Geologie Nordschweiz

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nagra Nationale Genossenschaft für

die Lagerung radioaktiver Abfälle

TECHNISCHER
BERICHT 99-08

Geologische Entwicklung
der Nordschweiz, Neotektonik
und Langzeitszenarien
Zürcher Weinland

Dezember 2002

W.H. Müller
H. Naef
H.R. Graf

Hardstrasse 73 CH-5430 Wettingen Telefon 056-437 11 11


nagra Nationale Genossenschaft für
die Lagerung radioaktiver Abfälle

TECHNISCHER
BERICHT 99-08

Geologische Entwicklung
der Nordschweiz, Neotektonik
und Langzeitszenarien
Zürcher Weinland

Dezember 2002

1)
W.H. Müller
H. Naef 2)
H.R. Graf 3)

1)
Nagra, Wettingen
2)
Büro für angewandte Geologie, Speicher
3)
Matousek, Baumann & Niggli AG, Baden

Hardstrasse 73 CH-5430 Wettingen Telefon 056-437 11 11


Der vorliegende Bericht wurde im Auftrag der Nagra erstellt. Die Autoren haben ihre eigenen Ansichten und
Schlussfolgerungen dargestellt. Diese müssen nicht unbedingt mit denjenigen der Nagra übereinstimmen.

ISSN 1015-2636

"Copyright © 2002 by Nagra, Wettingen (Schweiz) / Alle Rechte vorbehalten.


Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ausserhalb der
engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Nagra unzulässig und strafbar. Das gilt
insbesondere für Übersetzungen, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und
Programmen, für Mikroverfilmungen, Vervielfältigungen usw."
I NAGRA NTB 99-08

ZUSAMMENFASSUNG

Die Nagra untersucht im Zürcher Weinland im Rahmen des Entsorgungsnachweises


den Opalinuston als potenzielles Wirtgestein für ein geologisches Tiefenlager für
hochaktive und langlebige mittelaktive Abfälle (BE/HAA/LMA). Die Bearbeitung von
geologischen Langzeitszenarien bezieht sich auf einen Zeithorizont von einer Million
Jahren. Sie soll zeigen, inwieweit das Wirtgestein und die umgebenden Rahmenge-
steine ihre Schutzfunktionen für ein geologisches Tiefenlager gewährleisten können.
Die daraus abgeleiteten Kenntnisse und Daten bilden eine wichtige Grundlage für die
Sicherheitsanalyse. Als Basis dienten der gesamte bisher erarbeitete Geodatensatz
Nordschweiz sowie speziell neue Kenntnisse über die Verhältnisse in der Nord-
ostschweiz. Es wurden alle nach derzeitigem Kenntnisstand relevanten Prozesse und
Ereignisse berücksichtigt, welche die zukünftige geologische Entwicklung des Zürcher
Weinlands beeinflussen könnten. Die geologischen Rekonstruktionen, die auf teilweise
voneinander unabhängigen Daten und Methoden beruhen, vermitteln für den Zeitraum
der letzten 10 Millionen Jahre ein relativ konsistentes Bild über die endogene Dynamik
der Nordschweiz und ihrer Umgebung.
Aus diesen umfassenden Kenntnissen über die regionale Geologie und Tektonik wur-
de zusammen mit den Daten der neotektonischen Analysen ein regionales geodynami-
sches Konzept abgeleitet, das die rezenten und damit auch die unmittelbare geologi-
sche Zukunft bestimmenden Prozesse und Strukturen aufzeigen soll. Die weitere geo-
logische Entwicklung über den Zeitraum von etwa einer Million Jahren kann auf dieser
Basis mit begründeten Annahmen in denkbaren Szenarien aufgezeigt werden. Im Hin-
blick auf die Sicherheit eines Tiefenlagers ergeben sich daraus folgende Erkenntnisse:

1. In weiten Bereichen der Nordschweiz und insbesondere im Zürcher Weinland ver-


blieb die Formation des Opalinustons seit ihrer Entstehung vor 180 Millionen Jah-
ren bis heute in weitgehend ungestörter Lagerung.
2. Die einzige grössere Störungszone, die das gesamte Deckgebirge des Zürcher
Weinlands versetzt, ist die entlang der Nordostbegrenzung des 3D-seismischen
Messgebiets verlaufende Neuhauser Störung.
3. Die Entstehung neuer Störungszonen kann im Zürcher Weinland praktisch ausge-
schlossen werden.
4. Empirische Untersuchungen an Untertagebauten in Erdbebengebieten zeigen,
dass die Untertageschäden im Vergleich zu den Schäden an der Oberfläche mit
zunehmender Tiefe rasch abnehmen. Im Bereich der vorgesehenen Lagertiefe von
650 m unter der Erdoberfläche sind sie auch bei grösseren seismischen Ereignis-
sen praktisch bedeutungslos. Deshalb werden keine sicherheitsrelevanten Auswir-
kungen durch Erdbeben auf ein geologisches Tiefenlager im Opalinuston erwartet.
5. Aufgrund der tektonischen Situation und mangels geothermischer Anzeichen (Ano-
malien) ist eine Beeinträchtigung der geologischen Barrieren durch magmatische
Intrusion oder Vulkanismus nicht zu erwarten.

6. Basierend auf den Daten der verschiedenen Quellen (Geomorphologie, Versen-


kungs- und Hebungsgeschichte, Geodäsie) wird die langfristige Hebungsrate im
Zürcher Weinland auf maximal 0.1 mm/a, resp. 100 m/Ma geschätzt. Es wird ange-
nommen, dass die lineare Erosion mit der Hebung Schritt hält, also ebenfalls
0.1 mm/a beträgt. Durch die Tieferlegung der Erosionsbasis des Rheins bis zum
Erreichen des Gleichgewichts könnten insgesamt bis zu 100 m zusätzlich erodiert
NAGRA NTB 99-08 II

werden. In einer Million Jahre beträgt die Überdeckung eines in 650 m Tiefe ange-
legten Lagers somit noch mindestens 450 m.

7. Zukünftige Gletschervorstösse werden dem heute existierenden Talnetz folgen; der


glaziale Abtrag entlang der Haupttäler hält mit der regionalen und lokalen Hebung
Schritt, bewegt sich also in der gleichen Grössenordnung wie die lineare Erosion.
Die seitlichen Höhenzüge bleiben weitgehend erhalten und die glaziale Tiefen-
erosion bleibt auf bereits bestehende übertiefte Rinnen beschränkt. Es ist zu er-
warten, dass die Malmkalke aufgrund ihrer Erosionsresistenz einen 'Schutzdeckel'
in Form einer topographischen Erhöhung bilden. Dies wird jedoch bei der Ab-
schätzung der Erosionsraten pessimistischerweise nicht berücksichtigt.
III NAGRA NTB 99-08

ABSTRACT

Nagra is investigating the Opalinus Clay in the Zürcher Weinland as a potential host
rock for a deep geological repository for high-level and long-lived intermediate-level
waste (SF/HLW/ILW). The aim of deriving long-term geological scenarios is to show,
based on a time horizon of one million years, the extent to which the host rock and its
surrounding rock formations can ensure the protection and isolation of a deep
geological repository. This information represents important input for the performance
assessment. The scenarios were derived on the basis of the existing geodataset for
Northern Switzerland and, in particular, on new information on the conditions in north-
east Switzerland. In formulating the long-term scenarios, all known relevant processes
and events that could influence the future geological evolution of the Zürcher Weinland
were taken into consideration. Based on partly independent methods and data, these
geological reconstructions provide a relatively consistent picture of the endogenetic
dynamics of Northern Switzerland and surrounding areas for the last 10 million years.

The information on regional geology and tectonics was combined with data from neo-
tectonic analyses to produce a regional geodynamic concept showing recent pro-
cesses and structures that will also be active in the immediate geological future.
Geological evolution in the future, over a period of around one million years, can be
illustrated on this basis using justified assumptions as part of conceivable scenarios. In
terms of the safety of a deep repository, the results are as follows:
1. In large areas of Northern Switzerland, and particularly in the Zürcher Weinland,
the Opalinus Clay has remained largely undisturbed since its formation some 180
million years ago.
2. The only large-scale fault zone that displaces the entire overburden of the Zürcher
Weinland is the Neuhausen fault, which runs along the north-east boundary of the
3D seismic survey area.
3. The formation of new fault zones in the Zürcher Weinland can effectively be ruled
out.
4. Investigations of underground structures in earthquake zones have shown that,
compared to damage at the surface, damage underground decreases rapidly with
depth. At the depth foreseen for the repository (650 m below the surface), the
effects of even major seismic events would be insignificant. Therefore, no safety-
relevant impacts of earthquakes on a deep geological repository in Opalinus Clay
are expected.
5. Given the tectonic situation and the absence of geothermal indications (anomalies),
no adverse impact on the geological barriers due to magmatic intrusion or
volcanism is expected.
6. Based on data of different sources (geomorphology, burial and uplift history,
geodesy), the long-term uplift rate in the Zürcher Weinland is estimated to be a
maximum of 0.1 mm/a, or 100 m/Ma. It is assumed that linear erosion keeps pace
with uplift (i.e. is also 0.1 mm/a). Through the lowering of the base level of erosion
(the Rhine) until equilibrium is reached, an additional 100 m could be eroded away.
This means that, in one million years, the overburden of a repository constructed at
a depth of 650 m will still be at least 450 m.
7. Future glacial advances would follow the existing valley network. Glacial erosion
along major valleys will keep pace with regional and local uplift and will thus be of
NAGRA NTB 99-08 IV

the same order of magnitude as linear erosion. The lateral mountain ranges will
remain largely intact and gully erosion will be restricted to already existing
overdeepened channels. It is to be expected that the Malm limestones will form a
protective cover in the form of a topographic elevation because of their resistance
to erosion. However, this is pessimistically ignored when estimating erosion rate.
V NAGRA NTB 99-08

RÉSUMÉ

La Nagra étudie les Argiles à Opalinus dans le Weinland zurichois comme roche
d’accueil potentielle pour un dépôt géologique profond de déchets de haute activité et
de moyenne activité à vie longue (AC/DHA/DMAL). L'élaboration de scénarios géo-
logiques à long terme est destinée à montrer dans quelle mesure, sur une durée
d'environ un million d'années, la roche d'accueil et les roches encaissantes peuvent
assurer leur fonction de protection pour un dépôt géologique profond. Ceci constitue
une base essentielle pour les analyses de sûreté. Ce travail est basé sur la banque de
données géologiques du nord de la Suisse ("Geodatensatz Nordschweiz") dans son
ensemble, ainsi que sur de nouvelles données spécifiques relatives aux conditions
rencontrées dans le nord-est de la Suisse. Les scénarios à long terme prennent en
compte tous les processus et événements significatifs qui, selon l'état des connais-
sances actuelles, peuvent influencer l'évolution géologique future du Weinland zuri-
chois. Les reconstitutions géologiques, basées sur des données et des méthodes pour
une part indépendantes les unes des autres, produisent une image assez cohérente
de la dynamique endogène du nord de la Suisse et des régions voisines au cours des
derniers 10 millions d'années.

Les connaissances de la géologie et de la tectonique régionales, conjointement aux


résultats des analyses néotectoniques, ont permis d'élaborer un modèle géo-
dynamique régional qui met en lumière les processus et les structures récents, par
conséquent susceptibles d'avoir une influence sur la géologie dans un proche avenir.
Sur cette base et au moyen d'hypothèses fondées, il est possible de représenter
l'évolution géologique de la région sur une durée d'environ un million d'années au
travers d'une série de scénarios plausibles. Dans le contexte de la sûreté d'un dépôt
géologique, ces scénarios doivent permettre de déduire les enseignements suivants:

1. Sur de grandes étendues dans le nord de la Suisse et en particulier dans le Wein-


land zurichois, les couches d'Argiles à Opalinus n'ont pas subi de déformation
depuis leur formation il y a 180 millions d'années.

2. La seule grande zone de failles qui affecte l'ensemble de la couverture sédimen-


taire du Weinland zurichois, la zone faillée de Neuhausen, s'étire le long de la
limite NE de la région de prospection sismique-3D.
3. Dans le Weinland zurichois, on peut pratiquement exclure l'apparition de nouvelles
zones de failles.
4. Des études empiriques menées sur des ouvrages souterrains dans des régions à
forte activité sismique montrent que l'importance des dégâts décroît très rapide-
ment à mesure que l'on s'enfonce dans le sol. Ainsi, à 650 m au-dessous de la
surface, c'est-à-dire à la profondeur où devrait être implanté le dépôt, les effets
sont pratiquement nuls, même dans le cas de secousses sismiques majeures. De
ce fait, on estime que des tremblements de terre ne devraient pas affecter la
sûreté d'un dépôt géologique profond dans les Argiles à Opalinus.
5. Au regard de la situation tectonique et de l'absence d'indices géothermiques
(anomalies), il ne faut pas s'attendre à une atteinte aux barrières géologiques par
une intrusion magmatique ou des phénomènes volcaniques.

6. Des données émanant de sources diverses (géomorphologie, historique de


l'enfouissement et des soulèvements, géodésie) permettent d'estimer la vitesse de
NAGRA NTB 99-08 VI

soulèvement dans le Weinland zurichois à 0.1 mm par an au maximum, c'est-à-


dire à 100 m par million d'années. On suppose que l'érosion linéaire suit le même
rythme que le soulèvement et correspond donc également à 0.1 mm par an. Avec
l'abaissement de la base d'érosion du Rhin jusqu'au point d'équilibre, on estime
qu'une épaisseur supplémentaire pouvant atteindre 100 m pourrait être érodée. De
ce fait, la couverture d'un dépôt situé à une profondeur de 650 m atteindrait encore
au minimum 450 m au bout d'un million d'années.

7. Les poussées glaciaires futures suivront le réseau de vallées qui existe aujourd'hui;
l'ablation glaciaire le long des vallées principales suivra le même rythme que le
soulèvement régional et local, et par conséquent se situera dans le même ordre de
grandeur que l'érosion linéaire. Les chaînes de collines subsisteront pour une
grande part et l'érosion glaciaire restera limitée aux vallées surcreusées existantes.
On peut supposer que le calcaire du Jurassique supérieur (Malm), en raison de sa
résistance à l'érosion, formera une sorte de "couvercle de protection" sous la forme
d'un relief topographique. Lors de l'estimation des taux d'érosion, cet aspect n'a
toutefois pas été envisagé afin de ne retenir que le scénario le plus pessimiste.
VII NAGRA NTB 99-08

INHALTSVERZEICHNIS

ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................................. I
ABSTRACT ................................................................................................................. III
RÉSUMÉ ...................................................................................................................V
INHALTSVERZEICHNIS.............................................................................................VII
VERZEICHNIS DER TABELLEN .................................................................................XI
VERZEICHNIS DER FIGUREN ..................................................................................XII
VERZEICHNIS DER BEILAGEN ............................................................................... XV

1 EINLEITUNG.............................................................................................. 1
1.1 Allgemeines................................................................................................ 1
1.2 Rahmenbedingungen und Zielsetzung ....................................................... 3
1.3 Vorgehen und Methodik.............................................................................. 5
1.4 Grundsätzliches zu Hebungs- und Erosionsraten ....................................... 7

2 ABRISS DER GEOLOGISCHEN GESCHICHTE DER


NORDSCHWEIZ ...................................................................................... 11
2.1 Überblick .................................................................................................. 11
2.2 Die Konsolidierung des Sockels im Paläozoikum ..................................... 15
2.2.1 Kristallin.................................................................................................... 15
2.2.2 Permokarbon............................................................................................ 16
2.3 Mesozoikum ............................................................................................. 22
2.3.1 Trias ......................................................................................................... 22
2.3.2 Jura .......................................................................................................... 24
2.3.3 Schichtlücke zwischen Malm und Mitteleozän .......................................... 29
2.4 Sedimentation und Tektonik im Tertiär ..................................................... 29
2.4.1 Tertiäre Dynamik zwischen Schwarzwald und Alpennordrand .................. 30
2.4.2 Das frühe Tertiär in der Nordschweiz (Paläozän – Oligozän).................... 32
2.4.3 Die Ablagerungen der Molasse in der Ostschweiz.................................... 32
2.4.4 Epialpine Subduktion, Vorlandschwelle und Schwarzwalddom ................. 37
2.4.5 Die Ermittlung von Subsidenzraten und das Ende der
Molassesedimentation .............................................................................. 39
2.4.6 Der mio-pliozäne Fernschub und die Deformation des
Nordostschweizer Alpenvorlands.............................................................. 41
2.4.7 Die Schichtlücke im Mio-Pliozän ............................................................... 42
2.5 Das Quartär: Eishausklima und Morphostratigraphie................................ 43
NAGRA NTB 99-08 VIII

2.5.1 Die Sonderstellung des Quartärs.............................................................. 43


2.5.2 Ursachen der Klimaveränderungen im Quartär ........................................ 44
2.5.3 Klimakurven als globaler Massstab für die Stratigraphie des Quartärs ..... 47
2.5.4 Die regionale Stratigraphie des Nordschweizer Quartärs ......................... 48
2.5.5 Lithostratigraphie der morphostratigraphischen Einheiten:
Erläuternde Beispiele und Schlüsselprofile ............................................... 51
2.5.5.1 Höhere Deckenschotter, z.B. Irchel (ZH) .................................................. 51
2.5.5.2 Tiefere Deckenschotter, z.B. Iberig (AG) .................................................. 55
2.5.5.3 Hoch- und Niederterrasse......................................................................... 57
2.5.6 Vom Irchel bis Diessenhofen: Ein Quartärgeologisches Profil durch
die Region Zürcher Weinland ................................................................... 63
2.6 Zusammenfassung ................................................................................... 65

3 NEOTEKTONIK........................................................................................ 67
3.1 Einleitung.................................................................................................. 67
3.1.1 Definition der Begriffe Neotektonik und rezente Tektonik ......................... 67
3.1.2 Ziel der neotektonischen Untersuchungen................................................ 67
3.2 Geologisch-tektonische Dokumentation ................................................... 69
3.2.1 Projekt "Gewähr" ...................................................................................... 69
3.2.2 Synthese "Kristallin".................................................................................. 69
3.2.3 Projekt "Opalinuston"................................................................................ 69
3.3 Geomorphologie und Gewässernetzanalyse ............................................ 70
3.3.1 Geomorphologische Hinweise auf neotektonische Bewegungen.............. 70
3.3.2 Entwicklung des Gewässernetzes ............................................................ 72
3.3.3 Alte Talniveaus und heutige Erosionsbasis .............................................. 80
3.4 Geodätische Untersuchungen .................................................................. 84
3.4.1 Analysen des Landesnivellements............................................................ 84
3.4.1.1 Durchgeführte Arbeiten ............................................................................ 85
3.4.1.2 Klassifizierung der Messpunkte ................................................................ 87
3.4.1.3 Darstellung der Resultate ......................................................................... 87
3.4.1.4 Geologische Aussagen zu den Nivellementmessungen ........................... 90
3.4.2 GPS-Messungen Nordschweiz ................................................................. 94
3.5 Erdbebenaktivität in der Nordschweiz....................................................... 96
3.5.1 Einleitung.................................................................................................. 96
3.5.2 Zusammenstellung der historischen Erdbeben seit dem Jahr 1000.......... 96
3.5.3 Instrumentelle Beobachtungen seit 1975.................................................. 97
IX NAGRA NTB 99-08

3.5.4 Herdmechanismen und rezente Deformation der Erdkruste in der


Nordschweiz ........................................................................................... 100
3.6 Rezentes Spannungsfeld in der Nordschweiz......................................... 104
3.6.1 Durchgeführte Arbeiten .......................................................................... 104
3.6.2 Ableitung des rezenten Spannungsfelds mittels Inversion der
Herdflächenlösungen.............................................................................. 105
3.6.3 Die Messungen in der Sondierbohrung Benken...................................... 109
3.6.4 Zusammenstellung und Diskussion der Resultate .................................. 113
3.7 Die geothermischen Verhältnisse in der Nordschweiz ............................ 116
3.8 Geodynamisches Konzept Nordschweiz................................................. 119
3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen .......................................... 124

4 DIE GEOLOGIE DES ZÜRCHER WEINLANDS UND IHR


ZUSAMMENHANG MIT DER REGIONALEN GEODYNAMIK ................ 129
4.1 Einleitung................................................................................................ 129
4.2 Tektonische Übersicht Zürcher Weinland und Umgebung...................... 130
4.2.1 Herzynisch streichende Strukturen ......................................................... 134
4.2.2 Beckenparallel streichende Strukturzonen.............................................. 136
4.3 Geologisches Modell Zürcher Weinland ................................................. 137
4.3.1 Neuhauser Störung ................................................................................ 138
4.3.2 Flexur von Rafz – Marthalen................................................................... 138
4.3.3 Wildensbucher Flexur............................................................................. 139
4.3.4 Hochzone von Benken............................................................................ 140
4.3.5 Strukturzone von Niderholz .................................................................... 141
4.3.6 Strukturzone von Trüllikon ...................................................................... 142
4.4 Die Baueinheiten des Zürcher Weinlands im Kontext der regionalen
Dynamik ................................................................................................. 142
4.4.1 Die Bedeutung des Sockels.................................................................... 142
4.4.2 Mächtigkeit, Fazies und Strukturen des Mesozoikums und ihre
Bedeutung für die Neotektonik ............................................................... 143
4.4.3 Stratigraphie und Tektonik des Tertiärs am Nordostschweizer
Molassenordrand.................................................................................... 145
4.4.4 Das Ende der Molassesedimentation ..................................................... 148
4.4.5 Die Auswirkung der Schwarzwald-Hebungszone auf das Zürcher
Weinland ................................................................................................ 150
4.4.6 Fernschub und laterale Kompression im Nordschweizer Deckgebirge ... 151
4.5 Synthese: Tektonische Phasen und deren Auswirkung auf die
Strukturen des Zürcher Weinlands ......................................................... 153
NAGRA NTB 99-08 X

4.6 Geodynamisches Konzept Zürcher Weinland......................................... 157

5 SICHERHEITSRELEVANTE SZENARIEN DER GEOLOGISCHEN


LANGZEITENTWICKLUNG ................................................................... 161
5.1 Endogene Szenarien .............................................................................. 163
5.1.1 Vertikalbewegungen der oberen Kruste im Zürcher Weinland ................ 163
5.1.2 Bewegungen an Störungszonen............................................................. 168
5.1.3 Erdbeben................................................................................................ 170
5.1.4 Thermisch-magmatische Szenarien ....................................................... 175
5.2 Exogene Szenarien ................................................................................ 176
5.2.1 Szenarien der zukünftigen Klimaentwicklung.......................................... 177
5.2.2 Erosionsszenarien .................................................................................. 186
5.2.3 Einschlag eines Meteoriten..................................................................... 198

6 SCHLUSSFOLGERUNGEN ................................................................... 199


6.1 Methodik, Konzepte und Prozessverständnis ......................................... 199
6.2 Regionales geodynamisches Konzept: Datenlage und Diskussion ......... 202
6.3 Strukturinventar und Szenarien der endogenen Entwicklung.................. 206
6.4 Klimaszenarien, Hebung und Erosion (Erosionsszenarien) .................... 209

7 VERDANKUNGEN ................................................................................. 214

8 LITERATURVERZEICHNIS.................................................................... 215
XI NAGRA NTB 99-08

VERZEICHNIS DER TABELLEN

Tab. 2.1: Mächtigkeit des gesamten in der Nordschweiz erbohrten Doggers


und Opalinustons...................................................................................... 27
Tab. 2.2: Klassische Korrelation der morphostratigraphischen Einheiten der
Nordschweiz mit den im östlichen Rheingletschergebiet
Süddeutschlands (Bayern) definierten Eiszeiten....................................... 49

Tab. 3.1: Verwendete plio-pleistozäne Talniveaus................................................... 80


Tab. 3.2: Parameter der Herdmechanismen in der Nordschweiz (nach
DEICHMANN et al. 2000) ....................................................................... 101
Tab. 3.3: Spannungsinversion – Richtung der kleinsten horizontalen
Spannungskomponente Sh ..................................................................... 107
Tab. 3.4: Ermittelte Richtungen der Horizontalstylolithen und Striemungen mit
abgeschätztem Fehlerbereich bezüglich der Zusammenhangslinien
(ZL)......................................................................................................... 112
Tab. 3.5: Zusammenstellung der Resultate zur Orientierung des
Spannungsfelds in der Nordschweiz aus den Daten der Nagra-
Sondierbohrungen und aus den Analysen der Herdflächenlösungen...... 114

Tab. 4.1: Verwendete Werte für die Konstruktion von Fig. 4.6............................... 150
Tab. 4.2: Tektonische Bewegungen an den Strukturelementen des Zürcher
Weinlands .............................................................................................. 154

Tab. 5.1: Für die geologische Langzeitentwicklung massgebende Prozesse


und Ereignisse und deren Bedeutung für die tektonischen Szenarien
sowie für die Erosionsszenarien ............................................................. 163
NAGRA NTB 99-08 XII

VERZEICHNIS DER FIGUREN

Fig. 1.1a: Geologisch-tektonische Übersicht und Lage des


Untersuchungsgebiets für den Opalinuston in der Nordostschweiz ............ 2
Fig. 1.1b: Geologisches NW-SE-Profil im Fallen der Schichten durch das
Zürcher Weinland ....................................................................................... 2
Fig. 1.2: Entwicklungsschema der "Geologischen Langzeitszenarien Zürcher
Weinland" ................................................................................................... 5

Fig. 2.1: Geologische Geschichte der Nordschweiz seit Ende des


Paläozoikums dargestellt in 7 Bildern entlang eines schematischen
WSW-ENE-Profils (überhöht, nicht-massstäblich).................................... 13
Fig. 2.2: Geologische Zeitskala und Überblick über die geologische
Entwicklung der Nordschweiz ................................................................... 20
Fig. 2.3: Versenkungsgeschichte der Tiefbohrungen Weiach, Benken und
Herdern-1 (modifiziert nach LEU et al. 2001)............................................ 21
Fig. 2.4: Isopachenkarte und paläogeographische Situation zur Zeit der
Ablagerung des Wirtgesteins (ALBERT & BLÄSI 2001) ........................... 26
Fig. 2.5: Chronostratigraphischer Querschnitt durch das Ostschweizer
Molassebecken (ergänzt nach KEMPF et al. 1999) .................................. 34
Fig. 2.6: Wichtige tektonische und sedimentäre Leitlinien des Jungtertiärs am
Nordrand des Ostschweizer Molassebeckens .......................................... 35
Fig. 2.7: Relative Reichweite der verschiedenen Gletschervorstösse während
des Quartärs in der Nordschweiz mit kalt- und warmzeitlichen
Belegslokalitäten (verändert und ergänzt nach SCHLÜCHTER 1989)...... 50
Fig. 2.8: Morphostratigraphisches Schema und neue lithostratigraphische
Einheiten der quartären Ablagerungen in der Nordschweiz (verändert
und ergänzt nach GRAF & MÜLLER 1999) .............................................. 52
Fig. 2.9: Lage des Irchels/ZH (Höhere Deckenschotter), Profil s. Fig. 2.10 ............ 53
Fig. 2.10: Profil durch die Höheren Deckenschotter des Irchels im nördlichen
Kanton Zürich mit Lage der Fundstelle von Kleinsäugerresten (nach
GRAF 1993) ............................................................................................. 54
Fig. 2.11: Geologische Situation der Tieferen Deckenschotter des Iberigs/AG ........ 55
Fig. 2.12: Profil durch die Tieferen Deckenschotter des Iberigs bei
Würenlingen/AG (verändert nach GRAF 1993) ........................................ 56
Fig. 2.13: Die Verbreitung von tiefen quartären Becken in der Nordschweiz
(ergänzt nach GRAF & MÜLLER 1999) .................................................... 58
Fig. 2.14: Lage des Birrfelds/AG (Hoch- und Niederterrasse), Profile s.
Fig. 2.15 ................................................................................................... 59
Fig. 2.15: Profile durch die quartäre Füllung des tiefen Beckens im unteren
Reusstal, Gebiet Birrfeld (nach GRAF in Vorb.)........................................ 60
Fig. 2.16: Hoch- und Niederterrasse im oberen Klettgau/SH (verändert und
ergänzt nach HOFMANN 1981), Profil s. Fig. 2.17 ................................... 62
XIII NAGRA NTB 99-08

Fig. 2.17: Schematisches Profil durch die Ablagerungen von Hoch- und
Niederterrasse im oberen Klettgau westlich von Schaffhausen
(verändert nach GRAF & MÜLLER 1999) ................................................. 63

Fig. 3.1: Entwicklung des Gewässernetzes in der Nordschweiz seit dem


Pliozän in acht Schritten (a) bis (h), nach LINIGER (1966),
HOFMANN (1982 und 1996), HANTKE (1984), SCHINDLER (1985),
VILLINGER (1989), GRAF (1993) und PETIT et al. (1996) ...................... 74
Fig. 3.2: Hebungsraten nach geologischen und geomorphologischen Kriterien
(Zeitraum: Pliozän – Pleistozän) ............................................................... 84
Fig. 3.3: Netz des schweizerischen Landesnivellements mit rezenten
Höhenänderungen (SCHLATTER 1999)................................................... 86
Fig. 3.4: Karte der AGNES-Stationen mit Verschiebungsvektoren und deren
Fehlerellipsen relativ zur Station Zimmerwald (Referenzstation) vom
19. Dezember 2002 .................................................................................. 95
Fig. 3.5: Epizentrenkarte der bekannten Erdbeben mit Intensitäten von
mindestens V für den Zeitraum 1021 – 1878 (a) und mit Intensitäten
von mindestens IV für den Zeitraum 1879 – 1998 (b) ............................... 98
Fig. 3.6: Epizentren der instrumentell erfassten Erdbeben für den Zeitraum
1975 – 1982 (a) und für den Zeitraum 1983 – 1999 (b) ............................ 99
Fig. 3.7: Stereographische Darstellungen der Orientierung der P- und T-
Achsen für verschiedene Herdtiefenbereiche und Gebiete ..................... 103
Fig. 3.8: Resultat der Spannungsinversion für verschiedene Teilgebiete der
Nordschweiz: (a) West-/Nordwestschweiz inklusive der Beben von
Murten, Romont und Fribourg, (b) Nordostschweiz, (c) gesamter
Datensatz Nordschweiz, dabei Tiefenbereich (d) ≤ 15 km und
Tiefenbereich (e) > 15 km der Nordschweiz ........................................... 106
Fig. 3.9: Streichrichtungen der möglichen Bruchflächen, die sich aus den
Herdflächenlösungen ergeben................................................................ 108
Fig. 3.10: Laufzeitimage und Bohrlochradien, die aus den UBI-Daten berechnet
wurden: Sondierbohrung Benken, Abschnitt unterer Dogger – Lias........ 110
Fig. 3.11: Überblick über die Orientierung des rezenten Spannungsfelds in der
Nordschweiz ........................................................................................... 115
Fig. 3.12: Geographische Lage der untersuchten Bohrungen der Nordschweiz
mit Angabe der gemittelten Temperaturgradienten (Datengrundlage
s. Beil. 3.5) ............................................................................................. 117
Fig. 3.13: Wärmeflusskarte der Nordschweiz (nach SCHÄRLI & RYBACH
2002) ...................................................................................................... 118
Fig. 3.14: Geodynamisches Konzept Nordschweiz................................................. 121

Fig. 4.1: Geographische Abgrenzung des Messgebiets der 3D-Seismik und


des Geologischen Modells Zürcher Weinland......................................... 130
Fig. 4.2: Tektonische Karte des Zürcher Weinlands und Umgebung.................... 132
NAGRA NTB 99-08 XIV

Fig. 4.3: Schematisches geologisches Profil durch die Nordostschweiz


(überhöht, nicht massstäblich)................................................................ 133
Fig. 4.4: Stark überhöhte 3D-Ansicht der Wildensbucher Flexur und
Neuhauser Störung von Nordwesten (aus BIRKHÄUSER et al. 2001) ... 140
Fig. 4.5: Tertiäre Dynamik des Molassenordrands im NNW-SSE-Profil Hegau
– Randen – Zürcher Weinland – Tiefbohrung Lindau-1 .......................... 147
Fig. 4.6: Eingrenzung des Wendepunkts anhand einer schematischen
Darstellung der Absenkung und Hebung des Untergrunds seit der
Wende Oligozän / Miozän am Beispiel der Tiefbohrungen Benken,
Herdern-1 und Lindau-1 (verwendete Daten s. Tab. 4.1)........................ 149
Fig. 4.7: Geodynamisches Konzept Zürcher Weinland......................................... 158

Fig. 5.1: Verlauf des Talniveaus des Rheins (a); Vergleich der Höhenlage
älterer Schotterniveaus mit dem heutigen Erosionsbasisverlauf am
Hochrhein (b).......................................................................................... 166
Fig. 5.2: Beziehung zwischen Tunnelschäden und verschiedenen
charakteristischen Grössen eines Erdbebens
(DOWDING & ROZEN 1978) ................................................................. 172
Fig. 5.3: Sauerstoffisotope und Klimaentwicklung im Plio-Pleistozän ................... 178
Fig. 5.4: Die Schwankungen des globalen Klimas der letzten 400'000 Jahre
anhand von klimasensitiven Parametern im Antarktischen Eis (nach
PETIT et al. 1999) .................................................................................. 179
2
Fig. 5.5: Sedimentabfluss (in t/km /a, links) resp. Denudationsraten (in mm/a,
rechts) verschiedener Klimagebiete ausserhalb Europas (nach
EINSELE & HINDERER 1997) ............................................................... 190
Fig. 5.6: Zusammenhang zwischen Materialabfluss resp. Denudationsrate und
Grösse des Einzugsgebiets von Regionen mit verschiedener
Reliefenergie in Zentraleuropa (schraffiertes Gebiet: Nordostschweiz,
aus EINSELE & HINDERER 1997)......................................................... 190
Fig. 5.7: Schematische Darstellung der Gesteinshärte resp.
Verwitterungsresistenz des Nordschweizer Schichtprofils im Hinblick
auf den flächenhaften Abtrag (abgeschätzt aufgrund der
lithologischen Verhältnisse in der Sondierbohrung Benken) ................... 191
XV NAGRA NTB 99-08

VERZEICHNIS DER BEILAGEN

Beil. 2.1: Tektonische Übersichtskarte 1:400'000 der Nordschweiz und


angrenzenden Gebieten
Beil. 2.2: Geologische Profile im Fallen 1:100'000
Beil. 2.3: Geologische Profile im Streichen 1:100'000
Beil. 2.4: Strukturkarte der Sockeloberfläche und Verbreitung der
Nordschweizer Permokarbonvorkommen
Beil. 2.5: Mächtigkeit der mesozoischen Formationen zwischen Riniken und
dem Bodensee
Beil. 2.6: Felsisohypsen der Haupttäler und wichtige Lokalitäten der plio-
pleistozänen Einheiten in der Nordostschweiz, 1:200'000
Beil. 2.7: Quartärgeologisches Profil Irchel – Thurtal – Benken – Cholfirst –
Buechberg – Rodenberg 1:50'000 / 5'000

Beil. 3.1: Hebungsraten aufgrund geologisch/geomorphologischer Kriterien in


der Nordschweiz
Beil. 3.2: Übersichtsplan Landesnivellement mit topographischer Karte (nach
SCHLATTER 1999), 1:200'000
Beil. 3.3: Geodätischer Datensatz auf tektonischer Übersichtskarte 1:400'000
Beil. 3.4: Herdmechanismen in der Nord- und Zentralschweiz auf geologischer
Übersichtskarte (nach DEICHMANN et al. 2000)
Beil. 3.5: Geothermische Daten aus Bohrungen der Nordschweiz (nach
SCHÄRLI & RYBACH 2002)

Beil. 4.1: Isohypsenkarte Basis Mesozoikum 1:100'000


Beil. 4.2: Isohypsenkarte Top Muschelkalk 1:100'000
Beil. 4.3: Isohypsenkarte Top Lias 1:100'000
Beil. 4.4: Isohypsenkarte Top Malm 1:100'000
Beil. 4.5: Geologisches Modell Zürcher Weinland, Diplinien
Beil. 4.6: Geologisches Modell Zürcher Weinland, Streichlinien

