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Grundreaktionen

der Organischen Chemie

Dr. Holger Frauenrath

Freie Universität Berlin


Institut für Chemie
Takustraße 3
14195 Berlin

Oktober 2003
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis i

Abkürzungsverzeichnis iv

Vorwort v

1 Grundlagen 1

1.1 Klassifizierung organischer Reaktionen 2


1.1.1 Klassifizierung nach Reaktionstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.1.2 Klassifizierung nach Zwischenstufen/Übergangszuständen . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.1.3 Klassifizierung nach Substraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.4 Klassifizierung nach synthesestrategischer Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.2 Thermodynamik und Kinetik 6


1.2.1 Freie Enthalpie und chemisches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.2.2 Reaktionsprofile organischer Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2.3 Reaktivität und Selektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.3 Grundbegriffe der Stereochemie 20


1.3.1 Statische Stereochemie: Stereoisomerie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.3.2 Dynamische Stereochemie: Selektivität, Spezifität, Konvergenz . . . . . . . . . . . . . 22
1.3.3 Exkurs: Zeichnen von Sechsringen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

1.4 Substituenteneffekte 24

1.5 Säuren und Basen 25

i
2 Substitutionsreaktionen an Aliphaten 27

2.1 Nucleophile Substitutionen (SN ) 28


2.1.1 Einleitung und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.1.2 Reaktivität von Nucleophilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.1.3 Reaktivität von Abgangsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.1.4 Mechanismen nucleophiler Substitutionen (SN 1 und SN 2) . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.1.4.1 SN 2-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.1.5 Stereochemie bei nucleophilen Substitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.1.6 Konkurrenz- und Nebenreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
2.1.7 Synthetisch relevante nucleophile Substitutionsreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.1.7.1 Halogen-Nucleophile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.1.7.2 Sauerstoff- und Schwefel-Nucleophile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2.1.7.3 Stickstoff- und Phosphor-Nucleophile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.1.7.4 Kohlenstoff-Nucleophile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.1.7.5 Sonstige Nucleophile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

2.2 Radikalische Substitutionen (SR ) 51


2.2.1 Einleitung und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.2.2 Mechanismen radikalischer Substitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.2.3 Erzeugung von Radikalen unter milden Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.2.4 Regio- und Chemoselektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
2.2.5 Synthetisch relevante radikalische Substitutionsreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . 59
2.2.5.1 Funktionalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
2.2.5.2 Umfunktionalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2.5.3 Defunktionalisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3 Additionsreaktionen 69

3.1 Elektrophile Additionen (AE ) 70


3.1.1 Einleitung und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.1.2 trans-Additionen über kationische Zwischenstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
3.1.2.1 Mechanismen elektrophiler trans-Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
3.1.2.2 Regioselektivität elektrophiler trans-Additionen (Markovnikov-Regel) . . . . . 73
3.1.2.3 Stereoselektivität elektrophiler trans-Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . 74

ii
3.1.2.4 Synthetisch relevante elektrophile trans-Additionen . . . . . . . . . . . . . . . 78
3.1.3 Elektrophile cis-Additionen mit konzertierten Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . 82
3.1.3.1 Stereoselektivität bei elektrophilen cis-Additionen . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.1.3.2 Hydroborierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
3.1.3.3 Katalytische cis-Dihydroxylierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.1.3.4 Epoxidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
3.1.3.5 Katalytische Hydrierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

3.2 Radikalische Additionen (AR ) 92


3.2.1 Mechanismus radikalischer Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
3.2.2 Regioselektivität radikalischer Additionen (anti-Markovnikov) . . . . . . . . . . . . . 92
3.2.3 Stereoselektivität radikalischer Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.2.4 Beispiele für radikalische Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

3.3 Nucleophile Additionen 95


3.3.1 Mechanismus nucleophiler Additionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
3.3.2 Michael-Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

4 Eliminierungen 97

4.1 H,X-β-Eliminierungen 98
4.1.1 Einleitung und Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
4.1.2 Mechanismen von H,X-β-Eliminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
4.1.2.1 E1 -Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
4.1.2.2 E1,cb -Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
4.1.2.3 E2 -Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
4.1.2.4 Vergleich der Mechanismen der H,X-Eliminierung . . . . . . . . . . . . . . . . 106
4.1.2.5 Pyrolytische H,X-β-Eliminierungen über zyklische Übergangszustände . . . . 107
4.1.3 Regioselektivität von Eliminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
4.1.4 Stereoselektivität von Eliminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

4.2 X,Y-β-Eliminierungen 112

iii
Abkürzungsverzeichnis

iv
Vorwort

v
Teil 1

Grundlagen

1
1.1 Klassifizierung organischer Reaktionen

Eine Klassifizierung organischer Reaktionen kann nach unterschiedlichsten Aspekten erfolgen:

• nach dem Reaktionstypus, d. h. der Art der topologischen Veränderungen im Produkt gegenüber
dem Substrat,

• nach der Art der reaktiven Zwischenstufen (oder Übergangszustände).

• nach der Struktur der Substrate und ihrer entscheidenden Funktionalität.

• nach der synthesestrategischen Aufgabe der Reaktion.

Die für diese Vorlesung gewählte Einteilung ist ein Gemisch aus den genannten Kategorisierungen. Es erfolgt
eine grobe Einteilung sowohl nach Reaktionstypen (Substitution, Addition, Eliminierung) als auch nach
Substraten (Aliphaten, Aromaten, Carbonylverbindungen). Eine weitere Unterteilung erfolgt dann nach
der Art der reaktiven Zwischenstufen (oder Übergangszustände). Jede mögliche Einteilung ist willkürlich
und führt zu Überschneidungen.

