oder fast nicht ab. Daher wird auch die nach
dem Tyrosin folgende Reaktionskette massiv beeinträchtigt. Die Verbindungen,
die auf diesem Reaktionspfad eigentlich synthetisiert werden sollten, leiten sich
von 1,2-Dihydroxybenzen (Brenzcatechin) ab, daher der Name Catecholamine.
Die erste Verbindung, die aus einer weiteren aromatischen Hydroxylierung von
L-Tyrosin mittels der Tyrosinhydroxylase entsteht, ist L-3,4-Dihydroxyphenylala-
nin, gerne abgekürzt als L-DOPA. Durch Decarboxylierung, also eine Abspaltung
von CO2 , entsteht daraus Dopamin, ein sehr wichtiger Neurotransmitter. Das ist
ein Stoff, der die zelluläre Kommunikation zwischen bestimmten Nervenfasern
ermöglicht.
Dopamin wird durch Hydroxylierung in der aliphatischen Seitenkette zu
Noradrenalin umgewandelt. Dieses wiederum geht durch Methylierung am
Stickstoff in Adrenalin über.
Diese beiden letzteren Verbindungen sind wichtige Hormone für die Regu-
lation vieler Körperfunktionen. Insbesondere Adrenalin ist bekannt als Notfall-
330 8. Enzyme, Rezeptoren, vielseitigstes Baumaterial: Die Proteine
Hormon, welches in kritischen Situationen wie Angst, Aggression oder bei einem
Fluchtreflex durch Auslösen der Glycogenolyse und Lipolyse den Glycogen- und
Fettabbau mobilisiert und so den Organismus in die Lage versetzt, einer plötz-
lichen Gefahr oder Bedrohung wirksam begegnen zu können.
Klinische Auswirkungen und die Therapie der PKU
Die unbehandelte Erkrankung führt ab dem Alter von einigen Monaten zu einer
geistigen Retardierung, die bis hin zum Schwachsinn führen kann. Progressive
neurologische Ausfälle kommen häufig vor.
Therapeutisch müssen wir der Erkrankung durch eine mindestens 10 Jahre
erfolgende Ernährung mit einer speziellen phenylalanin-armen Diät begegnen.
Ganz frei von Phenylalanin darf die Nahrung nicht sein, da dieses eine essentielle
Aminosäure darstellt, die der Organismus selbst nicht synthetisieren kann. Damit
gelingt es, die Blutkonzentration von Phenylalanin unter 500 ‹mol/L zu halten
und die Konsequenzen der Erkrankung zu verhindern.
VON DER EVOLUTION ZUM BÖSARTIGEN KREBS:
DIE NUCLEINSÄUREN
Fallbeschreibung 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
9
Fallbeschreibung
9
Eine 42-jährige Frau kommt wegen einer pigmentierten Hautläsion am rech-
ten Unterschenkel zum Dermatologen. Die Läsion ist ca. 3 cm groß, unregel-
mäßig und polyzyklisch begrenzt und weist unterschiedliche Farbtöne auf, die
von weiß über hellbraun bis tief schwarz reichen. Der Großteil der Läsion ist
nur wenig erhaben, an einer Stelle findet man aber ein linsengroßes, kalotten-
förmig vorragendes Knötchen. „Ich habe das schon seit 2 Jahren, es wird aber
langsam größer!“. Abb. 9.1 zeigt eine vergrößerte Fotografie der Hautläsion.
Auf Befragen gibt die Patientin an, dass sie in der Kindheit immer wieder Son-
nenbrände gehabt habe. „Beim Urlaub in Lignano hat das bei uns Kindern
einfach dazugehört – in den ersten Tagen immer ein ordentlicher Sonnen-
brand!“
Lehrziele
Die Diagnose lautet Malignes Melanom. Damit führt uns dieses Beispiel in
den Bereich bösartiger Tumorerkrankungen und – chemisch – zum Kapitel
über Nucleinsäuren.
Wir werden uns mit den Strukturen und Funktionen dieser nicht nur für die
moderne Medizin, sondern für das Leben, die Vererbung und die Evolution
so zentralen Verbindungen beschäftigen und wollen auch einige chemische
Mechanismen der Krebsentstehung streifen.
334 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
9.1 Nucleinsäuren
Lehrziel
Nucleinsäuren sind in mancher Hinsicht die faszinierendsten Moleküle, die wir kennen. Sie sind
der Stoff, der die Evolution ermöglicht und aus dem die Gene bestehen. Richard Dawkins spricht
gar vom „egoistischen Gen“, und sieht die Organismen geradezu als survival machines für die
Gene an.
Wurde die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Zeitalter der Vitamine“ bezeichnet, so können
wir angesichts der ungeheuren Auswirkungen der Molekularbiologie und der Gentechnologie auf
unsere Gesellschaft, ja auf unsere Welt, heute ohne Übertreibung vom „Zeitalter der Nuclein-
säuren“ sprechen.
In diesem Kapitel wollen wir die chemische Struktur der Nucleinsäuren und ihrer Bausteine näher
beleuchten.
Merke: Es ist die jeweils einzigartige Reihenfolge (Sequenz) der Zeichen, die die Identität
des Buches ausmacht und die die Information, die uns die Autoren mitteilen wollten,
enthält.
bestehen zum ersten aus einer sehr langen „Perlenschnur“, die durch eine mono-
tone, keinerlei Information tragende, Abfolge von zwei verschiedenen molekula-
ren Bausteinen gebildet wird.
Merke: Wir Menschen des Informationszeitalters wissen, dass auch durch die unterschied-
liche Abfolge von nur zwei Zeichen, etwa Nullen und Einsen, Information hervorragend
repräsentiert, gespeichert und weitergegeben werden kann. Auf diesem Prinzip beruht
der digitale Computer.
Der Grund, warum unsere „Perlenschnur“ in den Nucleinsäuren informationslos ist, ist
die streng alternierende Abfolge der beiden „Perlensorten“. Wir wissen stets, welcher
Baustein nach einem beliebig herausgegriffenen Baustein kommen wird.
Merke: Die Proteine sind die eigentliche Realisierung der in den Nucleinsäuren gespeicherten
Information.
Abb. 9.3: Die Pentosen der Nucleinsäuren in der offenkettigen Aldehydform (Fischer-Projektion) und
als Halbacetale (Haworth-Projektion). Die kleinen roten Ziffern bezeichnen die Nummern der C-Atome.
Die 2-Desoxyribose unterscheidet sich von der Ribose durch das Fehlen des O-Atoms am C2 -Atom
(die Silbe „des-“ bedeutet in der Chemie das Fehlen des nachfolgenden Begriffs; „desoxy-“ bezeichnet
daher das Fehlen eines Sauerstoffatoms).
Abb. 9.4: Das lineare Gerüst der Nucleinsäuren, an dem die „Buchstaben“ hängen.
9.1 Nucleinsäuren 337
Dabei gibt es eine Besonderheit: Während Adenin (meist abgekürzt als A), Guanin
(G) und Cytosin (C) sowohl in DNA als auch in RNA vorkommen, finden wir Uracil
(U) nur in RNA und Thymin (T) nur in DNA.
Diese Basen sind als N-Glycoside in Form der -Anomeren an die Skelette der
Nucleinsäuren gebunden. Abb. 9.6 zeigt einen nunmehr vollständigen Ausschnitt
aus einem Nucleinsäure-Molekül mit einem Cytosin- und einem Adenin-Rest.
338 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
Abb. 9.6: Ein Ausschnitt aus einer RNA mit zwei verschiedenen, jeweils -glycosidisch gebundenen,
Basen.
Nucleoside
Betrachten wir die Strukturen noch etwas genauer. Die Kombination einer
Nucleinsäure-Base und einer Pentose in N--glycosidischer Bindung bezeichnen
wir als Nucleosid. Nucleoside tragen eigene Namen, die Tab. 9.1 vorstellt.
Die Namen der Nucleoside mit Pyrimidin-Basen enden auf „-idin“ und die der
Purin-Derivate auf „-osin“.
Nucleotide besitzen neben ihrer Funktion als Bausteine der Nucleinsäuren noch
weitere Funktionen. Sie können insbesondere mit mehr als einem Phosphorsäure-
Molekül verbunden sein.
Nucleotide bezeichnen wir auch als Nucleosidmonophosphate (abgekürzt
NMP, wobei N dabei für irgendeine Base steht. So bedeutet etwa AMP Adenosin-
monophosphat). Durch Verknüpfung der NMP mit einer weiteren Phosphorsäure
über eine Säureanhydrid-Bindung – die zweite Phosphorsäure wird also mit dem
Phosphatteil des NMP verbunden – gelangen wir zu den Nucleosiddiphosphaten
(NDP). Wenn wir den Vorgang wiederholen und eine dritte Phosphorsäure wie-
der über eine Säureanhydrid-Bindung an die zweite binden, erhalten wir schließ-
lich Nucleosidtriphosphate (NTP). Abb. 9.7 zeigt dieses Prinzip anhand des wohl
berühmtesten Vertreters, des Adenosintriphosphats (ATP).
Abb. 9.7: Die strukturellen Beziehungen der Mono-, Di- und Triphosphate eines Nucleosids am Bei-
spiel von ATP.
Di- und Triphosphate der Nucleotide werden daher in der Zelle als chemische
Energieträger verwendet. Die Energienutzung erfolgt dadurch, dass die NTP als
Überträger von Phosphat- oder Diphosphatgruppen auf andere Moleküle wirken.
340 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
Aus den NTP und NDP entstehen dadurch NMP, die durch die energieliefernde
Atmungskette wieder zu NTP regeneriert werden.
Außerdem können die energiereichen NTP und NDP auch mit anderen Molekü-
len verbunden werden und dann als Überträger eben dieser Moleküle fungieren.
