Freitag, 8. November 2024

Immer noch? Herbstfarben und Geschichten

 

Han Kang, die Gewinnerin des Nobelpreises für Literatur 2024 (Griechichstunden), hat ein sehr schönes und beachtenswertes Buch geschrieben. Es ist nicht ihr erster preisgekrönter Roman, und der, nicht nur für mich - viele Fragen aufwirft.

Ich meine das Buch „Die Vegetarierin“. Es ist in Deutschland zuerst 2016 bei Aufbau erschienen. Han Kang schreibt über eine junge Frau, die aufgrund ihrer augenscheinlichen „Normalität“ einen Ehemann findet, der genau diese Eigenschaften schätzt, sie braucht, um sein eigens Sein nicht in Frage stellen zu müssen.

Doch diese, seine Frau, entwickelt über Nacht, hervorgerufen durch einen Traum, einen kompromisslosen Vegetarismus, der ein Veganismus ist. Es gibt künftig keine tierischen Produkte mehr für sie und deshalb auch nicht für ihren Ehemann. Die gesamte Familie steht Kopf und will die Protagonistin zum einen überreden, zum anderen sogar zwingen, tierische Produkte zu verzehren. Das geht natürlich - und Göttin sei Dank - schief und wir tauchen ein in das neue Leben der Yong-Hye.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung wird auf dem Buchcover zitiert: "Ein seltsam verstörendes, hypnotisierendes Buch über eine Frau, die laut ihrem Ehemann an Durchschnittlichkeit kaum zu übertreffen ist- bis sie eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen."

 


Ich war sehr neugierig auf das Buch, weil ich die Perspektive, die Gedanken des Ehemannes so überaus grotesk empfunden habe. Wer, bitte! sucht sich einen Partner, eine Partnerin unter der Prämisse der Durchschnittlichkeit? Oder ist in einem dunkleren Zusammenhang Durchschnittlichkeit mit Gewohnheit, dem was wir kennen, zu assoziieren? Suchen wir immer nur das Bekannte? (Darauf gibt es Hinweise ...)  Stets darauf bedacht, keine Unsicherheiten zu erleben, um in uns selbst autark und zweifelsfrei zu bleiben?

Diese Fragen bewegen mich auch nach der Lektüre des Buches. Wer, welche bin ich? Welche Erwartungen lebe ich? Sind es meine Erwartungen oder die von Familien, von Gesellschaften, von Umständen? Finde ich Schnittstellen zu meinem Leben? Möchte ich die überhaupt finden?

*****

Im „Heute“ (was ist das schon?) stricke ich mehr oder weniger absichtsfrei, jedoch sehr gern beim Lesen bzw. Hören von Büchern. Ich bin keine geübte Strickerin und schaffe innerhalb eines Jahres nur ein Schultertuch und Teile eines Pullovers und kleinere Arbeiten. Die möchte ich heute gerne zeigen, als Ergänzung zu meinen Gedanken und meinen gelesenen Büchern. Es tut meinem Geist gut, dass meine Hände eine "Handarbeit" haben, die sie weg tragen aus meinen Gedanken. Mit jeder Masche, die gestrickt oder gehäkelt wird, werden sie ruhiger und ich entspanne meinen Geist, meinen Körper, mich.



Die Lyrik dazu, heute? 


Jeder Mensch erfindet sich früher oder später

eine Geschichte, die er für sein Leben hält,

oder eine ganze Reihe von Geschichten.


Max Frisch



Was könnt eine dem hinzufügen?  Hat dieses Thema eine Bedeutung für dich? Was sind deine Gedanken dazu? Magst du sie teilen?









Samstag, 2. November 2024

Ich liebe Romane,

doch ich bin keine Liebhaberin von Kurzgeschichten. Entweder ich habe mich gerade eingelesen in eine Situation und schon ist sie zu Ende - oder die Geschichte endet irgendwie unfertig - oder das Genre liegt mir einfach per se nicht. Das ist legitim und wird (für mich) bestätigt in dem kleinen Buch von Doris Dörrie "Mitten ins Herz" aus der Diogenes Bibliothek. Der kleine Band enthält die besten Kurzgeschichten von Doris Dörrie, lese ich auf dem Umschlag. Hmm, denke ich, wie wunderschön! Doch warum komme ich nicht hinein, in diese Welt, in die Welt der Kurzgeschichten. Was habe ich nicht verstanden?