Beil. 5.1: Szenarienprofil Südostschwarzwald – Klettgau – Zürcher Weinland


1:50'000 / 10'000
Beil. 5.2: Erosionsszenarien bei maximalem Hebungsbetrag im Zürcher
Weinland
Beil. 5.3a: Lokale Szenarienprofile – Profil D
Beil. 5.3b: Lokale Szenarienprofile – Profil B
Beil. 5.3c: Lokale Szenarienprofile – Profil I
1 NAGRA NTB 99-08

1 EINLEITUNG

1.1 Allgemeines
Das Konzept der geologischen Lagerung hochaktiver und langlebiger mittelaktiver Ab-
fälle beruht auf einem dauerhaften Einschluss in tiefliegende, praktisch wasserun-
durchlässige Gesteinsformationen, die sich seit Jahrmillionen kaum verändert haben.
Die Nordschweiz liegt am äussersten Rand des Einflussbereichs der alpinen Oroge-
nese und stellt daher eine Zone sehr geringer tektonischer Aktivität dar. Dies veran-
lasste die Nagra, 1982 ein umfangreiches erdwissenschaftliches Untersuchungspro-
gramm in der Nordschweiz aufzunehmen. Das Schwergewicht der Erkundungsarbeiten
verlagerte sich dabei im Laufe der späten achtziger und neunziger Jahre vom kristal-
linen Grundgebirge der zentralen Nordschweiz (THURY et al. 1994) auf gering durch-
lässige Sedimentgesteine. Damit der Kenntnisstand über diese Sedimentgesteine auf
ein vergleichbares Niveau gebracht werden konnte, wurde eine grössere Studie durch-
geführt (NAGRA 1988). Im Laufe der Untersuchungen zeigte sich, dass der "Opalinus-
ton" eine erfolgsversprechende Option darstellt. Er wurde deshalb in erster Priorität
weiter untersucht (NAGRA 1991a und 1994).
Zur Abklärung der regionalen Geologie und Tektonik der Nordostschweiz, wo der Opa-
linuston praktisch ungestört in geeigneter Tiefe vorkommt, führte die Nagra im Winter
1991/92 (Fig. 1.1a) reflexionsseismische Messungen durch (NAEF et al. 1995). Die
Auswertung dieser Daten führte zum Ergebnis (NAGRA 1994), dass der Opalinuston
im Zürcher Weinland nur einer sehr geringen tektonischen Beanspruchung ausgesetzt
war und in geeigneter Tiefe vorliegt (Fig. 1.1b). Dieser Befund wurde dann im lokalen
2
Massstab (ca. 50 km ) im Gebiet des Zürcher Weinlands (Fig. 1.1a) mittels 3D-seismi-
schen Messungen (BIRKHÄUSER et al. 1999 und 2001) und der Sondierbohrung
Benken (NAGRA 2001) überprüft. Die Ergebnisse der 2D- und 3D-Seismik werden im
Geologischen Modell Zürcher Weinland dargestellt, welches das Messgebiet der 3D-
Seismik abdeckt und einen Perimeter von 10 km × 10 km aufweist (Fig. 1.1a). Es be-
steht aus einem Netz von je sechs geologischen Profilen im Streichen und Fallen der
regionalen Schichtlagerung. Dieses geologische Modell dient u.a. als Grundlage für
die in diesem Bericht behandelten geologischen Langzeitszenarien.
Da für die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers für hochaktive und lang-
lebige mittelaktive Abfälle ein grosser Zeitrahmen betrachtet werden muss, ist die
Schutzfunktion der geologischen Barrieren von essenzieller Bedeutung. Die geolo-
gischen Barrieren müssen daher in ihrem heutigen Zustand charakterisiert (s. NAGRA
2002) und ihre zukünftige Entwicklung abgeschätzt werden. Das Ziel des vorliegenden
Berichts ist daher die Herleitung geologischer Langzeitszenarien, die das Spektrum
möglicher zukünftiger Veränderungen der Geosphäre im Hinblick auf die Schutzfunk-
tion der technischen und geologischen Barrieren abdecken. Die geologischen Lang-
zeitszenarien bilden eine der Grundlagen für die Sicherheitsanalyse und müssen daher
entsprechend formuliert und quantifiziert werden.
Eine erste ausführliche Darstellung und Diskussion geologischer Langzeitszenarien
wurde für das kristalline Grundgebirge im Rahmen des Projekts "Gewähr" für die
Untersuchungsregion Nordschweiz (DIEBOLD & MÜLLER 1985, MÜLLER & DIEBOLD
1985) vorgelegt. Die geologischen Langzeitszenarien sind für den Synthesebericht
Kristallin I überarbeitet und aktualisiert worden (NAEF 1992, THURY et al. 1994). Der
vorliegende Bericht stützt sich auf diese früheren Arbeiten. Der damals erarbeitete erd-
wissenschaftliche Datensatz musste aber auf die Nordostschweiz ausgedehnt und um
die in der Zwischenzeit neu gewonnenen Erkenntnisse erweitert werden.
NAGRA NTB 99-08 2

Hegau

Schwarzwald-
Massiv Bo
a Schaffhausen den
see
r
u
l j
e
f
a
T
Thur
Rhe
in
n
e
k
c
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b
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Re

10 km
Fa
us

Aare
s

Zürich

Untersuchungsgebiet Opalinuston Lage des abgebildeten Profils Landesgrenze


Nordostschweiz 1991/92 (Fig. 1.1b)
Messgebiet der 3D-Seismik Gebiet des geologischen Modells Sondierbohrung
Zürcher Weinland 1998 Zürcher Weinland Benken

Fig. 1.1a: Geologisch-tektonische Übersicht und Lage des Untersuchungsgebiets für


den Opalinuston in der Nordostschweiz

NW Sondier- SE
bohrung
Rhein

m ü.M.
Uhwiesen Benken Oerlingen Kleinandelfingen
500

-500
Klettgau-Trog
(?)
-1000 1 km Hochzone von Benken Weiach-Trog

Legende zum Profil Mesozoikum Keuper


oberer Malm Oberer Muschelkalk
Quartär
unterer Malm Mittlerer bis Unterer Muschelkalk,
Lockergesteine (Quartär) Buntsandstein
oberer bis
Tertiär mittlerer Dogger Grundgebirge
Untere Opalinuston
Kristallin
Süsswassermolasse Lias
Permokarbon
Permokarbon vermutet

Fig. 1.1b: Geologisches NW-SE-Profil im Fallen der Schichten durch das Zürcher
Weinland
3 NAGRA NTB 99-08

1.2 Rahmenbedingungen und Zielsetzung

Für die Beurteilung der geologischen Langzeitszenarien müssen folgende Rahmenbe-


dingungen berücksichtigt werden:
2
• Ein geologisches Tiefenlager benötigt eine Fläche von knapp 2 km und könnte in
einem Tiefenbereich zwischen 400 und 900 m unter Terrain erstellt werden. Für
das Referenzmodell wird eine Lagertiefe von 650 m u.T. angenommen. Der geolo-
gische Bau und die relevanten Strukturen des Untersuchungsgebiets wurden durch
die 3D-Seismik (BIRKHÄUSER et al. 2001) und die Sondierbohrung Benken
(NAGRA 2001) detailliert erkundet. Die Erkenntnisse aus der Neotektonik (s.
Kap. 3) bilden die Grundlagen zur Charakterisierung der Dynamik und Kinematik
der obersten Erdkruste.
• Das Wirtgestein, der sehr gering durchlässige Opalinuston einschliesslich der Mur-
chisonae-Schichten in toniger Fazies, weist im Zürcher Weinland eine Mächtigkeit
von ca. 105 – 125 m auf und fällt mit ca. 5 – 6 Grad nach Südosten ein. Das Wirt-
gestein ist in eine Serie von vorwiegend tonig-mergeligen Rahmengesteinen einge-
bettet; diese umfasst die tonigen, gering durchlässigen Serien des Doggers und
des Oxfordian (Effinger Schichten) im Hangenden sowie die überwiegend tonigen
bis mergeligen Partien des Lias und des Keupers im Liegenden. Diese tonig-
mergelige Abfolge (Keuper bis unteres Oxfordian) wird im Hangenden begrenzt
durch die karbonatischeren Schichten des Oxfordian (Hornbuck-Schichten, Wohl-
geschichtete Kalke) sowie diejenigen des Kimmeridgian (im Weiteren kurz als
Malm-Aquifer bezeichnet). Im Liegenden wird sie von den Formationen Stuben-
sandstein und Schilfsandstein (Sandsteinkeuper) durchsetzt und nach unten durch
die karbonatische Abfolge des Mittleren bis Oberen Muschelkalks (Muschelkalk-
Aquifer) begrenzt. Die Ausbildung und Mächtigkeit dieser mesozoischen Schicht-
folge im Untersuchungsgebiet wird durch die Resultate der Sondierbohrung
Benken dokumentiert (NAGRA 2001). Der Malm-Aquifer ist bei Neuhausen (Rhein-
fall) aufgeschlossen und weist somit eine kurze Verbindung zu seinem Vorfluter,
dem Rhein auf. Der Muschelkalk-Aquifer exfiltriert erst bei Koblenz in den Rhein
oder im Osten in die Donau (KLEMENZ et al. 2000). Daraus ergeben sich zwei
Bereiche, die für die geologischen Langzeitprognosen betrachtet werden müssen:
- Der Fernbereich umfasst dabei den Bereich der Geosphäre vom Lager bis zu
den Exfiltrationsgebieten der beiden Hauptaquifere (Rhein). In diesem Bereich
können sich die Wasserfliesswege, die Vorflutverhältnisse etc. im Laufe des
zu betrachtenden Zeitraums verändern.
- Der Nahbereich umfasst die unmittelbare Umgebung des Lagers bis in eine
Entfernung von ca. 1 km. In diesem Nahbereich könnten endogene und exo-
gene Prozesse die Schutzfunktion der das Lager umhüllenden tonig-mergeli-
gen Serien beeinträchtigen.
• Der Zeitraum, der für die Langzeitsicherheit eines geologischen Lagers für hoch-
aktive und langlebige mittelaktive Abfälle betrachtet wird, beträgt mehrere Hundert-
tausend bis eine Million Jahre.

Grossräumige subkrustale Prozesse bestimmen die Entwicklung der Erdkruste (z.B.


Deformation der Kruste durch tektonische Prozesse, Veränderung des Spannungs-
und Temperaturfelds etc.). Die Erstellung plausibler geologischer Langzeitprognosen
bedarf daher umfassender Kenntnisse über den geologischen Bau und die dynami-
schen und kinematischen Prozesse der jüngeren Erdgeschichte in einem regionalen
NAGRA NTB 99-08 4

Rahmen. In die Betrachtungen zur Langzeitentwicklung müssen deshalb der südliche


Schwarzwald, der Tafel- und Faltenjura, das Molassebecken und die nördlichen Alpen
mit einbezogen werden.

Der geologische Bau und die relevanten lokalen Strukturen des Untersuchungsgebiets
im Zürcher Weinland wurden durch die 3D-Seismik (BIRKHÄUSER et al. 2001) und
die Sondierbohrung Benken (NAGRA 2001) detailliert erkundet. Die Ergebnisse sind
wichtige Rahmenbedingungen für die Abschätzung der geologischen Langzeitentwick-
lung im Nahfeld (Beeinträchtigung der Lagerzone), aber auch für den engeren Bereich
des Fernfelds (potenziell aktive Störungen, Wasserfliesswege). Sie werden anhand
der Profilserie des Geologischen Modells Zürcher Weinland dargestellt. Die Korrelation
dieser detaillierten lokalen Daten mit den regionalen Kenntnissen, wie sie in früheren
Berichten der Nagra publiziert wurden, erfolgt mithilfe von Strukturkarten, die einen
etwas grösseren Perimeter zwischen den Tiefbohrungen Weiach, Siblingen und Her-
dern-1 abstecken (s. Kap. 4).

Neben den Daten zur lokalen und regionalen Geologie werden für die Herleitung von
Rahmenszenarien und Langzeitprognosen (s. auch DIEBOLD & MÜLLER 1985, NAEF
1992) v.a. detaillierte Kenntnisse über die endogenen und exogenen Ereignisse und
Prozesse benötigt, welche die obere Erdkruste im Nahfeld und Fernfeld eines Lager-
standorts verändern können. Deshalb spielt die Analyse und quantitative Abschätzung
der jungen und rezenten Bewegungen – zusammengefasst unter dem Kapitel Neotek-
tonik (Kap. 3) – in den vorliegenden Untersuchungen eine zentrale Rolle. Die Resultate
ermöglichen eine Dynamisierung des statischen Datensatzes zur Geologie (Ist-Zu-
stand) und führen so zu konkreten Vorstellungen über die künftige Entwicklung und
den Zustand nach dem vorgegebenen Zeithorizont von einer Million Jahren. Dabei wird
klar, dass die endogenen Prozesse nicht nur die Veränderungen im Erdinneren verur-
sachen, sondern dass sie langfristig auch weitgehend den Verlauf der für die Sicher-
heitsbetrachtungen relevanten exogenen Prozesse, wie Erosion, Denudation, Sedi-
mentation etc. bestimmen.

Die für die geologische Langzeitsicherheit letztlich relevanten Prozesse und Ereignisse
lassen sich in drei Gruppen gliedern:
• Prozesse und Ereignisse, die eine direkte Störung des Tiefenlagers und damit eine
beschleunigte Freisetzung von Radionukliden verursachen könnten.
• Prozesse und Ereignisse, die eine Veränderung des Zustands (der Durchlässig-
keit) oder der Geometrie (der Anordnung) der lokalen und der regionalen Wasser-
fliesswege zu den Exfiltrationsgebieten bewirken könnten.
• Prozesse und Ereignisse, die eine Verlagerung (Tieferlegung) der lokalen und
regionalen Erosionsbasis und damit eine Verminderung der geologischen Barrieren
durch Erosion verursachen könnten.

Der für das Verständnis der endogenen und exogenen Vorgänge benötigte Datensatz
ist heterogen und zeigt eine beachtliche Bandbreite bezüglich räumlicher als auch zeit-
licher Dimension. Neben den klassischen geologischen Grunddaten müssen Informa-
tionen über mögliche Klimaszenarien (natürliche und anthropogene Faktoren), die Ent-
wicklung des lokalen und regionalen Gewässernetzes, die Auswirkung von Vorland-
vereisungen, seismotektonische und geodätische Messungen etc. verfügbar sein. Eine
Kombination dieser unterschiedlichen Datensätze resultiert in Rahmenszenarien, in-
nerhalb derer die möglichen zukünftigen Entwicklungen der Geosphäre beschrieben
5 NAGRA NTB 99-08

werden müssen. Dazu ist eine plausible Herleitung und klare Beschreibung von wichti-
gen Grundannahmen und Konzepten erforderlich. Die resultierenden Langzeitszena-
rien Zürcher Weinland werden deshalb nicht nur qualitativ beschrieben, sondern auch
quantifiziert (Kap. 5). Letztlich werden die Resultate einer kritischen Bewertung
unterzogen (Kap. 6).

1.3 Vorgehen und Methodik

Um die in Kap. 1.2 formulierten Ziele zu erreichen, ist ein schrittweises Vorgehen
zweckmässig, wie es in Fig. 1.2 schematisch dargestellt ist. Demgemäss ist der vorlie-
gende Bericht in vier thematische Teile gegliedert:

Bestimmung des
Untersuchungen
Untersuchungen

Untersuchungen
Stratigraphische

Spannungsfelds
Kartierungen

Geodätische

Analyse von
Messungen

Geothermie
2D-Seismik

Geomorph.
bohrungen

Erdbeben
Geophys.

Sondier-
Geol.

Geologisch/tektonischer Datensatz Neotektonischer Datensatz


Nordschweiz Nordschweiz inkl. angrenzender Gebiete

Regionale Kenntnisse
Geodynamisches Konzept
Alpen-Mittelland-Rheingraben-
Nordschweiz
Schwarzwald-Schwäbische Alb

Festlegung der Rahmenszenarien

Lokale geol. Kenntnisse


Geodynamisches Konzept
3D-Seismik
Zürcher Weinland
Sondierbohrung Benken

Festlegung der sicherheitsrelevanten


Szenarien

Geologische Langzeitszenarien
Zürcher Weinland

Fig. 1.2: Entwicklungsschema der "Geologischen Langzeitszenarien Zürcher Wein-


land"
NAGRA NTB 99-08 6

Der erste Teil besteht aus einer zusammenfassenden Darstellung der regionalen Geo-
logie. Ausgehend von einer tektonischen Übersicht wird ein Abriss der geologischen
Geschichte der Nordschweiz beschrieben (Kap. 2), wobei das Hauptinteresse dem
jüngsten Abschnitt, d.h. dem Tertiär und vor allem dem Quartär gilt. Deren Eckdaten
können als historische Basis für die Langzeitentwicklung verwendet werden. Dabei
geht es vorrangig um möglichst genaue Aussagen zur Chronologie der jüngsten Pro-
zesse und Ereignisse, wodurch die Ermittlung entsprechender Raten für die Sedimen-
tation und damit Subsidenz oder die Erosion und damit Hebung eines Gebiets
ermöglicht wird (s. Kap. 1.4). Die kurze Beschreibung der mesozoischen Formationen
des Deckgebirges und ihrer Ablagerungsgeschichte ist wichtig für die Beurteilung der
hydrogeologischen Eigenschaften und ihres rheologischen Verhaltens bei tektonischer
Beanspruchung.

Das nachfolgende Kap. 3 behandelt den umfangreichen Datensatz der neotekto-


nischen Untersuchungen, die im Laufe der vergangenen 20 Jahre in der Nordschweiz
durchgeführt wurden. In einem ersten Teil wird versucht, aus geomorphologischen
Daten die Tal- und Gewässernetzentwicklung der letzten 5 Millionen Jahre zu rekon-
struieren. Daraus kann die Entwicklung der lokalen und regionalen Erosionsbasis, d.h.
die Eintiefung der Talzüge abgeleitet werden. Können einzelne Entwicklungsschritte
datiert werden, so lassen sich damit langfristig gemittelte Erosionsraten bestimmen,
die zugleich auch als relative Hebungsraten anzusehen sind (s. Kap. 1.4).

Der zweite Teil des Kapitels über Neotektonik beschreibt ausführlich die mit geophysi-
kalischen und geodätischen Methoden erhobenen Daten. Die Auswertung der Präzi-
sionsnivellements der Landestopographie erlaubt direkte Aussagen über die rezenten
Vertikalbewegungen. Die Verknüpfung von süddeutschen Messungen mit dem schwei-
zerischen Vermessungsnetz ermöglicht praktisch flächendeckende Aussagen zur heu-
tigen regionalen Geodynamik zwischen dem Oberrheingraben und dem Alpennord-
rand, wobei die Neuberechnung der ostschweizerischen Linien wichtige neue Daten
geliefert hat. Die Auswertung der Erdbebenaktivität (Seismotektonik) und die Daten
der Spannungsmessungen aus Tiefbohrungen sind weitere wichtige Bausteine für die
Charakterisierung der rezenten tektonischen Bewegungen der Nordschweiz.

In Kap. 3.8 werden alle mit geologischen, geomorphologischen und geophysikalisch-


geodätischen Methoden erarbeiteten Daten über die jungen und rezenten Bewegun-
gen der Nordschweiz in ein regionales geodynamisches Konzept integriert. Anhand
einer schematischen tektonischen Übersicht werden Gebiete mit rezenter Hebung, sol-
che mit minimalen Vertikalbewegungen und andere mit Absenkung gegeneinander ab-
gegrenzt. Die strukturgeologischen und seismotektonischen Daten kombiniert mit dem
rezenten Spannungsfeld erlauben Aussagen über die Abgrenzung des Fernschubs
und den möglichen rezenten und zukünftigen Bewegungscharakter an einzelnen be-
kannten Strukturelementen. Mit diesem geodynamischen Konzept werden letztlich die
tektonischen Rahmenszenarien festgelegt. Bei der Prognose für die Langzeitentwick-
lung geht es in erster Linie um die schon in früheren Berichten ausführlich diskutierte
Frage, ob der aktive alpine Zusammenschub andauert, d.h. mit zusätzlicher Krusten-
verkürzung und damit anhaltender Kompression der Nordschweizer Kruste zu rechnen
ist, oder ob das heute gemessene horizontale Spannungsfeld lediglich Ausdruck einer
abklingenden Aktivität des Alpenkörpers ist.

In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion besteht nach wie vor keine Klarheit
über diese zentrale Frage. Ein anhaltender Zusammenschub mit fortschreitender Ab-
scherung des Deckgebirges im Alpenvorland wird heute als realistisches Szenarium
7 NAGRA NTB 99-08

betrachtet und ist auch mit dem geodynamischen Konzept Nordschweiz vereinbar. Es
stellt gleichzeitig ein projektorientiert eher pessimistisches Szenarium dar und wird
deshalb für die weitere Bearbeitung der Langzeitentwicklung in Kap. 4 und 5 als einzi-
ges Rahmenszenarium berücksichtigt.

In Kap. 4 folgt auf Grundlage der Daten zur Geologie der Nordschweiz und den Daten
aus den lokalen Untersuchungen (Reflexionsseismik, Sondierbohrung Benken etc.)
eine detaillierte Beschreibung des Strukturinventars im Untersuchungsgebiet Zürcher
Weinland und Umgebung. Die Analyse der einzelnen tektonischen Elemente in Zu-
sammenhang mit der Mächtigkeit und der Ausbildung (Fazies) der mesozoischen und
tertiären Formationen erlaubt die Abgrenzung mehrerer tektonischer Phasen, die das
heutige Strukturmuster verursacht haben. Die zentrale Frage, ob diese Strukturen
auch in Zukunft und in welchem Ausmass aktiv sein könnten, wird mit dem geodynami-
schen Konzept Zürcher Weinland beantwortet. Dieses Konzept ist als Kombination des
lokalen Strukturinventars mit dem geodynamischen Konzept Nordschweiz und unter
Berücksichtigung des Rahmenszenariums "aktiver Fernschub" zu verstehen.

Die eigentliche Herleitung der geologischen Langzeitszenarien erfolgt in Kap. 5. Auf


Grundlage des geodynamischen Konzepts Zürcher Weinland werden die sicherheits-
relevanten Aspekte für ein Referenzlager in 650 m Tiefe definiert. Die für die geolo-
gische Langzeitsicherheit massgebenden Prozesse und Ereignisse können thematisch
zwei Gruppen zugeordnet werden:
• Die Szenarien der tektonischen Entwicklung beziehen sich v.a. auf die endogenen
Prozesse, die für die Nahfeldsicherheit und mögliche Veränderungen der Migra-
tionswege eine Rolle spielen.
• Die Erosionsszenarien betreffen v.a. die Aspekte der exogenen Dynamik, die für
die lineare und flächenhafte Erosion verantwortlich sind.

1.4 Grundsätzliches zu Hebungs- und Erosionsraten

Die Bearbeitung der Szenarien der tektonischen Entwicklung beruht auf konventionel-
len geologischen Methoden und Grundkonzepten und wurde bereits in früheren
Berichten der Nagra ausführlicher dargestellt. Dagegen bedarf das Vorgehen bei der
Ermittlung von Hebungsraten und deren Zusammenhang mit einer entsprechenden
Erosion einiger grundsätzlicher Erläuterungen. Dabei ist es wichtig, dass jeweils
sowohl der räumliche als auch der zeitliche Massstab berücksichtigt und nur Gleiches
mit Gleichem verglichen resp. kombiniert wird. Ist von Raten die Rede, so beruhen
diese grundsätzlich auf einer linearen Interpolation über einen bestimmten Zeitab-
schnitt, implizieren also stillschweigend einen kontinuierlichen Prozess und müssen
sich auf einen definierten Referenzpunkt beziehen. Weiter wird davon ausgegangen,
dass solchermassen ermittelte Raten, die sich auf die unmittelbare Vergangenheit
einer bestimmten Lokalität beziehen, auch für einen vergleichbaren Zeitraum der Zu-
kunft gültig sind (Extrapolation der Vergangenheit in die Zukunft). Dieses Konzept
muss jedoch zwangsläufig Grenzen haben, die mit Analogbeispielen und dem Ver-
gleich der Daten verschiedener methodischer Ansätze diskutiert werden müssen. Je
besser die Ergebnisse unterschiedlicher Methoden miteinander übereinstimmen, desto
belastbarer ist die Aussage.

Dieses Konzept gemittelter Raten und entsprechend kontinuierlicher Bewegungen aus


der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft setzt aber auch voraus, dass im
NAGRA NTB 99-08 8

betrachteten Gebiet ein dynamisches Gleichgewicht herrscht, also nicht eine polare
Entwicklung mit einer Beschleunigung oder Verlangsamung oder sogar einer Trend-
umkehr stattfindet. Zumindest für den geforderten Zeithorizont von einer Million Jahren
muss dies gültig sein; bei Unsicherheiten ist eine entsprechende Sicherheitsmarge ein-
zubauen.

Im Gegensatz zur Ermittlung von Absenkraten verfügt man bei der Bestimmung von
Hebungsraten nicht über eine kontinuierliche Gesteinsabfolge, die den entsprechen-
den Zeitraum direkt dokumentiert, sondern es müssen in älteren Abfolgen Indizien für
die Dauer und das Ausmass der Hebungsgeschichte gesucht werden (Maturitätsstu-
dien, Apatit-Spaltspuren-Methode, Fluideinschluss-Untersuchungen), oder diese wird
rekonstruiert anhand von Erosionsformen und Resten älterer, über das Niveau des
rezenten Sedimentationsbereichs resp. der heutigen Erosionsbasis herausgehobener
Ablagerungen (geomorphologische Analysen).

Maturitätsstudien liefern anhand von Kenntnissen über die thermische (diagenetische)


Reife älterer Sedimentabfolgen, die aus Tiefbohrungen gewonnen werden, Hinweise
für die Hebungsgeschichte und den Hebungsbetrag (Beckenanalyse). Mit verschiede-
nen Methoden können auch die Abkühlungsgeschichte von kristallinen oder Sediment-
gesteinen rekonstruiert und so Daten für die Hebungsgeschichte gewonnen werden.
Analysen junger, noch anhaltender Hebungen beziehen sich in der Regel auf kontinen-
tale Gebiete, deren Meereshöhe zwar heute, nicht aber zu Beginn der betrachteten
Hebungszeit bekannt ist. Es handelt sich deshalb um Relativbewegungen gegenüber
einem lokalen Bezugspunkt (z.B. heutige Geländeoberfläche einer Tiefbohrung) oder
einer regionalen Bezugsebene (heutiges Talniveau = Sedimentationsebene = Ero-
sionsbasis), deren Meereshöhe sich im Laufe der Hebungsgeschichte ebenfalls verän-
dert haben kann. Bei Maturitätsstudien an marinen Sedimentabfolgen ist ein direkter
Bezug unter Umständen gegeben, bei geomorphologischen Analysen innerhalb der
Kontinente, wie dies auch in der Nordschweiz der Fall ist, muss die Anbindung an das
Meeresniveau über die Hauptentwässerungsrinne erfolgen. Für die Nordschweiz ist
dies zumindest seit Beginn des Pleistozäns vor ca. 2.6 Millionen Jahren der Rhein.

Der Vergleich älterer, höherliegender Talböden und entsprechender Flusslaufprofile


mit dem heutigen Talniveau ergibt ein Mass für die lineare Erosion innerhalb eines
betrachteten Gebiets. Entspricht diese lineare Erosion im eingangs erwähnten Sinne
einer kontinuierlichen Entwicklung, so kann aus der Erosion direkt auf die relative
Hebung des Gebiets gegenüber seiner Erosionsbasis, d.h. dem tiefsten Punkt des
Talsystems geschlossen werden. Erosionsraten entsprechen dann den regionalen
Hebungsraten. Die Bestimmung der absoluten Hebung oder entsprechender Hebungs-
raten erfordert zusätzlich Angaben über die Bewegung der regionalen Erosionsbasis
gegenüber dem Meeresspiegel. Für die geologischen Langzeitszenarien, insbeson-
dere die Erosionsszenarien, ist dies aber nur von Bedeutung, falls der Verdacht
besteht, dass die zukünftige Entwicklung anders verlaufen könnte, d.h. nicht linear
extrapoliert werden darf; dann aber sind die Grundvoraussetzungen der Methode nicht
erfüllt.

Soll die Annahme "Erosionsraten = Hebungsraten" nicht nur relativ, d.h. für ein ge-
schlossenes, sich in einem dynamischen Gleichgewicht befindendes System, wie es
für die Nordschweiz angenommen wird, sondern auch absolut gelten, so muss eine
weitere Bedingung erfüllt sein: Die Erosion muss mit der Hebung Schritt halten. Ist die
tatsächliche Hebung eines Gebiets grösser als die lineare Erosion entlang seiner
Haupttäler, so wird es sich gegenüber der globalen Erosionsbasis – für die Nord-
9 NAGRA NTB 99-08

schweiz ist dies die Nordsee, relativ herausheben. Das geforderte dynamische Gleich-
gewicht ist nicht vorhanden, und es besteht die Gefahr einer zeitlich verzögerten
Rückerosion. Wann eine solche eintritt, hängt davon ab, wieviel Zeit bis zum erneuten
Ausgleich, d.h. bis zur Etablierung eines neuen Gleichgewichtsprofils entlang des
gesamten Flusslaufs vergehen wird. In der Fachliteratur finden sich unterschiedliche
Ansätze zur Lösung dieser Frage. Abgesehen vom Einfluss zahlreicher endogener wie
exogener Faktoren besteht heute die Tendenz zur Annahme, dass das Erreichen
eines Gleichgewichtsprofils viel rascher, nämlich innerhalb einiger 100'000 Jahre
erfolgt, als dies früher angenommen wurde. Kann also für ein Teilsystem, z.B. die
Nordschweiz mit Erosionsbasis in Basel, nachgewiesen werden, dass über eine
wesentlich längere Zeit ein Gleichgewichtszustand geherrscht hat, so ist anzunehmen,
dass dies für das gesamte System bis zur globalen Erosionsbasis auch der Fall war. In
der Nordschweiz wird zumindest für die vergangenen 2 Millionen Jahre seit Ablage-
rung der höheren Deckenschotter eine kontinuierliche Talentwicklung postuliert. Es ist
deshalb naheliegend, dass diese Entwicklung im Gleichgewicht mit dem gesamten
Rhein stattgefunden hat.
11 NAGRA NTB 99-08

2 ABRISS DER GEOLOGISCHEN GESCHICHTE DER NORDSCHWEIZ

2.1 Überblick

Als Datengrundlage für die folgenden Ausführungen wurden die bisherigen Darstel-
lungen zur Geologie der Nord- und Nordostschweiz (v.a. MÜLLER et al. 1984, DIE-
BOLD et al. 1991 und NAEF et al. 1995 sowie in diesen Berichten zitierte Literatur), die
Resultate der 3D-Seismik im Zürcher Weinland (BIRKHÄUSER et al. 2001) und der
Sondierbohrung Benken (NAGRA 2001) sowie neueste Forschungsergebnisse aus der
Literatur verwendet.

Die tektonische Übersichtskarte in Beil. 2.1 und die geologischen Profile in Beil. 2.2
und 2.3 veranschaulichen die Situation der Nordschweiz zwischen dem Alpennordrand
im Südosten und dem Schwarzwaldmassiv im Nordwesten. Sie wird geprägt von drei
lithologisch unterschiedlichen Baueinheiten, deren Gesteinsabfolgen den erdgeschicht-
lichen Epochen entsprechen, nämlich von unten (älter) nach oben (jünger):
• Dem paläozoischen Sockel mit kristallinem Grundgebirge (Gneise, Granite und
Ganggesteine, insgesamt auch als "basement" bezeichnet) und darin eingelager-
ten jungpaläozoischen Sedimenttrögen (z.B. Nordschweizer Permokarbontrog).
• Dem mesozoischen Deckgebirge bestehend aus vorwiegend marinen Karbonat-
und Tongesteinen mit evaporitischen Serien und Einschaltungen von terrigenen
Schüttungen (Sandsteine).
• Den tertiären Molasseablagerungen, deren fein- bis grobklastische, mehrheitlich
kontinentale Sedimente (Mergel, Sandsteine und Konglomerate) die Erosionspro-
dukte der entstehenden Alpen darstellen.

Der Sockel wurde während der variskischen Gebirgsbildung vom späten Devon bis ins
Mittlere Perm konsolidiert und war bis zum Ende des Paläozoikums bereits wieder ein-
geebnet (vgl. auch Fig. 2.1 und 2.3). Über diese Peneplain erfolgte in der frühen Trias
die Transgression eines epikontinentalen Flachmeeres. Dies führte im Laufe von über
100 Millionen Jahren zur Akkumulation der 700 – 800 m mächtigen, über weite
Gebiete relativ einheitlich aufgebauten mesozoischen Sedimentserie. Vom späten
Mesozoikum bis ins frühe Oligozän herrschten in der Nordschweiz wieder kontinentale
Verhältnisse mit intensiver Verwitterung unter tropischem Klima und bei anhaltender
tektonischer Ruhe. Erst im Verlauf des Oligozäns wurde das Gebiet der Nordschweiz
von den Bewegungen der alpinen Orogenese erfasst und in zwei Hauptphasen nach-
haltig deformiert.