1.1.1 Klassifizierung nach Reaktionstypen

Substitutionsreaktionen (S). Substitutionsreaktionen sind Reaktionen, bei denen ein Molekülfragment


X durch ein anderes Molekülfragment Y ausgetauscht wird. Dabei wird (synchron oder nacheinander in
austauschbarer Reihenfolge) eine chemische Bindung zwischen dem Substratrest und X gebrochen und eine
neue Bindung zwischen Y und dem Substratrest geknüpft. Im Edukt hat sich im Vergleich zum Produkt
die Hybridisierung nicht geändert. Die Umkehrung einer Substitutionsreaktion ist wiederum eine Substitu-
tionsreaktion.

R1 R1
X R3 + Y R3 Y + X
2
R R2

Additionsreaktionen (A). Additionsreaktionen sind Reaktionen, bei denen zum Substrat zwei Mole-
külteile X und Y hizugefügt werden. Bei geeigneter Struktur des Fragments X kann auch die Addition
nur dieses Fragments an zwei benachbarte Zentren im Substrat erfolgen. Im Unterschied zu Substituti-
onsreaktionen, wo eine Bindung durch eine andere ersetzt wird, werden hier in beiden Fällen zwei neue
Bindungen geknüpft. Das Substrat muss dazu die Möglichkeit bieten. Additionsreaktionen finden deswe-
gen üblicherweise an Olefinen oder Acetylenen statt, wobei sich die Hybridisierung ändert. Sie sollten aber

2
auch an cyclischen Verbindungen unter Ringöffnung möglich sein. Die addierten Molekülteile X und Y kön-
nen im einfachsten Fall aus einer Verbindung X-Y stammen. Sie können aber auch nur Molekülteile einer
komplizierteren Verbindung sein, oder gar aus unterschiedlichen Reagenzien stammen.

R3 R3
X
R1 +X +Y R1
R4 R4
2 2
Y
R R

R3 R3
X
R1 +X R1
R4 R4
2 2
R R

R1 R3 +X +Y R1 R3
R2 R 4 2
R X Y R4

Eliminierungen (E). Eliminierungsreaktionen sind die Umkehrung von Additionsreaktionen. Es wer-


den also aus einem Molekül zwei Molekülfragmente X und Y entfernt. Üblicherweise stehen die beiden
Fragmente vicinal zueinander, und die beiden frei werdenden Valenzen werden durch Ausbildung einer
Doppelbindung gesättigt. Solche sogenannten β-Eliminierungen sind bei weitem am häufigsten. Es sind
aber auch α-Eliminierungen bekannt, bei denen beide Fragmente geminal am gleichen Kohlenstoffatom
sitzen, wobei Carbene erzeugt werden, sowie seltener γ-Eliminierungen unter Ringschluss.

Y R3
R1
R2 R1 +X +Y
4
R3 R4
R
X R2

X
+X +Y
R2 1 Y R1 R2
R

R1 R3 R1 R3 + X + Y
2 4
R X Y R R2 R4

Umlagerungsreaktionen (R). Bei Umlagerungsreaktionen (“rearrangements”) werden im Unterschied


zu allen anderen Reaktionstypen weder Molekülfragmente hinzugefügt noch entfernt. Es findet lediglich eine
Änderung der Konnektivität der Atome im Produkt im Vergleich zum Substrat statt. Damit verbunden
kann auch eine Änderung der Hybridisierung stattfinden. Sehr oft finden Umlagerungen zusammen mit
anderen Reaktionen statt, die die eigentliche Umlagerung einleiten oder abschließen.

R2 R2
X R3 X R3
R1 Y Y
R1

3
Redoxreaktionen. Redoxreaktionen in der Organischen Chemie sind am schwierigsten zu systematisie-
ren. In aller Regel ändert sich die Oxidationsstufe eines Kohlenstoffatoms, seltener eines Heteroatoms. Damit
verbunden ist in jedem Fall eine Umwandlung von funktionellen Gruppen (Olefine in Alkane, Alkohole in
Carbonylverbindungen etc.), oft einhergehend mit einer Änderung der Hybridisierung. Mechanistisch aber
sind sehr viele Redoxreaktionen, bei den nicht direkt Elektronen übertragen werden, Substitutions- bzw.
Additionsreaktionen an Aliphaten, Olefinen, Carbonylverbindungen oder Aromaten und werden deswegen
in den jeweiligen Abschnitten besprochen.

1.1.2 Klassifizierung nach Zwischenstufen/Übergangszuständen

Reaktionen eines bestimmten Reaktionstypus’ können über unterschiedliche Reaktionswege ablaufen. Der
wesentliche Unterschied besteht in der Natur der beteiligten reaktiven Zwischenstufen oder Übergangszu-
stände. Man unterscheidet folgende Fälle.

Polare Mechanismen (N oder E). Reaktionswege, die über echte kationische, anionische oder zwitte-
rionische Zwischenstufen oder auch über Übergangszustände mit starken Partialladungen verlaufen, werden
als polare Mechanismen bezeichnet. Man unterscheidet ferner nucleophile Mechanismen (N) und elektro-
phile Mechanismen (E) je nach der Natur der verwendeten Reagenzien. Charakteristische Merkmale sind

• Elektrophile (Elektronenpaar-Akzeptoren, Lewis-Säuren) oder Nucleophile (Elektronenpaar-Donoren,


Lewis-Basen) als Reagenzien oder Katalysatoren,

• polare Solventien, die die geladenen Zwischenstufen oder Übergangszustände stabilisieren.

Radikalmechanismen (R). Dies sind Reaktionswege, die über radikalische Zwischenstufen mit unge-
paarten Elektronen verlaufen. Typisch sind

• Reaktionen in der Hitze, unter Bestrahlung oder Verwendung von Radikalstartern,

• unpolare Solventien, um polare Zwischenstufen oder Übergangszustände zu destabilisieren.