Ich drehe das Büchlein um und lese einen so schönen und klugen Satz, der mich freut und mir doch wieder Lust macht, auf den Inhalt dieses Buches - und den ich gerne mit euch teilen möchte:


Doris Dörrie schreibt:

"Wir werden immer mehr reduziert auf ein vorgegebenes, genormtes Leben. Ich glaube, wir müssen uns wieder auf unsere eigene Kraft besinnen, was wir - nur für uns - wirklich sein möchten. Das ist schwer geworden, weil wir umzingelt sind von Bildern dafür." 

 

*****

Wie gerne möchte ich das. Ein nicht genormtes Leben leben, mich auf meine Kraft besinnen und darauf, was wichtig ist für mich. Ich möchte mir meine eigenen Bilder malen, die mir ein Gespür geben für das Wesentliche und die trotzdem meine Bilder sind, die mich begleiten, auf meinem Weg. 


 

 


 


Sonntag, 27. Oktober 2024

Geschichten

Es sind unsere Geschichten,

Die uns wieder erschaffen,

Wenn wir zerrissen, verwundet,

Ja, vernichtet sind.


Doris Lessing 22.10.1919 - 17.11.2013



Es sind aber auch die Geschichten anderer Menschen, die uns immer wieder berühren, faszinieren, in die Arme nehmen. Solche Geschichten habe ich bei Michiko Aoyama gefunden. In ihrem Buch "Frau Komachi emphiehlt ein Buch" lese ich von Menschen, die eher zufällig ein Gemeindezentrum in ihrem Wohnbezirk, irgendwo in Japan, betreten. Es gibt unterschiedliche Gründe für ihren Besuch aber alle landen in der kleinen Bibliothek, die von zwei Mitarbeiterinnen betreut wird. Eine Mitarbeiterin ist Frau Komachi, die es schafft, für jede und jeden das geeignete Buch zu empfehlen und damit eine Wende oder ein Umdenken, im Leben der jeweilig Lesenden zu schaffen. Der Anfang eines Beratungsgesprächs steht immer die Frage: "Was suchen sie?". Diese drei Worte denke ich mir irgendwann auch als Leserin. Was suche ich in einem Buch, in den Gedanken anderer. Und mit dieser Frage lande ich auch bei mir. Es sind die Geschichten, die ich suche, das erzählte Leben anderer Menschen. Ohne dass ich jetzt eine tiefgründige Analyse zum Geschichtenerzählen verfassen möchte, spüre ich das Lagerfeuer früherer Zeiten. Das Feuer, an dem Menschen sitzen und sich Geschichten erzählen.


Ich mag diese wie zufällig arrangierte Treffen der Protagonisten, über ihre eigene Geschichten hinaus. Sie treffen einander ohne Absicht und ergänzen die Geschichten der anderen Protagonisten. Mir gefällt sehr, wie Michiko Aoyama zeigt, dass wir alle miteinander verwoben sind ... ohne es zu merken. 



Gerade gelesen habe  Laura Imai Messinas neuen Roman. Er heißt: "Das Archiv der Herzschläge". 

Der Klappentext lautet:

"Im Südwesten Japans, liegt eine einzigartige kleine Insel: Teshima. An der Ostspitze der Insel steht ein Gebäude, in dem die Herzschläge von Zehntausenden von Menschen katalogisiert sind, lebenden und toten, die von den unterschiedlichsten Orten der Welt stammen. Es heißt Shinzō-on no Ākaibu, das Archiv der Herzschläge. Shūichi ist ein bekannter Illustrator, und hat eine Narbe in der Mitte seiner Brust. Er wird von seinem eigenen Herzschlag verfolgt, dem er jede Nacht lauscht, so als wolle er ihn an etwas erinnern, das teilweise im Dunkeln liegt. Als Shūichi nach dem Tod der Mutter in sein Elternhaus am Rande von Tokio zurückkehrt, macht er Bekanntschaft mit einem Jungen, der wie ein Schatten um das Haus schleicht. Shūichi und der achtjährige Kenta gehen eine außergewöhnliche Verbindung ein, die es ihnen ermöglicht, das Vergangene nicht länger zu verdrängen. Ihr Weg wird die beiden nach Teshima führen."