Durch die Heraushebung des Schwarzwalds im Nordwesten und die Absenkung am


Alpennordrand während des jüngeren Tertiärs wurden die mesozoischen Schichten im
ganzen Gebiet schräg gestellt, so dass sie heute generell mit wenigen Grad nach ± SE
unter die keilförmig mächtiger werdende Molasse einfallen. Die basalen Molasseabla-
gerungen liegen leicht diskordant über dem Mesozoikum und fallen in ähnlicher Weise
nach Südosten ein. Da die Mächtigkeit der Molassesedimente von wenigen Deka-
metern am Nordrand auf über 3 km Mächtigkeit am Südrand der Mittelländischen
Molasse zunimmt (s. Profile in Beil. 2.2 und 2.3), nimmt auch deren Neigung innerhalb
des Molassekeils nach oben zusehends ab, so dass die jüngeren Schichten der Obe-
ren Meeresmolasse (OMM) und besonders der Oberen Süsswassermolasse (OSM) im
ganzen Gebiet – abgesehen von lokalen tektonischen Störungen – praktisch horizontal
gelagert sind.
NAGRA NTB 99-08 12

Das Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland liegt am Nordrand des Molassebeckens


im Grenzbereich zwischen dem östlichen Tafeljura und der Ostschweizer Molasse. Im
Gebiet Tafeljura – Molassenordrand werden im obersten Teil des Sockels ausgedehn-
te jungpaläozoische Sedimentbecken vermutet, die insgesamt als Nordschweizer
Permokarbontrog bezeichnet werden (MÜLLER et al. 1984, DIEBOLD et al. 1991).
Tafeljura, Nordschweizer Permokarbontrog und Molassebecken streichen nach Nord-
osten in den süddeutschen Raum hinein, wobei die Distanz zwischen Tafeljura resp.
Schwäbischer Alb und Alpenrand sukzessive zunimmt, d.h. die Mittelländische Molas-
se breiter wird. Im Hegau – Bodensee-Gebiet werden Tafeljura und Molassenordrand
von WNW-ESE, d.h. herzynisch streichenden, jungen Grabenbrüchen durchquert, die
sich als markante, gestaffelt angeordnete Strukturzone über den Schwarzwald hinweg
bis in den Oberrheingraben verfolgen lassen. Diese Strukturen werden insgesamt als
Freiburg – Bonndorf – (Hegau) – Bodensee-Graben bezeichnet. Wichtigste Elemente
dieser Grabenzone im näheren Umfeld des Zürcher Weinlands sind die Randen-
Störung und die Neuhauser Störung, für die Abschiebungsbeträge von maximal 150
bis 200 m ermittelt wurden (s. Beil. 2.1 und 2.3).
Etwa südlich einer Linie Diessenhofen – Benken – Rafz – Mandacher Störung bewirkte
der jungtertiäre Zusammenschub eine Abscherung des Deckgebirges im Alpenvorland
("décollement"), wie sie von BUXTORF (1907 und 1916) erstmals postuliert und von
LAUBSCHER mehrfach beschrieben und dargestellt wurde (s. LAUBSCHER 1961,
1985, 1992 und 1997). Als Abscherungshorizont dienten die evaporitischen Serien der
Anhydritgruppe und des Gipskeupers. Die mechanische Machbarkeit des Fernschubs
konnte aufgrund von experimentellen Untersuchungen an Anhydritgesteinen und
Modellrechnungen plausibel dargelegt werden (MÜLLER & BRIEGEL 1980, MÜLLER
& HSÜ 1980). In der Sondierbohrung Schafisheim wurde der Abscherhorizont durch-
teuft und gekernt (NAGRA 1992a). Die strukturellen Untersuchungen an Kernproben
aus dem Bereich des Abscherhorizonts zeigen starke Deformationen der Salz- und
Anhydritgesteine, die nur durch einen Fernschub erklärt werden können (JORDAN &
NÜESCH 1989, JORDAN 1992). Auch in der Sondierbohrung Benken konnte in den
Sulfatschichten des Mittleren Muschelkalks ein duktiler Abscherhorizont nachgewiesen
werden (BLÄSI et al. 1999, NAGRA 2001). Regional kam es im Bereich des Hauptab-
scherungshorizonts im Mittleren Muschelkalk zur Bildung von Rampenfalten, Auf- und
Überschiebungen. Diese sind heute an der externen Abscherungsfront im Faltenjura
an der Oberfläche aufgeschlossen (z.B. Lägeren) oder zeichnen sich weiter intern
(Subjurassische Zone) und in der östlichen Vorfaltenzone als sanfte Syn- und Anti-
klinalen in den darüberliegenden Molasseformationen ab (s. Beil. 2.2). Im Nordwesten
des Untersuchungsgebiets bewirkte die jungtertiäre Aufwölbung des Schwarzwalds
eine grossflächige Freilegung des paläozoischen Grundgebirges und – damit verbun-
den – eine kleinräumige Zergliederung durch Zerrungsstrukturen, die sich in den an-
grenzenden Tafeljura fortsetzen und dort mithilfe der mesozoischen Formationen als
vielfältiges Bruchmuster kartiert werden können. Diese junge Hebung des Schwarz-
walds wurde nach LAUBSCHER (1992) durch die miozäne Vorlandschwelle induziert,
hat sich aber später als eigenständige, domartige Hebungszone – möglicherweise in
Zusammenhang mit subkrustalen Massenverlagerungen – akzentuiert.
Bei der geologischen Geschichte der Nordschweiz seit Beginn der variskischen
Gebirgsbildung im späten Paläozoikum können die nachfolgend aufgeführten Ereig-
nisse auseinandergehalten werden. Anhand der Bilderfolge in Fig. 2.1 wurde versucht,
die einzelnen Bewegungs- und Ablagerungsphasen seit Beginn des Mesozoikums auf
einem schematischen WSW-ENE-Profil durch das weitere Untersuchungsgebiet dar-
zustellen.
13 NAGRA NTB 99-08

Perm/Trias-Wende
TERTIÄR
Obere Süsswassermolasse
(a)
Obere Meeresmolasse
Top Muschelkalk
Untere Süsswassermolasse

(b)
Top Lias MESOZOIKUM
Unterkreide
oberer Malm
(c) unterer Malm
Top Unterkreide oberer u. mittlerer Dogger
Opalinuston
Lias
Keuper
Oberer Muschelkalk
(d)
Mittl. u. Unterer Muschelkalk
"Eozäne Peneplain" – Früholigozän

SOCKEL
Obere Trogfüllung
Untere Trogfüllung
(e)
Kristallin
Ende Mittelmiozän

aktive Störung

inaktive Störung

aktive Abschiebung

aktive Aufschiebung
(f)
Kompression vorherrschend
Heute
Faltenjura Tafeljura Hegau-Graben Extension vorherrschend

Erosion

(g)

Fig. 2.1: Geologische Geschichte der Nordschweiz seit Ende des Paläozoikums
dargestellt in 7 Bildern entlang eines schematischen WSW-ENE-Profils
(überhöht, nicht-massstäblich)
NAGRA NTB 99-08 14

A Variskische Gebirgsbildung im späten Paläozoikum


(vgl. DIEBOLD et al. 1991)

Aa Deckentektonik, Metamorphose und Bildung des variskischen Grundgebir-


ges (sog. Gneisrahmen) im späten Devon und frühen Karbon

Ab Intrusion von syn- bis postkinematischen Graniten im Karbon

Ac Hebung und Erosion des Gebirgskörpers mit Extension und Bildung von
intramontanen Permokarbontrögen (Untere Trogfüllung)

Ad Saalische Transpression mit Zerscherung und teilweiser Inversion der


Karbontröge im frühen Perm

Ae Postorogene Subsidenz und Peneplainisierung im späten Perm


(Oberrotliegendes, Obere Trogfüllung) → Fig. 2.1 (a)

B Mesozoische Plattform und frühtertiäre Peneplain

Ba Intrakontinentale Plattform (Germanisches Meer) mit leichter Subsidenz


und Ablagerung karbonatisch-evaporitischer Sedimente
(Muschelkalk) → Fig. 2.1 (b)

Bb Terrestrische Ton- und Evaporitserien des Keupers, frühkimmerische Dis-


kordanz mit leichter Inversion und Transgression des Lias-Meeres →
Fig. 2.1 (c)

Bc Helvetisch-zentraleuropäischer Schelf mit Ablagerung mariner Ton/Karbo-


nat-Serien im Randbereich des mediterranen Ozeans
(Jura – Malm – Unterkreide) → Fig. 2.1 (d)

Bd Inversion der Region Nordschweiz – Schwarzwald in der späten Kreide,


Verwitterung und Erosion, "Eozäne Peneplain" → Fig. 2.1 (e)

C Alpine Gebirgsbildung und Molassevortiefe im Tertiär

Ca Meso- und neoalpiner Zusammenschub mit Abbiegen der Vorlandkruste


und Ablagerung der Molasse → Vorlandschwelle, Extension der Ober-
kruste im Oligo- bis Miozän (USM – OSM) → Fig. 2.1 (f)

Cb Abscherung des Deckgebirges im späten Miozän – Pliozän – Rezent, Jura-


faltung, Schwarzwalddom, Erosion der obersten Molasse → Fig. 2.1 (g)

Diese Ereignisse werden in Kap. 2.2 bis 2.4 anhand der entsprechenden Sediment-
serien und deren Strukturen in chronologischer Abfolge beschrieben und kurz disku-
tiert.
15 NAGRA NTB 99-08

2.2 Die Konsolidierung des Sockels im Paläozoikum

Die Kenntnisse zum paläozoischen Sockel im Untergrund der Nordschweiz beruhen


einerseits auf den Resultaten der Tiefbohrungen und geophysikalischen Erkundungen,
insbesondere der Reflexionsseismik, und andererseits auf Vergleichen mit dem Kristal-
lin des benachbarten Südschwarzwalds sowie den Permokarbonvorkommen Frank-
reichs. Die zahlreichen Studien und Auswertungen dieser Datensätze wurden in den
Nagra-Berichten zum Kristallin der Nordschweiz zusammengefasst und dokumentiert
(SPRECHER & MÜLLER 1986, MÜLLER et al. 1984, DIEBOLD et al. 1991, THURY et
al. 1994).

In Zusammenhang mit dem Opalinustonprojekt wurde versucht, diese Kenntnisse mit-


hilfe neuer Reflexionsseismik und der Auswertung zahlreicher älterer 2D-seismischer
Linien der Erdölprospektion nach Osten zu erweitern. Wie die neuen 3D-seismischen
Daten des Zürcher Weinlands (BIRKHÄUSER et al. 2001) und das unerwartete Antref-
fen von Kristallin in der Sondierbohrung Benken (NAGRA 2001) zeigen, bleibt aber
eine detailliertere Prospektion des paläozoischen Grundgebirges resp. der darin einge-
lagerten Permokarbonvorkommen ohne weitere Tiefbohrungen weitgehend spekulativ.
Die in Beil. 2.4 dargestellte Rekonstruktion der Sockeloberfläche stellt eine mit den
Daten der Sondierbohrung Benken und der 3D-Seismik aktualisierte Version des bis-
herigen Kenntnisstands dar (vgl. DIEBOLD et al. 1991, DIEBOLD & NAEF 1990,
THURY et al. 1994).

2.2.1 Kristallin

Das Nordschweizer Grundgebirge entspricht dem zentralen Teil eines alten Rumpfge-
birges, dessen Entstehung im jüngeren Paläozoikum alle wichtigen Phasen einer
klassischen Orogenese durchgemacht hat (vgl. THURY et al. 1994, EISBACHER et al.
1989). Entsprechend ihrem Alter und ihrer Entstehung lassen sich die im Folgenden
beschriebenen Gesteinsserien unterscheiden (vgl. MAZUREK & PETERS 1992).

Das kristalline Grundgebirge des Südschwarzwalds sowie der benachbarten Nord-


schweiz besteht zu etwa 1/3 aus mehrfach überprägten und deformierten prävariski-
schen Paragesteinen (Sondierbohrungen Kaisten, Leuggern und Weiach) und Gra-
niten, die heute als Orthogneise vorliegen (z.B. in der Tiefbohrung Herdern-1). Diese
variskisch überprägten älteren Gesteine werden insgesamt als alter Gneisrahmen
bezeichnet. Die variskische Metamorphose führte zu einer teilweisen Aufschmelzung
dieser alten Kristallingesteine, wodurch neue Granitkörper und zahlreiche Gangge-
steine entstanden. Diese umfassen heute den überwiegenden Anteil des im Schwarz-
wald aufgeschlossenen und unter dem Nordschweizer Deckgebirge erbohrten kristal-
linen Grundgebirges (z.B. NAGRA 1986). Auch das in Benken erbohrte Kristallin
besteht aus hochmetamorphen, teilweise migmatischen Gesteinen (Biotit-Plagioklas-
Gneise) sowie einem Aplitgang. Dessen Überprägung mit postmetamorphen Spröd-
strukturen ist vergleichsweise gering (NAGRA 2001). Bei den kristallinen Gesteinen
können unterschieden werden:
• Granite nördlich des Nordschweizer Permokarbontrogs: Diese zum Teil deut-
lich deformierten Granitkörper intrudierten noch während oder kurz nach der varis-
kischen Konvergenz vor ca. 330 – 305 Millionen Jahren im Mittleren Karbon. Der
grösste Teil der Südschwarzwälder sowie alle in der Nordschweiz erbohrten Gra-
nite gehören zu dieser Gruppe. Lithologisch handelt es sich einerseits um Biotit-
Granite (Sondierbohrungen Leuggern, Böttstein), andererseits um die genetisch
NAGRA NTB 99-08 16

nahe verwandten, hoch differenzierten Zweiglimmer-Granite, wie sie in Zurzach


und Siblingen erbohrt wurden.
• Granite südlich des Nordschweizer Permokarbontrogs: Südlich des Nord-
schweizer Permokarbontrogs können die dunklen, aus SiO2-armen Magmen ent-
standenen Paragranite der Tiefbohrungen Lindau-1 und Kreuzlingen-1 von den
ebenfalls eher basischen Graniten unterschieden werden, wie sie in Schafisheim
und Pfaffnau-1 erbohrt wurden. Während erstere aufgrund ihres Chemismus und
der zahlreichen Gneisxenolithe als wenig differenzierte Paragranite der varis-
kischen Anatexis zu betrachten sind, weisen die Granite von Schafisheim und
Pfaffnau-1 typische Merkmale einer Mantelherkunft auf. Sie stellen wahrscheinlich
das Endprodukt einer aus subkrustalen Bereichen aufgestiegenen Magmaserie
dar. Dies weist nach MAZUREK & PETERS (1992) auf eine tiefgreifende Schwä-
chezone in diesem Bereich am Südrand des Nordschweizer Permokarbontrogs hin.
Mit ihrem Alter von 316 Millionen Jahren sind die Plutonite von Schafisheim als
postkinematische Bildungen zu betrachten. Für das in Benken, Lindau-1 und
Kreuzlingen-1 erbohrte Kristallin sind keine Altersdatierungen verfügbar.
• Ganggesteine: Obwohl sie rein mengenmässig nur wenige Prozente ausmachen,
sind die zahlreichen Ganggesteine sowohl für die genetische Interpretation des
kristallinen Grundgebirges als auch für dessen rheologische und hydrogeologische
Eigenschaften von grosser Bedeutung (vgl. THURY et al. 1994).

Alle kristallinen Gesteine des Südschwarzwalds und der nordschweizerischen Bohrun-


gen weisen Merkmale einer teilweise intensiven postmetamorphen Deformation und
mehrphasiger hydrothermaler Umwandlungen auf. Kataklasite und Kakirite belegen die
spät- bis postkinematische Zerscherung des variskischen Gebirgskörpers, die auch zur
Bildung der permokarbonen Sedimenttröge führte. Die dabei aktiven Störungs- und
Schwächezonen im Grundgebirgskörper wurden im Mesozoikum und dann v.a. im
Tertiär wiederholt reaktiviert. Ihre Entstehung und Geometrie wird deshalb in Zusam-
menhang mit der Geschichte des Nordschweizer Permokarbontrogs noch etwas ein-
gehender diskutiert.

2.2.2 Permokarbon

Die Karte der Sockeloberfläche (Beil. 2.4) zeigt die aufgrund reflexionsseismischer
Aufnahmen vermutete und teilweise auch durch Bohrungen belegte Verbreitung
permokarboner Sedimentserien im Untergrund der zentralen und östlichen Nord-
schweiz, die insgesamt als Nordschweizer Permokarbontrog bezeichnet werden.
Dabei kann ein zentraler, wahrscheinlich bis zu 6 km unter die Erdoberfläche reichen-
der, tiefer Trogteil mit Kohlevorkommen abgegrenzt werden, der in Riniken, Weiach
und Dingelsdorf-1 erbohrt wurde und im Folgenden als Weiach-Trog bezeichnet wird
(Beil. 2.4). Die teilweise weit über diesen zentralen Bereich hinausgreifenden Trog-
schultern weisen nur geringmächtige Ablagerungen des jüngeren Perms auf, wie sie
z.B. in der Sondierbohrung Kaisten angetroffen wurden. In Beil. 2.4 sind weitere, auf-
grund der seismischen Daten vermutete, aber nicht durch Bohrungen verifizierte Trog-
teile dargestellt. Dabei handelt es sich um einen nördlichen Trogteil, der im Folgenden
als Klettgau-Trog bezeichnet wird, und einen südlich des Baden – Irchel – Herdern-
Lineaments lokalisierten Trogteil. Dank detaillierter Untersuchungen und lithostrati-
graphischer Korrelation der verschiedenen Permokarbon-Bohrprofile zwischen dem
Oberrheingraben und dem Bodenseeraum sowie dem Vergleich mit analogen Vor-
kommen in Frankreich konnte eine mehrphasige Sedimentationsgeschichte des Ober-
17 NAGRA NTB 99-08

karbons (Stephanian) und des Perms entworfen werden (s. MATTER 1987, DIEBOLD
1988 und 1990, BLÜM 1989).

Erste Interpretationen des Nordschweizer Permokarbontrogs gingen von der Annahme


weiter Extensionsgräben aus, die durch steile, über längere Zeit synsedimentär aktive
Randverwerfungen begrenzt werden (DIEBOLD 1983, MÜLLER et al. 1984, FROMM
et al. 1985, SPRECHER & MÜLLER 1986). Die aufgrund der Reflexionsseismik
1982/83 kartierbaren, teilweise auffallend diskordanten und bis in grosse Tiefen vor-
kommenden Reflexionspakete im Bereich des Westtrogs wurden dann von LAUB-
SCHER (1985) neu interpretiert; aufgrund von Vergleichen mit intramontanen Permo-
karbonvorkommen Frankreichs, bei denen intensive, insbesondere transpressive
Deformationen im Detail nachgewiesen sind, entwarf LAUBSCHER eine mehrphasige
tektonosedimentäre Geschichte des Nordschweizer Sockels, die eine komplexe Zer-
scherung, Verfaltung und teilweise Heraushebung und Erosion von Trogteilen postu-
lierte. Mithilfe einer wesentlich umfangreicheren Datengrundlage (84er-Seismiklinien
der Nagra, zahlreiche im Austausch erworbene Seismiklinien der Erdölindustrie, Kom-
pilation aller geologischen Daten der Nordschweiz) erarbeiteten DIEBOLD et al. (1991)
eine differenziertere, die Vorgaben von LAUBSCHER grundsätzlich akzeptierende
Rekonstruktion der Geologie der zentralen Nordschweiz (vgl. auch DIEBOLD & NAEF
1990, THURY et al. 1994).

Die chronostratigraphische Gliederung der Permokarbon-Serien des Nordschweizer


Permokarbontrogs sowie deren Korrelation mit den Typusgebieten ist im Detail aber
nicht geklärt (s. z.B. BLÜM 1989, DIEBOLD 1988). Deshalb wird auf genauere Alters-
angaben verzichtet. Gesichert ist, dass Ablagerung und Deformation dieser jungpaläo-
zoischen Sedimente zwischen dem späten Karbon (Stephanian, 296 – 286 Millionen
Jahre) und der Perm/Trias-Wende vor ca. 251 Millionen Jahren stattgefunden haben.
Dabei kann eine im Wesentlichen 3-phasige Entstehung des Nordschweizer Permo-
karbontrogs entworfen werden, die den Phasen Ac bis Ae in Kap. 2.1 entspricht.

Spätes Karbon – Frühes Perm (Stephanian – Autunian)


Die Aufdomung und progressive Zerscherung des variskischen Gebirgskörpers führte
zur Bildung von intramontanen Senken, die sich in Form kleinerer Becken entlang
grosser Störungszonen anordneten (Riftzonen mit "pull-apart basins"). Die in Weiach
und in Dingelsdorf-1 (s. LEMCKE 1975) erbohrten kohleführenden Abfolgen des
Stephanian – Autunian sind geprägt von fluviatilen Ablagerungen eines feuchttropi-
schen Klimas, das die Bildung mächtiger Moore, die heute in Form von zahlreichen
Kohleflözen vorliegen, begünstigte. Vergleiche mit intramontanen, kohleführenden
Permostephan-Sedimenten des Massif Central sowie die analoge Modellierung von
"pull-apart"-Becken legen nahe, dass die Entstehung dieser Senken von einer inten-
siven, synsedimentären Bruchtektonik und entsprechenden grobklastischen Sediment-
serien begleitet wurde (z.B. DOOLEY & McCLAY 1997, COUREL & PAQUETTE
1981).

Der zentrale Teil des Nordschweizer Permokarbontrogs dürfte dem Trend eines spät-
karbonen Riftgrabens entsprechen (WSW-ENE). Beim vermuteten dextralen Scher-
sinn entstanden als Begleitstrukturen 1. Ordnung die auffallend zahlreichen, heute als
herzynisch bezeichneten Lineationen, die v.a. den Nordrand des Nordschweizer
Permokarbontrogs prägen und sich im kristallinen Grundgebirge des benachbarten
Schwarzwalds fortsetzen (WNW-ESE, s. Beil. 2.4).
NAGRA NTB 99-08 18

Die kohleführenden Flussablagerungen des späten Karbons werden von mehrheitlich


lakustrischen Sedimenten des Unteren Perms überlagert, die ein anhaltend feucht-
warmes Klima mit intensiver Bioproduktion, aber offenbar reduzierter Sedimentzufuhr
anzeigen. Das Relief im nahen Umfeld des Nordschweizer Permokarbontrogs war
demnach weitgehend eingeebnet, womit auf ruhige tektonische Verhältnisse während
des frühen Perms hingewiesen wird.

Mittleres Perm (Saxonian)


Die Zeit zwischen dem frühen und dem späten Perm war in Zentraleuropa geprägt von
mittel- bis grobklastischen, kontinentalen Rotsedimenten, dem sog. Rotliegenden, das
sich auch in den Nordschweizer Tiefbohrungen anhand zyklischer Sandstein- und
Brekzien-Serien nachweisen lässt (Untere und Obere Schuttfächerserie). Reliefenergie
und Erosion nahmen offenbar auch im nahen Umfeld des Nordschweizer Permo-
karbontrogs nach der ruhigen Zeit des Autunian wieder zu, woraus auf grössere tekto-
nische Vertikalbewegungen geschlossen werden kann. Die reflexionsseismischen Auf-
nahmen lassen vermuten, dass das Rotliegende z.B. bei Riniken > 2 km mächtig ist
(NAGRA 1990), während bei der ca. 8 km entfernten Sondierbohrung Böttstein keine
Permablagerungen vorhanden sind. Es wird deshalb angenommen, dass die stark
variierenden Mächtigkeiten der Oberrotliegend-Serien des Weiach-Trogs, insbeson-
dere der Unteren Schuttfächerserie, tektonische Aktivitäten der saalischen Phase
widerspiegeln, durch welche der bereits weitgehend eingeebnete variskische Gebirgs-
körper Zentraleuropas im Mittleren Perm transpressiv zerschert wurde (ARTHAUD &
MATTE 1977). Diese Zerscherung erfolgte bevorzugt an ca. NW-SE streichenden dex-
tralen, untergeordnet auch an dazu konjugierten NNE-SSW streichenden sinistralen
Bruchsystemen. Dadurch wurde der ca. ENE-WSW, d.h. quer zum generellen Scher-
sinn verlaufende Weiach-Trog weiter segmentiert, eingeengt und teilweise herausge-
hoben und wieder erodiert. Ein weiterer Hinweis auf tektonische Bewegungen zur Zeit
des Mittleren Perms ist die Annahme einer grösseren Schichtlücke im Bereich der
Unteren Schuttfächerserie von Weiach, wie sie sich aus der Bestimmung des Inkoh-
lungsgrads ergibt (KEMPTER 1987, LEU et al. 2001, s. auch Fig. 2.3).

Spätes Perm (Oberrotliegendes)


Die vorwiegend grobdetritischen Flussablagerungen der Unteren Schuttfächerserie
werden von feinkörnigen Rotschichten einer alluvialen Schwemmlandebene, der sog.
Playaserie überlagert. In dieser offenbar wieder ruhigen Zeit des späten Perms verla-
gerte sich die maximale Subsidenz vom zentralen Weiach-Trog in dessen Rand-
bereiche (Trogschultern), wie von BLÜM (1989) anschaulich gezeigt werden konnte.
Es muss deshalb angenommen werden, dass die Funktion des Nordschweizer Permo-
karbontrogs als aktive Grabenzone nach der saalischen Umgestaltung beendet war
und sich die – vergleichsweise bescheidene – spätpermische Einsenkung an neuen
Leitlinien orientierte. Wie BLÜM (1989) annimmt, wurden im späten Perm wahrschein-
lich die herzynisch streichenden, dextralen Transversalverschiebungen der saalischen
Tektonik als synsedimentäre Abschiebungen reaktiviert.

Diese hauptsächlich aus dem Westtrog (Trogteil westlich der unteren Aare, s.
Beil. 2.4) abgeleitete Entstehungsgeschichte des Nordschweizer Permokarbontrogs
wurde in erster Näherung auch auf das Gebiet des Osttrogs (zwischen Weiach und
dem Bodenseeraum) übertragen. Der Südrand des Weiach-Trogs wird hier durch eine
an der Basis Mesozoikum deutlich in Erscheinung tretende Strukturzone, dem sog.
Baden – Irchel – Herdern-Lineament markiert (Beil. 2.1 und 2.4). Die Tiefbohrungen
19 NAGRA NTB 99-08

Herdern-1 und Kreuzlingen-1 liegen beide knapp südlich dieser Linie und haben kein
Permokarbon erbohrt. Zwischen dem Lägeren-Gebiet und dem Seerücken gibt es aber
auf einigen Seismiklinien auch südlich des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments
Indizien für tiefe Permokarbonvorkommen (Beil. 2.2 und 2.4), deren Zusammenhang
und Relevanz aber mit den verfügbaren Daten nicht genauer abgeklärt werden kann.

Es ergibt sich somit die generelle Vorstellung einer permostephanen Grabenzone mit
mehreren Teilsegmenten, die dann in der saalischen Phase an vorwiegend WNW-
ESE, d.h. herzynisch streichenden, dextralen Transversalstörungen zerschert wurde.
Wie das Antreffen von Kristallin in der Sondierbohrung Benken zeigt, sind im Ostteil
dieser Permokarbonzone neben Trogsegmenten auch Kristallinhorste zu erwarten. Ob
diese durchgehend persistierende Hochzonen waren oder ob sie während der saali-
schen Phase als invertierte Trogsegmente herausgehoben wurden, kann (noch) nicht
schlüssig entschieden werden.

In Zusammenhang mit der Auswertung der 3D-Seismik im Zürcher Weinland wurde


auch die Interpretation des Nordschweizer Permokarbontrogs einer kritischen Überprü-
fung unterzogen. Dabei interessierte in erster Linie die Stellung der in Benken erbohr-
ten Kristallin-Hochzone (Hochzone von Benken) innerhalb der Nordschweizer Permo-
karbonvorkommen. Eine Arbeitsgruppe der Universität Lausanne nahm das ursprüng-
liche Konzept einer rein extensiven Grabenzone (MÜLLER et al. 1984, SPRECHER &
MÜLLER 1986) wieder auf und versuchte dieses mithilfe moderner Arbeitsmethoden
im Messgebiet der 3D-Seismik und auf einigen älteren 2D-seismischen Linien des Ost-
trogs zu verifizieren. Die Studie von MARCHANT (2000) ergab einen ähnlich wie auf
Beil. 2.4 verlaufenden Haupttrog sowie Hinweise auf diverse kleinere Nebentröge, von
denen ein ca. W-E streichendes Segment im Nordabschnitt der 2D-Seismiklinien
91-NO-72 und 91-NO-74 am besten belegt ist (s. NAEF et al. 1995).

Die am Südrand der Hochzone von Benken auskeilenden Permokarbon-Reflexionen


im Messgebiet der 3D-Seismik lassen sich ebenfalls im Sinne eines rein extensiven
Trogrands interpretieren, wie das auf den Profilen in Beil. 4.5 wiedergegeben ist. Als
Nordrand des Nordschweizer Permokarbontrogs (Weiach-Trog) wurde eine südver-
gente Verwerfung definiert, die sich im Deckgebirge als Flexur von Rafz – Marthalen
abzeichnet (s. auch Beil. 4.1 bis 4.4). Gemäss Auswertung aller verfügbaren 2D-seis-
mischen Linien tritt der Südrand des Weiach-Trogs als steile Hauptverwerfung in
Erscheinung (Baden − Irchel − Herdern-Lineament), der Nordrand endet aber in Form
einer keilförmigen Trogschulter südlich der Hochzone von Benken (vgl. Beil. 2.2,
Profil 3).

Wie die nachfolgenden Ausführungen zum Mesozoikum und besonders zum Känozoi-
kum zeigen, hat dieser paläozoische Strukturplan des Nordschweizer Permokarbon-
trogs auch die tektonischen Bewegungen der jüngeren Zeit nachhaltig mitbestimmt.
NAGRA NTB 99-08 20

Geologische Zeitskala Sedimentation und Tektonik

Zyklus
Stratigraphie Ablagerungen der Schwarz- Tafeljura, Mittelländische Subalpine
Nordschweiz wald- Molasse- Molasse Molasse
Mio Oberrhein- Nordrand
Jahre graben
NW SE
0 Quartär
Deckenschotter
Pliozän Aare – Donau

Helvetische Phase Jura-Phase


Spätes Fern
schu
Hegau b
10
Aufdomung
Mittel- Miozän
OSM miozäne Diskordanz

20 OMM
Frühes

ERDNEUZEIT
USM Vor
TERTIÄR

Alpiner
lands
30 Oligozän chw
elle
Hebung der wan
UMM Grabenschultern der
t na
ch e
40 Bohnerzbildungen xter
n
Eozän der Nordschweiz
(Siderolithikum)
50

Paläozän

70

80
Späte
Schwarzwald – Aarmassivschwelle

Kreide ?
100
ERDMITTELALTER

Frühe Unterkreide

Epikontinentalmeer am Nordrand der Tethys


Mesozoischer
150 Malm
Jura

Dogger Opalinuston

Lias altkimmerische
200 Diskordanz
Epikontinentalmeer am
Trias Südrand
des Germanischen Beckens
250 postorogene Subsidenz
ERDALTERTUM

Perm
Saalische Diskordanz
Variskischer

300 Karbon Zerrung und


Grabenbildung
Variskische Orogenese
mit Metamorphose und
Granitintrusionen
Kristallines
Grundgebirge
abgelagert und grobkörnig karbonatisch
wieder erodiert feinkörnig evaporitisch
Extension vorherrschend Schichtlücken, d.h. aus dieser Zeit sind in der
Kompression vorherrschend Nordschweiz keine Ablagerungen erhalten.

Fig. 2.2: Geologische Zeitskala und Überblick über die geologische Entwicklung der
Nordschweiz
21 NAGRA NTB 99-08

Permokarbon Trias Jura Kreide Tertiär Q


-550
Weiach
?
0

1000
Tiefe [m]

2000

3000
-550
Benken
?
0

1000
Tiefe [m]

2000

3000
-550
Herdern-1
?
0

1000
Tiefe [m]

2000

3000
300 200 100 0
Alter [Ma]

OSM Eozän Kimmeridgian Opalinuston Muschelkalk inkl. Buntsandstein

OMM Kreide und Oxfordian Lias Permokarbon


erodierter Malm
USM spät. und mittl. Dogger Keuper Paläomeerestiefe

Fig. 2.3: Versenkungsgeschichte der Tiefbohrungen Weiach, Benken und Her-


dern-1 (modifiziert nach LEU et al. 2001)
NAGRA NTB 99-08 22

2.3 Mesozoikum

Das Mesozoikum (ca. 251 – 65 Millionen Jahre) umfasst die tektonisch weitgehend
ruhige Zeit zwischen dem Abschluss der variskischen und dem Beginn der alpinen
Orogenese. Während dieses langen Zeitabschnitts kam es in der Nordschweiz nur zu
langsamen Absenkungen und Hebungen (Epirogenese). Diese Zeit relativer tektoni-
scher Ruhe ergibt sich aus dem ziemlich uniformen Sedimentstapel des mesozoischen
Deckgebirges (s. Fig. 2.1 (d), Beil. 2.2 und 2.3). Kleinere Diskordanzen, Schichtlücken
und Mächtigkeitsschwankungen innerhalb der mesozoischen Formationen bezeugen
lokale und regionale Differenzialbewegungen. Die Interpretation der 3D-Seismik im
Zürcher Weinland (BIRKHÄUSER et al. 2001) und Untersuchungen zur Beckenent-
wicklung (LEU et al. 2001, s. Fig. 2.3) lassen synsedimentäre Bewegungen mit exten-
sivem und kompressivem Charakter erkennen, die mit globalen tektonischen Ereig-
nissen, wie dem Auseinanderbrechen von Pangäa, dem initialen Öffnen des Atlantiks,
der Entwicklung der alpinen Tethys und der Hebung der Schwarzwald – Aarmassiv-
Schwelle in Zusammenhang gebracht werden können.
Die Mächtigkeitsschwankungen des Wirtgesteins Opalinuston inklusive dessen liegen-
der und hangender Rahmengesteine (Keuper bis Effinger Schichten) werden anhand
einer stratigraphischen Korrelation der Bohrungen zwischen Riniken und Kreuzlingen-1
in Beil. 2.5 dargestellt.

2.3.1 Trias

Zu Beginn der Trias (251 – 208 Millionen Jahre) war das Relief der variskischen Gebir-
ge weitgehend eingeebnet. Das Gebiet der Nordschweiz befand sich am Südrand des
"Germanischen" Faziesbereichs, dessen triadische Ablagerungen traditionsgemäss in
die drei Einheiten Buntsandstein (Skythian), Muschelkalk (Anisian, Ladinian) und
Keuper (Carnian, Norian, Rhätian) unterteilt werden (vgl. MÜLLER et al. 1984,
GEYER & GWINNER 1991).
Zur Zeit der Bildung des Buntsandsteins war die Nordschweiz Teil einer ausgedehn-
ten fluviatilen Schwemmebene. Den grössten Teil der Sedimente verkörpern daher
terrestrisch-fluviatile Ablagerungen. In der Nordschweiz gelangte v.a. Detritus aus dem
Westen, dem Gebiet der Gallischen Schwelle zur Ablagerung (MADER 1982). Die
Mächtigkeit des Buntsandsteins ist in der Nordschweiz sehr bescheiden und schwankt
zwischen einigen Metern im Südosten (sog. Basissand, z.B. in der Tiefbohrung Lin-
dau-1 ca. 10 m) bis zu wenigen Dekametern im Norden und Westen. Die frühdiagene-
tischen Umwandlungen der oft pedogen überprägten, bunten Sand-, Silt- und Ton-
steine und die spärlichen Fossilfunde zeigen ein subtropisch-humides bis semiarides
Klima an (ORTLAM 1970).
Die Basis des Buntsandsteins sowie auch des darüberliegenden Wellengebirges ver-
läuft vom Zentrum des Germanischen Beckens, wo der Buntsandstein mehrere Hun-
dert Meter mächtig ist, zu dessen Randbereichen heterochron und verdeutlicht so die
sukzessive Transgression der Germanischen Trias. So sind die sandigen Basisschich-
ten des Mesozoikums in den Tiefbohrungen Berlingen-1 und Kreuzlingen-1 wahr-
scheinlich nicht mehr dem Buntsandstein zuzuordnen, sondern gehören zur Formation
des Unteren Muschelkalks (s. Beil. 2.5).

Im Verlauf des Unteren Muschelkalks (frühes Anisian) transgredierte das Germani-


sche Muschelkalkmeer über die ausgedehnte Schwemmebene des Buntsandsteins.
23 NAGRA NTB 99-08

Dabei kam es zur Ablagerung der überwiegend tonreichen, d.h. noch stark von terrige-
nem Detritus beeinflussten Karbonatserien des Wellengebirges. Gegen Ende des
Unteren Muschelkalks verflachte sich der Ablagerungsraum, es herrschten intertidale,
teilweise lagunäre Verhältnisse, und es bildeten sich erste, vorerst noch subaquatische
Evaporite. Die Mächtigkeit des Wellengebirges ist in der zentralen Nordschweiz ziem-
lich konstant und schwankt zwischen 36 m (Sondierbohrung Schafisheim) und 49 m
(Sondierbohrung Kaisten). In der Bohrung Benken (33.6 m) ist die Dreiteilung in
Wellendolomit, Wellenmergel und Orbicularis-Mergel noch erkennbar, unter dem östli-
chen Mittelland (Tiefbohrungen Herdern-1 und Berlingen-1) bildet der Untere Muschel-
kalk aber eine kaum mehr gliederbare, 10 – 20 m mächtige, vorwiegend mergelig-
dolomitische Schichtabfolge (Beil. 2.5).