So überträgt beispielsweise Uridindiphosphat-glucose (Abb. 9.8) bei der Bildung
von Glycogen Glucose-Bausteine auf eine wachsende Glycogenkette.
HH
2
C H
HO
O
HO H
HO
H OH O
O Uridin-Teil
H O C
P HN CH
Glucose-Teil O
O C CH
O NH
O P O CH2
O
O앥 H H
H H
OH OH
Bezeichnen wir mit – (Glucose)n– die Glycogenkette, lässt sich die Reaktion fol-
gendermaßen symbolisieren:
Cyclische Nucleosidmonophosphate
Eine interessante Klasse von Nucleotiden mit abweichendem Bau sind die cycli-
schen Nucleosidmonophosphate (cNMP). Zwei Vertreter sind hier wichtig, näm-
lich cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) und cyclisches Guanosinmono-
phosphat (cGMP). In diesen Verbindungen bildet, wie Abb. 9.9 anhand des cGMP
erläutert, eine Phosphorsäure intramolekular zwei Esterbindungen zu den OH-
Gruppen am C5 und am C3 -Atom der Pentose aus. cAMP ist völlig analog aufge-
baut.
Cyclische Mononucleotide haben große Bedeutung als Botenstoffe für die so
genannte Signaltransduktion (Signalübermittelung) innerhalb der Zelle. Ohne
auf die komplizierten biochemischen Details einzugehen, können wir uns vorstel-
len, dass infolge des Auftreffens eines molekularen Signals, etwa eines Hormons,
9.1 Nucleinsäuren 341
Abb. 9.9: Die Struktur des cyclischen GMP. Die cyclische Struktur des intramolekularen Phosphor-
säure-diesters ist rot unterlegt.
Merke: Diese einzigartige Struktur ist die Grundlage des Lebens sowie der Vererbung und der
Evolution, wie sie sich uns auf der Erde darbieten.
342 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
Abb. 9.11: Drei Ansichten eines Ausschnitts aus einer DNA. a) Kugel-Stab-Modell; b) graphische
Hervorhebung der helicalen Gerüsts und der Basenpaare; c) detaillierter Ausschnitt mit hervorge-
hobenem G-C-Paar (die H-Atome sind nicht eingezeichnet).
9.1 Nucleinsäuren 343
Bei jeder Zellteilung teilt sich die Doppelhelix in zwei Einzelstränge. Diese
werden auf die beiden entstehenden Tochterzellen aufgeteilt. Anschließend wird
anhand jedes Einzelstranges der jeweils komplementäre Strang aus dem in der
Zelle verfügbarem Rohmaterial, den NTP, neu rekonstruiert. Jede Tochterzelle
stellt sich daher alsbald anhand des jeweils erhaltenen Einzelstranges die kom-
plette genetische Ausstattung der Mutterzelle, von der sie abstammt, wieder her.
All dies ist nur möglich, da die beiden Einzelstränge über Wasserstoff- Brücken-
bindungen zusammengehalten werden. Kovalente Bindungen wären viel zu stark
und die Trennung der Doppelhelix in zwei Einzelstränge würde nicht funktionie-
ren. Van der Waals-Bindungen wiederum wären zu schwach und die Ausbildung
einer stabilen Doppelhelix würde nicht gelingen.
Wie die beteiligten Reaktionen und die Codierung der genetischen Information
durch die „Buchstaben“ der DNA (die Basen A, C, G und T) im Detail funktionie-
ren, ist trotz mancherlei Komplexität heute bereits in vielen Zügen verstanden.
Eine detaillierte Behandlung dieser Thematik würde jedoch den Rahmen dieses
Lehrbuchs bei weitem sprengen. Sie bleibt den Lehrbüchern der Biochemie und
der Molekularbiologie vorbehalten.
Kurz zusammengefasst:
• Die genetische Information, die Abfolge der Nucleotid-Bausteine, ist primär
in der DNA festgelegt. Im Endeffekt werden daraus die Primärstrukturen, also
die Aminosäuresequenzen, der vielfältigen Proteine aufgebaut, die im Organis-
mus als Strukturmaterial gleichermaßen wie als zentrale Funktionswerkzeuge
unentbehrlich sind.
• Die Codierung geschieht dadurch, dass jeweils drei aufeinander folgende
Nucleotide (Basentriplett, Codon) für eine bestimmte Aminosäure (oder auch
für bestimmte Ableseoperationen an der DNA) codieren.
• Das entsprechende „Vokabelbuch“, welches die Übersetzung (Translation) aus
der „Sprache“ der Nucleinsäuren in die „Sprache“ der Aminosäuren festlegt,
ist der berühmte Genetische Code. Er umfasst genau 64 Einträge, da es 64 ver-
schiedene Triplett-Kombinationen von vier unterschiedlichen Basen gibt. Der
Code ist „entartet“ (ein hässliches Wort); das bedeutet, dass es zu manchen
Aminosäuren mehrere Codons gibt. Da es nur 20 proteinogene Aminosäuren
gibt, haben wir gewissermaßen einen Zeichenüberschuss in der DNA. Einige
Codons stehen nicht für Aminosäuren, sondern regeln als „Satzzeichen“ die
Ablesung der DNA-Botschaft selbst (Start-Codon, Stopp-Codon, etc.).
• Die Translation erfolgt nicht direkt von der DNA aus, sondern die DNA-
Botschaft wird zuerst in eine andere „Schrift“ übertragen, nämlich in RNA
umkodiert. Dieser Schritt wird auch als Transkription bezeichnet. Er ist ver-
gleichbar mit einer Übertragung eines Textes, etwa der Bibel, von lateinischen
in kyrillische Zeichen. Das Produkt der Transkription wird als Messenger-RNA
(mRNA) bezeichnet. Die mRNA ist sozusagen ein Lochstreifen, der vom Pro-
teinbiosyntheseapparat in den Ribosomen abgelesen wird und die Zusammen-
setzung der wachsenden Proteinkette festlegt.
• Auch die Anlieferung der „richtigen“ Aminosäure zum Proteinbiosyntheseap-
parat wird durch eine spezielle RNA, die Transfer-RNA (tRNA) bewerkstelligt.
344 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
RNA ist, wie schon erwähnt, im Gegensatz zu DNA einzelsträngig. Dennoch bil-
den auch die mitunter sehr langen RNA-Fäden durch Basenpaarung komplemen-
tärer Basen dreidimensionale Strukturen aus, die der Doppelhelix ähneln, indem
unterschiedliche Regionen des langen Moleküls miteinander in Wechselwirkung
treten.
Abb. 9.12 zeigt als Beispiel für diese intramolekulare Helixbildung ein tRNA-
Molekül. Die rechts unter c) dargestellte grafische Hervorhebung der wesent-
lichen Strukturmerkmale lässt die verschiedenen intramolekular ausgebildeten
Helix-Teilstrukturen gut erkennen.
Besonders in tRNA findet man neben den obligaten RNA-Basen auch eine Viel-
zahl von so genannten modifizierten Basen (modifizierten Nucleotiden), die in
DNA und in anderen RNA-Arten nicht beobachtet werden.
Thiophen hat von diesen drei Verbindungen den stärksten aromatischen Cha-
rakter, da das S-Atom die geringste Elektronegativität besitzt und daher eines
der beiden freien Elektronenpaare am S-Atom besonders gut zur Ausbildung des
aromatischen Elektronensystems zur Verfügung steht.
Am wenigsten aromatisch ist Furan wegen der hohen Elektronegativität des
O-Atoms. Furan reagiert weniger wie eine aromatische Verbindung, sondern ver-
hält sich eher wie ein ungesättigter Ether.
Pyrrol ist praktisch nicht basisch, da das freie Elektronenpaar am Stickstoff für
die Ausbildung des aromatischen Elektronensextetts benötigt wird.
Im Falle von Oxazol und Thiazol stimmt der Trivialname mit den rationellen
Namen fast – bis auf die exakte Angabe der Stellung der Atome im Ring – überein:
Die Endung -ol bezeichnet in der Heterocyclenchemie fünfgliedrige Ringe, -ox-
steht für Sauerstoff, -thia- für Schwefel und -az- für Stickstoff.
Pyrazol heißt dementsprechend rationell 1,2-Diazol und Imidazol ist 1,3-
Diazol.
Abb. 9.15: Sechsgliedrige Heterocyclen mit einem Heteroatom (obere Reihe) und mit zwei N-Atomen
(untere Reihe).
Mehrkernige Heterocyclen
Darunter verstehen wir Heterocyclen, die sich von kondensierten Aromaten ablei-
ten. Abb. 9.16 zeigt vier wichtige Vertreter.
Purin ist wie Pyrimidin Grundkörper für bestimmte Nucleinsäure-Basen. Das
Pteridin-Ringgerüst finden wir in der Folsäure (siehe Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vita-
mine und Coenzyme“).
9.3 Chemie und Krebsentstehung 347
Lehrziel
Die Entstehung bösartiger Tumore kann auf viele Ursachen zurückgeführt werden – genetische
Veranlagung, Ernährung, Rauchen, radioaktive Strahlung, Chemikalien, Sonnenlicht, usw. Immer
jedoch ist in der einen oder anderen Weise das Nucleinsäure-Material, die DNA, unserer Zellen
in die Krebsentstehung und -entwicklung involviert.
In diesem Abschnitt lernen wir einige Mechanismen kennen, die zu bösartigem Wachstum führen
können.
Die DNA ist nicht nur eine Art riesiges Archiv mit den Bauplänen der Körperpro-
teine, das die Vererbung sicherstellt, sondern vielmehr eine sehr aktive Schalt-
zentrale auch für die Regulation der unzähligen Abläufe während der Lebenszeit
eines Organismus.