Orbitalsymmetrie-kontrollierte Mechanismen. Schließlich gibt es Reaktionen, die ohne erkennbare


Zwischenstufe und (mehr oder weniger) ohne Auftreten von Partialladungen oder ungepaarten Elektronen
ablaufen. Da solche Reaktionen nur unter bestimmten Anforderungen an die beteiligten Molekülorbitale
stattfinden, nennt man sie “Orbitalsymmetrie-kontrolliert”. Merkmale sind:

• “konzertierte” Reaktionen, d. h. einstufige, aber unter Umständen “komplexe” Reaktionen unter Umb-
bildung mehrerer Bindungen zugleich,

• Auftreten zyklischer, “quasi-aromatischer” Übergangszustände, unter Beteiligung von sechs (oder einer
anderen der Hückel-Regel folgenden Anzahl) Valenzelektronen.

4
1.1.3 Klassifizierung nach Substraten

Unterschiedliche Stoffklassen können unterschiedliche Reaktionen eingehen. Einige der oben genannten Re-
aktionstypen setzen notwendigerweise bestimmte Funktionalitäten im Edukt voraus. Oft verlaufen glei-
che Reaktionstypen bei unterschiedlichen Substraten mechanistisch gesehen völlig verschieden ab. Genau
deswegen werden zum Beispiel in dieser Vorlesung Substitutionsreaktionen an Aliphaten, Aromaten bzw.
Carbonylverbindungen, oder auch Additionsreaktionen an Olefine bzw. Carbonylverbindungen getrennt
voneinander behandelt.

1.1.4 Klassifizierung nach synthesestrategischer Aufgabe

In komplexen, vielstufigen Synthesen ist es oft entscheidend, genau den Zeitpunkt für das Auftreten einer
funktionellen Gruppe zu entscheiden. In diesem Zusammenhang unterscheidet man Reaktion als

Funktionalisierungen. Einführung neuer funktioneller Gruppen (anstelle von Wasserstoff-Atomen),


z. B. durch Substitutions-Reaktionen oder Oxidationen.

Umfunktionalisierungen. Umwandlung einer Art Funktionalität in eine andere, z. B. durch


Substitutions-, Additions-, Eliminierungs- oder Redoxreaktionen. Weitaus die meisten organischen Reak-
tionen sind Umfunktionalisierungen. Oft werden durch solche Reaktionen sogenannte Schutzgruppen ein-
geführt, deren Aufgabe es ist eine bestimmte Funktionalität zu blockieren, um danach selektiv eine andere
zur Reaktion zu bringen. Nach dieser Reaktion wird die Schutzgruppe wieder entfernt. Alle drei Reaktions-
schritte sind Umfunktionalisierungen.

Defunktionalisierungen. Entfernung einer funktionellen Gruppe (Ersatz durch Wasserstoff-Atome),


z. B. durch Substitutions-, oder Additions-Reaktionen sowie durch Reduktionen.

5
1.2 Thermodynamik und Kinetik

1.2.1 Freie Enthalpie und chemisches Gleichgewicht

Freie Enthalpie. Ob eine Reaktion abläuft oder nicht, wird durch ihre freie Enthalpie ∆GR bestimmt.
Exergonische Reaktionen (∆GR < 0) laufen ab, endergonische Reaktionen (∆GR > 0) nicht. Die freie
Enthalpie ∆GR einer Reaktion setzt sich nach der Gibbs-Helmholtz-Gleichung aus einem Enthalpie- und
einem Entropiebeitrag zusammen:
∆GR = ∆HR − T · ∆SR

• Die Reaktionsenthalpie ∆HR ist ein grobes Maß für die Summe der Energieänderungen, die sich durch
das Brechen und Schließen von Bindungen bei der Reaktion ergeben.

• Ein grobes Maß für die Reaktionsentropie ∆SR ist die Änderung der Teilchenzahl. Eine Zunahme der
Teilchenzahl ist entropisch günstig (endotrop, ∆SR > 0) und vice versa. Ferner ist das Auftreten von
zyklischen Verbindungen üblicherweise entropisch ungünstig (exotrop, ∆SR < 0).

• Eine weitere Schlussfolgerung aus der Gibbs-Helmholtz-Gleichung ist die Tatsache, dass man die Lage
des Gleichgewichts einer Reaktion mit der Temperatur verändern kann. Ist die Reaktion exotrop
(∆SR < 0), so kann man bei höherer Temperatur die Reaktion hin zum ungünstigeren Produkt
verschieben.

Chemisches Gleichgewicht. Die freie Enthalpie einer Reaktion steht in direktem Zusammenhang mit
der Gleichgewichtskonstante K der betreffenden Reaktion:

∆GR = −RT ln K

Diese Gleichung besagt, dass je größer die Abnahme der freien Enthalpie bei der Reaktion ist (also
∆GR < 0), umso mehr liegt das Gleichgewicht auf der Seite der Produkte (K > 1). Dabei sinkt we-
gen des logarithmischen Zusammenhangs mit zunehmend negativem ∆GR der Anteil der Edukte schnell
auf vernachlässigbare Konzentrationen ab.

∆GR
0 −10 −20 −30 −40
kJ mol−1

K 1 ≈ 6 · 101 ≈ 3 · 103 ≈ 2 · 105 ≈ 1 · 107

Merksatz: Bei Raumtemperatur nimmt pro 10 kJ mol−1 Gewinn an freier Enthalpie


die Gleichgewichtskonstante um fast zwei Größenordnungen zu.

6
1.2.2 Reaktionsprofile organischer Reaktionen

Energiehyperflächen und Reaktionsprofile. Den energetischen Verlauf chemischer Reaktionen kann


man in Form von Reaktionsprofilen verdeutlichen. Dabei ist die Abszisse eine “Reaktionskoordinate”, die
den Fortschritt der Reaktion anzeigt. Dies ist keine Zeitkoordinate. Vielmehr ist die Reaktionskoordinate
ein Weg durch ein “Tal” in der multidimensionalen “Energiehyperfläche” einer Reaktion, die eine Darstellung
der Abhängigkeit der Energie des Systems von allen sich ändernden Bindungslängen und Bindungswinkeln
ist. Das zweidimensionale Reaktionsprofil ist die Energieänderung des Systems entlang dieses Wegs.