Zur Zeit des Mittleren Muschelkalks lag das Gebiet der Nordschweiz in einem ausge-
dehnten, weitgehend flachen Küstenstreifen (Watt-Sabkha-Komplex) im Randbereich
des sich zurückziehenden Muschelkalkmeeres (DRONKERT et al. 1990). Unter ariden
Klimabedingungen kam es zur Bildung überwiegend evaporitischer Gesteine. Die als
Anhydritgruppe bezeichneten Sedimente des Mittleren Muschelkalks bestehen aus
einer wechselhaften Evaporitsequenz mit vorwiegend Sulfaten (Anhydrit und Gips), im
Westen und Norden auch Steinsalz (Sondierbohrung Benken) sowie Magnesit und ein-
geschalteten Ton- und Mergelbänken. Den Abschluss des Mittleren Muschelkalks bil-
den fossilfreie Dolomite mit Silexknollen (Dolomit der Anhydritgruppe). Die Mächtigkeit
der Anhydritgruppe ist stark abhängig von den Steinsalzeinschaltungen und schwankt
zwischen 57 m (Sondierbohrung Weiach) und 71 m (Sondierbohrung Leuggern). Auch
der Mittlere Muschelkalk ist in den Erdölbohrungen am Seerücken mit 40 – 45 m
geringmächtig entwickelt, wobei Steinsalz durchwegs fehlt.
An der Wende zum Oberen Muschelkalk erfolgte eine erneute Transgression des
Muschelkalkmeeres, und es wurden überwiegend kalkreiche Sedimente mit einer
individuenreichen Fauna abgelagert, die neritische offenmarine Faziesverhältnisse
belegen (AIGNER 1984). Im Osten besteht dieser als Hauptmuschelkalk bezeichnete
Abschnitt zur Hauptsache aus fossilfreien, oft dolomitischen Kalken. Gegen Ende der
Muschelkalkzeit dominierten infolge eines erneuten Rückzugs des Meeres wieder
seichte, lagunäre Küstenverhältnisse mit Ablagerung einer intertidalen, im Osten und
Süden wegen des nahen Vindelizischen Lands mergelreichen Dolomitserie, dem sog.
Trigonodus-Dolomit. Die Mächtigkeit des Oberen Muschelkalks liegt zwischen 57 m
(Sondierbohrung Siblingen) und 75 m (Sondierbohrung Böttstein).
Während der ca. 12 Millionen Jahre dauernden Zeit des Muschelkalks wurden insge-
samt etwa 180 m mächtige Sedimente abgelagert; dies ergibt eine durchschnittliche
Absenkrate von weniger als 0.02 mm/a.

Während des Keupers verringerte sich die Subsidenzrate. Das Germanische Meer
befand sich in einer Rückzugsphase, die bis ans Ende des Mittelkeupers (Norian), d.h.
ca. 15 Millionen Jahre andauern sollte. Die noch ca. 120 m mächtige Serie des Früh-
und Mittelkeupers belegt damit eine durchschnittliche Absenk- resp. Akkumulationsrate
von weniger als 0.01 mm/a. In Fig. 2.3 ist die relative Änderung der Absenkraten für
die verschiedenen Formationen graphisch dargestellt.

Mit der nur einige Meter mächtigen Lettenkohle vollzog sich im Frühkeuper der Wech-
sel von den marinen Sedimenten des Muschelkalkmeeres zu den kontinentalen Keu-
persedimenten. Die Lettenkohle besteht aus dunklen, z.T. fossilreichen, sandigen Ton-
schiefern (Estherienschiefer) und brekziösen, zu Rauhwackebildung neigenden Dolo-
miten, die ein noch flachmarines Milieu im Küstenbereich anzeigen.
NAGRA NTB 99-08 24

Die evaporitreichen Ablagerungen des etwa 60 bis 90 m mächtigen Gipskeupers


(früher Mittelkeuper, Carnian) erfolgten in einer Küstenebene, die sich durch eine
fortwährende Regression zur kontinentalen Sabkha entwickelte (DRONKERT et al.
1990, AIGNER & BACHMANN 1989). Der gebietsweise mit einer deutlichen Erosions-
diskordanz über dem Gipskeuper liegende Schilfsandstein repräsentiert eine gewal-
tige, kontinentale Schwemmlandebene, die sich vom skandinavisch-baltischen Raum
bis zu den Westalpen ausdehnte (WURSTER 1964). Über dem Schilfsandstein – und
diesen lateral ersetzend – folgen die Unteren Bunten Mergel, eine Stillwasserfazies,
die sich zwischen den einzelnen Sandsträngen (Flussläufe) und im Übergangsbereich
zwischen Schilfsandsteindelta und dem weiter im Westen und Norden liegenden Keu-
permeer bildete. Mit dem Gansinger Dolomit, einer nur wenige Meter mächtigen, aber
weit verbreiteten flachmarinen Ablagerung fand das Keupermeer einen Weg in die
weite Küstenlandschaft und überflutete für eine kurze Zeit die dort vorhandenen
Senken. Der späte Mittelkeuper (Norian) wird dominiert von bunten Mergeln, deren
Mächtigkeit von Westen (< 20 m) nach Osten (> 40 m) deutlich zunimmt, wobei sehr
geringe Akkumulationsraten von < 0.002 bis ca. 0.007 mm/a (Tiefbohrung Herdern-1)
ermittelt werden. Innerhalb dieser sehr sterilen Mergelserie erfolgte von Nordosten die
Schüttung des Stubensandsteins, der über ein weit verzweigtes Schuttfächersystem
vom Erosionsgebiet der Böhmischen Masse ("Vindelizisches Hoch") bis in die Ost-
schweiz verfrachtet wurde (GEYER & GWINNER 1991). Dort wo der Stubensandstein
vorhanden ist, können die Mergel des späten Mittelkeupers in die liegenden Oberen
Bunten Mergel und die hangenden Knollenmergel unterteilt werden.
Die Mächtigkeit des ca. 16 Millionen Jahre umfassenden Mittelkeupers (Basis Gips-
keuper bis Top Knollenmergel) schwankt in der Nordschweiz zwischen ca. 80 m
(Tiefbohrung Lindau-1) und ca. 120 m (Sondierbohrungen Schafisheim und Riniken).
Dabei ist zu beachten, dass im Westen und Norden v.a. ein mächtiger Gipskeuper
(± Carnian) ausgebildet ist, während im Osten der Gipskeuper relativ geringmächtig ist
und der späte Mittelkeuper (± Norian) dominiert (Beil. 2.5).
Die Interpretation der 3D-Seismik im Zürcher Weinland zeigt, dass es gegen Ende des
Norian zu einer kurzen kompressiven Hebungsphase gekommen sein muss. Während
dieser Zeit wurde die triadische Plattform leicht deformiert. BIRKHÄUSER et al. (2001)
stellen diese Deformationsphase in Beziehung zu den frühkimmerischen Bewegungen
(ZIEGLER 1982), die das Auseinanderbrechen von Pangäa sowie das initiale Öffnen
des Atlantiks und der alpinen Tethys anzeigen. Möglicherweise fällt auch die Anlage
der Schwarzwald – Aarmassiv-Schwelle (BÜCHI et al. 1965) in diese Zeit, die im
Paläogen und vermutlich auch schon zur Kreidezeit reaktiviert wurde (TRÜMPY 1980).

Im Spätkeuper (Rhätian), teilweise aber auch erst im Verlauf des Hettangian kam es
in der Nordschweiz zu einer weiteren Transgression des Meeres. Vom Alemannischen
Hoch und der Schwarzwald − Aarmassiv-Schwelle breiteten sich küstennahe Sande
und karbonatführende Tone nach Norden aus. Das Rhät fehlt praktisch im ganzen
Aargauer Jura (Schwarzwald − Aarmassiv-Schwelle) und weist in der Nordostschweiz
eine Mächtigkeit von wenigen Metern bis 16 m (Tiefbohrung Berlingen-1) auf (ALBERT
& BLÄSI 2001).

2.3.2 Jura

Am Ende der Trias, vor ca. 208 Millionen Jahren, schuf die Rhät-Transgression eine
direkte Meeresverbindung von der Tethys durch Ostfrankreich nach Nordosten zum
Germanischen Becken. Somit gelangte die Nordschweiz während des frühen Juras
25 NAGRA NTB 99-08

zunehmend in den Einflussbereich der Tethys. Die Verbindung zum nordwesteuropä-


ischen Jurameer ging mit der Zeit definitiv verloren, und die Nordschweiz lag dann
während des gesamten Juras (und wohl auch der Kreide) im epikontinentalen Schelf-
bereich der mediterranen Tethys. Das Gebiet unterlag während dieser Zeit grösseren
Meeresspiegelschwankungen bei teilweise kontinuierlicher, zeitweise aber auch lokal
stark unterschiedlicher Subsidenz des Sockels. Diese Verhältnisse drücken sich in
einer kleinräumig differenzierten Fazies der jurassischen Ablagerungen aus.
Im Laufe des frühen Lias wurde zwar das gesamte Gebiet der Nordschweiz vom Meer
überflutet; grossräumig bestanden aber noch zahlreiche Landbrücken und Inseln. Das
im Süden gelegene Alemannische Land umfasste den Raum des heutigen Aarmassivs
und war wichtigstes Liefergebiet der detritischen Einlagerungen innerhalb der liasi-
schen Schelfmeerablagerungen, die sich durch eine stark kondensierte Sedimentation
auszeichnen. Bei den flachmarinen Verhältnissen mit oft nur geringer Wassertiefe
wechselten strömungsverfrachtete Sande und Tone mit dünnlagigen Karbonaten ab.
Die Mächtigkeit der liasischen Sedimente, die einen Zeitraum von ca. 28 Millionen
Jahren umfassen, schwankt im Rahmen weniger Dekameter (Tiefbohrung Lindau-1
ca. 24 m, Berlingen-1 ca. 48 m). Die ermittelten Ablagerungsraten waren mit durch-
wegs < 0.002 mm/a während des gesamten Lias sehr gering.

Im Dogger wurde Europa durch die fortschreitende Öffnung des Atlantiks und die Ent-
wicklung der Tethys von einer weiträumigen Transtension erfasst. Die dadurch verur-
sachte differenzielle Subsidenz führte in verschiedenen Becken Zentral- und West-
europas zu einer raschen Absenkung und entsprechenden Sedimentation (Mittlere
Kimmerische Phase, ZIEGLER 1982). Die im Lias begonnene Umgestaltung der
paläogeographischen Verhältnisse setzte sich im Dogger fort. Im epikontinentalen
Flachmeerbereich der Nordschweiz kam es während des frühen Aalenian zu einer ver-
stärkten Subsidenz (Fig. 2.3), und im Süden wurde das Alemannische Land grössten-
teils überflutet. Während des gesamten Doggers trat es zwar noch als untermeerischer
Rücken in Erscheinung, die Meeresräume diesseits und jenseits dieser Trennschwelle
standen aber miteinander in vollständiger Verbindung.
Im frühen Aalenian bewirkte die verstärkte Subsidenz, dass in nur einer Million Jahren
der zwischen ca. 80 und 120 m mächtige Opalinuston (Beil. 2.5) abgelagert wurde.
Daraus ergibt sich eine Sedimentationsrate von ca. 0.1 mm/a, d.h. ca. fünfzigmal
höher als diejenige des Lias. Als mögliche Liefergebiete der Tone kommen in erster
Linie das Böhmische Massiv, das Vindelizische Land und das Rheinische Massiv
sowie die Burgundische Plattform in Frage (ETTER 1990). Die Einschaltungen von
Sandsteinlagen im Opalinuston könnten auch vom südlich gelegenen Alemannischen
Land stammen (ALLIA 1996).
Die Absenkungsrate des Opalinustonbeckens konnte im späten Aalenian mit der
Ablagerung der Tone nicht mehr mithalten, und der Meeresboden gelangte wieder
unter besser belichtetes und stärker bewegtes Wasser. Es entwickelte sich eine von
Meeresspiegelschwankungen und differenzieller Subsidenz bestimmte zyklische Sedi-
mentation, die stark von terrigenem Detritus beeinflusst war (BURKHALTER 1996).
Vor allem im Osten dominierten erneut strömungsverfrachtete Sande (Dogger-β-Sand-
steine inkl. Wedelsandstein, s. Beil. 2.5), deren Liefergebiet das im Osten persistie-
rende Vindelizische Hoch gewesen sein dürfte.

Im späten Bajocian entstand im Nordwesten eine offenmarine Flachwasserplattform


mit Korallen und vorwiegend biogenen Kalken (Keltisch-Raurakische Fazies), während
östlich der Aare – Reuss die sandig-tonige Beckensedimentation mit vorwiegend mer-
NAGRA NTB 99-08 26

geligen Ablagerungen anhielt (Schwäbisch-Argovische Fazies mit Ammoniten und


Schwämmen). Der Übergangsbereich zwischen diesen beiden Faziesbereichen lag im
östlichen Tafeljura zwischen dem Fricktal und dem Klettgau.

Fig. 2.4: Isopachenkarte und paläogeographische Situation zur Zeit der Ablagerung
des Wirtgesteins (ALBERT & BLÄSI 2001)

Die Mächtigkeit des Doggers weist aufgrund der Sedimentation in den verschiedenen
Faziesbereichen (Keltische Fazies – Übergangsbereich – Alemannische Fazies) und
der unterschiedlichen Opalinustonanteile grosse Schwankungen auf (vgl. Tab. 2.1).
Die grössten Mächtigkeiten wurden in den westlichsten Sondierbohrungen (Keltische
Fazies) Schafisheim und Riniken ("tektonische Aufschiebung im untersten Abschnitt")
27 NAGRA NTB 99-08

von je 240 m angetroffen. Die geringmächtigsten Doggerabfolgen wurden in den östli-


cheren Bohrungen Lindau-1, Kreuzlingen-1 und Berlingen-1 mit Mächtigkeiten von 160
– 170 m durchteuft. Der Anteil des Opalinustons schwankt in den Bohrungen, in denen
das Mesozoikum dem Kristallin überlagert ist, zwischen 80 und 120 m und in den Boh-
rungen über dem Nordschweizer Permokarbontrog zwischen 106 und < 120 m, d.h.
der Opalinuston ist über dem Permokarbontrog kaum mächtiger als über dem Kristal-
lin. Grössere Unsicherheiten ergeben sich wenn die Murchisonae-Schichten wie bei
der Sondierbohrung Benken in Opalinuston-Fazies vorliegen (NAGRA 2001). Die
Unterscheidung von Opalinuston und "tonreichen Murchisonae-Schichten" ist nur mit
detaillierten Untersuchungen an Bohrkernen möglich. Es ist deshalb anzunehmen,
dass auch in anderen Bohrungen tonige Abfolgen von Murchisonae-Schichten dem
Opalinuston zugeschrieben wurden und die tatsächliche Mächtigkeit des Opalinustons
(Zone des leioceras opalinum) nicht genau bekannt ist.

Tab. 2.1: Mächtigkeit des gesamten in der Nordschweiz erbohrten Doggers und
Opalinustons

Tiefbohrung Mächtigkeit des Mächtigkeit des Endteufe im:


Doggers Opalinustons
[m] [m]
Schafisheim 240 80 Kristallin

Riniken 240 < 120 Permokarbon

Lindau-1 152 85 Kristallin

Weiach 187 111 Permokarbon

Benken 201 94 (113*) Kristallin

Herdern-1 198 120 Kristallin

Kreuzlingen-1 160 100 Kristallin

Berlingen-1 170 106 Permokarbon

* inkl. Murchisonae-Schichten in Opalinuston-Fazies

Während die Zeit des Opalinustons mit ca. einer Million Jahren relativ kurz war, dau-
erte die Ablagerung der jüngeren Doggersedimente bis zum Beginn des Malms ca.
19 Millionen Jahre. Daraus lassen sich durchschnittliche Akkumulationsraten von maxi-
mal 0.008 mm/a ermitteln, wodurch eine gegenüber dem Aalenian deutlich verzögerte
Subsidenz im gesamten Gebiet angezeigt wird (vgl. Fig. 2.3).

Während des Malms (159 – 144 Millionen Jahre) setzte offenbar wieder eine ver-
stärkte Subsidenz ein (LEU et al. 2001, s. auch Fig. 2.3). Der Ablagerungsraum war
weiterhin unterteilt in die ausgedehnte Keltische Plattform im Nordwesten ("Rauraki-
sche" Fazies), auf der vorwiegend Kalke abgelagert wurden, und das etwas tiefere
Schwäbische Becken im Osten ("Argovische" Fazies) mit vermehrt mergeligen Abla-
gerungen. Der Plattformrand – markiert durch Korallenriffe und Oolithbarren – wurde
während des Malms zusehends nach Osten verlagert, wobei im Schwäbischen Jura
erst im Kimmeridgian Korallen auftraten. Das Dach der Malmkalke wird in der Nord-
NAGRA NTB 99-08 28

und Ostschweiz durchgehend von einer Erosionsdiskordanz resp. Schichtlücke gebil-


det, so dass deren ursprüngliche Mächtigkeit letztlich nicht bekannt ist. Weiter im
Westen, wo der Malm von Kreidesedimenten überlagert wird, beträgt seine Mächtigkeit
mindestens 500 m (BÜCHI et al. 1965, TRÜMPY 1980).

Im Westen (Keltische Fazies) erreicht der untere Malm (Oxfordian) Mächtigkeiten von
250 bis 300 m (GYGI 1969, GYGI & PERSOZ 1986), während die gleichaltrigen
Schichten nach Osten auf Werte unter 100 m abnehmen (Bohrung Benken 89 m,
Herdern-1 89 m, Berlingen-1 63 m, Kreuzlingen-1 30 m, aber: Meersburg 125 m). Die
Mächtigkeit des späten Malms (Kimmeridgian ± Portlandian) nimmt dagegen von der
zentralen Nordschweiz (ca. 100 m) nach Osten deutlich zu (Meersburg 320 m). Vom
unteren Aaretal bis in den zentralen Jura ist das Kimmeridgian durch spätere Erosion
sekundär reduziert und fehlt im westlichen Tafeljura und um die Bohrung Küsnacht
ganz. Im Bereich der zentralen Nordschweiz weist die Malmmächtigkeit ein Minimum
auf (s. Beil. 2.5 und Beil. 2.3), das zumindest teilweise primär, aufgrund der nachfol-
genden Erosion aber auch sekundär bedingt ist (vgl. HÄRING & MÜLLER 1994,
ALBERT & BLÄSI 2001).

Detaillierte Untersuchungen zeigen, dass schon innerhalb des Oxfordian eine Tendenz
zur Verlagerung der maximalen Subsidenz von Westen nach Osten besteht, indem
das Argovian (entspricht etwa den Effinger Schichten) von WSW nach ESE beträcht-
lich ab-, das darüberliegende Sequanian aber gleichzeitig deutlich zunimmt (z.B. NAEF
et al. 1995). Die Zone mit maximalen Subsidenz- resp. Akkumulationsraten von ca.
0.05 mm/a verlagerte sich vom mittleren Oxfordian bis späten Malm vom zentralen
Mittelland resp. Jura in den Bodenseeraum, wobei im Bereich des östlichen Tafeljuras
und des angrenzenden Mittellands möglicherweise nie solche Werte erreicht wurden
(s. Sondierbohrung Benken, dort ist der gesamte Malm inklusive evtl. des Portlandian
nur ca. 252 m mächtig).

Die Korrelation der erbohrten Gesamtmächtigkeiten des Malms zeigt von WSW nach
ENE eine deutliche Abnahme von ca. 500 m im zentralen Jura auf Werte um 250 bis
300 m in der zentralen Nordschweiz (Sondierbohrung Benken 252 m), um dann weiter
nach Osten sukzessive wieder anzusteigen (Bohrung Herdern-1 344 m, Berlingen-1
369 m, Dingelsdorf-1 428 m). BÜCHI et al. (1965) haben vermutet, dass dieses Mini-
mum der Malmmächtigkeiten mit derselben Hochzone zusammenhängt, die sich in den
Schichtprofilen der Nordschweizer Tiefbohrungen durch minimale Mächtigkeiten der
mesozoischen Formationen bereits seit der späten Trias abzeichnet und die als süd-
licher Ausläufer des Rheinischen Schilds interpretiert wurde. Dabei ist aber zu unter-
scheiden zwischen den primären Mächtigkeitsschwankungen und einer späteren erosi-
ven Reduktion. So könnte z.B. die auffallende Mächtigkeitsabnahme des Oxfordian
gegen Osten durchaus mit einer persistierenden Hochzone am Südrand des Rheini-
schen Schilds zusammenhängen. Die durch Erosion reduzierten Malmmächtigkeiten
der zentralen Nordschweiz, des westlichen Tafeljuras und der Randbereiche des
Schwarzwalds sowie des Oberrheingrabens können aber auch durch Erscheinungen
der späteren, alpinen Geschichte erklärt werden.

Das Nordschweizer Gebiet mit reduzierten Mächtigkeiten der mesozoischen Forma-


tionen kann mit einem analogen Gebiet im nordalpinen Autochthon verbunden werden,
wobei die Bezeichnung Aarmassiv – Schwarzwald-Schwelle geprägt wurde (BÜCHI et
al. 1965). Da dieser Begriff aber sowohl auf die mesozoische wie auch auf die tertiäre
Geschichte angewendet wurde, man aber zwischen diesen beiden tektonischen Zyklen
klar unterscheiden muss, sollte die Bezeichnung Aarmassiv – Schwarzwald-Schwelle
nicht mehr verwendet werden.
29 NAGRA NTB 99-08

2.3.3 Schichtlücke zwischen Malm und Mitteleozän

In den Sedimentabfolgen des Nordostschweizer Deckgebirges besteht eine grosse


Schichtlücke, die etwa den Zeitraum zwischen dem späten Malm und dem mittleren
Eozän umfasst (144 – ca. 45 Millionen Jahre, s. Fig. 2.2). Ablagerungen der Kreide
sind heute südwestlich einer Linie Biel – Besançon und in den Alpen erhalten. Die
Studie zur Beckenentwicklung des Nordostschweizer Alpenvorlands (s. Leu et al. 2001
und Fig. 2.3) zeigt, dass wahrscheinlich auch in der Nordostschweiz über der heutigen
Basis des Tertiärs (Molasse) rund 500 m Sedimente, wahrscheinlich vorwiegend Krei-
de, abgelagert, aber noch vor der Transgression der ältesten Molasseablagerungen
wieder erodiert wurden. Während dieser spätkretazisch (?) – alttertiären Erosions- und
demnach auch Hebungsphase (s. Fig. 2.3) wurde offenbar auch ein Teil der jüngsten
Malmablagerungen abgetragen, was sich in den stark unterschiedlichen Gesamtmäch-
tigkeiten und der heterochronen Obergrenze der Nordschweizer Malmprofile abzeich-
net (s. Kap. 2.3.2). Überreste dieser Malm-Kreide-Sedimente, wahrscheinlich vorwie-
gend Flachwasserkarbonate ohne wesentlichen Anteil an siliziklastischem Material,
sind die besonders im Randengebiet verbreiteten Bolustone mit Bohnerz, die als ton-
und eisenreiche Verwitterungsresiduen in Karsttaschen und -spalten vorkommen und
unter dem Begriff Siderolithikum zusammengefasst werden. Auf zahlreichen Seismik-
linien am Nordrand des Molassebeckens ist die diskordante Auflagerung der Molasse
über einer erosiven Malmoberfläche ebenfalls nachvollziehbar.

Auch auf Profilen der 3D-Seismik des Zürcher Weinlands ist diese Diskordanz gut zu
sehen: Mit einer Detailstudie konnte RINGGENBERG (2001) die von Südosten nach
Nordwesten zunehmende prämolassische Erosion der Malmoberfläche verfolgen; auf-
fallende Deformationen des Reflektors Top Malm, die als Abbild von Dolinen und damit
Hinweise auf fortgeschrittene Verkarstung interpretiert werden, wurden v.a. im Südos-
ten des 3D-Seismik-Gebiets, d.h. im Gebiet mit Permokarbonvorkommen beobachtet.

Diese Phase der Hebung und Erosion wird als Folge der alpinen Kollision und Krusten-
verkürzung interpretiert, wobei im Bereich einer Vorland-Hebungszone ("Vorland-
schwelle") eine bedeutende Erosion stattfand. Nach CRAMPTON & ALLEN (1995)
sind dabei maximale Hebungen und damit auch eine entsprechende Erosion von bis
zu 650 m möglich. Damit wäre die alttertiäre Erosionsphase in der Nordschweiz als
direkte Folge der alpinen Kollision während des Eozäns – Oligozäns zu interpretieren.

2.4 Sedimentation und Tektonik im Tertiär

Im Folgenden werden wichtige Ereignisse des Tertiärs, wie sie in Kap. 2.1 kurz skiz-
ziert wurden, anhand der neuesten Daten näher erläutert. Ausgehend von NAEF et al.
(1985) wurde die tertiäre Geschichte der Nordschweiz in diversen Internen und Tech-
nischen Berichten der Nagra aufgearbeitet und dargestellt (z.B. NAGRA 1988, THURY
et al. 1994, NAEF et al. 1995). Zum besseren Verständnis der Nordostschweizer
Molasseablagerungen und deren Entstehungsgeschichte haben auch die Fazies-
analysen von Molassebohrungen und der regionalen Reflexionsseismik beigetragen,
die in Zusammenhang mit der Wirtgesteinsoption USM durchgeführt wurden (KELLER
et al. 1990, BLASER et al. 1994, MEIER 1994). Wichtig für ein etwas differenzierteres
Verständnis der Zusammenhänge sind auch die Resultate bio- und chronostratigra-
phischer Forschungen in der Ostschweizer Molasse, wie sie v.a. von BOLLIGER
(1992, 1994 und 1998), KEMPF & MATTER (1999) und KEMPF et al. (1999) publiziert
wurden. Neueste Darstellungen zur tertiären Dynamik der Nordschweiz im Spannungs-
NAGRA NTB 99-08 30

feld zwischen alpiner Gebirgsbildung und mesoeuropäischem Vorland sowie des


Schwarzwalds werden z.B. von ROEDER & BACHMANN (1996), PFIFFNER et al.
(1997), ZWEIGEL (1998) oder SCHLUNEGGER (1999) vorgelegt. Detaillierte Unter-
suchungen zur Maturität, Beckenentwicklung und entsprechender Vertikalbewegungen
des Ostschweizer Alpenvorlands wurden von SCHEGG & LEU (1998) und LEU et al.
(2001) erarbeitet und müssen im Folgenden ebenfalls diskutiert werden.

Für die geologischen Langzeitszenarien sind v.a. die neogenen Strukturen und Pro-
zesse von Bedeutung, weil sie das Grundgerüst der neotektonischen Analyse bilden
(s. Kap. 3). Im Folgenden wird dafür der regionale und überregionale Rahmen aufge-
spannt, und in Kap. 4 wird daraufhin auf das eigentliche Untersuchungsgebiet Zürcher
Weinland fokussiert.

2.4.1 Tertiäre Dynamik zwischen Schwarzwald und Alpennordrand

In NAEF et al. (1995) werden der tektonische Bau der Nordschweiz und dessen Über-
prägung durch die Ereignisse im Tertiär eingehend dargestellt und diskutiert. LAUB-
SCHER (1992 und 1997) gibt einen Überblick über die Zusammenhänge zwischen
Alpen, Molassebecken und Juratektonik im Neogen. Daraus geht hervor, dass sich die
jüngere geologisch-tektonische Geschichte dieser Region gänzlich im Spannungsfeld
zwischen Schwarzwalddom und Alpenfront abspielte. Dabei lassen sich folgende Pro-
zesse unterscheiden (vgl. Fig. 2.2):
• Die epialpine Subduktion und die damit verbundene Krustenverdickung im Bereich
der Zentralmassive bewirkte ein aktives Abbiegen der Vorlandkruste ("flexural
loading"). Die entstehende Vorlandtiefe wurde mit dem Abtragungsmaterial des
isostatisch (positive Massenbilanz) und tektonisch (fortschreitender Zusammen-
schub) aufsteigenden Gebirgskörpers laufend aufgefüllt (Flysch, Molasse) und
damit zusätzlich belastet und abgesenkt (vgl. z.B. JOHNSON & BEAUMONT
1995).
• In Zusammenhang mit dem Abbiegen der Vorlandkruste entstand mit dem Näher-
rücken der Alpenfront eine nach extern wandernde Hebungszone (sog. "foreland
bulge" oder "forebulge" = Vorlandschwelle), in der Erosion vorherrschte (s. z.B.
SINCLAIR et al. 1991, CRAMPTON & ALLEN 1995). Vor allem in diesem Bereich,
aber auch weiter beckenwärts, kam es zu einer leichten Zerrungstektonik in der
Oberkruste, wobei generell präexistierende Schwächezonen im Sockel und im
Deckgebirge, insbesondere aber die Leitstrukturen des Nordschweizer Permo-
karbontrogs reaktiviert wurden.
• Das Vorrücken der Alpenfront wirkte sich in Form eines weit ausgreifenden Span-
nungsfelds auf das mesoeuropäische Vorland aus, dessen neogene bis rezente
Richtung der grössten Hauptspannungskomponente seit Beginn des Jungtertiärs
ungefähr senkrecht zur Alpenfront verläuft, d.h. im Westen ± NW-SE und im Osten
± N-S. Dadurch wurde die Bildung von Scherzonen begünstigt, die im Winkel von
ca. 30 Grad zu dieser Hauptspannungsrichtung verlaufen (z.B. Neuhauser und
Randen-Störung).
• Der alpine Zusammenschub bewirkte an mechanisch dafür geeigneten Horizonten
auch eine zunehmende Abscherung von Krustensegmenten im Bereich des Alpen-
vorlands ("thin skinned decollement"). Vom frühen Miozän an bildeten sich die
Schubpakete der Subalpinen Molasse, die an tonreichen Lagen der UMM und der
USM von ihrer Unterlage getrennt und übereinander gestapelt wurden. Ab dem
31 NAGRA NTB 99-08

späten Miozän ergriff diese Abscherung auch das Mesozoikum, d.h. Teile des
mesozoischen Deckgebirges im zentralen und westlichen Mittelland, wobei die eva-
poritischen Serien des Mittleren Muschelkalks und des Keupers als Abscher- und
Gleithorizonte dienten. An der Front dieses im späten Miozän beginnenden Fern-
schubs kam es zur Auffaltung des Faltenjuras.
• Ab dem frühen Neogen (Miozän) setzte sich auch die Aufdomung des Schwarz-
wald – Vogesen-Gebiets fort. Diese äussert sich in grobklastischen Schüttungen,
der sog. älteren Juranagelfluh, die sich im Hegau und im östlichen Tafeljura mit der
distalen USM verzahnt (SCHREINER 1965). LAUBSCHER (1997) interpretiert
diese nicht genauer datierbare Hebungsphase des Schwarzwalds als Folge der
nach extern wandernden Vorlandschwelle (vgl. auch CRAMPTON & ALLEN 1995).
Die Aufdomung akzentuierte sich aber ab dem Mittelmiozän (jüngere Juranagel-
fluh) erneut und erlangte im Mio-Pliozän eine eigenständige Dynamik, deren gross-
räumiger Zusammenhang noch nicht geklärt ist.
• Die anhaltende Aufdomung des Schwarzwalds führte v.a. im Randbereich zu zahl-
reichen Zerrungsbrüchen und drückt sich in der bekannten Horst- und Graben-
tektonik des Südschwarzwalds aus. Dabei wurden bevorzugt präexistierende, aus
dem Paläozoikum ererbte Strukturelemente reaktiviert. Wichtigste, grossräumige
Struktur ist der Freiburg – Bonndorf – Bodensee-Graben, an dessen Enden die
jungtertiären Vulkangebiete des Kaiserstuhls und des Hegaus liegen (Beil. 2.1).
• Die jüngste Geschichte der Nordschweiz ist geprägt von einer zunehmenden
Heraushebung und Kompression, die begleitet wird von Scherbewegungen und
leichter Inversion von Sockelsegmenten auch nördlich des vom Fernschub be-
troffenen Bereichs. Im Laufe des späten Miozäns wurde die Phase der Molasse-
sedimentation von einer Zeit allgemeiner Erosion abgelöst, die bis heute anhält (s.
Kap. 3.4).

Obwohl die kinematischen Zusammenhänge zwischen dem nördlichen Vorland und


dem zentralen Alpenkörper in groben Zügen gesichert sind, ist die zeitliche Abgren-
zung der einzelnen Ereignisse und Phasen in mancher Hinsicht noch nicht im Detail
geklärt. Kontrovers ist insbesondere die für die Herleitung der Langzeitszenarien wich-
tige Frage, ob der aktive Zusammenschub am Alpennordrand andauert, d.h. zur rezen-
ten Tektonik gerechnet werden kann, oder ob dieser definitiv beendet und dann zwar
noch als neotektonisch, aber nicht mehr aktiv betrachtet werden muss (s. Kap. 3.1.1).

Im Sinne einer thematischen Behandlung lässt sich die tertiäre Geschichte der Nord-
ostschweiz in vier Abschnitte unterteilen, die sich sowohl räumlich als auch zeitlich
überlagern:

A Die prämolassische Zeit (Paläozän – Eozän)

B Die Entstehung des Ostschweizer Molassebeckens (Oligozän – Miozän)

C Die jungen Hebungen des Schwarzwalds (Miozän – rezent)

D Die Abscherung des Vorlands durch Fernschub (Miozän – rezent).


NAGRA NTB 99-08 32

2.4.2 Das frühe Tertiär in der Nordschweiz (Paläozän – Oligozän)

Das frühe Tertiär ist geprägt von festländischen Verhältnissen, die eine persistierende
regionale Hochzone im Gebiet der Nordschweiz belegen. Sie ist Teil einer weiträumi-
gen Aufdomung ohne grössere Vertikalbewegungen an diskreten Störungszonen, wie
sie schon seit längerem bekannt ist (z.B. BÜCHI et al. 1965). Diese auch als Schwarz-
wald – Aarmassiv-Schwelle bezeichnete Hochzone dürfte einen südlichen Ausläufer
des Rheinischen Schilds darstellen, der sich seit dem späten Mesozoikum als weiträu-
miges Hebungsgebiet Zentraleuropas manifestiert. Das Relief beschränkte sich in der
Nordschweiz wahrscheinlich auf eine Schichtstufenlandschaft mit wenigen Deka-
metern Höhendifferenz. Die v.a. in Karstschloten und Spalten der liegenden Malm-
kalke erhaltenen Sedimente der sog. Siderolith- oder Bohnerzformation sowie darin
enthaltene Fossilreste belegen ein zuerst feuchtwarmes, später eher trockenes, sub-
tropisches bis tropisches Klima mit Roterdebildung und intensiver Verwitterung der
mesozoischen Karbonate (z.B. HOFMANN 1967a und 1991, HOFMANN & PETERS
1962, MÜLLER et al. 1984, BOLLIGER 1999). Der regionale Grundwasserspiegel lag
bis zu mehreren Dekametern unter der Geländeoberfläche, wodurch die tiefgründige
Verkarstung ermöglicht wurde (s. z.B. PASQUIER & PERSOZ 1977). Siderolithische
Bildungen werden auch über dem Mesozoikum des westlichen Aarmassivs und im
nördlichen Helvetikum beobachtet und widerspiegeln damit den bedeutenden Rückzug
des alpinen Meeres im frühen Tertiär. Diese terrestrischen Bildungen am Nordrand der
Tethys werden nach HERB (1988) von Süden nach Norden generell jünger. In der
Nordschweiz herrschten bis ins jüngere Oligozän kontinentale Bedingungen ohne
flächenhafte Erhaltung von Ablagerungen. Aus dem Raum Schaffhausen sind lokal
sandreiche und auch kalkige Ablagerungen bekannt, die eindeutig jünger als die
(wahrscheinlich eozäne) Bohnerzformation sind. Sie zeigen veränderte Klimabedingun-
gen an und könnten nach HOFMANN (1991) Äquivalente der UMM, d.h. oligozänen
Alters sein.