Fehler in der DNA entstehen ständig durch verschiedene endogene und exo-
gene Ursachen. Gewöhnlich aber kann das zelleigene, extrem effiziente DNA-
Reparatursystem diese Fehler gleich wieder ausbessern. Wenn dieses System
jedoch versagt, etwa wegen Überlastung, so können solche Schäden langfris-
tig zum Verlust der Kontrolle über das Wachstum und die Vermehrung einer
maligne transformierten Zelle führen und in einer manifesten Krebserkrankung
enden.
Wir wollen in diesem Kapitel exemplarisch einige chemische – und eine
physikalisch-chemische – Ursachen für DNA-Schäden besprechen.
Cancerogene
Die meisten chemischen Cancerogene sind Vorstufen, so genannte Procan-
cerogene, die erst durch Zellenzyme aktiviert werden müssen. Hier spie-
len Mechanismen eine große Rolle, die eigentlich die sehr wichtige und
nützliche Funktion des Fremdstoffabbaus – des Abbaus von Xenobiotica –
348 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
haben. Ein Beispiel dafür ist das in diesem Buch auch erwähnte Cytochrom
P450 (siehe Kapitel 6, Abschnitt 1 „Die Elemente des Lebens“). Dieses in vie-
len Zellen vorkommende Enzym baut normalerweise Fremdstoffe, wie etwa
aromatische Verbindungen, durch Oxidationsreaktionen ab. Häufig entstehen
dabei Hydroxylverbindungen, die entweder bereits wasserlöslich sind oder
durch Konjugation mit Glucuronsäure (siehe Kapitel 7, Abschnitt 1 „Mono-,
Oligo- und Polysaccharide“) löslich gemacht und über den Harn eliminiert
werden können. Leider entstehen bei diesen Reaktionen mitunter Substan-
zen, die dann die Basen der DNA angreifen und diese chemisch verändern
können.
Struktur Vorkommen
3,4-Benzpyren
Aromatische Amine Steinkohlenteer
Anilin 2-Amino-naphtalen
N-Nitrosamine Nahrungsmittelzusatz, Bier
N-Nitrosamin
Aspergillus flavus Toxine Schimmelpilze
Aflatoxin
Metallkationen ubiquitär
Be2+ (Beryllium), Cd2+ (Cadmium), Co2+ (Cobalt)
9.3 Chemie und Krebsentstehung 349
Tab. 9.3: Die Produkte der Reaktionen von Salpetriger Säure mit verschiedenen Arten von Aminen.
Primäre aliphatische Amine reagieren mit HNO2 unter Bildung von Alkoholen,
molekularem Stickstoff und Wasser:
Primäre aromatische Amine reagieren mit HNO2 auf sehr ungewöhnliche Weise.
Sie bilden so genannte Diazonium-Ionen (Abb. 9.18).
Sekundäre aromatische Amine bilden mit HNO2 ebenso wie aliphatische sekun-
däre Amine die gefährlichen N-Nitrosamine.
Tertiäre aromatische Amine werden von HNO2 in saurem Milieu in para-
Stellung substituiert (Abb. 9.20).
Abb. 9.20: Tertiäre aromatische Amine werden durch Salpetrige Säure in p-Stellung nitrosyliert.
9.3 Chemie und Krebsentstehung 351
HNO2 ist, wie gezeigt, in der Lage, mit sekundären Aminen N-Nitrosamine
zu bilden. Diese Reaktion ist der Grund für die Gefährlichkeit erhöhter Nitrit-
oder Nitratkonzentrationen in der Nahrung oder im Grundwasser. Letzteres ist
oft eine Folge übermäßiger Düngung landwirtschaftlich genutzter Böden. Nitrat-
Ionen werden im reduzierenden Milieu des Magens zu Nitrit-Ionen reduziert. Da
Salpetrige Säure schwächer ist als die Salzsäure des Magens, werden die ent-
stehenden oder direkt mit der Nahrung aufgenommenen Nitrit-Ionen zu HNO2
protoniert, die dann mit sekundären Aminen in der Nahrung, zum Beispiel in
Aminosäuren, Peptiden und Proteinen, cancerogene Nitrosamine bildet.
Wie Abb. 9.21 skizziert, kann UV-Strahlung eine Wechselwirkung zwischen den
benachbarten Thymidin-Basen an einem DNA-Strang bewirken, die schließlich
zur Ausbildung einer echten kovalenten Bindung zwischen den beiden Ringen
führen kann. Dadurch wird die Ablesung der DNA verhindert und es kann zu
Strangbrüchen und anderen Folgeschäden kommen, die in weiterer Folge zu bös-
artigen Krebserkrankungen, insbesondere der Haut, führen können.
352 9. Von der Evolution zum bösartigen Krebs: Die Nucleinsäuren
Lehrziel
Ultraviolettes Licht ist – ebenso wie sichtbares Licht – nur ein kleiner Ausschnitt aus dem riesigen
Spektrum der elektromagnetischen Strahlung.
Einen großen Teil unserer Kenntnisse über den Aufbau der Materie verdanken
wir Untersuchungen der Wechselwirkungen der elektromagnetischen Strahlung
mit Materie.
c = Š ·Œ
Elektromagnetische Strahlung – und damit auch Licht – breitet sich mit der
größtmöglichen Geschwindigkeit aus, der Lichtgeschwindigkeit. Sie beträgt im
Vakuum:
Das sind etwa 300 000 km pro Sekunde – etwas weniger als die Entfernung von
der Erde zum Mond.
Sichtbares Licht ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum
der elektromagnetischen Strahlung. Abb. 9.22 zeigt die verschiedenen Bereiche
des elektromagnetischen Spektrums, die sich durch ihre Wellenlänge und Fre-
quenz unterscheiden. Die Geschwindigkeit aller dieser Strahlenarten ist dieselbe.
Dass Licht, wie jede Welle, Energie transportieren kann, war schon lange
bekannt. Das radikal Neue an der Quantentheorie ist, dass ihr zufolge diese Ener-
gie nur in kleinsten Energieportionen, so genannten Energiequanten, auftreten
kann. Licht kann somit nicht nur als Welle in einem Kontinuum aufgefasst wer-
den, sondern auch – und das ist das Verblüffende – als ein Strom von kleins-
ten masselosen Teilchen. Diese werden Photonen genannt. Sie bewegen sich
mit Lichtgeschwindigkeit und transportieren dabei eine mit der Frequenz oder
Wellenlänge des Lichtes zusammenhängende Energiemenge:
E = h·Œ
Hierbei lernen wir eine neue Naturkonstante kennen, das Planck’sche Wirkungs-
quantum h, welches die in der Natur kleinstmögliche Wirkung darstellt und den
Zahlenwert besitzt:
h = 6,6 · 10−34 J · s
Merke: Nicht nur die Materie besteht somit aus Atomen, auch die physikalischen Größen
Energie und Wirkung können nicht in beliebig kleinen Portionen auftreten, sondern
sind „atomisiert“.
Was hier in ganz kurzer und gedrängter Form dargestellt ist, stellte eine tief greifende
Revolution der Naturwissenschaft dar:
Licht verhält sich – je nach experimenteller Situation – wie ein Wellenphänomen
oder wie ein Teilchenphänomen.
Diese Dualität ist im Rahmen der klassischen Begriffswelt nicht begreifbar. Dennoch
ist die Quantentheorie, die noch zu vielen anderen „klassisch paradoxen“ Folgerungen
führt, eine äußerst erfolgreiche Theorie in dem Sinne, dass sie die Vorhersage von
Erscheinungen im atomaren Bereich mit höchster Zuverlässigkeit ermöglicht.
Die Diagnose lautet Malignes Melanom. Für diesen bösartigen Hautkrebs sind
9
Sonnenbrände in der Kindheit wichtigster Risikofaktor. Die Sonnenstrahlung
enthält nicht nur sichtbares Licht, sondern auch starke Anteile an infrarotem
(Wärmestrahlung, IR) und ultraviolettem (UV) Licht.
UV-Licht schädigt die DNA, beispielsweise durch die Bildung von Thymidin-
Dimeren. Dadurch wird zunächst die Transkription der betroffenen Genabschnitte
blockiert. Später kommt es auch zu Störungen der Reduplikation. Auch Mutatio-
nen können ausgelöst werden – und damit unter Umständen bösartige Zellver-
mehrung und Krebs.
Normalerweise wird ein großer Teil dieser schädlichen UV-Strahlung durch
das Ozon O3 in der höheren Atmosphäre absorbiert und unschädlich gemacht.
Wegen der zivilisationsbedingten teilweisen Zerstörung der Ozonschicht (Ozon-
loch) besonders über der Antarktis steigt derzeit die Frequenz bösartiger Haut-
tumore in Ländern der Südhalbkugel der Erde, etwa in Australien, besorgniser-
regend an.
ENERGIESPEICHER, HORMONE UND
BIOMEMBRANEN: DIE LIPIDE
Fallbeschreibung 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
10
Fallbeschreibung
10
Eine 47-jährige Frau erleidet in der Nacht einen schweren Anfall einer Gallen-
kolik mit wehenartigen Schmerzen. Nach Einlieferung in eine Notaufnahme
eines Krankenhauses werden im Ultraschall Gallensteine diagnostiziert. Die
Anamnese ergab Genuss von paniertem Wiener Schnitzel am Vortag.
• Welche Substanz ist meist verantwortlich für die Bildung von Gallenstei-
nen?
• Welche Therapieformen sind möglich?
Lehrziele
Dieses Fallbeispiel führt uns in das große Gebiet der Lipide. Wir werden die
verschiedenen, chemisch durchaus unterschiedlich gebauten Klassen der ein-
fachen und der zusammengesetzten Lipide kennen lernen und die Funktio-
nen dieser Naturstoffe besprechen, die weit über die von den Fetten bekannte
Rolle als zellulärer Brennstoff hinausgehen.