Energiehyperfläche Reaktionsprofil
E E

P
E

d(H-Br) Rkt
d(H-H)

Die Ordinate dagegen ist eine eindutig definierte thermodynamische Größe, die die Energie des gesamten
Systems beschreibt, wie zum Beispiel die freie Enthalpie ∆G. Die Differenz der Niveaus der Edukte und der
Produkte gibt also die freie Enthalpie ∆GR der Reaktion an. Liegen die Produkte unterhalb der Edukte,
so ist die Reaktion exergonisch, liegen sie darüber, ist sie endergonisch.

E E

Edukte Produkte

∆GR < 0 ∆GR > 0


Produkte Edukte

Rkt Rkt

7
Übergangszustände. Einschrittige Reaktionen (Elementarreaktionen und konzertierte komplexe Reak-
tionen) sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihrem Reaktionsprofil zwischen Edukten und Produkten zwar
ein energetisches Maximum, aber kein weiteres, lokales energetisches Minimum auftritt. Praktisch bedeu-
tet das, dass die Reaktion an keinem Punkt der Reaktionskoordinate “stehenbleiben” kann. Es gibt keine
isolierbare Zwischenstufe.

Merksatz: Das energetische Maximum, das während der Reaktion durchlaufen wird,
ist als der sogenannte Übergangszustand definiert, üblicherweise gekennzeichnet
mit ‡.

E E

‡ ‡

Edukte Produkte

∆G‡hin < ∆G‡rück ∆G‡hin > ∆G‡rück


∆GR ∆GR

Produkte Edukte

Rkt Rkt

Ein Übergangszustand ist nur eine kurzlebige Momentaufnahme im Reaktionsweg, mit der Lebensdauer
von einer Molekülschwingung. Er ist von großer Bedeutung für die Kinetik einer Reaktion. Denn die Ener-
giedifferenz zwischen Übergangszustand und Edukten ist die Aktivierungsenergie EA oder auch “freie
Aktivierungsenthalpie” ∆G‡ der Reaktion (beide Größen ergeben sich aus unterschiedlichen Theorien, wer-
den aber im folgenden vereinfacht äquivalent verwendet). Nach der Arrheniusgleichung besteht folgender
Zusammenhang zwischen der Aktivierungsenergie und der Reaktionsgeschwindigkeit, bzw. genauer der Ge-
schwindigkeitskonstanten k im Geschwindigkeitsgesetz einer Reaktion:
EA
k = A · e− RT

Die Aktivierungsenergie ist also im Gegensatz zur freien Reaktionsenthalpie keine thermodynamische, son-
dern eine kinetische Größe, die die Reaktionsgeschwindigkeit bestimmt. Sie ist die energetische Hürde, die
alle Moleküle nehmen müssen. Da der Übergangszustand für Hin- und Rückreaktion derselbe ist, unter-
scheiden sich die Aktivierungsenergien von Hin- und Rückreaktion (und zwar um den Betrag der freien
Reaktionsenthalpie), mit den entsprechenden Folgen für die Geschwindigkeiten von Hin- und Rückreaktion.
Da aufgrund der Boltzmann-Verteilung der Molekülenergie bei jeder Temperatur ein gewisser Teil der Mo-
leküle die notwendige Energie besitzt, läuft die Reaktion in jedem Fall ab, nur unter Umständen unmessbar
langsam. In jedem Fall aber erhöht eine Temperaturerhöhung diesen Anteil und damit die Reaktionsge-
schwindigkeit drastisch.

Merksatz: Als Faustregel gilt, dass bei einer typischen organischen Reaktion eine
Temperaturerhöhung um 10°C etwa zu einer Verdoppelung der Reaktionsgeschwin-
digkeit führt.

8
Zwischenstufen. Mehrschrittige Reaktionen zeichnen sich durch ein weiteres lokales Minimum (oder
mehrere Minima) im Reaktionsprofil aus. Hier könnte die Reaktion im Prinzip “stehenbleiben”.

E
‡1
‡2

Zwischenstufe
Edukte

∆GR Produkte

Elementarreaktion 1 Elementarreaktion 2

Rkt

Merksatz: Energetische Minima, die während der Reaktion durchlaufen werden,


kennzeichnen das Vorliegen echter, unter Umständen isolierbarer Zwischenstufen
(Intermediate).

Elementarreaktionen. Die einzelnen Reaktionsschritte von Minimum zu Minimum werden als Elemen-
tarreaktionen bezeichnet. Elementarreaktionen sind also per Definition einstufig, ohne weiteres lokales ener-
getisches Minimum, ohne eine weitere Zwischenstufe im Reaktionsprofil.

Was ist ein Mechanismus? Mit einem Mechanismus meint man eine Abfolge von Elementarreaktionen,
also einstufigen, einfachen Reaktionen zwischen Edukten, Zwischenstufen und Produkten. Zur genauen Be-
schreibung eines Mechanismus gehört die Kenntnis aller Zwischenstufen sowie eine gute Vorstellung von
den Übergangszuständen, vom energetischen Verlauf der Reaktion und vom Einfluss diverser Reaktionspa-
rameter wie Temperatur, Lösungsmittel.

Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt. Natürlich gilt für jede Elementarreaktion einer mehr-
schrittigen Reaktion das, was für einschrittige Reaktionen gesagt wurde. Sie führt über einen Übergangs-
zustand mit einer bestimmten Aktivierungsenergie. Der langsamste, oder “geschwindigkeitsbestimmende”
Schritt ist die Elementarreatkion mit der größten Aktivierungsenergie. Diese Aktivierungsenergie ist der
“Flaschenhals” der Reaktion, die größte energetische Hürde, die alle Moleküle nehmen müssen. Der ge-
schwindigkeitsbestimmende Schritt ist für Hin- und Rückreaktion verschieden.

Merksatz: Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist die Elementarreaktion, die


am langsamsten abläuft, weil sie die größte Aktivierungsenergie EA aufweist.