2.4.3 Die Ablagerungen der Molasse in der Ostschweiz

Vom Späteozän bis zum Früholigozän (Priabonian – Latdorfian) transgredierte das


alpine Meer wieder weit nach Norden und Westen (helvetische Flysche) und im Verlauf
des Mitteloligozäns (Rupelian) erfolgte der Übergang von der Flysch- zur Molassesedi-
mentation (z.B. SINCLAIR et al. 1991). Lithologie, Fazies und Paläogeographie der
Molasseablagerungen lassen vier Grosszyklen erkennen, die mit entsprechenden tek-
tonischen Vorgängen der entstehenden Alpen korreliert werden können (KEMPF et al.
1999). Während diese Molasseformationen im Süden, paläogeographisch 100 bis
150 km von der Nordschweiz entfernt, Mächtigkeiten von wahrscheinlich einigen Kilo-
metern erreichten, sind sie in der Nordschweiz nur noch wenige Hundert Meter
mächtig und heute grösstenteils bereits wieder erodiert. Die Entstehungs- und Defor-
mationsgeschichte der Molasseablagerungen, insbesondere der miozänen Bildungen
am Beckenrand, dient als wichtige Grundlage für die neotektonische Analyse und die
Herleitung der geologischen Langzeitszenarien. Im Folgenden wird deshalb näher
darauf eingegangen (Fig. 2.5).
Die Tiefseeablagerungen des Nordhelvetischen Flyschs (Späteozän – Früholigozän)
werden überlagert von den flachmarinen bis litoralen Schichten der Unteren Meeres-
molasse (UMM). Die sich aus dem Meer erhebenden Gebirgsketten der entstehenden
Alpen bewirkten eine zunehmende Lieferung von detritischem Erosionsmaterial, das
sich in Form von mächtigen Deltas und submarinen Trübeströmen in der nordalpinen
Vortiefe ablagerte (z.B. DIEM 1986).
33 NAGRA NTB 99-08

Die Schichten der UMM wurden in den Tiefbohrungen der Nordostschweiz nicht ange-
troffen; es wird vermutet, dass die Küste des UMM-Meeres in der Ostschweiz etwa im
Bereich des heutigen Südrands der Mittelländischen Molasse lag (BÜCHI &
SCHLANKE 1977), während das UMM-Meer im Westen (Raurakische Senke) und v.a.
im süddeutschen Raum bedeutend weiter nach Norden transgredierte (s. z.B. GEYER
& GWINNER 1991).

Mit zunehmender Abbiegung der Vorlandkruste schritt die basale Transgression der
Molassesedimente bis ins Frühmiozän sukzessive von Südosten nach Nordwesten
voran. Im Querschnitt zeigt der keilförmige Sedimentkörper der Unteren Süsswasser-
molasse (USM) eine typische Faziesanordnung mit grobklastischen Schuttfächer-
serien im alpennahen (proximalen) Bereich und siltig-sandigen Flussablagerungen und
Überschwemmungsebenen im alpenfernen (distalen) Bereich; am Aussenrand kom-
men auch limnische Bildungen vor (Knollen- und Krustenkalke). Die jüngsten, von alpi-
nem Material geprägten Schichten der Nordostschweizer USM finden sich heute bis zu
einer Linie Brugg – Kleiner Randen – Schaffhausen – Hegau (s. Fig. 2.6), an der sie
sich teilweise mit konglomeratischen Schüttungen aus dem Schwarzwaldgebiet ver-
zahnen (ältere Juranagelfluh). Nach SCHREINER (1992) enthält diese ältere Jura-
nagelfluh im Hegau neben dem überwiegenden Malmmaterial auch vereinzelt Dogger-
gerölle, womit eine Hebungsphase des Schwarzwalds an der Wende vom Oligozän
zum Miozän angezeigt wird (vgl. auch LAUBSCHER 1992).

Zusammen mit sedimentpetrographischen Befunden, v.a. Schwermineralanalysen, er-


gibt sich so das paläogeographische Bild von mächtigen, generell nach Nordwesten
bis Norden progradierenden Schuttfächerserien mit charakteristischem Sedimentspek-
trum und einem vorgelagerten, 10 – 20 km breiten, generell nach Nordosten bis Osten
entwässernden axialen Flusssystem (FÜCHTBAUER 1958, BÜCHI & SCHLANKE
1977, BERGER 1996).

KEMPF et al. (1999) unterscheiden eine ältere, v.a. auf den subalpinen Bereich und
den Untergrund des Ostschweizer Molasseplateaus beschränkte USM I ("Rupelian-
Chattian", ca. 31 – 24 Millionen Jahre) und eine jüngere, bis an den erwähnten Nord-
westrand des Molassekeils reichende USM II ("Chattian-Aquitanian" ca. 24 –
20 Millionen Jahre), deren axiale Ablagerungen (äusserer Beckenbereich) offenbar ein
anderes Liefergebiet anzeigen als die alpenrandnahen Schuttfächer. Zwischen den
proximalen Kronberg – Gäbris-Schuttfächern der USM II und den axialen Schüttungen
weiter westlich liegender Liefergebiete scheint sich in der Ostschweiz zu dieser Zeit
eine beckenparallele Wasserscheide ausgebildet zu haben (s. Fig. 2.5). Diese könnte
nach KEMPF et al. (1999) durch initiale Bewegungen im Bereich der späteren Dreieck-
zone zwischen Subalpiner und Mittelländischer Molasse erklärt werden.

Nach den Berechnungen von KEMPF et al. (1999) lagen die Sedimentations- und da-
mit auch die Subsidenzraten im proximalen Teil der USM (heutige Subalpine Molasse)
praktisch von Beginn an, d.h. ab ca. 31 Millionen Jahren, durchwegs deutlich höher als
0.2 mm/a. Im distalen Gebiet setzte erst mit der jüngeren USM II eine erhöhte Subsi-
denz resp. Akkumulation ein. Dies ist durch die Bohrprofile der Nordostschweizer Tief-
bohrungen belegt, die überwiegend "aquitane" USM erfassten und nur an der Basis
noch wenige Hundert Meter "Chattian" aufweisen (s. z.B. BÜCHI et al. 1965, ZIMMER-
MANN et al. 1976). Stark erhöhte Absenkraten der aquitanen USM wurden schon von
NAEF et al. (1985) für die Nordschweizer Molassebohrungen und einige Aufschluss-
profile ermittelt.
$
Zeiteinheiten Tafeljura/Hegau Molasse- Ostschweizer Subalpine Molasse Ma
Ma Nordrand Molasse

Fig. 2.5:
0 0
Rinnenschotter
Quartär Deckenschotter
2 2
2.6
NNW Vorherrschende SSE
Pliozän 4 Faziestypen: 4
Aare – Donau
Hegau-Vulkanismus Schwarzwald
NAGRA NTB 99-08

Messinian 6 Konglomeratreiche 6
alpin Schuttfächer
8 8

Ober-
Tortonian Stromsysteme,
Ende der Molassesedimentation Binnengürtel
10 OSM, 10
postmolassisch Überschwemmungs-
12 pr erodiert ebene, lakustrisch 12
ox
Serra- im
ale flachmarin
vallian 14 OSM 14

Mittel-
Mo
jJNF

Miozän
GlsR la ss
es
Langhian 16
OMM-Klifflinie
er 16

s
ien
tek
s GrsR s
18 s
ton 18
isc
Burdigalian OMM
34

hg
20 eh 20
OAM ob

Unter-
äJNF en
un
22 de 22
Aquitanian USM II ? ro
die
24
rt 24

becken (ergänzt nach KEMPF et al. 1999)


BEN 26
26 jJNF jüngere Juranagelfluh
Chattian GlsR Glimmersandrinne
28
LIN 28
GrsR Graupensandrinne
OAM Oberaquitane Mergelzone
USM I
30 äJNF ältere Juranagelfluh 30

Oligozän
Rupelian UMM
32 32
ursprüngliche Distanz >> 100 km
ergänzt nach Kempf et al. 1999
Paläoschüttungsrichtungen:

beckenparallel nach NE radial nach N-NW OSM = Obere Süsswassermolasse


OMM = Obere Meeresmolasse BEN = Sondierbohrung Benken
beckenparallel nach SW radial nach SE (Juranagelfluh)
USM = Untere Süsswassermolasse LIN = Tiefbohrung Lindau-1
?

Chronostratigraphischer Querschnitt durch das Ostschweizer Molasse-


Diskordanz beckenparallele Wasserscheide UMM = Untere Meeresmolasse
35 NAGRA NTB 99-08

20 km

n

io
M
em
st
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ab
en
ng
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Sc
h-
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r e nd Mitt
Aa
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radie im
og
Pr

Während Ablagerung der OSM: Spätmiozän


Tertiäre Hegau-Vulkanite
Rheinische Elemente
Mittelmiozän

Südrand der Glimmersandrinne


im späten Mittelmiozän
Herzynische Verwerfungen des
Südostschwarzwalds und des Südrand der Glimmersandrinne
im frühen Mittelmiozän
Hegau – Bodensee-Grabens
Frühmiozän

Während Ablagerung der OMM:

OMM-Klifflinie Graupen-
sandrinne
Spätoligozän

Während Ablagerung der USM:


Antitheter im Bereich des Nordschweizer
Permokarbontrogs
USM-Aussenrand
Beckenparallele Randflexuren

Tiefbohrungen Schüttungsrichtung

Fig. 2.6: Wichtige tektonische und sedimentäre Leitlinien des Jungtertiärs am Nord-
rand des Ostschweizer Molassebeckens
NAGRA NTB 99-08 36

Diese Zeit des frühen Frühmiozäns (ca. 24 – 20 Millionen Jahre) mit erhöhter Subsi-
denz der Alpenvortiefe bis in externe Bereiche wird mit einem Vorrücken des alpinen
Deckenstapels und einer ersten massiven Krustenverdickung im Bereich der Sub-
alpinen Molasse korreliert (KEMPF et al. 1999, SCHLUNEGGER 1999). Die gesamte
USM dürfte einer Zeit mit sog. "basin overfill" entsprechen, während der durch Hebung
und Erosion im entstehenden Gebirge generell mehr Material ins Vorland geliefert wur-
de, als durch die laufende Subsidenz aufgenommen resp. kompensiert werden konnte.

Diese Verhältnisse änderten sich im Verlauf des späteren Frühmiozäns deutlich. Wäh-
rend schon die jüngste USM in Form der weit verbreiteten "Oberaquitanen Mergel-
zone" (OAM) eine verminderte Detrituszufuhr anzeigt, wird das Molassebecken wäh-
rend des Burdigalian zumindest in seinem externen Teil, der heutigen Mittelländischen
Molasse, von marinen Ablagerungen und bedeutenden Schichtlücken geprägt. Zwar ist
die Schichtabfolge am Alpenrand, an dem sie ausschliesslich in terrestrischer Fazies
vorliegt, noch ziemlich vollständig, d.h. es ist dort eine anhaltende Subsidenz erkenn-
bar. Nach Nordwesten werden die marinen Sequenzen der älteren Oberen Meeres-
molasse (Glaukonit- und Muschelsandsteine des "Burdigalian" = Eggenburgian) je-
doch deutlich geringmächtiger und fehlen am Aussenrand des Molassebeckens voll-
ständig. Die Analyse der seismischen Fazies von USM und OMM unter dem Ost-
schweizer Molasseplateau (MEIER 1994) zeigt überdies deutliche Winkeldiskordanzen
zwischen Top USM und basaler OMM, die zudem häufig in grobdetritischer Fazies vor-
liegt (transgressives Basiskonglomerat). Zwischen Top USM und Basis OMM scheint
hier eine grössere Schichtlücke vorzuliegen, die aber biostratigraphisch nicht genauer
abgegrenzt werden kann (BERGER 1996).

Erosionsdiskordanzen und ungewöhnliche Mächtigkeits- und Fazieswechsel über


kleine Distanzen prägen auch die jüngeren OMM-Ablagerungen am Aussenrand des
Molassebeckens ("Helvetian" = Ottnangian – Karpatian = spätes Burdigalian), die im
engeren Untersuchungsgebiet zwischen Aare – Limmat und dem Hegau aus zahl-
reichen Aufschlüssen und Bohrprofilen bekannt sind (s. z.B. BRANDENBERGER
1925, von BRAUN 1953, BÜCHI & HOFMANN 1960, SCHREINER 1992). Allerdings
liegt die sog. Klifflinie, d.h. der Aussenrand des noch vom OMM-Meer erreichten
Gebiets, weiter nordwestlich als die heute noch erhaltenen externsten USM-Vorkom-
men (Fig. 2.6). Entsprechende Ablagerungen sind aber nur örtlich als Erosionsrelikte
von jeweils wenigen Metern Mächtigkeit erhalten. Diese Befunde legen nahe, dass die
relativ uniforme Subsidenzgeschichte des frühen Molassebeckens im späteren Früh-
miozän durch Hebungen und kleinräumige Differenzialbewegungen zumindest im gut
bekannten externen Teil unterbrochen wurde (s. Fig. 2.5). Dabei könnten auch
Meeresspiegelschwankungen eine Rolle gespielt haben.

Die jüngsten marin beeinflussten Ablagerungen des Molassenordrands finden sich als
sog. Brackwassermolasse im östlichen Tafeljura (Randen – Hegau). Sie wurden im
Wesentlichen in einer breiten Rinne abgelagert, die das OMM-Meer des Schweizer
Mittellands mit demjenigen der Bayerischen Molasse verband. Die Ablagerungen die-
ser als "Graupensandrinne" bezeichneten Meeresverbindung enthalten sowohl Mate-
rial, das weit aus dem Osten herantransportiert wurde wie auch alpines Material des
Napf-Schuttfächers. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich die Graupensandrinne
bis zu 100 m tief in ältere Molasseablagerungen und die liegenden Malmkalke einge-
tieft hatte und somit eine deutliche Hebungsphase oder eustatische Meeresspiegelab-
senkung anzeigt. Die lokalen Verhältnisse im Randengebiet sowie deren paläogeo-
graphische Interpretation wurden von HOFMANN et al. (2000) detailliert beschrieben
(vgl. auch ZÖBELEIN 1995).
37 NAGRA NTB 99-08

Bis zur Wende vom Früh- zum Mittelmiozän (Karpatian) hatte sich das Meer definitiv
nach Osten zurückgezogen. Danach bildete sich im Bereich der ehemaligen Graupen-
sandrinne ein über den Hegau und Schaffhausen nach Südwesten verlaufendes
Stromsystem, das glimmerreiche Sande aus den westlichen Ostalpen führte und des-
halb als "Glimmersandrinne" bezeichnet wird.

Ab Beginn des Mittelmiozäns herrschten im gesamten Ostschweizer Alpenvorland


wieder durchgehend kontinentale Verhältnisse, und es kam zur Ablagerung der
Oberen Süsswassermolasse (OSM). Ähnlich wie während der USM bauten sich am
Alpenrand ausgedehnte Schuttfächer auf, deren Geröllspektrum und Schwermineral-
gehalt Auskunft über die tektonischen Vorgänge in den Alpen geben. Ihre radiale Ent-
wässerung mündete nach Norden und Nordwesten in die Glimmersandrinne, die das
Material nach Südwesten bis zum Mittelmeer verfrachtete.

Die Nagelfluhen, Sandsteine und Mergel der Ostschweizer OSM wurden im Bereich
des Hörnli-Schuttfächers abgelagert, dessen Aussenrand sich etwa auf der Linie
Konstanz – Frauenfeld – Winterthur – Zürich mit den Glimmersanden des axialen
Stromtals verfingert. Die Rekonstruktion der Verhältnisse am Beckennordrand zeigt,
dass sich die axiale Entwässerungsrinne von der späten OMM bis zur frühen OSM um
einige Kilometer beckenwärts verschoben hatte. Im Verlauf des mittleren und dann v.a.
des jüngeren Mittelmiozäns (vor ca. 15 – 13 Millionen Jahren) verlagerten sich die
grobdetritischen Faziesbereiche des Hörnli-Schuttfächers weit nach Norden und Nord-
westen (Konglomeratstufe, s. Fig. 2.5, vgl. auch BÜRGISSER 1980 und BOLLIGER
1992). Dieses Progradieren des Hörnli-Schuttfächers bewirkte eine erneute Verlage-
rung der Glimmersandrinne um ca. 5 – 10 km nach extern, wie dies in Fig. 2.5 und 2.6
dargestellt ist.

Gleichzeitig mit den basalen OSM-Schichten des Hörnli-Schuttfächers setzte auch aus
Nordwesten wieder eine Schüttung detritischer Sedimente ein, insgesamt als jüngere
Juranagelfluh-Formation bezeichnet, deren Geröllinhalt und Stratigraphie die sukzes-
sive Erosion des mesozoischen Deckgebirges über dem Südostschwarzwald wider-
spiegelt. Ablagerungen der jüngeren Juranagelfluh sind vom oberen Donautal (west-
liche Alb) bis zum Basler Tafeljura verbreitet und dokumentieren damit eine anhal-
tende Hebung des gesamten südlichen Schwarzwalds während des Mittelmiozäns
(STUMM 1964, SCHREINER 1965 und 1992).

2.4.4 Epialpine Subduktion, Vorlandschwelle und Schwarzwalddom

Die Aufdomung des Schwarzwalds ist zwar ein seit langem bekanntes und häufig dis-
kutiertes geologisch-morphologisches Phänomen (s. Kap. 2.4.1), der geodynamische
Hintergrund ist aber noch wenig verstanden und deshalb kontrovers. Die Fakten
lassen zumindest eine zweiphasige Entwicklung in Zusammenhang mit der alpinen
Orogenese erkennen.

Vom Späteozän bis Ende des Oligozäns erfolgte die Einsenkung des Oberrhein-
grabens, einer Riftstruktur im remobilisierten Vorland des alpinen Orogens. Damit ver-
bunden war eine Hebung der Grabenrandzonen im Westen (Vogesen) und im Osten
(Schwarzwald), die entsprechende Erosion und Schüttung von grobklastischem Mate-
rial bewirkte. Zeugen dieser ersten Hebungsphase sind grobklastische Schüttungen im
Oberrheingraben sowie die am Molassenordrand (Hegau) abgelagerten Konglomerate
der älteren Juranagelfluh, deren Geröllspektrum Malmkalke und untergeordnet auch
NAGRA NTB 99-08 38

Dogger umfasst (SCHREINER 1965). Daraus kann auf eine maximale Erosion und
entsprechende Hebung von wenigen Hundert Metern im zentralen Liefergebiet ge-
schlossen werden. Aufgrund der derzeitigen Datenlage sind keine Auswirkungen
dieser frühen Hebungen im Schwarzwald auf das Strukturmuster am Ostschweizer
Molassenordrand zu erkennen.

Eine weitere, kräftige Hebungsphase des Schwarzwaldmassivs ist durch die jüngeren
Erosionsprodukte an dessen Süd- und Ostfuss, im Schweizer Tafeljura und am Nord-
rand des Molassebeckens belegt. Hier verzahnt sich die vom Schwarzwald geschüttete
Juranagelfluh-Formation mit der mittelmiozänen OSM. Die Hebung im Schwarzwald
bewirkte etwa ab Beginn des Mittelmiozäns eine differenzielle Zerblockung des
Schwarzwalds und die Entstehung von Graben- und Hochzonen, durch welche die
Schüttungen der Juranagelfluh kanalisiert wurden. Im Westen (Basler Juranagelfluh)
mögen dies rheinisch streichende Strukturen gewesen sein, im Osten waren es ein-
deutig die herzynischen Leitlinien des Südostschwarzwalds, welche die Paläohydrolo-
gie der Juranagelfluh im Randen – Hegau-Gebiet massgeblich bestimmten (SCHREI-
NER 1965, GRAF 1988). Es wird also angenommen, dass die herzynischen Störungen
des Südostschwarzwalds ab Mitte des Miozäns durch die Dehnungsbewegungen in
Zusammenhang mit der Hebung des Schwarzwalds aktiv waren. Dabei handelt es sich
weitgehend um die Reaktivierung eines bestehenden, aus dem späten Paläozoikum
ererbten Strukturmusters (s. Kap. 2.2). Es ist anzunehmen, dass sich dieses altange-
legte und jung reaktivierte Strukturmuster des Sockels unter dem Tafeljura und bis an
den Molassenordrand nach Südosten ins Gebiet des Nordschweizer Permokarbon-
trogs fortsetzt und somit eine ausgedehnte differenzielle Zerblockung des Sockels im
heutigen Schwarzwald und dessen Randgebieten ermöglichte. Im Bereich des Hegau
– Bodensee-Grabens ist die Stratigraphie der OSM und der Juranagelfluh aus zahlrei-
chen Aufschlüssen und Bohrungen sehr gut bekannt. Anhand lateral wechselnder
Fazies und unterschiedlicher Mächtigkeiten lässt sich ein direkter Zusammenhang der
Abschiebungstektonik an der Randen-Störung und der Neuhauser Störung mit der
mittelmiozänen Aufdomung des Südostschwarzwalds in diesem Gebiet herstellen (s.
Kap. 3.3 und 3.4). Synsedimentäre Bewegungen an herzynischen, aber auch ca. N-S
streichenden Strukturen während der Schüttung der jüngeren Juranagelfluh wurden
von SCHREINER (1965 und 1992) beschrieben.

Diese durch die jüngeren Juranagelfluhen dokumentierte Aufdomung im heutigen


Schwarzwald steht nach LAUBSCHER (1992) in direktem Zusammenhang mit der alpi-
nen Orogenese. Die epialpine Subduktion der europäischen Platte am Nordrand der
Alpen bewirkte die in Kap. 2.4.1 erwähnte Absenkung des Molassebeckens ("flexural
loading"), dessen externer Rand von einer ausgleichenden Hebungszone, der sog.
Vorlandschwelle ("foreland bulge") geprägt war. Durch das stetige Vorrücken der
Alpenfront im Oligo- bis Miozän wurde diese Vorlandschwelle immer weiter nach
extern verlagert (vgl. Fig. 2.2) bis sie gegen Ende des Untermiozäns etwa im Bereich
des heutigen Südschwarzwalds lag. Durch Interferenz der Vorlandschwelle mit der
krustalen Schwächezone des Oberrheingrabens ist nach LAUBSCHER (1992) eine
durch subkrustale Massenbewegungen in Gang gehaltene Hebungszone entstanden.
Ihr Ausmass übersteigt die für eine Vorlandschwelle typischen Dimensionen von maxi-
mal wenigen 100 m bei weitem; denn seit Beginn der Hebung dürfte sich der zentrale
Schwarzwald um ca. 2.5 km herausgehoben haben (THURY et al. 1994).

Dass die Heraushebung von Schwarzwald und Vogesen im Tertiär nur in erster Nähe-
rung als ein uniformes Ereignis angesehen werden darf, belegen auch die Untersu-
chungen mithilfe von Apatit-Spaltspuren-Datierungen (MICHALSKI 1987). Deren Inter-
39 NAGRA NTB 99-08

pretation legt nahe, dass sich die einzelnen Teile dieses Mittelgebirges mit unter-
schiedlichen Geschwindigkeiten und nicht gleichzeitig gehoben haben. Die Arbeit von
MICHALSKI zeigt, dass z.B. der südliche gegenüber dem zentralen Schwarzwald erst
später, dafür aber mit höheren durchschnittlichen Hebungsraten herausgehoben
wurde. Sogar Relativbewegungen einzelner benachbarter Schollen konnten mit Spalt-
spuren-Datierungen nachgewiesen werden, wobei sich erhebliche Verwerfungsbeträge
von mehreren 100 m ergeben.

Die heute mit geophysikalischen Methoden abbildbare Ausdünnung der Kruste unter
dem Oberrheingraben (z.B. FUCHS et al. 1987; s. auch LAUBSCHER 1992, LUTZ &
CLEINTUAR 1999) wird gemeinhin mit der oligozänen Extension ("Rifting") erklärt. Es
handelt sich dabei aber um ein isometrisches und nicht dem Streichen des Grabens
folgendes Phänomen; entsprechend liegt auch heute weiter im Südwesten die redu-
zierte Krustendicke unter dem Massif Central (Loire-Dom), während der Bresse-
Graben – der gleichzeitig mit dem Oberrheingraben als Riftstruktur entstanden ist –
über annähernd normal dicker Kruste liegt (RAT 1976). Die alternative Erklärung einer
Aufdomung der Mittelgebirge infolge von Massenverlagerung im Mantel ist deshalb
nicht von der Hand zu weisen. Dabei bietet sich der schon von verschiedenen Autoren
postulierte subkrustale Massenausgleich mit den Alpen als plausibler Mechanismus an
(z.B. GROHMANN 1985, LAUBSCHER 1992).

2.4.5 Die Ermittlung von Subsidenzraten und das Ende der Molasse-
sedimentation

Für die neotektonische Interpretation der heute gemessenen, rezenten Vertikalbewe-


gungen (s. Kap. 3.4.1) ist die Kenntnis entsprechender Hebungs- und Senkungsge-
schwindigkeiten für das Jungtertiär von entscheidender Bedeutung.

Die OSM der Ostschweiz erscheint im Profilschnitt als flacher Keil (Beil. 2.2) mit
ca. 650 m (Thurgauer Seerücken) bis ca. 1100 m (Hörnligipfel) Mächtigkeit. Ihre Basis
liegt heute fast durchwegs über dem Meeresspiegel, d.h. höher als zu Beginn ihrer
Ablagerung am Ende der OMM-Zeit. Es wird deshalb angenommen, dass sich der
Untergrund vorerst weiter absenkte, in jüngster, postmolassischer Zeit aber wieder
bedeutend anhob. Nach wie vor bestehen aber grössere Unsicherheiten darüber,
wann die Molassesedimentation (± Absenkung) beendet war und der Übergang zum
Regime des Nettoabtrags (± Hebung) erfolgte, welches zumindest seit dem Pliozän
vorherrscht (s. auch Kap. 4.4.4). Je nach Mächtigkeit der bereits wieder erodierten
jüngeren Molasseablagerungen und der Höhenlage der mio-pliozänen Landoberfläche
in Bezug auf das Meeresniveau ergeben sich seit Ende des Mittelmiozäns mehr oder
weniger bedeutende regionale Absenkungs- und Hebungsbeträge.

Es muss unterschieden werden zwischen Sedimentations- resp. Akkumulations- und


Subsidenzraten. Die entsprechenden Werte sind nur identisch, falls die absolute Lage
der Sedimentationsoberfläche konstant bleibt. Diese Voraussetzung ist aber für das
Jungtertiär der Nordostschweiz nicht gegeben. Am Ende der OMM, d.h. mit Beginn der
terrestrischen OSM dürfte die Landoberfläche knapp über dem Meeresspiegel gelegen
haben. Sie ist dann aber im Verlauf des mittleren Miozäns auf ein Niveau von ca. 150
– 200 m ü.M. im Bereich der axialen Entwässerung bzw. von ca. 400 – 500 m ü.M. im
zentralen Schuttfächerbereich angestiegen (HANTKE 1984 und 1985, BÜRGISSER
1980). Heute liegt die gemittelte Landoberfläche (Erosionsbasis) in der Nordost-
schweiz bei ca. 400 m ü.M.
NAGRA NTB 99-08 40

NAEF et al. (1985) nehmen an, dass die Ablagerung der Molasse und damit auch die
Absenkung im Alpenvorland vor ca. 10 bis 12 Millionen Jahren beendet war und dass
von der ursprünglichen Mächtigkeit der OSM heute bereits wieder 200 – 300 m ero-
diert wurden. Durch einfache Interpolation über die ca. 5 Millionen Jahre andauernde
OSM-Zeit und unter Berücksichtigung einer synsedimentären "Hebung" (Aufschotte-
rung) des Ablagerungsraums von ca. 200 m ergeben sich für die Nordostschweiz
gemittelte Absenkraten von rund 0.1 mm/a (Erdöl/Erdgastiefbohrungen des Mittel-
lands) über ca. 0.05 mm/a im Gebiet Nördlich Lägeren – Zürcher Weinland – Hegau
und bis auf ± 0 mm/a am Fuss des Schwarzwalds und im Tafeljura. Danach folgte die
ca. 10 Millionen Jahre andauernde postmolassische Zeit mit genereller Hebungsten-
denz und einer gemittelten Hebungsrate von maximal ca. 0.1 mm/a im Gebiet der
Mittelländischen Molasse und ca. 0.05 mm/a in der nördlichen Randzone des Molas-
sebeckens.

Anhand von Maturitätsstudien an Molasseabfolgen in Tiefbohrungen des Mittellands


ermittelten SCHEGG & LEU (1998) und LEU et al. (2001) bereits wieder erodierte
Molassemächtigkeiten von ca. 1000 m für den externen Bereich des Nordostschweizer
Molassebeckens. Daraus lassen sich für das Gebiet zwischen Aare – Limmat und dem
Bodensee ursprünglich abgelagerte OSM-Gesamtmächtigkeiten von 1000 bis 2000 m
und entsprechende postmolassische Hebungen von maximal 1200 – 1800 m ableiten.
Entsprechende langfristig gemittelte Hebungsraten liegen im Bereich von 0.1 –
0.2 mm/a, sind also ca. doppelt so gross wie die von NAEF et al. (1985) ermittelten
Raten.

Aus BOLLIGER (1998) lassen sich konstruktiv Sedimentationsraten von ca. 0.18 mm/a
am Thurgauer Seerücken und von bis zu 0.3 mm/a im Hörnli – Schnebelhorn-Gebiet
ermitteln. ZWEIGEL (1998) leitet sehr differenzierte Subsidenzraten für die Bayerische
OSM bei München ab und kommt auf Werte von maximal 0.15 mm/a.

Entscheidend für die Bestimmung von mio(-plio?)zänen Absenkraten und (mio?-)plio-


zänen bis quartären Hebungsraten ist neben der Mächtigkeit der bereits wieder ero-
dierten Schichten die zeitliche Festlegung der Trendumkehr von genereller Absenkung
zu genereller postmolassischer Hebung (Kap. 4.4.4). Zudem ist die Höhenlage der
Landoberfläche zum Zeitpunkt dieser Wende zu diskutieren. Lag diese bis zum Ende
der Molassesedimentation im Bereich von 200 – 300 m ü.M. oder könnte auch eine
mio-pliozäne Hochebene angenommen werden, die vielleicht mehr als 1000 m ü.M.
lag? War der Übergang langsam oder vollzog sich die Umkehr der Vertikalbewe-
gungen als relativ kurzfristiges Ereignis, wie das aus den Absenkkurven in NAEF et al.
(1985), LEMCKE (1974) oder auch LEU et al. (2001) abgeleitet werden müsste?

Jüngste Forschungen der Berner Molassegruppe zeigen, dass mithilfe der Magneto-
stratigraphie eine bisher nicht erreichte, chronostratigraphische Gliederung der Molas-
seprofile möglich ist. Eine detaillierte Ablagerungsgeschichte führt zur Abgrenzung von
Zeitabschnitten resp. Arealen mit unterschiedlichen Sedimentationsraten. So konnten
KEMPF & MATTER (1999) für die Ostschweizer OSM im Querschnitt Zürich – Jona –
Hörnli Sedimentationsraten von ca. 0.25 mm/a nachweisen, wobei allerdings im mittle-
ren Bereich (± Öhninger Zone, 16.5 – 15 Millionen Jahre) eine deutlich verminderte
Ablagerungsrate von ca. 0.08 mm/a bei Zürich und ca. 0.15 mm/a im Hörnligebiet
angenommen wird. Unter Voraussetzung einer Lage-konstanten Landoberfläche ent-
spricht die Sedimentationsrate der Absenkrate, und es ergibt sich – bei einer durch-
schnittlichen Sedimentationsrate von 0.2 mm/a für die gesamte OSM – für die Ablage-
rung der ursprünglich ca. 1600 m mächtigen OSM bei der Tiefbohrung Herdern-1 (vgl.
41 NAGRA NTB 99-08

auch Tab. 4.1 und LEU et al. 2001) eine notwendige Ablagerungszeit von ca. 8 Millio-
nen Jahren. Bei einem Beginn der Ostschweizer OSM vor ca. 17 Millionen Jahren läge
dann das Ende der Molassezeit bei etwa 9 Millionen Jahren. Für die notwendige post-
molassische Erosion von ca. 1200 m (nach LEU et al. 2001) würde sich daraus eine
gemittelte Hebungsrate von 0.13 mm/a ergeben. Dies ist annähernd identisch mit den
Zahlenwerten der neotektonischen Analyse (s. Kap. 3.3 und 3.4).

In Kap. 4.4.4 wird das Ende der Molassesedimentation resp. der Wendepunkt von
Subsidenz zu Hebung mithilfe dieser Zahlenwerte sowie der Angaben aus dem neo-
tektonischen Datensatz konstruktiv ermittelt und als bester Schätzwert bei 10 Millionen
Jahren angenommen.

2.4.6 Der mio-pliozäne Fernschub und die Deformation des


Nordostschweizer Alpenvorlands

Wie LAUBSCHER (1992 und 1997) darlegt, dient die Fernschubhypothese heute als
ein etabliertes und durch zahlreiche Beispiele breit abgestütztes Konzept für die
jüngste Phase der nordalpinen Krustenverkürzung. Die generellen Aspekte des Defor-
mationsstils äussern sich typischerweise als Abscherung des Deckgebirges ("thin
skinned detachment"), Rampenauf- und -überschiebungen ("ramp – flat geometry")
und gestapelte Rampenfalten ("anticlinal stacks"). Die grossräumigen Zusammen-
hänge zwischen dem Nordrand des Fernschubs und der epialpinen Subduktionszone
als Wurzel der externen Massive sind in den zitierten Publikationen von LAUBSCHER
ausführlich behandelt.

Die Abscherung des Deckgebirges durch Fernschub hat nach dem Frühmiozän begon-
nen (Jura-Phase von LAUBSCHER 1992); geologisch datierbare Beweise für ein Maxi-
malalter, wie z.B. tektonisch bedingte Diskordanzen oder Erosion in der Molasse sind
sehr spärlich (vgl. NAEF et al. 1985, BOLLIGER et al. 1993). Ein direkter Zusammen-
hang der Abscherungsbasis mit der epialpinen Scherfläche ist naheliegend, obwohl bis
in jüngste Zeit auch alternative Modelle publiziert wurden (z.B. PFIFFNER 1997). Die
von Osten nach Westen zunehmende Abscherung des nordalpinen Molassebeckens
wird auch durch geothermische Daten und Studien über den Reifegrad der Deck-
gebirgsformationen gestützt (SCHEGG & LEU 1998), deren Resultate eine nach
Westen stark zunehmende postmolassische Erosion anzeigen; diese kann als Folge
der tektonischen Heraushebung des nach ± Nordwesten verschobenen Molassekeils
erklärt werden.

Das östliche Ende des Fernschubs ist nach wie vor Gegenstand von Diskussionen und
Spekulationen. In seinem Rotationsmodell nimmt LAUBSCHER (1961) einen Dreh-
punkt östlich der Lägeren an. BURKHARD (1990) demonstriert einige Möglichkeiten
der grossräumigen Deformation in Zusammenhang mit dem Fernschub und kommt
zum Schluss, dass das Juragebirge und die Aufschiebungen in der subalpinen Molas-
se synchron entstanden sein müssen. Dabei haben die externen Kristallinmassive, die
im Mio-Pliozän über der epialpinen Scherfläche mindestens 30 km nach NNW bis NW
geschoben wurden, als ± starre Schubkörper gewirkt. Ausgleichende Bewegungen
zwischen der Jurafront im Nordwesten (s. Beil. 2.1) und dem Alpenrand im Südosten
wurden durch Scherbewegungen innerhalb des Molassekeils sowie Extension in den
nordalpinen Einheiten bewirkt. Dieses Modell bedingt zudem, dass die basale Absche-
rungsfläche des Jura-Fernschubs und auch diejenige der subalpinen Molasse unter die
Kristallinmassive ziehen müssen und nicht in der helvetischen Hauptabscherung wur-
NAGRA NTB 99-08 42

zeln können. Aber auch mit diesem etwas differenzierteren Modell bleiben Ausmass
und Stil der alpinen Deformation im Nordostschweizer Mittelland zwischen Lägeren-
Ostende und der Randaufschiebung der subalpinen Molasse am südöstlichen Boden-
see schlecht definiert.

Aufgrund der neuesten Erkenntnisse dürfte sich die Fernschubfront vom Ostende der
Mandacher Aufschiebung nach Nordosten bis nördlich der Sondierbohrung Benken
erstrecken und von dort über Rheinklingen und den Schiener Berg weiter nach ENE
verlaufen, wie dies in Fig. 3.14, 4.7 und Beil. 2.1 eingezeichnet ist. Diese Annahme
beruht nicht nur auf den rezenten Hebungen im Gebiet südlich dieser Linie (s. Beil. 3.2
und 3.3), sondern auch auf diversen Strukturhinweisen in den Seismiklinien sowie
strukturgeologischen und felsmechanischen Daten aus der Sondierbohrung Benken
(Spannungsmessungen). Eine nachhaltige kompressive Überprägung der Ostschwei-
zer Molasse bis an den Seerücken wird durch wichtige weitere Hinweise gestützt, z.B.
durch die ausserordentlich hohen seismischen Geschwindigkeiten (LOHR 1967) oder
die Deformation von Molassegeröllen bis weit nach Norden (SCHRADER 1988).