10.1 Lipide
Lehrziel
Unter der Bezeichnung Lipide fassen wir Substanzklassen zusammen, die trotz sehr unterschied-
licher chemischer Strukturen eine Gemeinsamkeit besitzen: Sie sind generell schlecht wasser-
löslich, dafür aber gut löslich in apolaren Lösungsmitteln. Ihre Funktionen sind außerordentlich
vielfältig – sie sind Brennstoffe für den Zellstoffwechsel, sie begegnen uns als Steroidhormone,
Prostaglandine und Vitamine, und sie begrenzen als Membranen die verschiedenen Zellkompar-
timente ebenso wie die Zelle selbst nach außen.
Fettsäuren
Darunter verstehen wir Carbonsäuren mit langen Alkylresten. Bedingt durch ihre
Biosynthese enthalten natürliche Fettsäuren stets eine gerade Anzahl von C-
Atomen. Einige Vertreter zeigt Tab. 10.2.
Tab. 10.2: Wichtige gesättigte Fettsäuren. Die Kurzschreibweise nennt die Zahl der C-Atome und die
Anzahl der C=C-Doppelbindungen, die bei den gesättigten Fettsäuren definitionsgemäß Null beträgt.
Prostaglandine
Mit den Fettsäuren nahe verwandt sind die Prostaglandine. Diese biologisch
hochwirksamen Verbindungen leiten sich von der vierfach ungesättigten Arachi-
donsäure (20 : 45,8,11,14 ) ab. Wie Abb. 10.2 am Beispiel der Prostansäure zeigt,
können wir uns vorstellen, dass Prostaglandine formal durch einen Cyclisierungs-
schritt aus Arachidonsäure hervorgehen.
Abb. 10.2: Die strukturelle Verwandtschaft zwischen der Arachidonsäure und den Prostaglandinen.
Die in Abb. 10.2 gewählte Schreibweise für die Arachidonsäure gibt nicht die
räumliche Struktur wieder, sondern soll nur ihre Verwandtschaft mit der Prostan-
säure hervorheben.
Da die Prostaglandine aus Arachidonsäure, die rationell Eicosatetraensäure
genannt wird, durch das Enzym Cyclooxygenase (COX) entsteht, werden sie
zusammen mit den ebenfalls aus Arachidonsäure gebildeten Thromboxanen
und den Leukotrienen – letztere werden durch das Enzym Lipoxygenase oder
LOX synthetisiert – auch als Eicosanoide bezeichnet. Die drei Verbindungsklas-
sen üben im Organismus wichtige biochemische und physiologische Funktionen
als Mediatoren, insbesondere des Entzündungsgeschehens, aus (siehe Kapitel 3,
Abschnitt 9 „Acetylsalicylsäure – ein Tausendsassa unter den pharmakologischen
Wirkstoffen“).
10.1 Lipide 361
Terpene
Terpene sind apolare Verbindungen, die mit den noch zu besprechenden Steroi-
den den Isoprenoiden (Isoprenabkömmlingen) zugerechnet werden. Sie beste-
hen aus dem in Abb. 10.3 gezeigten Baustein 2-Methyl-buta-1,3-dien (Trivial-
name Isopren).
Viele pflanzliche Öle und Duftstoffe, so genannte „ätherische Öle“, sind Terpene.
Das Tetraterpen (8 Isoprenreste) -Carotin ist die Vorstufe von Retinol, einem
Alkohol, bzw. Retinal, dem entsprechenden Aldehyd, die wir auch als Vitamin A
kennen. Abb. 10.5 zeigt die Formeln dieser wichtigen Verbindungen.
Das sehr ausgedehnte konjugierte Doppelbindungssystem (alternierende Ein-
fach- und Doppelbindungen) des -Carotins können wir buchstäblich sehen. Die
intensive orange Farbe von Karotten verdankt sich der Wechselwirkung dieses
Moleküls mit sichtbarem Licht. Durch die ausgedehnten polyzentrischen Mole-
külorbitale des konjugierten Doppelbindungssystems wird intensiv sichtbares
Licht absorbiert, und wir sehen die Substanz dann in der komplementären Farbe.
Weitere Vitamine mit Terpenstruktur sind Tocopherol (Vitamin E), wichtigs-
tes Antioxidans für biologische Membranen, sowie die Vitamine der K-Gruppe,
die zusätzlich Chinon-Strukturen besitzen und für den Ablauf der Blutgerinnung
essentiell sind (siehe Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vitamine und Coenzyme“).
362 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Abb. 10.5: -Carotin und seine biologisch wichtigen Spaltprodukte Retinol und Retinal.
Steroide
Steroide, die aufgrund ihrer Biosynthese auch zu den Isoprenoiden gezählt
werden, sind strukturell Derivate des tetracyclischen Kohlenwasserstoffs Cyclo-
pentano-perhydrophenanthren (auch „Steran“ oder „Gonan“). Abb. 10.6 zeigt
die sehr charakteristische Struktur des Sterans mit der üblichen Nummerierung
der Atome und der Bezeichnung der Ringe. Die hier gewählte Orientierung des
Ringsystems entspricht der internationalen Konvention.
Abb. 10.6: Das Grundgerüst der Steroide leitet sich vom Phenanthren ab.
Die Kombination der drei Sechsringe (A,B,C) können wir als gesättigtes Derivat
des aromatischen Kohlenwasserstoffs Phenanthren auffassen, daher die Bezeich-
nung „Perhydrophenanthren“. Der daran ankondensierte Fünfring (D) wird im
Namen durch das vorangestellte „Cyclopentano-“ ausgedrückt.
Wir wollen kurz die Stereochemie der Steroide studieren. Die Ringe im Steran-
ring sind – mit ganz wenigen Ausnahmen – nicht aromatisch. Daher sind sie auch
nicht eben gebaut, sondern nehmen Sesselformen ein, wie wir dies etwa von den
Kohlenhydraten her kennen. Zusätzlich wissen wir, dass verknüpfte Ringsysteme
Möglichkeiten der cis-trans-Isomerie bieten (siehe Kapitel 7, Abschnitt 2 „Isome-
rie – unterschiedliche Moleküle mit ,gleicher‘ Formel“).
10.1 Lipide 363
Abb. 10.7: trans-Decalin ist gestreckt, in cis-Decalin sind die beiden Ringe gegeneinander „ab-
geknickt“. Die beiden H-Atome, deren Position die Zugehörigkeit zur cis- oder trans-Konfiguration
festlegt, sind farblich und durch die Pfeile hervorgehoben.
Wir machen uns diese Tatsachen an einem einfacheren Beispiel klar, dem
Decalin (Perhydro-naphthalen). In diesem aus zwei kondensierten Sechsringen
bestehenden Molekül können die H-Atome, wie Abb. 10.7 demonstriert, an den
“Brückenkopf“-C-Atomen, die die beiden Ringe verbinden, auf derselben (cis)
oder auf entgegengesetzten Seiten des Moleküls (trans) liegen. Wir sehen, dass
die trans-verknüpfte Molekülform eher gestreckt ist, die cis-Form dagegen abge-
winkelt.
Bei Steroiden mit ihren vier verknüpften Ringen findet man praktisch durchge-
hend die trans-Verknüpfung aller Ringe, nur der Ring A ist in einigen Steroiden
mit dem Ring B auch cis-verknüpft. Die übliche all-trans-Verknüpfung führt zu
lang gestreckten und starren Molekülen, die in der Seitenansicht eine Zick-Zack-
Anordnung der Atome aufweisen, ähnlich der in gesättigten Fettsäuren (Abb. 10.8).
Die Steroide lassen sich aufgrund ihrer chemischen Strukturen in verschiedene
Subklassen unterteilen, die sich auch bezüglich ihrer physiologischen Wirkungen
unterscheiden.
Sehr wichtige Gruppen von Steroiden sind die Sexualhormone und die Schwan-
gerschaftshormone. Tab. 10.3 fasst die wichtigsten Subklassen zusammen, nennt
die jeweiligen Grundkörper sowie je einen bekannten Vertreter und informiert
kurz über die physiologische Bedeutung.
Die Estrogene fallen insofern etwas aus dem Rahmen, als der Ring A aromatisch
ist.
Gallensäuren sind Abkömmlinge von Cholan [17-(1-Methylbutyl)-androstan].
Ihre Funktion ist die Emulgierung von Fett, um eine bessere Resorption im Dünn-
darm zu gewährleisten. Abb. 10.9zeigt Cholan und Cholsäure. Die Hydroxylgrup-
pen stehen, wie durch die strichlierte Bindung angedeutet ist, im Vergleich zur
Methylgruppe am C10 auf der entgegengesetzten Seite des Ringsystems in trans-
364 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Abb. 10.8: all-trans-Steran aus zwei verschiedenen Positionen gesehen: Von der Seite ist die Zick-
Zack-Struktur auffällig. Die trans-ständigen H-Atome an den Verknüpfungskanten der Ringe sind
farblich hervorgehoben.
Tab. 10.3: Die Grundkörper und Beispiele für Sexual- und Schwangerschaftshormone.
18 Estrogene.
13 Weibliche Sexualhormone
Estran Estron
18 Androgene.
13 Männliche Sexualhormone
19
10
Androstan Testosteron
21 Gestagene.
20 Schwangerschafts-hormone
18
13 17
19
10
Pregnan Progesteron
10.1 Lipide 365
Stellung. Diese Stellung wird bei Steroiden auch als -Stellung bezeichnet. Im
Gegensatz dazu nennt man die cis-Stellung, bezogen auf die Methylgruppe am
C10 , -Stellung. So steht die Methylgruppe am C13 praktisch immer in -Stellung.