Eine bewegende Geschichte, die über Freundschaft und Liebe erzählt. Sie erinnert mich an meine eigene Kindheit. Besonders, wenn die Autorin ihren erwachsenen Helden sagen lässt: "Die Kindheit kann eine schreckliche Zeit sein". 

Es ist eine völlig subjektive Zeit, in der Individuen ihren eigenen Kosmos und den der anderen kennenlernen und erkunden. So entdecken Shūichi und Kenta Gemeinsamkeiten in ihrer beider Leben, die verblüffend sind. Der Erwachsene, der sich mit seinen Illustrationen einen Teil dieser magischen Kind-Zeit bewahrt hat und das Kind, das so viel mehr weiß, als es zunächst scheint. Mir gefällt, wie die Autorin Bezugspunkte zu ihren anderen Romanen knüpft. Besonders zu meinem Lieblingsbuch " Das verborgene Leben der Farben", über das ich hier ein wenig geschrieben habe. Wir treffen Protagonisten wieder, die dort schon eine Rolle gespielt haben und die Geschichten verweben sich in- und miteinander. 


*****

Am Ende meines Postings möchte ich noch ein Zitat widergeben, das Shūichi in sein Notizbuch schrieb:

"Man kann über seine glücklichen Tage nicht viel sagen", fuhr die Sphinx nach einem langen Schweigen fort, "das Glück hasst die Worte".


Friedrich Dürrenmatt

Das Sterben der Pythia









Mittwoch, 23. Oktober 2024

Haiku

Morgennebeldunst

Wie ein hingemalter Traum

geht ein Mensch vorbei.




Yosa Buson oder Yosa no Buson

1716 bis 1784

 

 

Sonntag, 20. Oktober 2024

Reden sie nie mit Unbekannten

schickt der Autor Michail Bulgakow seinem Roman "Meister und Margarita" voraus. Wieviel Wahrheit in diesen wenigen Worten stecken kann, wird schon bald deutlich. Bereits vor einigen Wochen habe ich diesen lesenswerten Roman aus dem Moskau der 1930er Jahre gelesen. Der ANACONDA Verlag schreibt auf der Rückseite des Buches das Folgende: Der Teufel sucht die Stadt heim und stürzt ihre Bewohner mit tatkräftiger Unterstützung seiner Zauberlehrlinge in ein Chaos aus Hypnose, Spuk und Zerstörung. Es ist die verdiente Strafe für Heuchelei, Korruption und Mittelmaß. Doch zwei Gerechte genießen des Teufels Sympathie: der im Irrenhaus sitzende Schriftsteller, genannt der "Meister" und Margarita, seine einstige Geliebte. Bulgakows Gesellschaftssatire aus der Sowjetzeit ist ein faustisch-fantastisches Meisterwerk. 


Wer kluge Dialoge mag, Freude hat an ausgefeilten Wortspielen, wird mit diesem Buch eine Reise in eine fantastische Welt antreten, die in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Kultstatus errungen hat. Eine Satire verwoben mit einer Liebesgeschichte, die sich um den Meister und Margarita dreht, entführt die Leserin und den Leser in eine Zeit, die vergangen ist, die aber dennoch aktuell zu sein scheint. 

Was war noch interessant? Die Ausstellung "Wrapped" in der Lüneburger Kulturbäckerei. Wer erinnert sich noch an Christo und Jeanne-Claude und deren Arbeiten, seine Verhüllungen rund um die Welt? Im Mittelpunkt der Ausstellung stand der Prozess dieser Kunst. Die jahrelangen Vorbereitungen, Skizzen, Collagen, Fotos usw. Die Idee war, Dinge des alltäglichen Lebens einzuhüllen, zu verpacken. Das ist dem Künstlerpaar wunderbar gelungen. Besonders monumentale Objekte, wie z.B. die Verhüllung des Reichstages und ganzer Landschaften, hat unglaublich viele Kunstinteressierte begeistert. Eine kleine, feine Ausstellung, die ich gerne besucht habe und in der ich ein wenig in Erinnerungen schwelgen durfte.