Daraus kann auf zwei alpintektonisch verschieden überprägte Zonen des Vorlands
geschlossen werden:
• Im Westen wurde das Deckgebirge durch aktiven Fernschub abgeschert und nach
± Nordwesten disloziert sowie intern leicht zerschert.
• Östlich der Zone mit deutlichen Auf- und Überschiebungen liegt ein noch weitge-
hend unerforschter Bereich, wobei die Vorlanddeformation – evtl. mangels geeig-
neter Abscherhorizonte – eher penetrativ wirkt und so für eine Verdichtung der
Formationen und eine entsprechende interne Zerscherung sorgt. Gemäss neotek-
tonischem Konzept orientiert sie sich bevorzugt an etwa NW-SE streichenden
dextralen und untergeordnet an ca. NNE-SSW streichenden sinistralen Blattver-
schiebungen, wie sie auch aus diversen rezenten Herdmechanismen abgeleitet
werden konnten (s. auch Beil. 3.4).

2.4.7 Die Schichtlücke im Mio-Pliozän

Die grossen Unsicherheiten in Bezug auf die mio-pliozäne – pleistozäne Geschichte


der Nordschweiz sind in erster Linie bedingt durch die Schichtlücke zwischen den
jüngsten heute noch erhaltenen Molasseablagerungen und den vorwiegend kaltzeit-
lichen, weitgehend fossilfreien Quartärablagerungen. Biostratigraphische Datierungen
der höchsten Molasseschichten am Seerücken und am Hörnli ergeben Mindestalter
von ca. 12 Millionen Jahren (BOLLIGER 1998), während die ältesten datierten
Deckenschotter am Irchel rund 2 Millionen Jahre alt sind (BOLLIGER et al. 1996 und
Kap. 2.5.5.1).

Die spärlichen postmolassischen Ablagerungen des nördlichen Alpenvorlands geben


nur wenige Anhaltspunkte zur Klima- und Landschaftsentwicklung während dieser rund
10 Millionen Jahre dauernden Zeit. Es scheint, dass die feuchtwarmen Verhältnisse
der OSM-Zeit bis ins späte Miozän anhielten (z.B. Höwenegg-Schichten mit Hipparion
und reicher Säugetierfauna), dann aber eher arides Klima mit Schlammstrom-("mud-
flow")-artigen Ablagerungsvorgängen vorherrschte ("Wanderblöcke des Mio-Pliozäns",
s. auch EITEL 1991 "Messinian"), bevor ab ca. 2.6 Millionen Jahren die globalen Kalt-
zeiten die exogenen Vorgänge bestimmten.
43 NAGRA NTB 99-08

Die postmolassische, präquartäre Erosion und Gewässernetzentwicklung in der Nord-


schweiz wurden von LINIGER (1967) und weiteren Autoren wiederholt beschrieben
(z.B. HOFMANN 1996).

Für die jungtertiäre Dynamik der Nordschweiz spielt vor allem die Lage und das Alter
der nach Osten entwässernden Aare – Donau eine wichtige Rolle. Falls sie als axiale
Hauptentwässerungsrinne des Mio-Pliozäns zu betrachten ist, dürfte sie den Ort der
minimalsten Hebungstendenz zwischen Schwarzwald und Alpenvorland markieren.
Dieser lag demnach während des späten Miozäns und Pliozäns im Bereich des heuti-
gen Südostschwarzwalds, somit weit ausserhalb der molassischen Glimmersandrinne.
Über das Alter der Aare – Donau bestehen allerdings grosse Unsicherheiten, wobei ein
Mindestwert von 5 Millionen Jahren angenommen werden kann (PETIT et al. 1996).

Eine detaillierte Diskussion der Klima- und Gewässernetzentwicklung während des


Plio-Pleistozäns folgt in Kap. 3.3.

2.5 Das Quartär: Eishausklima und Morphostratigraphie

2.5.1 Die Sonderstellung des Quartärs

Im Vergleich zur geologischen Geschichte des Felsuntergrunds ist die Stratigraphie


und zeitliche Gliederung der Lockergesteine, d.h. des Nordschweizer Quartärs nur
sehr lückenhaft bekannt. Dies gilt v.a. für die wenigen und isolierten, über ein weites
Gebiet verstreuten, älteren Quartärablagerungen (Deckenschotter), deren chronostra-
tigraphische Zuordnung bis in jüngste Zeit sehr unsicher war. Dies ist erstens dadurch
bedingt, dass die junge geologische Geschichte des nördlichen Alpenvorlands seit
Ende der Molassesedimentation durch ein Regime der Umlagerung und Erosion
bestimmt war, wobei die geologischen Zeugen nur ausnahmsweise über längere Zeit
erhalten blieben. Zweitens herrschten durch die speziellen Bedingungen des wieder-
holten Wechsels zwischen Kalt- und Warmzeiten, dem sog. Eishausklima (ZACHOS et
al. 2001), für die Erhaltung organischer Reste mehrheitlich ungünstige Bedingungen,
so dass praktisch keine biostratigraphischen Zeitmarken mehr zur Verfügung stehen.

Gleichzeitig ist die Kenntnis der quartären Ereignisse und Prozesse aber die wichtigste
Basis für die Ableitung von geologischen Langzeitszenarien. Dies bedingt eine etwas
ausführlichere Darstellung der heutigen Kenntnisse über das Nordschweizer Quartär,
aber auch über den globalen Rahmen, dessen Erforschung gerade in jüngster Zeit
grosse Fortschritte gemacht und die Interpretation der regionalen und lokalen Verhält-
nisse entscheidend beeinflusst hat. Dabei spielt die Analyse und Korrelation klima-
sensitiver Parameter eine herausragende Rolle für die chronologische Gliederung des
Quartärs. Die besonderen Rahmenbedingungen des quartären Eishausklimas sind
aber auch für die langfristigen Erosionsszenarien von grosser Bedeutung, weshalb die-
ses Thema in Kap. 2.5.2 ausführlicher behandelt wird.

Nach dem Exkurs über die Klimaveränderungen der jüngsten Erdgeschichte wird in
Kap. 2.5.3 kurz deren Bedeutung als globaler Massstab für die Stratigraphie des
Quartärs erläutert. Aufgrund dieser globalen Zusammenhänge wird daraufhin die Stra-
tigraphie der älteren Nordschweizer Quartärvorkommen diskutiert (Kap. 2.5.4). Dabei
wird versucht, die herkömmliche morphostratigraphische Gliederung zu verfeinern und
mit dem globalen chronostratigraphischen Rahmen zu korrelieren. Dies führt zur
Definition von mindestens 13 Kaltzeiten für das Gebiet der zentralen Nordschweiz
NAGRA NTB 99-08 44

(Fig. 2.7). Eine Kaltzeit umfasst eine bis mehrere Vergletscherungen bzw. Vereisun-
gen und wird durch länger andauernde Warmzeiten (Interglaziale) abgegrenzt. Kürzer
anhaltende Warmzeiten zwischen einzelnen Vergletscherungen werden als Intersta-
diale bezeichnet. Die Herleitung des Vereisungsschemas in Fig. 2.7 basiert auf der
Untersuchung von zahlreichen Einzelaufschlüssen und der Rekonstruktion von Tal-
niveaus; dies wird in Kap. 2.5.5 anhand von wichtigen Beispielen erläutert.

In einem abschliessenden Kapitel (Kap. 2.5.6) wird die Anwendung dieser aktuellen
Kenntnisse des Nordschweizer Quartärs, die v.a. aus dem gut untersuchten Gebiet
südlich von Thur und Rhein stammen, auf die Region Zürcher Weinland diskutiert. Ein
quartärgeologisches Profil vom Irchel über Benken und den Cholfirst bis zum Hoch-
rheintal bei Diessenhofen (Beil. 2.7) illustriert die morphostratigraphischen Zusammen-
hänge.

Eine spezifisch auf die Ableitung von Langzeitszenarien ausgerichtete Auswertung al-
ler Daten zur Stratigraphie und Höhenlage der Quartärvorkommen erfolgt in Kap. 3.3,
wobei geomorphologische Hinweise auf neotektonische Bewegungen und die Entwick-
lung des Gewässernetzes diskutiert werden. Die Auswertung all dieser Kenntnisse
über das Nordschweizer Quartär ist schliesslich ein wichtiger Bestandteil der Erosions-
szenarien, die in Kap. 5.2.2 dargestellt werden.

2.5.2 Ursachen der Klimaveränderungen im Quartär

Die Erdgeschichte ist geprägt von globalen Klimaveränderungen und entsprechend


veränderten Bedingungen für das Leben auf der Erde (Biosphäre) und die exogenen
Materialkreisläufe. Dabei wurden offenbar lang anhaltende Perioden mit warm-gemäs-
sigtem bis tropischem Klima (Treibhausklima) mehrmals von Kaltzeiten mit ausge-
dehnten Vereisungen (Eishausklima) unterbrochen, wie das durch die weite Verbrei-
tung glazigener Sedimentgesteine aus dem Permokarbon und Präkambrium angezeigt
wird.

Die Theorien über die Ursachen dieser globalen Klimaveränderungen sind zahlreich
und kontrovers. Wegen der komplizierten Wechselwirkungen der verschiedenen Vari-
ablen ist es äusserst schwierig, Ursache und Wirkung klar zu trennen. Dennoch hat
sich in jüngster Zeit die Erkenntnis durchgesetzt, dass der langfristige Klimatrend v.a.
durch tektonische Prozesse bestimmt ist, d.h. durch die Geometrie der Ozeane, Konti-
nente und Gebirgsketten, und dass die periodischen Zyklen der orbitalen Parameter
sowie die wechselnden Konzentrationen an atmosphärischen Treibhausgasen für die
zyklischen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten innerhalb des Eishausklimas verant-
wortlich sind. Für eine eingehende Diskussion der verschiedenen Parameter und ihrer
Wechselwirkungen sei auf die Darstellungen in ZACHOS et al. (2001), KLOSTER-
MANN (1999) und CALKIN (1995) verwiesen.

Klimaschwankungen haben die verschiedensten Ursachen, wobei generell zwischen


endogenen und exogenen Vorgängen unterschieden wird. Erstere werden durch Pro-
zesse aus dem Erdinneren bewirkt, letztere beziehen sich auf Vorgänge an der Erd-
oberfläche und in der Atmosphäre sowie auf extraterrestrische Faktoren.

Endogene Ursachen
Verschiebungen der Landflächen (Kontinentalplatten) können Auswirkungen auf das
Klima haben, einerseits hinsichtlich der total vorhandenen Landmasse und anderer-
45 NAGRA NTB 99-08

seits hinsichtlich der Verteilung der Kontinente. Die plattentektonischen Vorgänge sind
6 8
einer Zyklizität von 10 bis 10 Jahren unterworfen und kommen deshalb nur als trei-
bende Kraft sehr langfristiger Veränderungen in Frage, wie z.B. der in der Erdge-
schichte wiederholt aufgetretenen globalen Vereisungsperioden, deren Dauer jeweils
im Bereich von mehreren Millionen Jahren lag.

Eiszeiten traten offenbar dann bevorzugt auf, wenn die Landmassen an den Polen
konzentriert waren. Dies war z.B. am Ende des Präkambriums (Gondwana) und im
Permokarbon (Pangäa) der Fall und trifft bis zu einem gewissen Grad auch heute zu,
weil die meisten Kontinente um den Nordpol gruppiert sind. Auslöser für das heutige
Eishausklima ist aber wahrscheinlich die grosse Landmasse am Südpol. Nachdem
sich Australien vor ca. 33 Millionen Jahren von dieser löste, konnte sich ein zirkum-
polarer Kaltwasserstrom bilden und die Antarktis zusätzlich thermisch isolieren, wo-
durch der sukzessive Aufbau eines Eisschilds seit dem Früholigozän ermöglicht wurde.
Diese langfristigen Veränderungen der plattentektonischen Konstellation werden auch
als Superkontinent-Zyklus bezeichnet (NANCE et al. 1988).

Ein sehr wichtiger Faktor, der das globale Klima offenbar schon während der früheren
Abschnitte der Erdgeschichte nachhaltig beeinflusste, ist der CO2-Gehalt der Erd-
atmosphäre. Das CO2 ist neben dem Wasserdampf und Methan ebenfalls ein wich-
tiges "Treibhausgas". Es wird u.a. durch die Biomasse gesteuert, insbesondere kön-
nen Pflanzen grosse Mengen von CO2 binden. Weil sich an der Wende Präkambri-
um/Kambrium (Gondwana) das Phytoplankton in den Meeren stark ausbreitete und im
Karbon die Pflanzen die Kontinente (Pangäa) eroberten, postulierten BECKMANN &
KLOPRIES (1988), dass die Zeiten mit Eishausklima mit markanten Veränderungen in
der Entwicklung und Verbreitung der Pflanzen zusammenhängen könnten.

Offenbar begünstigte die Existenz von Superkontinenten auch die Verwitterung von
Gesteinsmaterial, wodurch wiederum viel atmosphärisches CO2 gebunden wurde
(CALKIN 1995).

Plattentektonische Vorgänge bringen auch Veränderungen der Geometrie und Anord-


nung der Ozeanbecken (inkl. deren Entstehung und Schliessung) mit sich und haben
somit einen Einfluss auf die vorherrschenden Meeresströmungen und auf den von
ihnen bewirkten Wärmetransport. Aktive Gebirgsbildungen beeinflussen mit ihren
Höhenänderungen die atmosphärische Zirkulation und damit die Verteilung der Nieder-
schläge. Phasen mit verstärkter vulkanischer Tätigkeit verursachen einen erhöhten An-
teil von Staubpartikeln und vulkanogenen Schwefelverbindungen in der Atmosphäre,
der sich in der Regel als globale Abkühlung äussert. Beschleunigtes Rifting kann
wegen des erhöhten Wärmetransports aus dem Erdinneren die globale Temperatur
beeinflussen und reduziert wegen erhöhter Geschwindigkeit der Plattendrift und ver-
breiterter mittelozeanischer Rücken gleichzeitig die Tiefe und damit das Volumen der
Ozeanbecken. Dadurch werden die Küstengebiete der Kontinente überflutet und die
Produktion von Phytoplankton begünstigt. Dies wiederum entzieht der Atmosphäre
CO2 – durch Einbau in Kalkschalen – und führt zu einem abkühlenden Effekt.

Exogene Ursachen
Der wesentliche exogene Antrieb des Klimageschehens ist die Sonnenenergie. Des-
halb ist die zeitliche und örtliche Veränderlichkeit der Sonneneinstrahlung eine erstran-
gige Ursache globaler Klimaschwankungen. Solche Schwankungen der Sonnenener-
gie sind einerseits durch die Sonnenaktivität selbst bedingt; so wurde z.B. die "Kleine
NAGRA NTB 99-08 46

Eiszeit" als auffallend kühle Klimaphase in der Mitte des zweiten Jahrtausends n.Chr.
durch eine andauernde Sonnenfleckenaktivität verursacht (z.B. EDDY 1977). Anderer-
seits können auch im Sonnensystem zirkulierende, kosmische Staub- und Eiswolken
die Strahlungsintensität der Sonne beeinträchtigen.

Eine spezielle Rolle spielen die geometrischen Parameter der Erdumlaufbahn und der
Erdachse, weil sie nachweislich zyklische Schwankungen aufweisen, deren Kadenz
mit den ebenfalls zyklischen Klimaveränderungen des Quartärs korreliert werden kann.
Obwohl die Sonneneinstrahlung insgesamt relativ konstant ist, ergeben sich auf einem
speziellen Punkt der Erdoberfläche zeitlich veränderliche Strahlungsverhältnisse.
Durch die rechnerische Überlagerung der verschiedenen astronomischen Parameter
können theoretische Strahlungsintensitätskurven für die verschiedenen Breitengrade
ermittelt werden. Diese nach ihrem "Erfinder" als Milankovitch-Zyklen bezeichneten
Strahlungsschwankungen spielten offenbar eine herausragende Rolle für die pleistozä-
nen Klimaveränderungen. Es können folgende Zyklen unterschieden werden:
• Exzentrizität der Erdumlaufbahn 100'000 Jahre
• Neigung der Erdachse 41'000 Jahre
• Präzession ("Spindelbewegung") der Erdachse 23'000 und 19'000 Jahre.

Bei der Untersuchung von verschiedenen geologischen Archiven (Tiefseesedimente,


Lössabfolgen, Eisbohrkerne etc.) wurden diverse klimasensitive Parameter erkannt,
die eine zeitliche Veränderlichkeit aufweisen. In Tiefseesedimenten betrifft dies z.B.
18
die δ O-Werte in Kalkschalen von Einzellern (z.B. SHACKLETON 1997), in Lössab-
folgen die magnetische Suszeptibilität (z.B. KUKLA 1987), in langen Pollenprofilen den
prozentualen Anteil an Baumpollen (z.B. HOOGHIEMSTRA 1984). Frequenzanalysen
solcher Schwankungen an gut datierten Profilen ergaben gute Übereinstimmungen mit
den astronomischen Parametern der Milankovitch-Zyklen, so dass diese Zusammen-
hänge heute als gesicherte Erkenntnisse gelten können.

Verstärkende Prozesse
Die Milankovitch-Zyklen allein genügen nicht für eine befriedigende Erklärung der
quartären Klimaschwankungen. Unter anderem können sie die auffällige Gleichzeitig-
keit der Vergletscherungsereignisse auf der Nord- und Südhemisphäre nicht erklären,
müssten diese doch theoretisch alternierend auftreten. Die Analyse von Eisbohrkernen
ergab ausserdem, dass während der letzten rund 400'000 Jahre häufig sehr schnelle
Klimaschwankungen auftraten (s. auch Fig. 5.4). Insbesondere kamen diese jeweils zu
Beginn und am Ende von Glazialen bzw. Interglazialen vor (z.B. DANSGAARD et al.
1993, PETIT et al. 1999) und widersprechen somit einer allmählichen, kontinuierlichen
Klimaentwicklung gemäss Milankovitch-Zyklen. Es scheint also Faktoren zu geben,
welche die schwachen Strahlungsänderungen verstärken und akzentuieren können.
Dazu seien zwei Beispiele kurz angedeutet.

Das Mittelmeer reagiert auf eine Erhöhung der Sonneneinstrahlung mit verstärkter
Verdunstung, die den Salzgehalt des Wassers ansteigen lässt. Dieses warme und
salzreiche Wasser tritt durch die Strasse von Gibraltar in den Atlantik über. Dort strömt
es nordwärts und wird an der Meeresoberfläche stark abgekühlt, wodurch umgekehrt
eine bedeutende Erwärmung der Atmosphäre bewirkt wird. Das nun kalte, salzreiche
Wasser sinkt wegen seines höheren spezifischen Gewichts allmählich ab und ver-
mischt sich mit dem Nordatlantischen Tiefenwasser. Dieses wiederum beginnt süd-
47 NAGRA NTB 99-08

wärts zu strömen und bringt so kaltes, salzreiches Wasser in die Ozeane der Südhalb-
kugel. Dabei saugt es nun gewissermassen das warme, salzreiche Mittelmeerwasser
an und bringt damit eine sogenannte thermohaline Zirkulation ("conveyor belt") zum
Laufen (BROECKER et al. 1989). Das so entstandene Zirkulationsmuster umfasst
auch den Golfstrom, der warmes, salzreiches Wasser von Mittelamerika nach Europa
führt. Auf seinem Weg kühlt es sich zunehmend ab, sinkt schliesslich im Nordatlantik
wegen seines relativ hohen spezifischen Gewichts (Salzgehalt) ab und strömt in tiefen
Lagen wieder südwärts. Im nördlichen Polarmeer kann daraufhin ein Mechanismus in
Aktion treten, der die thermohaline Zirkulation zum Erliegen bringt. Eine globale Erwär-
mung der Erdatmosphäre hat ein verstärktes Abschmelzen der polaren Eiskappen zur
Folge. Dadurch wird dem Wasser des Nordatlantiks Frischwasser zugeführt, welches
das salzreiche Wasser des Golfstroms verdünnt. Demzufolge wird dieses nicht mehr in
die Tiefe sinken, und die Zirkulation wird beendet. Solche grossräumigen Wärmetrans-
port-Mechanismen sind nun in der Lage, die Milankovitch-Zyklizität entweder in ab-
schwächendem oder in verstärkendem Sinn zu überlagern und damit die Klimaent-
wicklung massgeblich zu beeinflussen.
Ein für die Entstehung einer Eiszeit wichtiger Prozess wird durch die verstärkte Refle-
xion der Sonneneinstrahlung (Albedo) infolge wachsender Eismassen gestartet (z.B.
BROCCOLI & MANABE 1987). Die vermehrte Abstrahlung bringt eine Erniedrigung
der globalen Temperatur mit sich, die ein weiteres Anwachsen der Eismassen begüns-
tigt, wodurch wiederum die Albedo erhöht wird.
Weitere Ausführungen zur Periodizität und Amplitude der pleistozänen Klimaschwan-
kungen folgen in Zusammenhang mit der Diskussion der zukünftigen Klimaentwicklung
als wichtigster Rahmenbedingung der Erosionsszenarien in Kap. 5.2.2.

2.5.3 Klimakurven als globaler Massstab für die Stratigraphie des Quartärs
Gemäss der früher gültigen internationalen geologischen Zeittabelle begann das Quar-
tär vor 1.64 Millionen Jahren. Die Typuslokalität für diese Grenzziehung befindet sich
bei Urica in Süditalien (AGUIRRE & PASINI 1985). Die Definition beruht auf markanten
Veränderungen der marinen Fauna in diesem Profil. Es zeigte sich aber, dass diese
Grenze bei 1.64 Millionen Jahren weltweit nur ungenügend anwendbar ist, so dass
also nicht von einer hinreichend globalen Änderung der marinen Fauna zum besagten
Zeitpunkt gesprochen werden kann. Seit längerem sind deshalb Bestrebungen im
Gange, die Grenzziehung zu revidieren, denn vor rund 2.6 Millionen Jahren sind offen-
bar klarere faunistische Änderungen aufgetreten (MORRISON & KUKLA 1998). Eine
Grenzziehung bei dieser Zeitmarke hat zudem den Vorteil, dass sie gut mit der Grenze
zwischen den paläomagnetischen Epochen Gauss und Matuyama übereinstimmt,
womit es grundsätzlich möglich ist, die Pliozän/Pleistozän-Grenze auch auf dem Fest-
land erfassen zu können.
Aus diesen Gründen wird im vorliegenden Bericht der Beginn des Eiszeitalters und
damit des Quartärs vor 2.6 Millionen Jahren angenommen.
Heute sind verschiedene geologische Archive bekannt und auch gut untersucht, deren
Profilabfolgen die klimatischen Veränderungen des Quartärs dokumentieren. Am wich-
tigsten sind dabei die Tiefseeablagerungen, die oft als Standard für die Eichung ande-
rer Archive dienen (SHACKLETON 1997). Für die chronostratigraphische Kalibrierung
der Profile erweist sich die Paläomagnetik als optimale Methode, denn viele der geolo-
gischen Archive weisen überwiegend feinkörnige Sedimente auf, die sich generell gut
für die Untersuchung der Magnetisierung eignen.
NAGRA NTB 99-08 48

2.5.4 Die regionale Stratigraphie des Nordschweizer Quartärs

Die Lithostratigraphie des Nordschweizer Quartärs einst und heute


Lange galt für die Schweiz eine Vierteilung des Eiszeitalters. Sie lehnte sich im We-
sentlichen an die Erkenntnisse an, die im ausgehenden 19. und zu Beginn des
20. Jahrhunderts in Süddeutschland gewonnen wurden. PENCK & BRÜCKNER (1901
– 1909) definierten dort die "klassischen" vier Eiszeiten und benannten sie nach den
Flüssen Günz, Mindel, Riss und Würm im Verbreitungsgebiet des östlichen Rhein-
gletschers, in deren Tälern die jeweiligen Ablagerungen besonders typisch entwickelt
sind. Eine "Korrelation" mit den Quartärablagerungen des westlichen Rheingletscher-
gebiets im schweizerischen Alpenvorland erfolgte weitgehend über Vergleiche der
relativen Höhenlage, d.h. der Morphostratigraphie der Schotterterrassen. Eine direkte
Verbindung und damit der Nachweis gleichen Alters von Schotterterrassen aus den
Typuslokalitäten mit analogen Ablagerungen der Nordschweiz war – zumindest für die
älteren Einheiten – nicht möglich. Ebenso fehlten und fehlen bis heute brauchbare bio-
stratigraphische und chronostratigraphische Korrelationsmöglichkeiten.

Das klassische morphostratigraphische Konzept der Altersabfolge von Schotterterras-


sen mit unterschiedlicher Höhenlage beruht auf Kenntnissen über den Wechsel zwi-
schen Akkumulation und Erosion, der im Rhythmus der Gletscherbewegungen erfolgt.
Die vielfältigen Beziehungen zwischen Akkumulation, Erosion und der Ausbildung von
Geländeformen im Umfeld der Vorlandgletscher werden nach PENCK & BRÜCKNER
(1901 – 1909) mit dem Modell der sog. "Glazialen Serie" dargestellt. Demnach wird der
Schotterkörper (Sander), der im Vorfeld eines Gletschers abgelagert wurde, nach
Abschmelzen des Eises zumindest teilweise wieder erodiert, d.h. es setzt eine Talbil-
dung ein. Je nach Entwicklung der regionalen Erosionsbasis können neben den abge-
lagerten Lockergesteinen auch darunterliegende Felsschichten erodiert und so der
ehemalige Talboden übertieft werden. Falls die regionale Erosionsbasis langfristig eine
sinkende Tendenz aufweist, d.h. die lineare Erosion im Haupttal fortschreitet, wird der
Sander des nächsten Gletschervorstosses nicht mehr die Höhenlage der älteren
Schotter erreichen. Wiederholt sich dieser Vorgang bei gleich bleibender Entwicklung
der Erosionsbasis mehrmals, so entsteht ein von ineinander geschachtelten Terras-
senstufen geprägter Talverlauf, dessen höchstgelegene Niveaus demnach die ältesten
und dessen tiefste Terrassen die jüngsten Vereisungen verkörpern.

Neuere Untersuchungen zeigen, dass die vier klassischen morphostratigraphischen


Einheiten des schweizerischen Alpenvorlands, wie sie in Tab. 2.2 definiert sind, intern,
d.h. lithostratigraphisch z.T. weiter untergliederbar sind. Anhand von Bohrprofilen und
detaillierten Untersuchungen von Aufschlüssen konnte gezeigt werden, dass zusam-
menhängende Profile Ablagerungen mehrerer Kalt- und Warmzeiten umfassen. Die
mehrheitlich fluvioglazialen Ablagerungen sind teilweise durch Zonen mit tiefgründiger
Verwitterung und/oder Bodenbildungen getrennt, die Zeugen längerer Warmzeiten,
d.h. von Interglazialen oder langen Interstadialen sein müssen. Deshalb ist es wahr-
scheinlich, dass die entsprechenden morphostratigraphischen Einheiten nicht nur eine
Vergletscherung umfassen und einen entsprechend längeren Zeitabschnitt des Quar-
tärs verkörpern.

Dies gilt für die Deckenschotter (GRAF 1993), die Hochterrasse (DICK et al. 1996,
GRAF in Vorb.) und auch für die Niederterrasse (SCHLÜCHTER 1978, GRAF in
Vorb.). Es ist damit erwiesen, dass eine direkte Überlagerung von Sedimenten ver-
schiedener Vergletscherungen innerhalb eines einzigen morphostratigraphischen
49 NAGRA NTB 99-08

Schotterkörpers oder einer der klassischen Schotterstufen kein Ausnahmefall darstellt.


Dies führt nun zu einer wesentlich verfeinerten Gliederung der pleistozänen Ablage-
rungen und damit zur Definition von weit mehr Eiszeiten bzw. Kaltzeiten, als dies durch
die klassische Vierteilung vorgegeben war. Letztlich wäre eine Korrelation dieser litho-
stratigraphischen Einheiten mit den globalen Klimakurven des Quartärs anzustreben.
Die in Fig. 2.7 vorgeschlagene Gliederung des Nordschweizer Pleistozäns in insge-
samt 13 Kaltzeiten fasst den heutigen Stand der Kenntnisse zusammen.

Tab. 2.2: Klassische Korrelation der morphostratigraphischen Einheiten der Nord-


schweiz mit den im östlichen Rheingletschergebiet Süddeutschlands
(Bayern) definierten Eiszeiten

Morphostratigraphische Einheit Eiszeit (chronostratigraphische Einheit)

Höhere (bzw. ältere) Deckenschotter Günz-Eiszeit

Tiefere (bzw. jüngere) Deckenschotter Mindel-Eiszeit

Hochterrassenschotter Riss-Eiszeit

Niederterrassenschotter Würm-Eiszeit

Ein Vereisungsschema für die Nordschweiz


In Anlehnung an die Darstellung von SCHLÜCHTER (1989) wird anhand von Fig. 2.7
versucht, den heutigen Kenntnisstand darzustellen und aufzuzeigen, wie weit die alpi-
nen Gletscher während der einzelnen Gletschervorstösse bzw. Schüttungsphasen in
die Nordschweiz vorgedrungen waren. Selbstverständlich kann dies nur sehr schema-
tisch sein, denn v.a. für die älteren Ereignisse ist die geologische Überlieferung äus-
serst lückenhaft und kann sich nur auf wenige Lokalitäten mit relativ vollständigen
Sedimentabfolgen beziehen.

Es muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass die Gletscher eines bestimmten Verei-
sungszyklus nicht in allen Gegenden der Nordschweiz (relativ gesehen) gleich weit
vordrangen. Während im Gebiet des unteren Aare- und Reusstals bis hin zum Bereich
Möhlinerfeld bei Rheinfelden (Maximalstand der grössten Vergletscherung = MEG) die
Ablagerungen der einzelnen Gletschervorstösse relativ weit auseinanderliegen, scheint
das Gebiet von Schaffhausen für etliche Eisvorstösse des Rheingletschers den Maxi-
malstand zu markieren (Maximalstand der letzten Eiszeit = LGM). Aus diesem Grund
stammen die meisten der Angaben in Fig. 2.7 aus dem Bereich Aare – Reuss – Rhein-
tal.

Das Vereisungsschema wurde im Sinne einer "Minimal-Stratigraphie" entworfen. Das


heisst, es wurden so wenige Warm-/Kalt-Zyklen wie möglich, aber so viele wie nötig
unterschieden. Die Darstellung beruht auf den Resultaten von zahlreichen neueren
Untersuchungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend präsentiert werden
können. Zudem sollte man sich bewusst sein, dass nicht alle der hier vorgeschlagenen
Korrelationen gesichert sind; sie entsprechen lediglich einer möglichen, plausiblen
Interpretation der derzeitigen Kenntnisse über die eiszeitliche Geschichte der Nord-
schweiz. Zur Erläuterung werden in Kap. 2.5.5 wichtige Profile aus den vier morpho-
stratigraphischen Einheiten näher beschrieben und diskutiert.
Alter Morpho- Relative Reichweite Kaltzeitliche Belege Warmzeitliche Belege
(1’000 Jahre) stratigr. der Gletschervorstösse (glazigene Ablagerungen, (Interglazial / Interstadial)
Einheiten fluvioglaziale Schotter)

Fig. 2.7:
Alpenrand LGM MEG

Mellingen, Schaffhausen
ca. 18 – 22 Birmenstorf
ca. 33 – 65 * Lindmühle
Schieferkohle von Gossau / ZH
NAGRA NTB 99-08

ca. 70 – 100 ? Gossau / ZH


ca. 120 Paläoboden Klettgau (?), Eem Thalgut
? Sihlbrugg / (Thalgut)

Niederterrasse
Paläoboden Klettgau (?)
Engewald, Neuhauserwald, Waldshut
Beringen
(Kalkkruste Klettgau ?)
> ca. 200 ? Remigen, Rüfenach
Paläobodenrelikte Möhlin, Beringen

Hochterrasse
? Schleitheim, Möhlin unten
ca. 780
? Stein, Bachsertal
?
50

? Iberig oben
Paläobodenrelikt
? Iberig Mitte
Paläobodenrelikt
? Iberig unten

Tiefere Deckenschotter
? Obere Irchelschotter, Egg obere Moräne

(verändert und ergänzt nach SCHLÜCHTER 1989)


ca. 1'800 Irchel: Schwemmebene mit Säugerfauna
? Irchel Dolomitschotter, Egg untere Moräne
Irchel: Erosion, Egg: Paläobodenrelikt
? Mittlere Irchelschotter
Caliche (?) Irchel Ebni
? Untere Irchelschotter

Höhere Deckenschotter
ca. 2'600
Regionale Tieferlegung LGM = Last Glacial Maximum MEG = Most Extensive Glaciation
des Entwässerungsnetzes Maximalstand der letzten Eiszeit Maximalstand der grössten Vergletscherung

* Bei der letzten Eiszeit konnten bisher in der Nordschweiz 4 Vergletscherungen bzw. Eisvorstösse unterschieden werden.

Quartärs in der Nordschweiz mit kalt- und warmzeitlichen Belegslokalitäten


Relative Reichweite der verschiedenen Gletschervorstösse während des
Der Gossau- und der Lindmühle-Vorstoss lassen sich durch einen längeren Zeitabschnitt ohne Gletscherpräsenz im Mittelland abgrenzen.
51 NAGRA NTB 99-08

Ausblick
Die weitere Verwendung der klassischen morphostratigraphischen Gliederung der
pleistozänen Schotterterrassen hat heute ihre Berechtigung darin, dass sie gewisse
"grosse" Schritte in der Entwicklung der Landschaft und des Flussnetzes zum Aus-
druck bringt. Die lithostratigraphische Gliederung der Einheiten erweitert allerdings den
zeitlichen Rahmen ihrer Entstehung. Deshalb kann in Zukunft die klassische Korrela-
tion der morphostratigraphischen Einheiten der Nordschweiz mit der PENCK &
BRÜCKNER'schen Chronostratigraphie des Typusgebiets in Süddeutschland/Bayern
nicht mehr aufrechterhalten werden. Die entsprechenden Namen Günz, Mindel und
Riss sollten – vielleicht abgesehen von der Bezeichnung Würm für die letzte Eiszeit –
nicht mehr verwendet werden.
Zur Zeit besteht für die Nordschweiz noch keine offiziell akzeptierte, alternative litho-
stratigraphische Gliederung der pleistozänen Ablagerungen. Dementsprechend wur-
den bisher auch noch keine neuen chronostratigraphischen Einheiten definiert. Als
nomenklatorische Zwischenlösung werden hier die "alten" morphostratigraphischen
Begriffe (Tab. 2.2) als Rahmen verwendet, weil sie eben eine traditionelle Bedeutung
für die Geomorphologie und damit für die Erdgeschichte der Nordschweiz haben. Die
an "Typuslokalitäten" definierten, neuen lithostratigraphischen Einheiten (Fig. 2.8) wer-
den vorläufig nur für diese Vorkommen verwendet und mit den entsprechenden Lokal-
namen bezeichnet.
Wahrscheinlich werden in Zukunft neben den bereits beschriebenen (Fig. 2.8) noch
weitere morphostratigraphische Einheiten abgetrennt und definiert werden. So steht
z.B. die Abgrenzung von "Mittleren Deckenschottern" (z.B. VERDERBER 1992, GRAF
1993) und einem unteren Niveau bei den Tieferen Deckenschottern (GRAF 1993,
MATOUSEK et al. 2000) zur Diskussion. Die bisher nur sehr lückenhaften Indizien in
entsprechender morphologischer Position erlauben aber noch keine Definition genü-
gend verbreiteter Einheiten. Mögliche alternative Einstufungen von gewissen Vorkom-
men werden jeweils später in den entsprechenden Textabschnitten erwähnt.