9
E
‡1
‡2

Zwischenstufe
Edukte
∆G‡1 > ∆G‡2

∆GR Produkte

Rkt

Katalyse. Die beschleunigende Wirkung von Katalysatoren besteht darin, einen neuen, energetisch we-
niger aufwändigen Reaktionsweg zu eröffnen, zumeist über neue, energieärmere Zwischenstufen. Dagegen
ändert sich nichts an der freien Reaktionsenthalpie und somit auch nicht am chemischen Gleichgewicht.

10
E ‡unkat

∆G‡unkat
‡kat,1
‡kat,2

Katalysator-Komplex
Edukte
∆G‡kat,1

∆GR Produkte

Rkt

Polanyi-Prinzip und Hammond-Postulat. Für einstufige Reaktionen nach vergleichbaren Mechanis-


men gilt das Polanyi-Prinzip (oder Bell-Evans-Polanyi-Prinzip):

Merksatz: Nach dem Polanyi-Prinzip verhalten sich die Differenzen der Aktivie-
rungsenergien einstufiger, vergleichbarer Reaktionen proportional zu den Differen-
zen ihrer freien Reaktionsenthalpien.

11
E E
‡ ‡
Edukte
∆(∆G‡) ∆(∆G‡)
Edukte
Produkte
∆(∆GR)

Produkte

∆(∆GR)

Rkt Rkt

Das Hammond-Postulat trifft eine Aussage bezüglich der Geometrie (des “Aussehens”) von Übergangszu-
ständen:

Merksatz: Nach dem Hammond-Postulat sind energetisch näher stehende Zustände


auch geometrisch ähnlicher.

12
E E
‡ ‡

‡ ‡
Edukte Produkte Edukte Produkte

∆GR < 0 ∆GR > 0

früh spät

Reaktionsverlauf Reaktionsverlauf

Rkt Rkt

Die Bedeutung des Hammond-Postulats für die Kinetik ergibt sich zusammen mit dem Polanyi-Prinzip.
Bei exergonischen Reaktionen ist nämlich der Übergangszustand energetisch näher den Edukten und des-
wegen auch in seiner Geometrie ähnlicher den Edukten. Man spricht von einem frühen (“eduktähnlichen”)
Übergangszustand. Umgekehrt ist bei endergonischen Reaktionen der Übergangszustand energetisch und
geometrisch den Produkten ähnlicher, weswegen man von einem späten (“produktähnlichen”) Übergangs-
zustand spricht.

13
E

∆G‡1 ~ ∆G1 ‡1
‡2 ∆G‡2 < ∆G‡1

Edukte ∆G1 > 0

∆GR < 0 ∆G2 < 0 Produkte

langsam schnell

Rkt

Eine typische, mehrschrittige organische Reaktion verläuft insgesamt exergonisch, aber über eine reaktive
Zwischenstufe, die energetisch höher liegt als die Edukte (siehe obige Abbildung). Das erlaubt folgende
Aussagen:

• Der erste Schritt der Reaktion, die endergonische Bildung der reaktiven Zwischenstufe, ist üblicher-
weise der geschwindigkeitsbestimmende Schritt (Polanyi).

• Der zugehörige Übergangszustand ist der Zwischenstufe ähnlicher als dem Edukt (Hammond). Die
Zwischenstufe ist also ein gutes Modell für den Übergangszustand des geschwindigkeitsbestimmenden
Schritts.

Daraus ergibt sich unter anderem, dass die Aktivierungsenergie des langsamsten, geschwindigkeitsbestim-
menden Schritts bei einer Stabilisierung der Zwischenstufe ebenfalls abgesenkt und die Reaktion somit
insgesamt beschleunigt wird.

Merksatz: Bei mehrschrittigen Reaktionen ist diejenige kinetisch die günstigste, die
über die am besten stabilisierte Zwischenstufe verläuft.

14
1.2.3 Reaktivität und Selektivität

Reaktivität. Reaktivität ist ein reaktionskinetischer Begriff, der eine Aussage zur relativen Reaktions-
geschwindigkeit von zwei Substraten trifft.

Merksatz: Von zwei möglichen Substraten für eine Reaktion oder ein Paar von
ähnlichen Reaktionen ist dasjenige reaktiver, das mit einer höheren Reaktionsge-
schwindigkeit, also kinetisch bevorzugt zum Produkt umgesetzt wird.

k1 > k2 k1 > k2
E1 P1 E1

oder P
k2 k2
E2 P2 E2

Im Falle eines energetisch höher liegenden Edukts ist die Aktivierungsenergie der Reaktion kleiner (Polanyi-
Prinzip). Das energetisch höher liegende Substrat reagiert somit schneller und kinetisch bevorzugt zum
Produkt, es ist also reaktiver. Raktivität ist also nur ein anderer Ausdruck für geringere thermodynamische
Stabilität der Substrate (Edukt und Reagenzien).

E ‡ E ‡

E1 ∆G‡1 E1 ∆G‡1

‡ ‡

∆G‡1 ∆G‡1
E2 E2
P1
P
P2

Rkt Rkt

15
Selektivität. Unter der “Selektivität einer Reaktion” versteht man folgenden Sachverhalt:

Merksatz: Eine Reaktion verläuft selektiv, wenn aus einem Edukt von zwei mögli-
chen Produkten eines bevorzugt oder ausschließlich entsteht.

k1 > k2
P1

E
k2
P2

Damit ist zunächst keine Aussage darüber verbunden, wie diese Bevorzugung erreicht wird bzw. um was
für eine Art Selektivität es sich handelt. Man unterscheidet folgende Szenarien.

Thermodynamische Kontrolle (der Selektivität). Wenn die mittlere thermische Energie der Mole-
küle ist groß genug ist, dass im Zeitrahmen des Experiments alle Reaktionsschritte reversibel sind, also die
Aktivierungsenergien aller Hin- und Rückreaktionen klein genug sind, dann stehen alle Edukt, Produkte
und Zwischenstufen miteinander im thermodynamischen Gleichgewicht.