Cholestan [17-(1,5-Dimethylhexyl)-androstan] schließlich ist der Grundkörper
der Sterine, deren bekanntester Vertreter Cholesterin ist (Abb. 10.10).
Cholesterin besitzt am C3 -Atom eine -ständige OH-Gruppe, die noch durch
langkettige Fettsäuren verestert sein kann. Cholesterin selbst und seine Ester sind
wichtige Komponenten der Lipidmembranen von Zellen.
Es gibt noch weitere Klassen von Steroiden, die wichtige biologische Funktionen
ausüben, etwa die Corticoide als Nebennierenrindenhormone, die unter ande-
rem den Mineralstoffwechsel regulieren, herzaktive Steroide wie die Fingerhut-
Inhaltsstoffe Digitoxin und Digoxin, Insektenhormone und andere mehr.
Phosphoglyceride (Glycerophosphatide)
Das Bauprinzip der Phosphoglyceride, die als Grundsubstanz für den Aufbau
unserer Zellmembranen überaus große Bedeutung besitzen, ist einfach. Wäh-
rend in einem Neutralfett alle drei Hydroxylgruppen des Glycerins mit Fettsäuren
verestert sind, enthalten Phosphoglyceride nur zwei Fettsäuren. Die dritte OH-
Gruppe des Glycerins ist mit Phosphorsäure verestert. Die so entstehende Verbin-
dung, eine Phosphatidsäure, enthält gewöhnlich an der Phosphorsäure noch einen
zweiten Alkohol in Esterbindung gebunden. Es liegt eine Phosphorsäure-Diester-
Struktur vor. Als Alkoholkomponenten kommen im Wesentlichen die Aminosäure
Serin, der Aminoalkohol Ethanolamin (auch „Colamin“ genannt), der quartäre
Ammonium-Alkohol Cholin und der mehrwertige Alkohol Inositol vor. Beach-
tenswert ist bei diesen verschiedenen Phosphoglyceriden, dass sie alle am Phos-
phorsäureteil eine negative Ladung tragen, da H3 PO4 als mittelstarke Säure bei
physiologischem pH-Wert praktisch zu 100 % als Anion vorliegt. Abb. 10.12 zeigt
diese Strukturen.
Phosphatidylcholin wird auch Lecithin genannt. Bei dieser Verbindung sitzt –
zusätzlich zur negativen Ladung am O-Atom der Phosphatgruppe – am N-Atom
der quartären Ammoniumgruppe eine positive Ladung.
Abb. 10.12 macht etwas ganz Wesentliches deutlich. Alle diese Moleküle tra-
gen zwei sehr lange apolare Alkylketten, denen am Glycerinphosphat-Teil eine
sehr polare und überdies geladene Struktur gegenübersteht. Solche Verbindun-
gen haben ausgeprägte grenzflächenaktive Wirkungen, die von höchster biolo-
gischer Relevanz sind (siehe Abschnitt 10.2 „Grenzflächenaktivität und Biomem-
branen“).
10.1 Lipide 369
Sphingolipide
Die bisher erwähnten verseifbaren Lipide besitzen als Alkoholkomponente Gly-
cerin. In den Sphingolipiden dagegen finden wir einen relativ kompliziert gebau-
ten Alkohol, das Sphingosin. Dieses ist allerdings nicht esterartig, sondern säure-
amidartig an eine langkettige Fettsäure gebunden. Auch solche Säureamide sind
durch Kochen mit verdünnter Lauge hydrolysierbar. Daher gehören auch diese
Verbindungen zu den verseifbaren Lipiden. Abb. 10.14 zeigt Sphingosin und die
Struktur der Ceramide. Das sind die erwähnten Säureamid-Derivate des Sphin-
gosins.
Ceramid besitzt eine freie Hydroxylgruppe am C2 . Diese kann mit Phosphor-
säure verestert sein, und die Phosphorsäure kann noch weiter mit anderen Alko-
holen, zum Beispiel Cholin, verestert sein. Dann sprechen wir von so genannten
370 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Oberflächenspannung
Um die weiteren Überlegungen verstehen zu können, wollen wir zuerst den
Begriff der Oberflächenspannung kurz diskutieren.
Abb. 10.15 skizziert links die Situation eines Wassermoleküls in der Bulk-Phase
innerhalb des Wassers, rechts dagegen ist ein Wassermolekül an der Oberfläche
dargestellt – allgemein an einer Grenzfläche wie zum Beispiel gegen Luft. Die
Doppelpfeile symbolisieren die stabilisierenden, anziehenden Wechselwirkun-
gen, die die Wassermoleküle von anderen Wassermolekülen erfahren.
Offenbar erfahren Wassermoleküle an der Oberfläche weniger stabilisierende
Kräfte als Wassermoleküle im Inneren der Wasserphase. Als Folge davon halten
sich Wassermoleküle „lieber“ in der Bulk-Phase auf als an der Grenzfläche. Mit
anderen Worten, Wasser versucht, die Oberfläche im Verhältnis zum Volumen zu
minimieren.
372 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Abb. 10.15: Die stabilisierenden Kräfte auf ein Wassermolekül an der Oberfläche sind geringer als
im Inneren der Flüssigkeit
Merke: Wasser setzt dem Versuch, seine Oberfläche zu vergrößern, einen merkbaren Wider-
stand entgegen. Die Energie, die erforderlich ist, diesen Widerstand zu überwinden,
wird als Oberflächenspannung oder Grenzflächenspannung bezeichnet.
Amphiphile Substanzen weisen eine sehr interessante Eigenschaft auf. Durch ihre
„doppelte“ Natur sind sie ideal geeignet, sich an der Grenzfläche zwischen pola-
ren Flüssigkeiten wie Wasser und apolarer Luft, oder Wasser und apolaren Flüs-
sigkeiten wie Öl, spontan zu verteilen. Dabei richten sie sich so aus, dass sie wie
im bekannten Kinderlied ihre polaren „Köpfchen“ in das Wasser, die „apolaren
Schwänzchen“ jedoch in die Luft oder die apolare Phase orientieren (Abb. 10.16).
Abb. 10.16: Spontane Ausrichtung von Phospholipid-Molekülen an der Grenzfläche zwischen Wasser
und Luft/Öl
10.2 Grenzflächenaktivität und Biomembranen 373
An der Grenzfläche zwischen polarem Wasser und apolarer Luft oder apolarem
Öl bildet sich so ein monomolekularer, geordneter Film der amphiphilen Sub-
stanz. Dadurch bleibt den Wassermolekülen „erspart“, den energetisch ungüns-
tigen Platz in der Grenzfläche zu besetzen. Die Oberflächenspannung wird dras-
tisch verringert. Besonders einfach und eindrucksvoll sehen wir diesen Effekt der
Grenzflächenaktivität von amphiphilen Substanzen beispielsweise bei „Seifen-
blasen“, die wir mit etwas Geschick zu beachtlich großen Gebilden mit entspre-
chend großer Oberfläche aufblasen können.
Eine Konsequenz dieser spontanen Selbstorganisation amphiphiler Moleküle
und der damit einhergehenden Absenkung der Oberflächenspannung von Wasser
ist die Waschwirkung der Seifen, die in Abb. 10.17 demonstriert wird.
Abb. 10.17: Phospholipid-Moleküle umhüllen ein Fetttröpfchen und machen es besser emulgierbar
Abb. 10.19: Gramicidin, ein Protein-Kanal durch die Lipid-Doppelschichtmembran (Details sind im
Text näher erklärt). Die für die Erstellung dieser Abbildung erforderlichen Moleküldaten verdanke ich
dem reichhaltigen Material, das von Eric Martz [[email protected]] im WWW zur Verfügung
gestellt wird. Siehe auch http://www.umass.edu/microbio/rasmol/scrip mz.htm.
weder an die Membran an der Innen- oder Außenseite angelagert sind oder
auch durch die Membran hindurchreichen, mit Oligo- und Polysacchariden und
anderen Bestandteilen zusammenspielen, um die Zelle oder ihre Kompartimente
abzugrenzen und gleichzeitig die Kommunikation der voneinander abgegrenzten
Bereiche sicher zu stellen.
376 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Freie Radikale (siehe auch Kapitel 3, Abschnitt 8 „Sauerstoff – ein Gas mit vielen
Gesichtern“) sind Partikel – Moleküle, Molekülfragmente oder auch Ionen –, die
ungepaarte Elektronen aufweisen, meist weil ihre Elektronenanzahl ungerade ist.
Sie sind häufig extrem reaktive, ja geradezu aggressive Moleküle, die mit allen
möglichen anderen Substanzen reagieren.
Die essentiellen mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die für die Ausbildung der
Biomembranen unentbehrlich sind, sind für den Angriff Freier Radikale besonders
empfindlich. Da die durch den Angriff Freier Radikale auf mehrfach ungesättigte
Fettsäuren eingeleitete Reaktionssequenz, die Lipidperoxidation, einerseits für
radikalische Reaktionen typisch ist, andererseits gravierende Auswirkungen auf
die Gesundheit haben kann, wollen wir sie etwas genauer studieren.
L − H + R• → R − H + L• Startreaktion
Durch diese initiale Reaktion wird zwar das ursprüngliche Radikal zu einem
gewöhnlichen Molekül „befriedet“, aber aus L − H ist ein neues Radikal – ein
Lipid-Radikal L• – entstanden. Dieses reagiert vorzugsweise mit dem in Zel-
len immer präsenten Sauerstoff zu einem aggressiven Lipid-Peroxyl-Radikal
L − O − O•, welches nun die Rolle des ursprünglichen Startradikals einnimmt. Es
beraubt ein weiteres L − H seines allylischen Wasserstoffs, wobei wiederum ein
Lipid-Radikal L• entsteht, welches mit Sauerstoff ein neues Lipid-Peroxyl-Radikal
bildet, usw.:
L• + O2 → L − O − O• Kettenreaktion 1
L − O − O• + L − H → L − O − OH + L• Kettenreaktion 2
Merke: Ein einziges Radikal R kann eine Vielzahl von L − H - Molekülen chemisch modifi-
zieren.