2.5.5 Lithostratigraphie der morphostratigraphischen Einheiten:


Erläuternde Beispiele und Schlüsselprofile

Beil. 2.6 vermittelt einen Überblick über die Einheiten und Lokalitäten der Nordschwei-
zer Pleistozän-Stratigraphie. Genauere Situationen und Profile der wichtigsten Lokali-
täten werden zusätzlich mit Figuren (Fig. 2.9 – Fig. 2.17) dargestellt. Für die einzelnen
morphostratigraphischen Einheiten werden im Folgenden Lokalitäten ("Typuslokalitä-
ten") vorgestellt, die für den jeweiligen Zeitabschnitt relativ vollständige Sedimentab-
folgen aufweisen. Eine Übersicht der chronostratigraphischen Gliederung des Nord-
schweizer Quartärs geht aus Fig. 2.7 hervor.

2.5.5.1 Höhere Deckenschotter, z.B. Irchel (ZH)

Die höheren Deckenschotter der Nordschweiz wurden in der Monographie von FREI
(1912) eingehend beschrieben und gemäss ihrer Höhenlage erstmals regional korre-
liert. Weitere, z.T. nur lokale Beschreibungen bezogen sich anschliessend auf dieses
Grundkonzept der morphostratigraphischen Interpretation. Wie erwähnt, wird dieses
auch heute noch verwendet, obwohl insbesondere durch die Dissertation von GRAF
(1993) für das Gebiet südlich von Rhein und Thur eine wesentlich verfeinerte Strati-
graphie erarbeitet wurde.
evtl. Mittlere Deckenschotter

Fig. 2.8:
Höhere evtl. Tiefere Deckenschotter, unteres Niveau
Deckenschotter
Irchel
NAGRA NTB 99-08

Tiefere
Deckenschotter
Iberig

Hoch- und
Niederterrasse Hoch- und

nach GRAF & MÜLLER 1999)


Klettgau Niederterrasse
52

Birrfeld

Obere Irchelschotter ”Niederterrassenschotter” Ablagerungen des Mellinger Vorstosses

Irchel-Dolomitschotter Lusbüel-Komplex und Moränen des Birmenstorfer Vorstosses


Engewald-Komplex inkl.

Höhere
Mittlere Irchelschotter Obere Klettgauschotter Schotter des Birmenstorfer Vorstosses

(Irchel ZH)
Deckenschotter
Glazi-lakustrische Serie
Untere Irchelschotter Moränen des Lindmühle-Vorstosses
Mittlere Klettgauschotter

(Klettgau SH)
"Rinnenschotter"
Untere Klettgauschotter

Hoch- und Niederterrasse


Untere Birrfeldschotter
Obere Iberigschotter
(inkl. glazigene Anteile) Schotter des Fislisbacher Vorstosses

Mittlere Iberigschotter Moränen des Fislisbacher Vorstosses

Tiefere

(Iberig AG)
Untere Iberigschotter Reusstal-Sand

Deckenschotter
Hoch- und Niederterrasse (Birrfeld AG)

(inkl. glazigene Anteile)


Reusstal-Lehm

der quartären Ablagerungen in der Nordschweiz (verändert und ergänzt


Morphostratigraphisches Schema und neue lithostratigraphische Einheiten
53 NAGRA NTB 99-08

Eine Korrelation der höheren Deckenschotter des Hegau – Bodensee-Gebiets (z.B.


SCHREINER 1992) mit den Vorkommen nördlich des Hochrheins und denjenigen
südlich von Thur und Rhein erscheint heute zweifelhaft, kann aber auch nicht klar
widerlegt werden. Mangels einer genügend plausiblen Alternative wird deshalb im
vorliegenden Bericht, insbesondere für die geomorphologische Analyse und Gewäs-
sernetzentwicklung (Kap. 3.3) sowie die quantitative Darstellung der regionalen Ero-
sionsszenarien in Kap. 5.2.2 und Beil. 5.1, die herkömmliche Zuordnung dieser
höchstgelegenen Schottervorkommen verwendet, wie sie auch in Beil. 2.6 zur Geltung
kommt.

In den Höheren Deckenschottern des Irchels (vgl. Fig. 2.9) können insgesamt vier
Schotterkörper mit fluviatilen bis fluvioglazialen Ablagerungen unterschieden werden
(Fig. 2.10 und 2.7). Sie gehen alle auf ein Schüttungssystem zurück, das Material aus
den Zentralalpen durch das Walenseetal und über das Zürcher Oberland zum Irchel
lieferte (vgl. auch Fig. 3.1d). Dies ist durch das Auftreten von u.a. Juliergranit und
Glarner Verruccano (Sernifit) belegt. Die einzelnen Schotterkörper des Irchels werden
entweder durch Hochflutablagerungen, die eine pedogene Überprägung aufweisen
(GRAF 1996a) oder durch deutliche Erosionsdiskordanzen voneinander getrennt. Zu-
dem weisen sie klare Unterschiede in der Zusammensetzung ihrer Geröllspektren auf.

Rüdlingen
Eglisau

Buchberg
Berg am Irchel
ein
Rh

Gräslikon

Teufen Buch am Irchel


Pr
o
fil

s
s

1 km Freienstein
Rorbas Dättlikon

Fundstelle

Niederterrasse Tiefere Deckenschotter Molasse

Hochterrasse Höhere Deckenschotter

Fig. 2.9: Lage des Irchels/ZH (Höhere Deckenschotter), Profil siehe Fig. 2.10
NAGRA NTB 99-08 54

In Überschwemmungssedimenten, die oberhalb von Dättlikon/Steig aufgeschlossen


sind (vgl. Fig. 2.9 und 2.10), konnte eine Fauna von Kleinsäugern gefunden werden,
die erstmals eine Datierung von Deckenschotter-Ablagerungen der Nordschweiz
ermöglichte. Ihre Auswertung belegt ein Alter von mindestens 1.8 Millionen Jahren
(BOLLIGER et al. 1996). Damit kann also ein Mindestalter der Deckenschotter des
Irchels angegeben werden. Die ältesten Schotter des Irchels dürften aber noch we-
sentlich älter sein, denn zwischen der datierten Schicht und der Molasse liegen
gemäss sedimentologischer Analyse drei Schotterkörper, eine Warmzeit und eine
deutliche Erosionsdiskordanz. Daher darf wohl für die Unteren Irchelschotter ein Alter
von rund 2 Millionen Jahren angenommen werden (vgl. auch Kap. 3.3.3).

NW SE
m ü.M.
700 Wilemer Irchel 700
Steig
Irchel Ebni
650 650
?

600 Kleinsäuger-Fundstelle 600


Irchel-Hasli
1 km

550 550

Obere Irchelschotter Irchel-Dolomitschotter Untere Irchelschotter

Schwemmebenen-Ablagerungen Mittlere Irchelschotter Obere Süsswassermolasse

Fig. 2.10: Profil durch die Höheren Deckenschotter des Irchels im nördlichen Kanton
Zürich mit Lage der Fundstelle von Kleinsäugerresten (nach GRAF 1993)

Vom Uhlenberg bei Dinkelscherben in Süddeutschland ist eine Säugerfauna bekannt,


die grosse Ähnlichkeiten mit derjenigen vom Irchel aufweist (ELLWANGER et al.
1994). Sie überlagert einen "Donau"-zeitlichen Schotter, der demnach älter sein muss.
Anhand dieser beiden Faunen kann angenommen werden, dass die Höheren Decken-
schotter des Irchels etwa gleich alt wie diejenigen vom Uhlenberg sein müssen und
demnach Äquivalente Donau-zeitlicher Ablagerungen darstellen könnten.

Diese Datenlage wird als ausreichender Beweis für eine Zuordnung der Nordschweizer
Deckenschotter zum älteren Pleistozän erachtet.

Gewisse pedogene Bildungen in den Irchelschottern weisen typische Merkmale von


Caliche-Bildungen auf (GRAF 1996a). Dabei handelt es sich um variantenreich ausge-
bildete Kalkkonkretionen, die in ihrer speziellen Art und Vergesellschaftung heute nur
in Gegenden entstehen, in denen saisonal oder ganzjährig ein trocken-warmes Klima
herrscht (z.B. Mittelmeer, Randwüsten). Dadurch erscheint es wahrscheinlich, dass in
der Nordschweiz während des älteren Pleistozäns zeitweise entsprechende Bedingun-
gen herrschten, wie das auch für das Pliozän im Oberrheingraben (z.B. BOENIGK
1978) und der Bresse (PETIT et al. 1996) postuliert wurde.
55 NAGRA NTB 99-08

Eine kurze Beschreibung und Korrelation der weiteren, als Höhere Deckenschotter be-
zeichneten Ablagerungen erfolgt in Zusammenhang mit der Darstellung des pleisto-
zänen Gewässernetzes in Kap. 3.3.2.

2.5.5.2 Tiefere Deckenschotter, z.B. Iberig (AG)

Nach Ablagerung der Höheren Deckenschotter fand offenbar eine markante Talbil-
dung statt, die eine Tieferlegung des gesamten Entwässerungsnetzes (Erosionsni-
veaus) der Nordschweiz mit sich brachte (vgl. Fig. 2.7 und 2.8). Daran anschliessend
entstanden in den neugebildeten Tälern die Tieferen Deckenschotter. Besonders ent-
lang des Rheintals unterhalb der Thurmündung und im unteren Aare- und Limmattal
sind sie erhalten geblieben (s. auch Beil. 2.6). Sie entstanden wahrscheinlich in mehre-
ren Phasen (GRAF 1993); dies soll anhand des Beispiels des Iberigs bei Würenlingen
(AG) dargestellt werden.

Firs
thald
en
Aare

Würenlingen

1 km
n
be

Villigen
gra
ren

Profil

Iberig

Profil siehe Fig. 2.12


Untersiggenthal

rg
r be
ge ma
t
ug Lauffohr
Br Lim Niederterrasse

Turgi
Hochterrasse

Tiefere Deckenschotter
Brugg
Aare
Molasse
s
us
Re

Windisch Mesozoikum

Fig. 2.11: Geologische Situation der Tieferen Deckenschotter des Iberigs/AG


NAGRA NTB 99-08 56

Der Iberig befindet sich im unteren Aaretal, nordöstlich des Zusammenflusses von
Aare, Reuss und Limmat (Beil. 2.6). Oberhalb des ehemaligen Steinbruchs Bären-
graben sind die Tieferen Deckenschotter in einzigartiger Weise aufgeschlossen
(Fig. 2.11). Es ist dabei erkennbar, dass sie im südlichen Teil in einer Rinne liegen,
während sie im Norden eine fast ebene Fläche überdecken. Der Aufbau der Decken-
schotter wurde durch mehrere Bohrungen erkundet.

Im unteren Teil der Rinnenfüllung kommen glazigene Ablagerungen vor, die von
Schottern überlagert werden (Untere Moräne, Untere Iberigschotter). Lokal tragen
diese Sedimente ein Paläobodenrelikt (verbraunte, z.T. entkalkte Lage). Darüber befin-
det sich ein weiterer Schotterkörper (Mittlere Iberigschotter), der im Dach einen meh-
rere Meter mächtigen Paläobodenkomplex trägt. Im Hangenden folgen erneut glazi-
gene Ablagerungen, wiederum von Schottern bedeckt (Obere Moräne, Obere Iberig-
schotter). Den Abschluss des Profils bilden ca. 8 m mächtige, vollständig entkalkte
Lockergesteine, die wohl teils Schotter, teils glazigene Ablagerungen unbekannten
Alters darstellen.

Die Tieferen Deckenschotter des Iberigs entstanden also in mindestens drei Phasen,
wobei zumindest zwei durch eine Warmzeit getrennte Vorlandvereisungen nachge-
wiesen werden können (Fig. 2.7). Die Ablagerungen der beiden älteren Phasen gehen
wahrscheinlich auf das Aare – Reuss-System zurück, während in der jüngsten Phase
offenbar auch das Linth – Walensee – Rhein-System präsent war (GRAF 2000).

NW SE
Deckschichten
m ü.M. (tiefgründig verwitterte
Schotter / Moränen)

Obere Iberigschotter
500
Obere Moräne

Mittlere Iberigschotter

Untere Iberigschotter

Untere Moräne

Malm (Effinger
bis Wangener
450
Schichten)
100 m
Paläoboden

Fig. 2.12: Profil durch die Tieferen Deckenschotter des Iberigs bei Würenlingen/AG
(verändert nach GRAF 1993)

Am Gebenstorfer Horn sowie südlich von Baden befinden sich Relikte von eiszeitlichen
Schottern, deren Basis höhenmässig zwischen denen der Höheren und Tieferen
Deckenschotter liegt. Sie wurden von GRAF (1993) als Mittlere Deckenschotter gedeu-
tet (Gebenstorfer Horn s. auch VERDERBER 1992). Seit bekannt ist, dass die Basis
der Oberen Iberigschotter wesentlich über der allgemeinen Basis der Tieferen Decken-
schotter liegt, könnten diese Relikte auch als Äquivalente der Oberen Iberigschotter
57 NAGRA NTB 99-08

gedeutet werden. Ähnliches könnte auch für als Mittlere Deckenschotter bezeichnete
Ablagerungen im Rheintal gelten (z.B. Sanzenberg im Bachsertal, vgl. GRAF 1993).
Diese Ablagerungen wurden daher in Beil. 2.6 (Nr. 39 – 41) zu den Tieferen Decken-
schottern gestellt.

In den Tieferen Deckenschottern zwischen Irchel und Belchen südlich des Rheins
konnten anhand von Geröllzählungen ebenfalls drei Schüttungsphasen unterschieden
werden (GRAF 1993). Die Ablagerungen der einzelnen Phasen liegen dabei überei-
nander. Es handelt sich durchwegs um Ablagerungen des Linth – Walensee – Rhein-
Systems. Im Gebiet des Bachsertals und der Umgebung von Weiach (z.B. auf dem
"Stein", s. Nr. 26 in Beil. 2.6) ist eine zusätzliche, etwas tiefergelegene Terrasse ver-
breitet (vgl. auch Fig. 2.7), die bisher zu den Tieferen Deckenschottern gestellt wurde
("Tiefere Deckenschotter s.l." in GRAF 1993, Tiefere Deckenschotter unteres Niveau
in BITTERLI et al. 2000). So wie die Verhältnisse bisher entschlüsselt werden konnten,
handelt es sich um eine Talfüllung, die nach den dreiphasigen "eigentlichen" Tieferen
Deckenschottern entstand. Die Bedeutung dieser Terrasse kann aber wegen ihrer
geringen Verbreitung bisher nicht genauer umschrieben werden.

2.5.5.3 Hoch- und Niederterrasse

Im Anschluss an die Entstehung der Tieferen Deckenschotter erfolgte wiederum eine


generelle, markante Tieferlegung des gesamten Entwässerungsnetzes der Nord-
schweiz (vgl. Fig. 2.7). Im Unterschied zur Talbildung nach den Höheren Deckenschot-
tern kann in diesem Fall aber nicht einfach die Morphologie der Felsoberfläche zur
Rekonstruktion des Gewässernetzes verwendet werden. Dies ist durch die Existenz
der tiefen quartären Becken (Fig. 2.13) bedingt. Im bezüglich der Alpen distalen Be-
reich dominierte hingegen weiterhin die Erosion und Akkumulation durch Flüsse.

Erosions- und Akkumulationsereignisse – sowohl durch glaziale als auch durch fluvia-
tile Vorgänge – wiederholten sich mehrfach im Zeitraum der Entstehung von Hoch-
und Niederterrasse. Entlang des heutigen Rheintals liegen die jeweils tiefste Felssohle
von Hoch- und Niederterrasse höhenmässig nahe beieinander, so dass eine klare
Abgrenzung nur an wenigen Stellen möglich ist. Einzig im Bereich von unterem Aare-
und Reusstal kann eine markante Tieferlegung des Talnetzes vor der Entstehung der
Niederterrasse festgestellt werden (vgl. auch Fig. 2.7). Im Bereich der tiefen Becken
kommen mehrere ineinander geschachtelte Beckenfüllungen vor (GRAF in Vorb.),
deren Verbindung zu den fluvioglazialen Sedimenten weiter extern oft nicht klar ist. Es
ist also zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt, welche Beckenfüllung genetisch zu
welchen Schottern gehört.

Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, die Ablagerungen von Hoch- und Niederterrasse
im gleichen Abschnitt zu behandeln, jedoch eine naturräumliche Gliederung vorzu-
nehmen, und zwar in einen proximalen und einen distalen Bereich, also in den Bereich
der tiefen Becken und den fluviatilen Bereich ausserhalb davon.
NAGRA NTB 99-08 58

Schaffhausen
Rhe
in

Rh
ein Thur
Aa
re

Su Frauenfeld
rb Winterthur
Brugg Baden

G ss Übertiefte Täler
la
tt
Lim Molasse
ma

Thur
t
Mesozoikum
Zürich

Thur
Kristallin
Aa
ba
ch

Letzte
Re

Vergletscherung
us
s

Grösste
Vergletscherung

Zug Lorze
Li
nt
h
10 km

Fig. 2.13: Die Verbreitung von tiefen quartären Becken in der Nordschweiz (ergänzt
nach GRAF & MÜLLER 1999)

Proximaler Bereich, z.B. Birrfeld (AG)


Das Gebiet zwischen Mellikon, Birmenstorf, Dättwil und Birr im unteren Reusstal (vgl.
Fig. 2.14) wird hier der Einfachheit halber als Birrfeld bezeichnet, obwohl dieser Begriff
eigentlich nur für den westlichen Teil zutrifft. In diesem Gebiet existiert ein tiefes
Becken mit komplizierter Felsmorphologie (Fig. 2.15). Insbesondere kommen zwei
schmale, aus dem Birrfeld hinausreichende Ausläufer dieses Beckens vor, die im
Hausener Tal und im Reusstal liegen (Fig. 2.14). Im Süden steigen mehrere Molasse-
kuppen an die Oberfläche auf.

Der unterste, älteste Teil der Beckenfüllung besteht nach heutigen Kenntnissen aus
glazigenen Ablagerungen und eventuell subglazial entstandenen Schottern. Diese sind
v.a. im südlichen Bereich bekannt. Weiter im Norden dominieren Seeablagerungen
("Reusstallehm"), wobei neben kaltzeitlichen Bildungen mit sog. "Dropstones" wahr-
scheinlich auch warmzeitliche Sedimente vorkommen. Im Bereich des heutigen Reuss-
tals werden die Seeablagerungen von feinkörnigen Sanden überlagert, die sich auf
fliessendes Wasser zurückführen lassen ("Reusstalsande").
59 NAGRA NTB 99-08

Re
us
s
Hausen

Birmenstorf
Dättwil
of Mülligen
il 1
Pr

Birrhard Rütihof Fislisbach


Birr
l2
Profi

Re
us
s
Mellingen
1 km

Hoch- und Tiefere Deckenschotter


Niederterasse
Molasse
Hochterrasse
Mesozoikum

Fig. 2.14: Lage des Birrfelds/AG (Hoch- und Niederterrasse), Profile siehe Fig. 2.15

Der an die Ablagerung dieser Sedimente anschliessende Gletschervorstoss ("Fislis-


bacher Vorstoss") hinterliess im östlichen Bereich des Birrfelds glazigene und fluvio-
glaziale Ablagerungen. Wie weit der Gletschervorstoss effektiv reichte, ist bisher nicht
bekannt; er kann weit über das Birrfeld hinausgegangen sein. Anschliessend entwi-
ckelte sich lokal ein mehrere Meter mächtiger Paläoboden. Im westlichen Birrfeld ent-
standen die "Unteren Birrfeldschotter", die auch einen ähnlich mächtigen Paläoboden
tragen. Die zeitlichen Beziehungen dieser beiden lithostratigraphischen Einheiten ist
bisher noch unklar.

Danach entstanden innerhalb einer relativ engen Rinne im Bereich des heutigen
Reusstals fluvioglaziale Schotter ("Rinnenschotter"), für die bisher kein Zusammen-
hang mit glazigenen Ablagerungen festgestellt werden konnte. Sie weisen an verschie-
denen Stellen Paläobodenrelikte auf.
SW
m ü.M. Randglaziale Seeablagerungen
Profil 1 NE
500 Schotter des Mellinger Vorstosses
m ü.M. Moränen des Mellinger Vorstosses

Moränen des Birmenstorfer Vorstosses


450 450
Birrfeld Schotter des Birmenstorfer Vorstosses
NAGRA NTB 99-08

Moränen des Lindmühle-Vorstosses


Im Langen Lind Usserdorf
Bleicherhölzli
400 Eichrüteli 400 “Rinnenschotter”

Foracher Untere Birrfeldschotter

Schotter des Fislisbacher Vorstosses


350 350 Moränen des Fislisbacher Vorstosses

“Reusstal-Sand”
“Reusstal-Lehm”
300 300
1 km Grobkörniger “Reusstal-Lehm”

Fels (Molasse / Malm)


60

W E

Gebiet Birrfeld (nach GRAF in Vorb.)


m ü.M. m ü.M.

500
Profil 2
500

Hiltiberg

450 450
Birenächer
Aspen Tannholz
Mülischer
400 Grumet 400
?
? ? ?
?
350 ? ? 350

? ?
? 1 km
?
?
300 300

Fig. 2.15: Profile durch die quartäre Füllung des tiefen Beckens im unteren Reusstal,
61 NAGRA NTB 99-08

Der nächste Gletschervorstoss ("Lindmühle-Vorstoss") reichte wahrscheinlich etwa in


das Gebiet der Lindmühle im Reusstal (vgl. auch Fig. 2.15 und 2.7). Bisher konnten
nur glazigene Ablagerungen nachgewiesen werden. Sie füllen eine beckenartige Ver-
tiefung etwa im Bereich des heutigen Reusstals auf und sind charakterisiert durch
intensive Deformationen. Häufig enthalten sie aufgearbeitete ältere Lockergesteine.

Der dritte Gletschervorstoss ("Birmenstorfer Vorstoss") war für die Entstehung der
mächtigen Schotter des östlichen und westlichen Birrfelds verantwortlich (vgl. auch
Kap. 2.5.4, Fig. 2.15 und 2.7). Im Süden des Gebiets kommen mit den Schottern ver-
zahnte, glazigene Ablagerungen vor. Anschliessend überfuhr der Gletscher sein Vor-
feld, wobei er relativ geringmächtige Moränen hinterliess, und erreichte das Gebiet von
Birmenstorf.

Der letzte eiszeitliche Vorstoss ("Mellinger Vorstoss") ist durch die Moränen von
Mellingen – Wohlenschwil markiert (vgl. Fig. 2.15 und 2.7). Die dazugehörigen fluvio-
glazialen Ablagerungen sind erst unterhalb der Lindmühle erhalten.

Die in den Ablagerungen festgestellten Leitgesteine und Geröllspektren zeigen, dass


neben dem Reussgletscher auch der Walensee – Rhein-Gletscher Material lieferte.
Lokal kann sogar der Einfluss des Rhone – Aare-Systems nachgewiesen werden
(Untere Birrfeldschotter).

Distaler Bereich, z.B. das obere Klettgautal (SH)


Das Klettgautal (vgl. Fig. 2.16) wurde seit Beginn des Eiszeitalters vom Rhein durch-
flossen. Dies bezeugen Reste von Höheren und Tieferen Deckenschottern. Die
Rinnenbasis der Hochterrasse liegt bei Beringen – Enge auf ca. 350 m ü.M. Ein erster
Gletschervorstoss brachte die Schüttung der Unteren Klettgauschotter (Fig. 2.17) mit
sich, die das Tal wahrscheinlich bis auf eine Höhe von rund 490 m ü.M. auffüllten.
Anschliessend wurden die obersten rund 80 m der Schotter wieder ausgeräumt. Dabei
entstand zusätzlich zur alten Rinne bei Schaffhausen die Neuhauserwald-Rinne
(GRAF & HOFMANN 2000), die südwestlich von Neuhausen die mesozoischen
Schichten in nordwestlicher Richtung durchstösst. Es folgte vermutlich eine längere
Zeit mit temperierten Verhältnissen, denn die "Unteren Klettgauschotter" weisen in der
Kiesgrube der GU (Tiefbau AG) südlich von Beringen in ihrem Dach Anzeichen von
Verwitterung auf.

Ein nächster Gletschervorstoss, der das Klettgautal allerdings nicht erreichte, verur-
sachte die Schüttung der "Mittleren Klettgauschotter", die das Tal bis in eine Höhe von
rund 450 m ü.M. auffüllten. Anschliessend fiel das Tal sehr schnell trocken, die obers-
ten Schichten der Schotter wurden verkittet, und auf ihrer Oberfläche bildete sich eine
Kalkkruste (GRAF 1996b, vgl. auch Fig. 2.7).

Beim nächsten Gletschervorstoss (vgl. Fig. 2.7) wurden bei Beringen – Enge Schotter
und Sande angelagert, die auch glazigene Ablagerungen enthalten. Dabei wurden die
obersten Schichten der Mittleren Klettgauschotter erodiert. In Beringen dominieren
Seeablagerungen. Dieser Lockergesteinskomplex weist häufig glazialtektonische
Deformationen auf. Beim folgenden Gletscherrückzug entstanden die geringmächtigen
"Oberen Klettgauschotter". Nach dem wenige Kilometer betragenden Rückzug ent-
standen unterhalb von Beringen Fluss- und Seeablagerungen ("Glazi-lakustrische
Serie" in GRAF 1996b) und im Bereich des Lusbüels und des Engewalds sehr mäch-
tige, mit randglazialen Schottern verzahnte Moränenserien (Fig. 2.17). Diese wurden
NAGRA NTB 99-08 62

durch Schmelzwässer wahrscheinlich beim weiteren Gletscherrückzug im oberen Klett-


gautal wieder abgetragen. Anschliessend bildete sich im ganzen Klettgautal eine
Decke aus Fliesserden. Die jüngsten eiszeitlichen Sedimente sind die Schotter der
Niederterrasse (Fig. 2.17), die beim kurzfristigen letzten Eisvorstoss des Rheinglet-
schers geschüttet wurden (SCHINDLER 1985).

Schaffhausen
Beringen
Löhningen Engewald

Prof
Schmerlat il
Lusbüel

Guntmadingen

Neuhausen

1 km

Bachschutt, Hangschutt, Vermutete Ausdehnung von


Hanglehm, Schwemmlehm randglazialen Stauseen

Niederterrassenschotter Mittlere Klettgauschotter

Engewald- und Lusbüel-Komplex Untere Klettgauschotter

Glazi-lakustrische Serie Deckenschotter

Randglazialer Komplex Beringen, Mesozoikum und Molasse


Obere Klettgauschotter
Schuttfächer

Fig. 2.16: Hoch- und Niederterrasse im oberen Klettgau/SH (verändert und ergänzt
nach HOFMANN 1981), Profil siehe Fig. 2.17

Jenseits des Klettgautals, z.B. bei Schleitheim, kommen Erratiker des Linth – Walen-
see – Rhein-Gletschers vor. Sie werden üblicherweise zur "Grössten Vergletscherung"
gestellt (z.B. HOFMANN 1981 und 1996, vgl. auch Fig. 2.7). Ausserhalb des oberen
Klettgaus sind im Hangenden von Ablagerungen der Hochterrasse bisher keine glazi-
genen Ablagerungen bekannt geworden, die mit einer über den Klettgau hinaus-
63 NAGRA NTB 99-08

reichenden Vergletscherung in Zusammenhang gebracht werden könnten. Aus diesem


Grund wird angenommen, dass die Grösste Vergletscherung (sensu Schleitheim) älter
als die gesamte Hochterrasse des Klettgaus ist.

m ü.M.
600 SE NW 600

Lusbüel

Löhningen – Beringen – Enge


500 500

Guntmadingen – Beringen

400 400

1 km

300 300
Niederterrasse Lusbüel-Komplex inkl.: Untere Klettgauschotter
- Obere Klettgauschotter
Alte Fliesserden - Glazi-lakustrische Serie Mesozoikum

Mittlere Klettgauschotter

Fig. 2.17: Schematisches Profil durch die Ablagerungen von Hoch- und Niederter-
rasse im oberen Klettgau westlich von Schaffhausen (verändert nach
GRAF & MÜLLER 1999)

2.5.6 Vom Irchel bis Diessenhofen: Ein Quartärgeologisches Profil durch


die Region Zürcher Weinland

Die ausgedehnte Moränenlandschaft zwischen dem unteren Thurtal im Süden und


dem Hochrhein bei Diessenhofen im Norden entspricht dem pleistozänen Verbrei-
tungsgebiet einer südlichen Rheingletscherzunge, dem sog. Thurgletscher, der dort
mächtige Grundmoränen und diverse Schotterfluren abgelagert hat (HANTKE 1967).
Die glaziale Übertiefung erfolgte entlang von verschiedenen Rinnen, die einerseits
über Stammheim – Diessenhofen und andererseits über Andelfingen – Marthalen so-
wie Andelfingen – Flaach – Rüdlingen zum Rheintal hin verliefen und mit mächtigen,
kaltzeitlichen Seeablagerungen aufgefüllt sind.

Quartärgeologisch nimmt dieses Gebiet insofern eine Schlüsselposition ein, als es zwi-
schen dem Gebiet des Bodenseegletschers und demjenigen des Linth – Walensee-
Gletschers liegt, deren charakteristische Geröllspektren dort nebeneinander vorkom-
men. Dank Grundwasseruntersuchungen und zahlreicher Aufzeitbohrungen der Erdöl-
industrie und der Nagra (HALDIMANN et al. 1992, FRANK 1994, FREY & GÜNTHER
1997) wurden in den letzten 25 Jahren wichtige neue Erkenntnisse zum Quartär dieser
Region gewonnen. Dies hat zwar eine vergleichsweise detaillierte Kartierung der Fels-
oberfläche ermöglicht (FREIMOSER & FRANK 1993), gleichzeitig aber auch viele
NAGRA NTB 99-08 64

neue Fragen zu den genetischen Zusammenhängen der einzelnen lithostratigraphi-


schen Einheiten aufgeworfen. Deshalb sind die folgenden Ausführungen, die mit
einem ca. N-S verlaufenden Profil illustriert werden (Beil. 2.7), im Sinne einer Arbeits-
hypothese zu verstehen.

Stratigraphie
Das Profil beginnt im Süden am Irchel, wobei die ca. 50 m mächtigen Höheren
Deckenschotter auf einer Höhe von 620 bis 680 m ü.M., d.h. 175 m und mehr über
dem heutigen Talniveau liegen (s. Fig. 2.10). Sie wurden in vier Phasen geschüttet
und entsprechen dem Einzugsgebiet des Linth – Walensee – Rhein-Gletschers.
Höhere Deckenschotter des Bodensee – Rhein-Gletschers sind im Profil nicht enthal-
ten; sie kommen erst nördlich des Rheins vor.

Die nächst jüngeren Ablagerungen sind die Tieferen Deckenschotter des Cholfirsts,
die auf einer nach Norden geneigten Fläche der Molasse auflagern (480 bis
580 m ü.M., vgl. HÜBSCHER 1961). Sie gehören im Wesentlichen zum Einflussgebiet
des Bodensee – Rhein-Gletschers, enthalten aber auch Material des Thurgletschers.
Ob sie, wie die Tieferen Deckenschotter im Reuss- und Aaretal intern gliederbar sind,
ist bisher nicht untersucht worden.

Im östlichen Bereich des Buechbergs (vgl. Beil. 2.7) kommt ein Relikt eines relativ
hochgelegenen Schotters vor, dessen Basis auf rund 470 m ü.M. liegt. Westlich von
Schlattingen an der Egg existiert ein weiteres Schotterrelikt in vergleichbarer Position,
das in einer Höhe von 440 m ü.M. der Molasse auflagert (HÜBSCHER 1961). Mögli-
cherweise kann aus diesen beiden Relikten auf eine stratigraphisch eigenständige,
ehemalige Rinnenfüllung geschlossen werden, die vielleicht ein Äquivalent der "Tiefe-
ren Deckenschotter, unteres Niveau" (BITTERLI et al. 2000) im Rheintal unterhalb von
Weiach darstellt. Welches Gletschersystem für die Schüttung verantwortlich war,
wurde bisher noch nicht untersucht.

Im Rahmen von Untersuchungen zu den Grundwasserverhältnissen im Gebiet des


Buechbergs südlich von Diessenhofen wurde die Verbreitung von fluvioglazialen
Schottern abgeklärt. Es zeigte sich, dass im Buechberg-Gebiet ein sehr bewegtes
Felsrelief vorliegt. Die im Folgenden vorgestellte Interpretation der Felsmorphologie
und der pleistozänen Ablagerungen orientiert sich an den Verhältnissen im oberen
Klettgau und im Gebiet von Schaffhausen. Dabei muss betont werden, dass die hier
präsentierten morphologischen Überlegungen nicht mehr als erste Hinweise auf eine
mögliche Gliederung sein können. Sie müssen mit weiteren Untersuchungen verifiziert
werden.

Nach klassischer Auffassung zählen die verschiedenen Schotter im Buechberg-Gebiet


zur Hochterrasse. Die vermutlich älteste Einheit stellen die in der westlichen tiefen
Rinne des Buechbergs vorkommenden Ablagerungen dar (Basis ca. 380 m ü.M.). Sie
werden provisorisch als Äquivalente der "Unteren Klettgauschotter" interpretiert. An
ihrer Basis kommen lokal diamiktische Ablagerungen vor (BÜCHI & MÜLLER AG
1993), die möglicherweise als Till (Grundmoräne) gedeutet werden können.

Im zentralen Bereich des Buechbergs kommt eine zweite rinnenförmige Felsdepres-


sion vor, die von Schottern überlagert wird (Basis ca. 410 m ü.M., vgl. Profil A aus
BÜCHI & MÜLLER AG 1993). Ihre Position könnte derjenigen der "Mittleren Klettgau-
schotter" entsprechen. Sie stellen vermutlich die Fortsetzung des nördlichen Anteils
der "Ittinger Schotter" dar (vgl. BÜCHI & MÜLLER AG 1997).
65 NAGRA NTB 99-08

Östlich daran schliesst eine besonders stark ausgeprägte Felsdepression an. Ihre Fül-
lung besteht im unteren Teil aus kaltzeitlichen Seeablagerungen (HALDIMANN et al.
1992). Darüber folgen dann Schotter, deren Basis bisher nicht erbohrt worden ist. Die
tiefsten nachgewiesenen Vorkommen liegen auf etwa 375 m ü.M. Möglicherweise kön-
nen diese Schotter mit dem "Schaffhauser Rinnenschotter" verbunden werden (vgl.
MÜLLER 1996). Sie wären demnach jünger als die "Oberen Klettgauschotter" und der
"Engewald-Komplex" (vgl. Kap. 2.5.5).

Etwa in denselben Zeitbereich dürfte die im Gebiet zwischen Andelfingen und Martha-
len verbreitete Felsdepression gehören (VON MOOS AG 1990), die ebenfalls im unte-
ren Teil durch kaltzeitliche Seeablagerungen und zusätzlich durch Moränen überlagert
wird (VON MOOS AG 1992). Die eigentliche tiefe Beckenstruktur wird durch die Profil-
linie in Beil. 2.7 nicht angeschnitten. Sie weist jedoch zwei Äste auf, die gegen Westen
und Nordwesten ausgreifen und im Profil in Beil. 2.7 enthalten sind. Im nördlichen Ast
kommen Deltaschotter vor, im südlichen Tille und kaltzeitliche Seeablagerungen (VON
MOOS AG 1992). Es ist bisher unklar, ob die Füllungen beider Äste als gleichaltrig zu
betrachten sind oder ob eine Heterochronie vorliegt.

Die Lockergesteine beider Äste sowie die dazwischenliegende Felsoberfläche werden


von einer als Verwitterungsdecke interpretierten Lockergesteinslage überdeckt (VON
MOOS AG 1992). Ob es sich dabei um eine In-situ-Bodenbildung oder um verlagertes
verwittertes Material handelt, kann anhand der vorliegenden Daten nicht entschieden
werden (entspricht altem Hangschutt, Paläoboden in Beil. 2.7).