Merksatz: Unter thermodynamischer Kontrolle werden bei zwei möglichen Produk-


ten selektiv dasjenige gebildet, das thermodynamisch bevorzugt ist, d. h. das stabiler
ist und deswegen durch die stärker exergonische Reaktion entsteht. Die Produkte
werden in ihren Gleichgewichtskonzentrationen gebildet, die sich aus der Differenz
ihrer freien Bildungsenthalpie ergeben.

E E
‡1 ‡1

‡2 ‡2

mittlere thermische Energie


E

E
P2 P2

P1
ln ~ ∆(∆GR)
P2
P1 P1

Rkt Rkt

Die Selektivität einer Reaktion unter thermodynamischer Kontrolle ergibt sich dementsprechend in diesem
Fall ausschließlich aus der unterschiedlichen freien Enthalpie der Produkte, und vollkommen unabhängig
von den Aktivierungsenergien der einzelnen Reaktionsschritte. Die Selektivität lässt sich folglich über die
Temperatur steuern und gegebenenfalls sogar umkehren.

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Kinetische Kontrolle (der Selektivität). Wenn die mittlere thermische Energie der Moleküle so klein
ist, dass die Rückreaktionen beliebig langsam, die Reaktionen also praktisch im Zeitrahmen des Experiments
irreversibel sind, dann entsteht das Produkt bevorzugt, das am schnellsten gebildet wird.

Merksatz: Unter kinetischer Kontrolle wird bei zwei möglichen Produkten dasjenige
selektiv gebildet, das kinetisch bevorzugt ist, d. h. das schneller über den Reakti-
onsweg mit der geringeren Aktivierungsenergie entsteht.

E
‡1

mittlere thermische
‡2

Energie
E

P1 P2
ln ~ ∆(∆G‡)
P2

P1

Rkt

Die Selektivität einer solchen Reaktion ergibt sich also ausschließlich aus den Aktivierungsenergien der bei-
den Reaktionswege, und damit im Prinzip vollkommen unabhängig von der thermodynamischen Stabilität
der Produkte. Kinetische Kontrolle ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil sie eine Möglichkeit eröffnet,

17
zum thermodynamisch instabileren Produkt zu gelangen, nämlich dann wenn die beiden Reaktionswege me-
chanistisch verschieden sind und derjenige zum weniger stabilen Produkt die geringere Aktivierungsenergie
aufweist (siehe Abbildung).
Niedrige Temperaturen erhöhen das Ausmaß der Selektivität, da der Reaktionsweg mit der höheren Akti-
vierungsenergie stärker benachteiligt wird. Zusätzliche Steuerungsmöglichkeiten bieten Auxiliare oder Ka-
talysatoren, die durch Einführung neuer Zwischenstufen die Aktivierungsenergie für einen Reaktionsweg
stärker absenken als für einen anderen.

“Product Development Control” (der Selektivität). Kinetische und thermodynamische Kontrolle


sind keine komplementären Begriffe. Kinetische Kontrolle wird zwar praktisch oft genutzt, um selektiv zum
thermodynamisch weniger stabilen Produkt zu gelangen (was unter thermodynamischer Kontrolle nicht
möglich ist). Aber man kann auch unter kinetischer Kontrolle zum thermodynamischen Produkt gelangen.
Bei einstufigen Reaktionen nach vergleichbaren Mechanismen ist dies sogar zwingend der Fall (Polanyi-
Prinzip).

Merksatz: Product Development Control ist definiert als der Spezialfall der ki-
netischen Kontrolle, bei der unter kinetischen Bedingungen in einer einstufigen
Reaktion das thermodynamische Produkt erhalten wird.

E E
‡1 ‡1

mittlere thermische
‡2 ‡2

Energie
E

E
P2 P2

P1
ln ~ ∆(∆G‡) ~ ∆(∆GR)
P2
P1 P1

Rkt Rkt

Verhältnis von Reaktivität und Selektivität. Wenn unterschiedliche Edukte mit unterschiedlicher
Stabilität (d. h. Reaktivität) vorliegen, dann unterscheidet sich auch die Selektivität, mit der diese zu
unterschiedlichen Produkten reagieren. Aus Polanyi-Prinzip und Hammond-Postulat ergibt sich, dass die
Unterschiede der Aktivierungsenergien, die die stark exergonischen Reaktionen des reaktiveren Substrates
haben, kleiner sind als die der weniger exergonischen Reaktionen des weniger stabilen Substrats. Unter ki-
netischer Kontrolle sind also die Reaktionen des reaktiveren Substrats weniger selektiv als die des stabileren
Substrats.

Merksatz: Bei Reaktionen unter kinetischer Kontrolle sind Reaktivität und Selek-
tivität reziprok zueinander. Reaktivere Substrate ergeben weniger selektive Reak-
tionen und vice versa.

18
E E
∆G‡1
E1 E1

∆G‡2

E2 E2

P1 P1

P2 P2

Rkt Rkt

19
1.3 Grundbegriffe der Stereochemie

1.3.1 Statische Stereochemie: Stereoisomerie

Isomeriearten. Isomere sind Substanzen mit derselben Summenformel, aber unterschiedlicher Struktur.
Man unterscheidet Strukturisomere (auch Konstitutionsisomere) mit unterschiedlicher Konnektivität und
Stereoisomere mit gleicher Konnektivität, aber unterschiedlicher räumlicher Orientierung von Atomen und
Gruppen. Letztere werden weiter unterteilt in Enantiomere (Bild/Spiegelbild) und Diastereomere (nicht
Bild/Spiegelbild). Die Isomeriearten und ihre Definitionen werden als bekannt vorausgesetzt und an dieser
Stelle nicht weiter vertieft.