L• + L• → L − L Abbruchreaktion 1
L• + L − O − O• → L − O − O − L Abbruchreaktion 2
Daneben hat uns die Evolution mit verschiedenen Abwehrwaffen gegen diese
gefährlichen Aggressoren ausgerüstet. Einige so genannte antioxidative Schutz-
enzyme wie die Superoxid-Dismutase und die Katalase sind in Kapitel 3,
Abschnitt 8 „Sauerstoff – ein Gas mit vielen Gesichtern“ erwähnt.
Lipid-Doppelschichtmembranen, die – wie oben gezeigt – besonders sensibel
sind, werden hauptsächlich durch das fettlösliche Vitamin E vor dem Angriff freier
Radikale geschützt. Wie in Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vitamine und Coenzyme“
ausführlicher dargestellt ist, ist Vitamin E der Sammelname für eine Gruppe von
Substanzen, die Tocopherole. Einen Vertreter, das -Tocopherol, zeigt Abb. 10.21.
Abb. 10.23: Das -Tocopheryl-Radikal wird durch Vitamin C zu -Tocopherol rückverwandelt; das
entstehende Ascorbyl-Radikal wird in einer Redox-Disproportionierung zu Ascorbinsäure und Dehy-
droascorbinsäure umgewandelt.
Elektronen mehr aufweisen (siehe auch Kapitel 11, Abschnitt 1 „Vitamine und
Coenzyme“). Abb. 10.23 demonstriert diese Reaktionsfolge.
380 10. Energiespeicher, Hormone und Biomembranen: Die Lipide
Eine gesunde Lebensführung – viel Obst und Gemüse in der Ernährung, Bewe-
gung und Sport, Verzicht auf Rauchen – kann wesentlich dazu beitragen, dass
diese natürlichen antioxidativen Schutzsysteme ausreichen, unsere Zellen und
unsere Biomembranen gegen Freie Radikale, denen wir immer ausgesetzt sind,
nachhaltig zu schützen und die Gefahren für radikalbedingte Erkrankungen wie
Atherosklerose und Krebs, aber auch für vorzeitiges Altern, zu minimieren.
11
Fallbeschreibung
Ein 55 Jahre alter Mann mit allen Anzeichen von Verwahrlosung und schwe-
rem Alkoholismus wird mit schlechtem Allgemeinzustand, Herzfunktions-
11
störungen, Muskelschwund und neurologischen Auffälligkeiten in der Not-
aufnahme eines Krankenhauses eingeliefert und verstirbt noch in derselben
Nacht. Die pathologische Abklärung führt zur Diagnose Wernicke-Korsakow-
Enzephalopathie.
Der Mangel an welchem Vitamin ist hauptverantwortlich für diesen
Zustand?
Welche Reaktionen werden durch dieses Vitamin katalysiert und wie erklä-
ren sich die Symptome der schweren Erkrankung?
Lehrziele
Zum Verständnis dieser Fallbeschreibung benötigen wir Kenntnisse über die
Vitamine und ihre vielfältigen biochemischen Funktionen, die sich aus ihrer
Rolle als Coenzyme für wichtige Stoffwechselwege ergeben.
Bereits in der Antike war bekannt, dass die Ernährung die Gesundheit beein-
flusst. Lebertran etwa wurde zur Heilung der Nachtblindheit eingesetzt. Im
18. Jahrhundert wurde Lebertran auch zur Behandlung der Rachitis verwendet,
und seit dem ausgehenden Mittelalter war bekannt, dass der Saft von Limonen
die gefürchtete Seefahrer-Mangelkrankheit Skorbut verhindern kann.
Der strenge Nachweis, dass Tiere mehr benötigen als Protein, Fett und Koh-
lenhydrate, wurde erst 1912 durch den schottischen Biochemiker Sir Frederik
Gowland Hopkins geführt. Im selben Jahr wurde von dem polnischen Biochemi-
ker Casimir Funk gezeigt, dass ein Aminkonzentrat aus Reishülsen und -schalen
die Mangelerkrankung Beriberi heilt.
Diese Tatsache stand Pate bei der Namensgebung „Vitamin“ (lateinisch vita
= das Leben; Vitamin: das „lebensnotwendige Amin“). Der Begriff war ursprüng-
lich reserviert für die später Thiamin genannte Verbindung, die heute auch als
Vitamin B1 bezeichnet wird. Er wurde übertragen auf eine Vielzahl von Verbin-
dungen mit den unterschiedlichsten chemischen Strukturen – auch solchen, die
keine Aminogruppe besitzen.
Seit den Forschungen der Biochemiker Otto Warburg in Deutschland und
Richard Kuhn in Österreich in den 1930er Jahren wissen wir:
Merke: Vitamine sind in den meisten Fällen integrierende Bestandteile von Enzymen, so
genannte Coenzyme.
Warum TPP als Überträger von Aldehydgruppen fungieren kann und wie sein
Beitrag bei der oxidativen Decarboxylierung von Pyruvat, dem Endprodukt der
Glycolyse, aussieht, wird weiter unten erläutert, wenn wir die Chemie einiger
weiterer Vitamine und Coenzyme kennen.
Ein Mangel an Thiamin führt beim Menschen zur Krankheit Beriberi, bei
Vögeln zu Polyneuritis. Thiamin ist besonders in Getreidekeimlingen und Hefen
enthalten.
Abb. 11.2: Riboflavin und die Flavinnucleotide Flavinmononucleiotid (FMN) und Flavin-adenin-
dinucleotid (FAD).
tid (NAD+ ), welches wir als zelluläre Speicherform von Wasserstoff ansehen.
Abb. 11.3 stellt die Struktur vor.
NAD+ und NADP+ sind an vielen Enzymen, die Redoxreaktionen katalysieren,
als Coenzyme beteiligt. NAD+ ist meist an Abbaureaktionen (katabolen Reaktio-
nen) beteiligt, NADP+ meist an Aufbaureaktionen (anabolen Reaktionen).
Ein Mangel an Nicotinsäure führt beim Menschen zur Pellagra, einer Haut- und
Darmerkrankung, beim Hund zur Melanoglossie (englisch black tongue). Der
Mangel ist durch den Verzehr von Fleisch, Milch und Eiern leicht zu vermeiden.
Tierisches Eiweiß enthält nämlich relativ viel Tryptophan, und diese Aminosäure
kann in Mangelsituationen zu Nicotinsäure umgebaut werden.
Das Zeichen ∼ bedeutet eine aktivierte, energiereiche Bindung. Wir sehen, dass
zum Aufbau des aktiven Esters Energie in Form von ATP verbraucht wird. ATP
wird in AMP und Pyrophosphat, kurz PP, gespalten. Diese „Investition“ ist not-
wendig, damit anschließend die Acetylierung des Cholins erfolgen kann:
In Abb. 11.5 sehen wir die Strukturen von Cholin und Acetylcholin etwas deut-
licher.
Wenn wir tierische Nahrung zu uns nehmen, so werden die mit Biocytin beladenen
tierischen Enzyme, die Carboxylasen, normalerweise in unserem Verdauungs-
trakt abgebaut. Biocytin wird enzymatisch in Biotin und Lysin gespalten. Beide
Verbindungen werden resorbiert und stehen unseren Zellen zur Verfügung.
Interessanterweise befindet sich im Eiklar von Vogeleiern, also auch im Hüh-
ner-Eiklar, ein Protein, das Avidin, welches begierig Biotin bindet und damit dem
Stoffwechsel entzieht. Das Protein dürfte eine Schutzfunktion gegen bakterielle
Infektionen von Eiern ausüben, da es den Bakterien das notwendige Biotin ent-
zieht. Der Effekt ist natürlich nur in rohem Eiweiß feststellbar. Gekochtes oder
gebratenes Eiweiß ist denaturiert, und die Eiklar-Proteine können ihre Funktion
nicht mehr ausüben.
Die Funktion der Folsäure ist die Übertragung von C1 -Gruppen, zum Beispiel
von Methylgruppen. Dabei sind verschiedene Derivate der Folsäure, wie zum Bei-
spiel die in der Abbildung auch gezeigte N5 ,N10 -Methylen-tetrahydrofolsäure,
wichtig.
Abb. 11.10: Die molekulare Ähnlichkeit einer „richtigen“ und einer mit p-Amino-benzen-
sulfonsäure („Sulfanilsäure“) synthetisierten „falschen“ Tetrahydrofolsäure.
Abb. 11.11: Liponsäure in der reduzierten Dithiol-Form (rechts oben) und in der oxidierten Disulfid-
Form (links oben) und die Struktur von —-N-Lipolysin in der oxidierten Disulfid-Form (unten).
Liponsäure bzw. Lipolysin sind als Coenzyme in ein fein abgestimmtes Netz-
werk von Reaktionen eingebunden, welches auch andere, von uns schon
besprochene Vitamine bzw. Coenzyme und ihre jeweiligen Enzyme umfasst.
Ohne in die genauen biochemischen Details dieser Reaktionen einsteigen zu
wollen, können wir doch sehr schön erkennen, wie die einzelnen Coenzyme
miteinander kooperieren und ihre Substrate „bearbeiten“ (Abb. 11.12).
Dieses Formelschema zeigt den Beginn einer wichtigen Reaktionssequenz.
Was geschieht hier?
Die -Ketocarbonsäure Pyruvat wird decarboxyliert. Dies geschieht unter
dem Einfluss von Vitamin B1 (TPP), welches den nach Abspaltung von Kohlen-
dioxid aus dem Pyruvat entstehenden Acetaldehyd an der Stelle des aciden
H-Atoms addiert. Nun tritt —-N-Lipolysin in der Disulfid-Form auf den Plan
und „schnappt“ sich den Acetaldehyd, oxidiert ihn in einem Schritt zur Essig-
säure und wird dabei selbst zur Dithiol-Form reduziert, die aber sofort mit der
entstandenen Essigsäure zum aktivierten Thioester weiterreagiert.
An diese Sequenz schließen sich weitere Schritte an: Der entstandene
Thioester reicht den Acetylrest an Coenzym A weiter, welches dadurch zu
Acetyl-CoA wird. Das nun übrig gebliebene —-N-Lipolysin in der Dithiol-Form
wird durch FAD (Vitamin B2 ) oder auch NAD+ wieder zur Disulfid-Form re-
11.1 Vitamine und Coenzyme 397
Abb.11.12: Das Zusammenspiel verschiedenerVitamine und Coenzyme bei der oxidativen Decar-
boxylierung von Pyruvat
oxidiert und steht für einen neuerlichen Durchlauf der Reaktion zur Ver-
fügung. Das dadurch entstandene FADH2 wird durch NAD+ zu FAD rege-
neriert. Das so entstandene NADH aber kann direkt in die Atmungskette ein-
gespeist werden. Acetyl-CoA hingegen steht für die Startreaktion des Citrat-
zyklus zur Verfügung oder kann für andere biochemische Synthesen verwen-
det werden.
Wir sehen an diesem einen Beispiel sehr schön, wie unglaublich raffiniert
und aufeinander abgestimmt solche biochemischen Reaktionen ablaufen.
Ascorbinsäure (Vitamin C)
Ascorbinsäure ist ein Kohlenhydrat. Es ist das Lacton – das ist ein intramolekularer
Ester – der L-2-Keto-gulonsäure (Abb. 11.13).
Seine Biosynthese erfolgt durch Oxidation des Lactons der L-Gulonsäure,
L-Gulono-lacton, durch das Enzym L-Gulonolacton-Oxidase. Bei Primaten ein-
schließlich des Menschen und beim Meerschweinchen fehlt dieses Enzym. Für
diese Organismen ist Ascorbinsäure daher ein Vitamin.
398 11. Ohne sie geht gar nichts: Vitamine und Coenzyme
Ascorbinsäure ist ein sehr starkes Reduktionsmittel. Durch Tautomerie liegt sie
bevorzugt in der Endiol-Form vor, die zwei OH-Gruppen direkt an einer Dop-
pelbindung enthält. Daher kommt die Bezeichnung: „En-“ steht für die Doppel-
bindung, „-diol“ für zwei alkoholische OH-Gruppen. Solche Endiole sind generell
stark reduzierend. Wie Abb. 11.13 zeigt, kann die Endiol-Form leicht zur Dehydro-
ascorbinsäure oxidiert werden.
Die Vitaminwirkung der Ascorbinsäure ist bereits seit Jahrhunderten bekannt.
Als Anti-Skorbut-Vitamin wurde sie bereits sehr früh in der Schifffahrt in Form
von Zitrusfrüchten eingesetzt. Im Namen Ascorbinsäure klingt diese schon lange
bekannte Wirkung der Verbindung auch heute noch nach. Neben seiner bekann-
ten Wirkung als wichtigstes Antioxidans im wässrigen Milieu des Organismus
ist Ascorbinsäure auch Coenzym für die Oxidation der Aminosäure Prolin zu
Hydroxyprolin, welches für die Kollagenbildung wichtig ist. Die Mangelkrank-
heit Skorbut ist deshalb gekennzeichnet durch schwere Störungen des Bindege-
webestoffwechsels, da Kollagen nicht mehr ausreichend gebildet werden kann.
Es kommt zu Zahnfleischbluten, Zahnausfall, gestörter Wundheilung sowie zu
Knochen- und Gelenksveränderungen.
Retinol (Vitamin A)
Vitamin A ist wie die Vitamine D, E und K ein fettlösliches Vitamin. Wie die
anderen drei Vertreter gehört es in die Klasse der Isoprenoide.
Vitamin A existiert in zwei Formen: Vitamin A1 (Retinol) finden wir bei Säugern
und Meeresfischen, Vitamin A2 (Retinol2) bei Süßwasserfischen. Wie Abb. 11.14
zeigt, besteht der Unterschied in einer Doppelbindung. Vitamin A und seine Vor-
läufersubstanz -Carotin sind in grüner und gelber Pflanzenkost enthalten.
-Carotin ist ein Tetraterpen. Die Retinole sind Diterpen-Verbindungen.
Vitamin A hat vielfältige biologische Funktionen, die noch nicht in allen Einzel-
heiten verstanden sind. Ein Mangel an Vitamin A führt unter anderem zu Haar-
ausfall, Sterilität, Degeneration der Nieren und von Drüsen, sowie zu Hautverän-
derungen.
Ein Zuviel an Vitamin A, eine Hypervitaminose, ist toxisch und führt zu Kno-
chenfragilität und zu abnormer Entwicklung von Föten. Dazu kann es unter
Umständen tatsächlich kommen, wenn sich Personen sehr stark von entsprechen-
11.1 Vitamine und Coenzyme 399
Abb. 11.14: Retinol 1 und 2 unterscheiden sich durch eine Doppelbindung (Pfeil); beide sind Spalt-
produkte des -Carotins
der Kost ernähren und zusätzlich Vitamin-A-Präparate zu sich nehmen. Als fett-
lösliches Vitamin wird Vitamin A nicht über den Harn eliminiert und kann sich
im Lipid-Milieu des Körpers stetig anreichern, bis toxische Wirkungen auftreten.
Von einem Mangel an Vitamin A hauptbetroffen sind die Augen. Bei Klein-
kindern und Jungtieren kommt es zu Xerophthalmie, die zum völligen Erblin-
den führen kann, bei Erwachsenen zur Nachtblindheit. Im Gegensatz zu ande-
ren Wirkungen des Vitamins kennen wir die molekularen Details seiner Funk-
tion beim Sehvorgang gut. Es wirkt bei der Transformation von Lichtenergie in
Nervenreize mit. In den Stäbchenzellen der Netzhaut des Auges befindet sich
das Enzym Rhodopsin, welches aus dem Proteinanteil Opsin und dem Vitamin
A-Abkömmling 11-cis-Retinal besteht. Trifft Lichtenergie auf der Netzhaut auf, so
wandelt sich 11-cis-Retinal in all-trans-Retinal um. Dabei kommt es aufgrund der
Strukturänderung des Retinals zu einer Konformationsänderung des Rhodopsins
in den Membranen der Stäbchen-Sehzellen. Dies wiederum bewirkt einen Aus-
strom von Ca2+-Ionen und dadurch einen Nervenreiz.
Calciferol (Vitamin D)
Die Vitamine der D-Klasse werden auch als antirachitische Vitamine bezeich-
net. Eine reiche Quelle an diesen Substanzen ist der Lebertran der Meeresfische.
Beträchtliche Mengen finden sich auch in der Milch, in Eiern und in Speisepilzen.
Die Calciferole leiten sich von Steroiden ab. In tierischen und menschlichen
Geweben fungiert ein Abkömmling des Cholesterins, das 7-Dehydrocholesterin,
als Vorläufersubstanz (Abb. 11.15).
7-Dehydrocholesterin (Provitamin D3 ) kann in der Leber synthetisiert werden.
Im eigentlichen Sinn sind Calciferole daher keine Vitamine, sondern können auch
zu den Hormonen gerechnet werden. Die Calciferole bilden sich aus den entspre-
chenden Vorstufen, den Provitaminen D, durch Bestrahlung mit ultraviolettem
Licht. Dabei wird der Ring B des Steran-Skeletts gespalten. Daher ist die wich-
tigste Produktionsstätte dieser Vitamine von Sonnenlicht bestrahlte Haut.
400 11. Ohne sie geht gar nichts: Vitamine und Coenzyme
Abb. 11.15: Die strukturelle Ähnlichkeit von Vitamin D3 mit 7-Dehydro-cholesterin. Die rechte Formel
von Cholecalciferol zeigt die real vorliegende Struktur; die linke dient zur Veranschaulichung der
Ähnlichkeit mit 7-Dehydro-cholesterin.
Die Speicherung erfolgt hauptsächlich in der Leber. Ein Zuviel ist toxisch. Wie
bei Vitamin A kommt es bei Hypervitaminose D zu Brüchigkeit der Knochensub-
stanz durch Calcium-Entzug. Ein Mangel an Vitamin D führt zu Rachitis, einer
schweren Mineralisierungsstörung des Knochenskeletts. Bei Kindern und in der
Schwangerschaft und Lactationsperiode ist ein erhöhter Bedarf an diesem Vitamin
gegeben.
Die Funktion der D-Vitamine besteht im Transport und der Ablagerung von
Ca2+-Ionen sowie der Regulation der extrazellulären Konzentration dieser Ionen.
Die Regulationsmechanismen sind komplex, aber gut bekannt.
Cholecalciferol wird in der Leber zu 25-Hydroxy-cholecalciferol hydroxyliert.
Dieses wird in der Niere in 1,25-Dihydroxy-cholecalciferol (Abb. 11.16) trans-
formiert. Die Niere sezerniert diese aktive Substanz wie ein Hormon (Botenstoff).
Es entfaltet seine Wirkung an entfernten Zielorganen (Dünndarm und Knochen).