Isomere
gleiche Summenformel
unterschiedliche Struktur

Strukturisomere Stereoisomere
unterschiedliche Konnektivität gleiche Konnektivität
unterschiedliche räumliche Orientierung

Enantiomere Diastereomere
Bild/Spiegelbild, chiral nicht Bild/Spiegelbild, chiral oder achiral
energetisch gleich energetisch nicht gleich

Enantiomere und Diastereomere. Enantiomere sind in jedem Fall chiral, d. h. sie enthalten mindestens
ein Chiralitätselement (im Rahmen der Vorlesung kommen nur Stereozentren vor, also Kohlenstoffatome mit
vier verschiedenen Substituenten) und keine Spiegelebene oder Drehspiegelachse. Diastereomere hingegen
können chiral sein, müssen es aber nicht. Sie unterscheiden sich in aller Regel in ihren chemischen und
physikalischen Eigenschaften, insbesondere in ihrer freien Bildungsenthalpie. Beispiele für Diastereomere
sind unter anderem:

• (E)- und (Z)-Isomere bei Olefinen


• cis- und trans-Isomere bei zyklischen Verbindungen
• Verbindungen mit mehreren Stereozentren

20
Verbindungen mit mehreren Stereozentren. Verbindungen mit n Stereozentren ergeben 2n Stereoi-
somere, oder genauer 2n−1 diastereomere Paare von Enantiomeren. Ein Sonderfall besteht bei gleicher
Konnektivität der Stereozentren. Dann erhält man weniger Isomere, da Spiegelebenen im Molekül auftre-
ten können, die die Zahl der möglichen Isomere reduzieren und dazu führen, dass einige der Stereoisomere
achiral sind. Man unterscheidet:

• meso-Isomere, die mehrere Stereozentren, aber auch Spiegelebenen enthalten und somit achiral sind;

• rac-Isomere, die mehrere Stereozentren und keine Spiegelebenen enthalten, somit chiral sind und als
ein Paar von Enantiomeren auftreten.

meso-Weinsäure L-Weinsäure D-Weinsäure

HO OH H H HO H H OH
H H HO OH H OH HO H
HOOC COOH 180∞ HOOC COOH HOOC COOH HOOC COOH

R S S R R R S S

meso rac

Bei den Enantiomerenpaaren ist zu beachten, dass sich die Konfigurationen von allen Stereozentren ge-
ändert haben. Andernfalls handelt es sich um Diastereomere. Wenn sich die Diastereomere mit mehreren
Stereozentren in genau einem von mehreren Stereozentren unterscheiden, dann spricht man von Epimeren.

O OH O OH O OH O OH
HO HO HO HO

HO OH HO OH HO OH HO OH
OH OH OH OH

α-D -Glucose β-D -Glucose α-D -Mannose α-D -Galactose

1-Epimer ("Anomer") 2-Epimer 4-Epimer


der α-D -Glucose der α-D -Glucose der α-D -Glucose

21
1.3.2 Dynamische Stereochemie: Selektivität, Spezifität, Konvergenz

Stereoselektivität. Die allgemeine Definition der Selektivität gilt auch für Reaktionen, bei denen Ste-
reoisomere entstehen können:

Merksatz: Wenn aus einem Stereoisomeren des Edukts eines von mehreren mögli-
chen Stereoisomeren des Produkts bevorzugt oder ausschließlich entsteht, dann ist
die Reaktion stereoselektiv.

P Br Br
Br2
E +
Br Br

P'

Stereospezifität und Stereokonvergenz. Die Begriffe der Stereospezifität und der Stereokonvergenz
sind enger als der Begriff der Selektivität. Sie beziehen sich jeweils auf ein Paar von zwei Reaktionen, von
denen jede für sich selektiv ist. Sie beschreiben genau genommen, wie sich die beiden selektiven Reaktionen
stereochemisch zueinander verhalten.

Merksatz: Wenn aus einem Stereoisomeren des Edukts (hoch-) selektiv ein be-
stimmtes Stereoisomeres des Produkts und zugleich aus dem anderen Stereoiso-
meren des Edukts (hoch-) selektiv genau das andere Stereoisomere des Produkts
entstehen, dann ist dieses Paar von Reaktionen stereospezifisch.
OTs OAc
NaOAc
E P

und

E' P' OTs OAc


NaOAc

Merksatz: Wenn aus einem Stereoisomeren des Edukts (hoch-) selektiv ein be-
stimmtes Stereoisomeres des Produkts und zugleich aus dem anderen Stereoisome-
ren des Edukts (hoch-) selektiv genau dasselbe Stereoisomere des Produkts entste-
hen, dann ist dieses Paar von Reaktionen stereokonvergent.
ROH
AgClO4 , SnCl2
O F CH2 Cl2 , -30°C
AcO
E P
AcO OAc
und
OAc O O
AcO R
ROH
E' P' AgClO4 , SnCl2
AcO OAc
O F CH2 Cl2 , -30°C OAc
AcO

AcO OAc
OAc

22
1.3.3 Exkurs: Zeichnen von Sechsringen.

Gesättigte Sechsringe liegen in der Sesselkonformation vor. Diese und ihre jeweils sechs äquatorialen und
axialen Substituenten zeichnet man korrekt, indem man vier Gruppen paralleler Linien unterscheidet, wie
sie sich aus den vier Richtungen der Substituenten an einem Tetraeder ergeben.

a
a a
e
b d a
a
e e
c e e
d b a
e
a a a

Bei der Übertragung der üblichen Schreibweise in die Sesselkonformation ist zu beachten, dass die Keil-
schreibweise pro Stereozentrum definiert ist. 1,2-cis-, 1,3-trans- und 1,4-cis-Isomere liegen somit als zwei
Konformere vor, die je einen axialen und einen äquatorialen Substituenten tragen und somit gleich stabil
sind (wenn die Substituenten gleich sind). Hingegen existieren 1,2-trans-Isomere, 1,3-cis- und 1,4-trans-
Isomere als zwei Konformere mit je zwei axialen bzw. zwei äquatorialen Substituenten, wovon letztere
aufgrund der Minimierung von 1,3-diaxialen Wechselwirkungen günstiger sind.