Tocopherol (Vitamin E)
Die Tocopherole sind eine Gruppe von Substanzen, die aus einem Chroman-
Ring und einer isoprenoiden Seitenkette bestehen. Sie werden ausschließlich in
Pflanzen synthetisiert. Keimender Weizen ist besonders reich an Tocopherolen.
Tocopherole können als Reduktionsmittel schädliche Stoffe, insbesondere freie
Radikale, entgiften und unschädlich machen. Sie sind sehr wirksame Antioxidan-
tien. Insbesondere verhindern sie die so genannte Lipidperoxidation, die radika-
lisch ablaufende Oxidation mehrfach ungesättigter Fettsäuren (Siehe Kapitel 10,
Abschnitt 3 „Kleine Ursache – große Wirkung: Die radikalische Lipidperoxida-
11.1 Vitamine und Coenzyme 401
tion“). Sie gelten daher als Substanzen, die die Atherosklerose, die krankhafte
Ablagerung von oxidierten Fettsäuren in den Arterien und die damit verbun-
dene entzündliche Schädigung dieser Gefäße, die zu Herzinfarkten oder Schlag-
anfällen führen kann, wirksam verhindern können.
Abb. 11.17 zeigt die Struktur eines Vertreters, des -Tocopherols.
Abb. 11.17: a-Tocopherol, ein Vertreter der Vitamin E-Substanzen, entählt einen Chroman-Ring und
einen „Schwanz“ von variabler Länge.
Der lange, apolare Teil rechts besteht aus drei Isopren-Resten und dient als lipo-
philer „Anker“ zur Einbettung des Moleküls in der Lipid-Doppelschichtmembran.
Bei Mangel an Vitamin E kommt es zu Unfruchtbarkeit (bei Ratten), Degene-
ration der Nieren, Lebernekrosen, Dystrophie oder Verkümmerung der Skelett-
muskulatur.
Phyllochinone (Vitamin K)
Die Phyllochinone leiten sich vom 2-Methyl-1,4-naphthochinon ab. Natürlich vor-
kommende Phyllochinone tragen an Position 3 des Naphthochinon-Systems eine
lange isoprenoide Seitenkette (Abb. 11.18)
Sie sind für die Biosynthese und Sekretion der für die Blutgerinnung notwen-
digen Gerinnungsfaktoren VII, IX und X und des Prothrombins verantwortlich.
402 11. Ohne sie geht gar nichts: Vitamine und Coenzyme
Abb. 11.18: Vitamin K (Phyllochinon) besteht aus einem Naphthochinon-System und einem Isopren-
„Schwanz“ von variabler Länge
12
Fallbeschreibung
Eine 40 Jahre alte Frau kommt zur regelmäßigen Nachuntersuchung nach
einer Nierentransplantation in die nephrologische Ambulanz. Im Rahmen
12
der routinemäßigen Laboruntersuchung wird eine Plasmakonzentration von
Creatinin von 195 ‹mol/L festgestellt. Da diese Konzentration gegenüber der
Voruntersuchung vor einem Monat mit damals 96 ‹mol/L deutlich angestie-
gen ist, wird eine chronische Transplantatabstoßung vermutet.
Lehrziele
Creatinin ist ein Abbauprodukt des Kohlensäurederivats Creatin. Zu dieser
Substanzgruppe zählt unter anderem auch Harnstoff, ebenfalls ein wichtiges
harnpflichtiges Ausscheidungsprodukt. Da die Niere für die Ausscheidung
dieser Verbindungen verantwortlich ist, werden Messungen der Konzentra-
tion insbesondere von Creatinin gerne für rasche Abschätzungen der Nieren-
funktion herangezogen.
12.1 Kohlensäure-Derivate
Lehrziel
Von der Kohlensäure leiten sich einige organische Derivate ab, die im Organismus wichtige
Funktionen haben und die uns auch in der alltäglichen medizinisch-chemischen Labordiagnostik
begegnen.
Wie die Carbonate sind die Salze der Carbamidsäure, die Carbamate, stabil,
ebenso ihre Ester, die Urethane (Abb. 12.2).
Harnstoff, das Diamid der Kohlensäure, ist das wichtigste und mengenmäßig
bedeutendste Endprodukt des Stoffwechsels der Proteine der Säugetiere und
des Menschen. Harnstoff wird, da er leicht wasserlöslich ist, über den Harn aus-
geschieden.
Warum ist das Endprodukt des Abbaus der Proteine Harnstoff – und nicht Stickstoff-
oxid?
Ureide
Ureide sind Derivate des Harnstoffs, in welchen eine oder beide NH2 -Gruppen
durch einen Acylrest substituiert sind. Medizinisch besonders interessant ist das
cyclische Ureid der Malonsäure, die Barbitursäure. Abb. 12.3 zeigt ihre Bildung
und beschreibt auch die Keto-Enol-Tautomerie, die die Ausbildung eines aroma-
tischen Ringes ermöglicht.
12.1 Kohlensäure-Derivate 407
Ein biologisch sehr wichtiges Derivat des Guanidins ist Creatin (N-Methyl-gua-
nidino-essigsäure). In Form des Creatinphosphats, einer Verbindung aus Creatin
und Phosphorsäure, dient es zur Energiespeicherung im Muskel. Creatinphos-
phat ähnelt strukturell einem Säureanhydrid: Als Produkt aus dem Kohlensäure-
Derivat Creatin und der Phosphorsäure enthält es eine sehr energiereiche Bin-
dung, die bei ihrer Aufspaltung durch Wasser viel Energie liefert (Abb. 12.6).
Creatinin als Abbauprodukt von Creatin fällt bei normaler Muskeltätigkeit pro
Tag in etwa gleich bleibender Menge an und wird über die Niere ausgeschieden.
12
Bei normaler Nierentätigkeit stellt sich deshalb ein Fließgleichgewicht zwischen
der Produktion und Ausscheidung der Substanz ein. Dieses äußert sich dadurch,
dass unter normalen Umständen die Plasmakonzentration von Creatinin ziemlich
konstant bleibt.
Creatinin-Konzentrationen im Plasma zwischen 50 und 100 ‹mol/L werden als
normal angesehen. Wenn jedoch die Nierenfunktion aufgrund von Erkrankungen
schwächer wird, so „staut“ sich Creatinin im Blut an, und seine Konzentration
steigt an.
Erhöhte Plasmakonzentrationen von Creatinin werden deshalb als leicht mess-
barer endogener, also vom Organismus selbst erzeugter, Indikator für die Quali-
tät der Nierenleistung sehr verbreitet eingesetzt. Allerdings muss hier kritisch
angemerkt werden, dass die Produktion von Creatinin von Faktoren wie Alter,
Geschlecht und Körpermasse maßgeblich beeinflusst wird. Creatinin wird auch
nicht ausschließlich durch reine passive Filtration in den Glomeruli der Niere
(glomeruläre Filtration) ausgeschieden, sondern kann je nach Konzentration in
den Nierentubuli zusätzlich aktiv sezerniert werden (tubuläre Sekretion), so dass
es kein reiner Indikator für die Filtrationsleistung der Nierenglomeruli ist.
Trotz dieser Schwächen wird die Creatinin-Bestimmung sehr häufig für eine
rohe Abschätzung der Nierenfunktion verwendet.
Wollen wir jedoch exaktere Ergebnisse, so müssen andere Verfahren der Nie-
renfunktionsmessung eingesetzt werden, zum Beispiel solche, die auf der Infusion
des Polyfructosans Inulin beruhen (siehe Kapitel 7, Abschnitt 1 „Mono-, Oligo-
und Polysaccharide“).
Die Patientin unseres Fallbeispiels hat eine seit der letzten Kontrollunter-
suchung deutlich erhöhte Plasmakonzentration von Creatinin. Dies deutet auf
410 12. Ausscheidungsmoleküle und Nierenfunktionsdiagnostik: Die Kohlensäure-Derivate
http://www.rcsb.org/pdb/
gelangen wir auf die Homepage der Protein Data Bank. Hier gibt es bereits sehr
viel Information. Am interessantesten für uns ist die Suchfunktion: Hier können wir
entweder einen Suchbegriff (keyword) eingeben, von dem wir annehmen, dass er
unser gesuchtes Protein gut charakterisiert, oder – wenn wir sie kennen - gleich die
so genannte pdb-ID, einen Code, der dieses Protein in der Datenbank identifiziert.
Verwendete Fachliteratur
Peter W. Atkins, Loretta Jones: Chemie – einfach alles. Wiley-VCH Verlag, Wein-
heim 2006, 2. Auflage
Timo Brandenburger, Tido Bajorat: Fallbuch Biochemie. Georg Thieme Verlag,
Stuttgart – New York 2006
Detlef Doenecke, Jan Koolman, Georg Fuchs, Wolfgang Gerok: Karlsons Bioche-
mie und Pathobiochemie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart – New York 2005,
15. Auflage
Jürgen Hallbach: Klinische Chemie für den Einstieg. Georg Thieme Verlag, Stutt-
gart – New York 2001
Florian Horn, Isabelle Moc, Nadine Schneider, Christian Grillhösl, Silke Berghold,
Gerd Lindenmeier: Biochemie des Menschen. Georg Thieme Verlag, Stuttgart –
New York 2005, 3. Auflage
Georg Löffler (Hrsg.), Petro E. Petrides (Hrsg.), Peter C. Heinrich (Hrsg.): Biochemie
und Pathobiochemie. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2007, 8. Auflage
Joachim Rassow, Karin Hauser, Roland Netzker, Rainer Deutzmann: Biochemie.
Georg Thieme Verlag, Stuttgart – New York 2006
Helmut G. Rennke, Bradley M. Denker. Renal Pathophysiology: the essentials.
Lippincott Williams & Wilkins, Baltimore – Philadelphia 2007, 2nd Edition
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