Y X
X X
1,2-cis Y
Y

X
X Y X
1,3-cis Y

Y
X Y
X
1,4-cis Y X
Y

X Y
1,2-trans X
Y
Y
X

X Y
1,3-trans Y X

X
Y
Y
X Y
1,4-trans
Y X
X

23
1.4 Substituenteneffekte

Induktive Effekte. Induktive elektronenziehende oder elektronenschiebende Effekte (+I, −I) ergeben
sich durch die unterschiedliche Elektronegativität von Atomen oder Gruppen und beziehen sich ausschließ-
lich auf σ-Bindungen. Deswegen nennt man Substituenten mit elektronenziehendem induktivem Effekt
(−I) auch σ-Akzeptoren, solche mit elektronenschiebendem induktivem Effekt (+I) auch σ-Donoren. Man
kennzeichnet die entsprechende Reaktivität oft durch Partialladungen.

Mesomere Effekte. Mesomere elektronenziehende oder elektronenschiebende Effekte (+M, −M) erge-
ben sich durch die Verschiebung von π-Elektronen und n-Elektronen (freien Elektronenpaaren). Deswegen
nennt man Substituenten mit elektronenziehendem mesomerem Effekt (−M) auch π-Akzeptoren, solche mit
elektronenschiebendem mesomerem Effekt (+M) auch π-Donoren.

Anmerkung: Entscheidend ist eine effektive Überlappung der beteiligten Orbitale mit pi-
Symmetrie, weswegen eigentlich ausschließlich Atome der ersten Periode zu mesomeren Effekten
beitragen können (im Gegensatz zu dem, was bei der aromatischen Substitution erklärt wird,
zum Beispiel nicht schwerere Halogene).

Es gibt zahlreiche Substituenten, die entgegengesetzte induktive und mesomere Effekte erzeugen. In aller
Regel sind mesomere Effekte stärker als induktive Effekte, und vor allem über längere Distanzen “kommu-
nizierbar”, wenn entsprechende Elektronen (normalerweise Doppelbindungen oder Aromaten) vorhanden
sind.

24
1.5 Säuren und Basen

Die Stärke von Säuren wird üblicherweise angegeben durch ihre pKA -Werte, d. h. die negativen dekadischen
Logarithmen der Dissoziationskonstanten:

[H+ ] · [A− ]
pKA = − log KA = −log
[HA]

Anstelle der Verwendung von pKB -Werten gibt man auch bei Basen üblicherweise die pKA -Werte an, die
sich dann auf die jeweilige konjugate Säure beziehen.

Merksatz: Eine Verbindung mit einem kleineren pKA -Wert ist eine stärkere Säure.
Eine Verbindung mit einem größeren pKA -Wert ist eine stärkere Base. Praktisch
gesehen kann man Verbindungen mit kleinerem pKA -Wert durch die zugehörige
Base einer Verbindung mit größerem pKA -Wert deprotonieren.

Die Acidität einer Säure HX hängt ab von mehreren Faktoren:

• Elektronegativität von X

• Stärke der HX-Bindung

Anmerkung: Natürlich können einige der genannten Effekte gegenläufig sein. So entspricht
die Reihenfolge innerhalb der Halogene der von HF nach HI abnehmenden Bindungsstärke
und der besseren Stabilisierung des zunehmend großen Anions (nicht aber der in der gleichen
Reihe abnehmenden Elektronegativität):

• Stabilisierung des Anions durch zunehmende Größe

• Stabilisierung des Anions X− durch π- und σ-Akzeptoren

• Lösungsmittel

Das verwendete Solvens ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Verwendet man ein unpolares Solvens,
das Ionen gar nicht stabilisiert, sind alle pKA -Werte um Größenordnungen kleiner. Verwendet man dagegen
ein polares Solvens, so wird durch die Solvatation der Protonen die Säurestärke beeinflusst. So ist die
stärkste Säure in Wasser das Hydronium-Ion und die stärkste Base das Hydroxid-Ion. Das nennt man den
“Nivellierungseffekt des Wassers”. Stärkere Säuren oder Basen müssen in anderen (sauren bzw. basischen)
Lösungsmitteln gemessen werden. Die absolute Vergleichbarkeit ist nicht unbedingt gegeben.
Die folgenden pKA -Werte (grob nach zunehmender Basizität unterteilt) sind als Richtwerte zu verstehen.

25
• Typische starke Säuren haben einen pKA -Wert < 0.

• Typische Carbonsäuren haben einen pKA -Wert von 0 − 5.

• Typische neutrale Stickstoff-Basen in der organischen Synthese haben einen pKA -Wert um 10. Eine
Ausnahme ist Pyridin, das mit pKA = 5, 2 schwächer ist.

• Typische C,H-acide Verbindungen (mit π-Akzeptoren) haben einen pKA -Wert von 10 − 20.

• Typische aliphatische Alkohole haben einen pKA -Wert von 15 − 20. Phenole sind saurer mit einem
pKA -Wert um 10.

• Typische Kohlenwasserstoffe haben einen pKA -Wert von 25 − 50.

Die Verwendung von Basen richtet sich nach dem pKA -Wert der zu deprotonierenden Verbindung. Oft ver-
wendet man neutrale Stickstoffbasen zum Abfangen von Protonen, die bei Reaktionen entstehen. C,H-acide
Verbindungen, Alkohole oder andere Verbindungen mit größerem pKA -Wert lassen sich so aber nicht de-
protonieren. Bei C,H-aciden Verbindungen kommen typischerweise K2 CO3 , OH− , RO− oder stärkere Basen
zum Einsatz, bei Alkoholen verwendet man NaH oder stärkere Basen und für ungesättigte Kohlenwasser-
stoffe verwendet man schließlich NaH oder LDA. Alkane sind auch von diesen nicht zu deprotonieren.

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