Diese Lage verwitterten Materials wird von den sog. Vorstossschottern der letzten Eis-
zeit überlagert, die sich ins Rafzerfeld fortsetzen. Darin eingelagert ist im nördlichen
Bereich eine Moränenlage, die sich bis etwa nach Rheinau erstreckt und auch im Lott-
stetterfeld festgestellt werden kann. Dabei handelt es sich um die Ablagerungen eines
ersten letzteiszeitlichen Vorstosses, die von weiteren Schottern überlagert werden.
Letztere wurden ihrerseits nochmals von Gletschereis überfahren, dies lässt sich an-
hand zahlreicher zerdrückter Gerölle und glazitektonischer Deformationen erkennen.
Es können also in der Nordostschweiz zwei separate Vorstösse im Zeitbereich der
letzten Eiszeit festgestellt werden (s. Beil. 2.7). Wieviel Zeit dazwischen lag, kann der-
zeit nicht angegeben werden.

Der grösste Teil des Thurtals wird von den Moränen der letzten Eiszeit eingenommen
(HOFMANN 1967b). Ebenfalls zur letzten Vereisung sind die Felsdepressionen südlich
von Alten, im Gebiet von Benken sowie das in den Lockergesteinen im Gebiet Basa-
dingen – Schlattingen eingetiefte jüngere Becken zu stellen (vgl. Beil. 2.7). An ihrer
Basis kommen jeweils Tille (FRANK & FRIEG 1998) und bei Alten auch subglaziale
Schotter vor, die von z.T. äusserst mächtigen kaltzeitlichen Seeablagerungen überla-
gert werden (HALDIMANN et al. 1992). Schotter von verschiedenen Phasen des Spät-
glazials liegen westlich von Marthalen sowie im Thurtal südlich von Alten vor.

2.6 Zusammenfassung

Die Kenntnisse zur Ausbildung der Gesteinsabfolge, deren räumliche Variationen und
deren Deformationen bilden die Basis für eine Rekonstruktion der geologischen Ver-
gangenheit und damit auch für die Prognose der Zukunft. In Kap. 2 wurde versucht,
die wichtigsten Eckdaten und deren Bedeutung im Hinblick auf die geologische Lang-
zeitentwicklung zu beschreiben.
NAGRA NTB 99-08 66

Die Entwicklung der Nordschweiz und angrenzender Gebiete wird in drei Hauptab-
schnitte gegliedert (vgl. auch Fig. 2.2):
• Bildung und Konsolidierung des kristallinen Grundgebirges inklusive Permokarbon-
vorkommen – insgesamt als Sockel bezeichnet – in Zusammenhang mit der varis-
kischen Gebirgsbildung.
• Subsidenz der kontinentalen Plattform und Bildung der mesozoischen Sedimentge-
steine; Gliederung des Ablagerungsraums durch leichte synsedimentäre Bewegun-
gen:

A Während der Trias am Südrand des Germanischen Beckens (intrakontinental)


und
B während Jura und Kreide am Nordrand der Tethys (epikontinental).
• Bildung des Molassebeckens und strukturelle Überprägung der Nordschweiz im
Einflussbereich der alpinen Orogenese während des Tertiärs und Quartärs (alpiner
Zyklus).

Projektbezogen haben diese drei Hauptphasen der Entwicklung unterschiedliche Be-


deutungen, was zu einem entsprechend unterschiedlichen Aufbau der einzelnen Ab-
schnitte dieses Kapitels führte.

Bei der variskischen sowie der alpinen Entwicklung interessierten weniger die Ausbil-
dung und Eigenschaften der entstandenen Gesteine selbst, sondern vielmehr die
tektonischen Prozesse, die aus den Abfolgen der paläozoischen und känozoischen
Gesteinsserien abgeleitet werden können (rechte Hälfte in Fig. 2.2); diese Daten zur
"Sedimentation und Tektonik" sind im Hinblick auf das folgende Kapitel über die Neo-
tektonik und die Szenarien der endogenen Langzeitentwicklung wichtig (Kap. 5).
Kap. 2.2 und 2.4 behandeln deshalb v.a. die Dynamik und tektonische Entwicklung des
Paläozoikums resp. des Tertiärs.

Kap. 2.3 über das tektonisch vergleichsweise ruhige Mesozoikum konzentriert sich
dagegen auf eine Darstellung der paläogeographischen und lithofaziellen Verhältnisse,
unter welchen die entsprechenden Sedimentgesteine entstanden sind, sowie auf die
Mächtigkeitsvariationen der einzelnen mesozoischen Formationen. Diese Daten erlau-
ben eine detaillierte Analyse der mesozoischen Subsidenzgeschichte sowie eine Beur-
teilung der hydrogeologischen Eigenschaften des Wirtgesteins und seiner Rahmenge-
steine.

Die ausführlichen Beschreibungen der jüngsten geologischen Geschichte, d.h. die Ent-
stehung und Anordnung (Morphologie, Geometrie, Höhenlage) der quartären Einhei-
ten, werden v.a. für die Abschätzung der relevanten exogenen Szenarien (Erosions-
szenarien) der geologischen Langzeitentwicklung benötigt (Kap. 5.2); Kap. 2.5 zur
postmolassischen Geschichte beschreibt deshalb im Wesentlichen die Auswirkungen
und die Chronologie des pleistozänen Eishausklimas.
67 NAGRA NTB 99-08

3 NEOTEKTONIK

3.1 Einleitung

3.1.1 Definition der Begriffe Neotektonik und rezente Tektonik

Die Begriffe "Neotektonik" und "rezente Tektonik" werden in der Literatur unterschied-
lich verwendet. Im Folgenden sollen sie für den vorliegenden Bericht kurz erläutert
werden.

Der Begriff "Neotektonik" wurde erstmals durch OBRUTSCHEW (1937) eingeführt, der
darunter tektonische Bewegungen verstand, die seit dem Neogen eingetreten sind und
bis heute andauern können. In der modernen Literatur wird der Begriff "Neotektonik"
nur noch selten im Sinne dieser Erstdefinition gebraucht und steht meistens für junge
Bewegungen nicht näher bestimmten Alters, die bis in die Gegenwart aktiv sein kön-
nen. Da eine genaue zeitliche Eingrenzung junger Bewegungen in den seltensten
Fällen möglich ist, wird der Begriff "Neotektonik" in diesem Bericht ebenfalls in einem
offenen, zeitlich nicht exakt definierten Sinne verwendet (s. Kap. 3.3).

Unter dem Begriff "rezente Tektonik" werden Krustenbewegungen der Gegenwart bzw.
der jüngsten Vergangenheit verstanden, die mittels der Analyse von Erdbeben lokali-
siert und datiert oder aufgrund von geodätischen Messungen (Präzisionsnivellement,
GPS-Messungen) bestimmt wurden (s. Kap. 3.4).

3.1.2 Ziel der neotektonischen Untersuchungen

Das Ziel von neotektonischen Untersuchungen ist die Erstellung eines geodynamisch-
tektonischen Konzepts der oberen Kruste. Dieses Konzept bildet eine der Grundlagen
für die Ableitung von plausiblen, geologischen Langzeitszenarien.

Für die Formulierung eines geodynamisch-tektonischen Konzepts der Nordschweiz


sind umfassende Kenntnisse über den regionalen geologischen Bau, dessen jüngere
Entwicklungsgeschichte und die rezente Dynamik der Untersuchungsregion not-
wendig. Die dazu benötigten Datensätze werden von den verschiedenen erdwissen-
schaftlichen Fachgebieten bereitgestellt. Dabei kann unterschieden werden zwischen
Disziplinen mit einem weiten Zeithorizont von Tausenden bis Millionen von Jahren, wie
z.B. die Geologie und die Geomorphologie, sowie solchen, deren Daten auf aktuellen
Messungen und historischen Beobachtungen beruhen, wie die Geodäsie, die Seismo-
logie, die Felsmechanik und die Geothermie.

Die regionalen geologischen Daten aus den Feldkartierungen, Profilaufnahmen, Boh-


rungen, Interpretationen der Reflexionsseismik, experimentellen Untersuchungen, de-
taillierten Studien an Kernmaterial etc. bilden die Grundlage für die Entwicklung eines
ersten kinematisch-tektonischen Konzepts. Je nach Stand der Kenntnisse liefert der
geologische Datensatz auch Informationen über die tektonischen Vorgänge während
der verschiedenen Zeitabschnitte, wobei für das Verständnis der neotektonischen
Bewegungen v.a. Hinweise aus dem Neogen von zunehmender Bedeutung sind. Des-
halb sind die Informationen zur jüngsten Entwicklung des Alpenvorlands und zu den
Verhältnissen im Quartär, wie sie in Kap. 2.4 und 2.5 ausführlich erläutert wurden, von
vorrangiger Bedeutung.
NAGRA NTB 99-08 68

Dieses kinematisch-tektonische Konzept der oberen Kruste wird anhand der Daten der
beschriebenen Fachgebiete überprüft und angepasst bis ein möglichst plausibles,
weitgehend widerspruchsfreies Gesamtbild vorliegt.

Die Geomorphologie (Kap. 3.3) liefert einen wesentlichen quantitativen Beitrag zur
Hebungs- und Senkungsgeschichte der Nordschweiz. Die Rekonstruktion der plio-
pleistozänen Landschafts- bzw. Talgeschichte, der Versuch einer chronostratigraphi-
schen Gliederung der fluviatilen und fluvioglazialen Ablagerungen und der Bezug zum
heutigen Erosionsniveau führen zu einem weiteren wichtigen Datensatz über die Kine-
matik der oberen Kruste. Auch Einzelbeobachtungen von Verstellungen und Verkip-
pungen der quartären Lockergesteinsvorkommen liefern wertvolle Hinweise zum pleis-
tozänen bis rezenten Bewegungsbild.

Aus dem Vergleich von wiederholten, zeitlich getrennten, geodätischen Messungen


(Kap. 3.4), wie z.B. Präzisionsnivellement- oder GPS-Messungen ergeben sich weitere
Anhaltspunkte über die regionale Kinematik der obersten Kruste. Diese Messungen
widerspiegeln eine Art Momentaufnahme in der langen Geschichte der alpinen Oroge-
nese, der Juraaufschiebung und der Beckenentwicklung des Mittellands und decken
einen Zeitraum von mehreren Jahren bis vielen Jahrzehnten ab.

Erdbeben (Kap. 3.5) geben direkte Informationen über die Lokalität und die Intensität
rezenter endogener Prozesse in Abschnitten der Kruste, in denen eine spröde Defor-
mation vorherrscht. Durch differenzielle Kräfte werden in diesen Krustenabschnitten
sukzessive Spannungen aufgebaut, deren periodische Entlastung sich dann in Form
von Erdbeben äussert.

Die Analyse von Erdbeben liefert in günstigen Fällen (genügende Dichte von Seismo-
graphen, ausreichend hohe Magnituden, Erdbebenschwärme) auch Informationen
über den Bruchvorgang und das rezente Spannungsfeld (Seismotektonik). Erdbeben
decken den kürzesten Beobachtungszeitraum von tektonischen Krustenbewegungen
ab. Bei einem Erdbebenereignis kann dieser zwischen Sekundenbruchteilen (kleines
Einzelbeben) und Wochen (Nachbeben, Erdbebenschwärme) betragen.

Die Ermittlung des rezenten Spannungsfelds (Kap. 3.6) erfolgt durch verschiedene
Untersuchungsmethoden, auf indirekte Weise z.B. durch die Analyse von Erdbeben,
In-situ-Spannungsmessungen und Analysen von Bohrlochrandausbrüchen oder direkt
durch "Hydrofrac"-Messungen. Diese Methoden liefern ebenfalls Hinweise über die
jüngste tektonische Entwicklung einer Untersuchungsregion.

Die Aufarbeitung des geothermischen Datensatzes (Kap. 3.7) mit den zur Verfügung
stehenden Temperaturdaten aus Bohrungen führt zu wertvollen indirekten Hinweisen,
die zum Verständnis des geologischen Aufbaus und zu dessen möglicher zukünftiger
Entwicklung beitragen.

Als Synthese der neotektonischen Daten wird in Kap. 3.8 ein geodynamisches Kon-
zept für die Nordschweiz vorgeschlagen und kurz diskutiert.
69 NAGRA NTB 99-08

3.2 Geologisch-tektonische Dokumentation

3.2.1 Projekt "Gewähr"

Folgende Grundlagenarbeiten wurden bereits für die im Rahmen des Projekts "Ge-
währ" (NAGRA 1985a) entwickelten "Szenarien der geologischen Langzeitsicherheit"
(DIEBOLD & MÜLLER 1985) zusammengestellt.

In einer ersten Studie sind die relevanten Arbeiten, die seit Beginn der geologischen
Erforschung über die Nordschweiz publiziert wurden sowie alle im Rahmen des Unter-
suchungsprogramms Nordschweiz der Nagra erarbeiteten erdwissenschaftlichen
Untersuchungen (z.B. SPRECHER & MÜLLER 1986) zusammenfassend beschrieben
und dargestellt (MÜLLER et al. 1984). Diese Arbeiten sind zusammen mit einer neuen
"Geologischen Karte der zentralen Nordschweiz 1:100'000 mit den angrenzenden
Gebieten von Baden-Württemberg" als Nagra Technischer Bericht resp. Spezialkarte
publiziert (ISLER et al. 1984). Diese geologische Karte wurde aufgrund einer Kompila-
tion aller zur Verfügung stehenden geologischen Aufnahmen erstellt und zusammen
mit umfassenden Erläuterungen von der Nagra (als Technischer Bericht) und der Geo-
logischen Kommission (MÜLLER et al. 1984) herausgegeben.

In einer Literaturstudie (ISLER 1985) sind alle wichtigen Informationen über junge
Bewegungen in der Schweiz und den angrenzenden Gebieten zusammengestellt.

Sehr detailliert ist auch das Thema "Sedimentation und Tektonik im Tertiär der Nord-
schweiz" bearbeitet (NAEF et al. 1985). In dieser Arbeit wurden die stratigraphischen
und sedimentologischen Verhältnisse des Zeitraums vom Mitteleozän bis zum Quartär
studiert, um daraus möglichst genaue Informationen über die Abfolge der entspre-
chenden tektonischen Ereignisse abzuleiten.

3.2.2 Synthese "Kristallin"

Bis zu den Abschlussarbeiten des Syntheseberichts zum Kristallin der Nordschweiz


(THURY et al. 1994) wurde der Geodatensatz Nordschweiz nochmals wesentlich er-
weitert. Alle Untersuchungsberichte zu den sieben Sondierbohrungen lagen vor (Bött-
stein: NAGRA 1985b, Weiach: NAGRA 1989, Riniken: NAGRA 1990, Leuggern:
NAGRA 1991b, Kaisten: NAGRA 1991c, Schafisheim: NAGRA 1992a, Siblingen:
NAGRA 1992b), und eine detaillierte Interpretation aller reflexionsseismischen Mes-
sungen, die im Rahmen des Untersuchungsprogramms Kristallin Nordschweiz durch-
geführt wurden, ist in DIEBOLD et al. (1991) dargelegt. Aufgrund dieses erweiterten
Kenntnisstands war es notwendig, die für das Projekt "Gewähr" erstellten Szenarien
der geologischen Langzeitsicherheit zu überarbeiten. Diese ausführliche Studie liegt
als Nagra Interner Bericht (NAEF 1992) vor, wobei die wichtigsten Resultate in den
Synthesebericht "Kristallin" (THURY et al. 1994) integriert wurden.

3.2.3 Projekt "Opalinuston"

Im Rahmen des erdwissenschaftlichen Untersuchungsprogramms zum "Opalinuston"


im Gebiet Nördlich Lägeren – Zürcher Weinland wurden weitere Untersuchungen
durchgeführt, deren Ergebnisse wichtige geologische Datengrundlagen für die Erstel-
lung der Langzeitszenarien darstellen. Dabei sind insbesondere zu erwähnen:
NAGRA NTB 99-08 70

• eine mit allen zur Verfügung stehenden Bohrdaten erstellte Felsisohypsenkarte der
nördlichen Teile des Kantons Zürich und angrenzender Gebiete (FREIMOSER &
FRANK 1993),
• ein Inventar aller oberflächengeologisch erkennbaren tektonischen Elemente im
weiteren Untersuchungsgebiet "Opalinuston" (AMMANN 1992),
• die Auswertung und Interpretation der reflexionsseismischen Messungen 1991/92
im Gebiet Nördlich Lägeren – Zürcher Weinland (NAEF et al. 1995),
• eine regionale Faziesstudie der mesozoischen Schichtreihe vom Oberen Keuper
bis zum unteren Malm (HÄRING & MÜLLER 1994),
• eine mithilfe von Vitrinit-Reflektivitätsmessungen und Apatit-Spaltspuren-Daten re-
konstruierte Absenkungs- und Temperaturgeschichte der Nordschweiz (LEU et al.
2001),
• die strukturgeologische Interpretation der 1997 im Zürcher Weinland durchgeführ-
ten reflexionsseismischen 3D-Messungen (BIRKHÄUSER et al. 2001),
• die Daten der 1998/99 abgeteuften Sondierbohrung Benken (NAGRA 2001).

3.3 Geomorphologie und Gewässernetzanalyse

3.3.1 Geomorphologische Hinweise auf neotektonische Bewegungen

Durchgeführte Arbeiten der Nagra


Bereits zu Beginn des neotektonischen Programms anfangs der 80er Jahre beauf-
tragte die Nagra drei unabhängige Bearbeiter mit der Durchführung von Lineament-
analysen auf Satellitenfotos. Die daraus resultierenden Lineamentmuster der Nord-
schweiz wurden mittels Luftbildaufnahmen, topographischen und geologischen Karten
auf ihre effektive Bedeutung hin überprüft. Dabei zeigte sich, dass der Hauptteil der
ausgeschiedenen Satellitenbild-Lineamente auf Hell/Dunkel-Kontraste zurückzuführen
ist, die durch die Morphologie der Erdoberfläche (oder Topographie), die Vegetations-
verteilung und menschliche Tätigkeiten verursacht werden. Es fanden sich keine zwin-
genden Hinweise auf neotektonische Aktivitäten an einem der kartierten Lineamente
(ISLER 1984).
Im Gebiet des Zürcher Weinlands wurde ebenfalls eine Luftbildanalyse durchgeführt.
Das Ziel dieser Studie war es zu zeigen, ob aufgrund des Bildmaterials Hinweise auf
junge, aktive Verwerfungen vorhanden sind. Die Studie ergab, dass mit dieser Metho-
de keine postglazialen Brüche nachzuweisen sind (PFIFFNER et al. 2001).
Die von HALDIMANN et al. (1984) im Aaretal zwischen Aarau und Koblenz durchge-
führte Analyse der Felsmorphologie und der Vergleich von Akkumulations- und Ero-
sionsniveaus verschiedener Schotterterrassen-Niveaus lieferten dagegen einige Indi-
zien für jungpleistozäne Bewegungen. Daraus lassen sich Hinweise für eine relative
Kippbewegung des Untergrunds mit Hebungen im Süden (Brugg, evtl. Faltenjura) und
Absenkungen im Norden (Rheinlinie) ableiten. Aufgrund der divergierenden Schotter-
niveaus wurde eine Bewegungsgeschwindigkeit von etwa 0.5 bis 0.7 mm/a ermittelt.
Diese Beobachtungen zeigen eine erstaunliche Übereinstimmung mit den Nivellement-
messungen (s. Kap. 3.4 und Beil. 3.2) in derselben Region. Dies wird als Indiz für
heute noch aktive Bewegungen angesehen. Im Weiteren wird anhand einer auffälligen
71 NAGRA NTB 99-08

Opalinuston-Rippe in der Felsoberfläche nördlich von Würenlingen eine pleistozäne


Aktivität an der östlichen Fortsetzung der Mandacher Überschiebung postuliert. Aus
einer etwas weiter nördlich durch das Gebiet von Klingnau verlaufenden Antiklinal-
struktur sind ebenfalls Hinweise auf mögliche, junge Krustenbewegungen abzuleiten.
Gemäss neuerer Arbeiten (BITTERLI & MATOUSEK 1991) kann in diesem Gebiet
eine ganze Schar von Syn- und Antiklinalen kleiner Amplitude kartiert werden.
Aufgrund der Untersuchungen von HALDIMANN et al. (1984) im Hochrheintal zwi-
schen Tössegg und Basel gibt es Hinweise auf eine grössere Anzahl von ungefähr
N-S streichenden neotektonisch aktiven Verwerfungen, die zueinander Abstände von
meist 3 – 8 km einhalten. An etlichen dieser Brüche scheinen die Bewegungen aller-
dings schon im Laufe des Jungpleistozäns abgeklungen zu sein.
Aus der Darstellung der Flussgeschichte des Südschwarzwalds (s. HALDIMANN et al.
1984, HUBER & HUBER-ALEFFI 1990, DIEBOLD & MÜLLER 1985) ergaben sich
viele Hinweise auf tektonische Bewegungen während des Quartärs, die wiederum
weitgehend mit den Analysen der Nivellementmessungen (s. Beil. 3.3) konsistent sind.
Diese können wie folgt zusammengefasst werden:
• Die generelle Aufdomung des Südschwarzwalds mit grösster Hebung im Gebiet
des Schauinsland − Feldberg-Horsts hält seit dem Pliozän an, wobei eine Kippung
des Hotzenwalds gegen Süden bis Südosten festgestellt wird.
• Eine im Quartär anhaltende relative Absenkung der Bonndorfer Grabenzone (die
sich in den Hegau – Bodensee-Graben fortsetzt) wird begleitet von aktiver Ab-
schiebungstektonik an den herzynisch streichenden Grabenbrüchen.
• Anhaltende Kippung der Südostabdachung des Südschwarzwalds während des
Quartärs.
• Nachrisseiszeitliche Hebung des Hotzenwalds östlich der Bruchzone von Wehr und
deren nördlicher Verlängerung.

Weitere Hinweise
Im Gebiet unteres Aaretal – Lägeren gibt es verschiedene Hinweise auf tektonische
Verstellungen des Untergrunds, die nach Ablagerung von Deckenschottereinheiten
stattgefunden haben könnten (GRAF 1993).
Im Gebiet von Mandach – Böttstein – Leibstadt kommen hochgelegene Schotter vor,
die üblicherweise als Höhere Deckenschotter gedeutet werden (Beil. 2.6, Nr. 3). Die
aussergewöhnlich tiefe Lage der Felsoberfläche in ihrem Liegenden (ca. 457 m ü.M.,
Aufzeitbohrung AZ 906 in JÄCKLI AG 1982) könnte allerdings auch auf ein jüngeres
Alter hindeuten. Anhand der geographischen Verbreitung und der Einregelung von
Geröllen in den Schottern kann gezeigt werden, dass diese mehrheitlich etwa aus
Süden geschüttet wurden. Südlich von Mandach kommen heute aber ausschliesslich
mesozoische Schichten vor, die topographisch deutlich über die Höheren Decken-
schotter ragen, ohne eine Lücke zu zeigen. Hier verläuft auch die etwa E-W strei-
chende Mandacher Überschiebung, die den Nordrand der Vorfaltenzone markiert
(Beil. 2.1). Entlang dieser jungen Aufschiebung wurde der südliche Block gehoben,
wodurch möglicherweise der südliche Teil der Rinne der Höheren Deckenschotter ab-
geschnitten und erodiert wurde und deshalb keine eiszeitlichen Ablagerungen mehr
über diesen Weg geschüttet werden konnten. Die im gleichen Gebiet verbreiteten
Tieferen Deckenschotter (Beil. 2.6, Nr. 20) bestehen (zumindest im Südwesten) aus
NAGRA NTB 99-08 72

umgelagertem Material der Höheren Deckenschotter. Für den Zeitraum zwischen der
Ablagerung der Höheren und der Tieferen Deckenschotter im Gebiet von Mandach –
Böttstein – Leibstadt kann deshalb eine Aktivität an der Mandacher Überschiebung
postuliert werden.
Südlich der Lägeren kommt östlich von Boppelsen ein Relikt von Höheren Decken-
schottern vor (Beil. 2.6, Nr. 12), das in zwei Phasen entstanden ist und petrographisch
mit den beiden jüngeren Einheiten der Höheren Deckenschotter der Egg (Beil. 2.6,
Nr. 9) nördlich des Wehntals (Schleiniker, Oberweninger und Schöfflisdorfer Platten in
GRAF 1993) korreliert werden kann. Das Vorkommen von Boppelsen liegt heute aber
rund 60 m höher als dasjenige der Egg. Diese unterschiedliche Höhenlage der
Deckenschottervorkommen nördlich und südlich der Lägeren wird von GRAF (1993)
dahingehend gedeutet, dass das Vorkommen bei Boppelsen gegenüber der Egg nach-
träglich angehoben wurde und damit einen entsprechenden jungen Hebungsvorgang
an der Lägeren-Struktur anzeigt.
Die sukzessive Südverlagerung des Rheins zwischen Schaffhausen und Eglisau wurde
auf eine differenzielle Hebung im Norden zurückgeführt (SCHNEIDER 1976). Sie kann
aber auch dadurch erklärt werden, dass die Klettgau-Rinne durch die sehr mächtigen
Ablagerungen des Engewald-Komplexes blockiert wurde, so dass der Rhein sich einen
anderen Weg suchen musste, der dann ins Rafzerfeld führte. Eine analoge Situation
ergab sich nach dem Rückzug des letzteiszeitlichen Gletschers aus dem Rafzerfeld,
wobei die Schmelzwässer nicht die Moränenwälle durchdringen konnten und weiter im
Süden, bei der Tössegg, durchbrachen.

3.3.2 Entwicklung des Gewässernetzes

Die Landschaftsentwicklung in der Nordschweiz seit dem Spätmiozän


Die Entwicklung des Landschaftsbilds in der Nordschweiz seit dem Spätmiozän wurde
einerseits bestimmt durch tektonische Vorgänge, wie z.B. die Aufdomung der Vogesen
und des Südschwarzwalds, das Einsinken des Oberrheingrabens, die Aufschiebung
des Faltenjuras, die allgemeine Hebung des Alpenvorlands, und andererseits durch die
im Pleistozän periodisch vorstossenden und zurückschmelzenden Eismassen und
deren Schmelzwässer.
Das verstärkte Einsetzen von grobklastischen Schüttungen zuerst aus dem Schwarz-
wald (Juranagelfluh, vgl. Fig. 2.5 und 2.6) und später auch aus den Vogesen (sog.
Vogesenschotter und -sande) ab dem frühen Mittelmiozän zeigt nachhaltige Hebungs-
tendenzen in diesen Liefergebieten an (LAUBSCHER 1987 und 1992). Am Ende der
Molassezeit, im frühen Spätmiozän (vor ca. 10 Millionen Jahren) war die Nordschweiz
noch eine weitgehend ebene Landfläche, die sich zwischen den alpinen Schuttfächern
(Bodensee-, Hörnli- und Napfschüttung) im Süden und den kleineren Schüttungen der
Juranagelfluh aus dem Einzugsgebiet des südlichen Hochschwarzwalds erstreckte.
Die Entwässerung dieser voralpinen Flusslandschaft erfolgte über ein nach WSW
fliessendes, etwa 20 km breites Stromsystem, die sog. Glimmersandrinne, deren Lie-
fergebiet zur Hauptsache weiter im Osten lag (Ur-Salzach, Ur-Enns). Über den Verlauf
von Talsystemen und damit der grossen Alpenflüsse während des Spätmiozäns bis
Pliozäns ist wenig bekannt, weil aus diesem Zeitabschnitt kaum Ablagerungen vorhan-
den sind. Als Relikte präquartärer Talschotter der Nordschweiz werden die Schotter
des Tannenbergs bei St. Gallen (HOFMANN 1957) sowie die Schotter auf dem Villiger
Geissberg im unteren Aaretal und diejenigen auf dem Eichberg bei Blumberg (Baden-
73 NAGRA NTB 99-08

Württemberg) angesehen (Beil. 2.6, Nr.1 und 2; Beil. 3.1, Profil A und B). Aufgrund der
beiden letztgenannten Schottervorkommen postulierte MANZ (1934) für den Zeitraum
Spätmiozän – Pliozän eine Entwässerung des zentralen Mittellands über die Aare zur
Donau (Fig. 3.1a). Im gleichen Zeitraum kam es nach HOFMANN (1996) durch die
Hebung der Grundgebirgsschwelle zwischen dem Aarmassiv und dem Schwarzwald
(BÜCHI et al. 1965) zur Bildung einer Querwasserscheide im westlichen schweizeri-
schen Mittelland. Das Ende der Ost-West-Entwässerung des Alpenvorlands (Glimmer-
sandrinne) könnte auch durch die beginnende Aufschiebung des Faltenjuras erklärt
werden.
Das Konzept einer einstigen fluviatilen Aare – Donau-Verbindung (s. auch MATTER
1964, LINIGER 1966, VILLINGER 1986, HOFMANN 1996) wird durch die Befunde der
sedimentpetrographischen Untersuchungen an den Schottern am Geissberg und Eich-
berg sowie an hochgelegenen Restschottern weiter im Osten bestätigt.
Zeitgleich mit der Aare – Donau wurden wohl die Schotter auf dem Tannenberg nord-
westlich von St. Gallen abgelagert. Es scheint gesichert, dass die Donau zu dieser Zeit
einen Zufluss aus dem Gebiet des heutigen St. Galler Rheintals besass, der bei
Ehingen (Baden-Württemberg) einmündete (VILLINGER 1986 und 1998). Dieser Zu-
fluss lieferte alpines Geröllmaterial ins Donausystem. Bisher fehlen aber eindeutige
Beweise für ein zentralalpines Einzugsgebiet, so dass ein Einzugsgebiet im Bereich
der Ostalpinen Decken östlich des heutigen St. Galler Rheintals wahrscheinlicher ist
(Fig. 3.1a).
In ihrer Arbeit über die paläohydrographische Entwicklung im alpinen Vorland während
des Plio-Pleistozäns datieren PETIT et al. (1996) das Ende der Aare – Donau-Verbin-
dung auf ca. 5 Millionen Jahre. Etwa zu dieser Zeit wurde die Aare zum Oberrhein-
graben und von dort nach Norden umgelenkt (Fig. 3.1b). Dies ist durch alpine Schwer-
mineralien in Ablagerungen des Oberrheingrabens belegt (BOENIGK 1987). Eine wei-
tere Umstellung erfolgte zur Zeit der Sundgauschotter, die eine Entwässerung des
Schweizer Alpenvorlands über das Bresse-Gebiet zum Mittelmeer anzeigen. Der
alpine Oberlauf des Sundgauschotter-Systems (Fig. 3.1c) wird anhand der Schwer-
mineralien üblicherweise mit der Aare in Verbindung gebracht (HOFMANN 1967a).
BOENIGK (1987) wies jedoch darauf hin, dass die damals untersuchten Ablagerungen
ein durch Verwitterung verfälschtes Spektrum aufwiesen und deshalb keine eindeutige
Aussage über das alpine Einzugsgebiet möglich ist. Dieselbe Bemerkung gilt auch
bezüglich der Geröllfraktion, der es an klaren Leitgesteinen mangelt. Die Sundgau-
schotter werden mit den "Cailloutis de Desnes" korreliert (BONVALOT 1974), deren
biostratigraphische Datierung ein Alter von 2.2 Millionen Jahren ergab (PETIT et al.
1996). Infolge der Aufdatierung der Säugetierchronozonen von FEJFAR et al. (1998)
wird den Sundgauschottern heute ein Alter von 4.2 – 2.9 Millionen Jahren zugeschrie-
ben (GIAMBONI et al. 2003).
In den Ablagerungen der Bresse, die jünger als 2.9 Millionen Jahre sind, fehlen alpine
Einflüsse. Umgekehrt sind diese in den Sedimenten des Oberrheingrabens seither klar
nachgewiesen (PETIT et al. 1996, BOENIGK 1987). Demnach entwässern also die
nordalpinen Schweizer Flüsse seit Beginn des Quartärs über den Oberrheingraben zur
Nordsee. Es wird angenommen, dass zu dieser Zeit das Nordschweizer Mittelland eine
Landschaft mit moderatem Relief darstellte, deren Erosionsbasis etwa durch die
höchsten heute noch erhaltenen Molassehöhen definiert ist. Dieses Niveau wird als
"Gipfelflur" bezeichnet und stellt ein wichtiges Referenzniveau für die Herleitung der
quartären Hebungsraten in Kap. 3.3.3 dar (s. auch Beil. 3.1).
NAGRA NTB 99-08 74

a b

Zeit der pliozänen Aare – Donau-Entwässerung bis Zeit der pliozänen Aare – Oberrhein-Entwässerung
ca. 5 Ma BP ca. 5 – 4.2 Ma BP

?
c d
?
4
1 3

Zeit der Sundgauschotter ca. 4.2 – 2.9 Ma BP Zeit der ältesten Höheren Deckenschotter ca. 2 Ma BP
1 Mandacher Rinne 3 Egg-Rinne
2 Albis – Heitersberg – Endingen 4 Irchel-Rinne

e f 3
4 4

3 2
2 1
1

Zeit der Tieferen Deckenschotter ca. 1 Ma BP Zeit der ältesten Hochterrassen-Schotter ca. 0.5 Ma BP
1 Gubrist – Baregg-Rinne 4 Thurtal – Cholfirst-Rinne 1 Aare-Rinne 3 Klettgau-Rinne
2 Bachser Rinne 5 Menzinger Rinne 2 Bachser Rinne 4 Buechberg-Rinne
3 Töss – Irchel-Rinne

Fig. 3.1: Entwicklung des Gewässernetzes in der Nordschweiz seit dem Pliozän in
acht Schritten (a) bis (h), nach LINIGER (1966), HOFMANN (1982 und
1996), HANTKE (1984), SCHINDLER (1985), VILLINGER (1989), GRAF
(1993) und PETIT et al. (1996)
75 NAGRA NTB 99-08

g h

Zeit des letztglazialen Maximums ca. 20’000 Jahre BP Heutiges Gewässernetz

Legende
Abfluss-Richtung interpretiert aufgrund von fluviatilen Sedimenten
Abfluss-Richtung interpretiert aufgrund von sedimentpetrographischen Daten

Fig. 3.1: Fortsetzung

Grundsätzliches zur Rekonstruktion von Gewässernetzen während des Quartärs


Während des Quartärs wechselten sich Phasen intensiver Akkumulations- und Ero-
sionsvorgänge mit relativ ruhigen Zeiten ab. Die geologische Dynamik wurde dabei
von den sich periodisch bis weit ins Alpenvorland aufbauenden alpinen Gletschern be-
stimmt. So herrschten während der Kaltzeiten hohe Akkumulations- und Erosions-
raten, die sich sowohl räumlich wie zeitlich in rascher Folge abwechselten (s.
Kap. 5.2.2). Während Interglazialen waren hingegen die Verhältnisse eher ruhig und
stabil, und die Flusssysteme hatten Gelegenheit, sich einem relativen Gleichgewichts-
zustand anzunähern. Ausnahmen an speziellen Lokalitäten können dabei aber nicht
ausgeschlossen werden (z.B. Rheinfall). Der heutige Zustand der Fliessgewässer im
Mittelland entspricht zumindest abschnittsweise einem Gleichgewichtszustand (vgl.
Kap. 5.1.1 und Fig. 5.1).

Für die Gliederung des Eiszeitalters und die Entwicklung des Gewässernetzes ist das
Erkennen von solchen relativen Gleichgewichtszuständen von grosser Bedeutung, weil
sie prinzipiell regionale Bezugshorizonte darstellen und deshalb über grosse Distanzen
korreliert werden können. Typische Ablagerungen aus Interglazialen, wie z.B. feinkör-
nige Hochflutsedimente oder Schichten mit biogenem Material aus Warmzeiten, sind
aber nur selten erhalten geblieben, so dass eine direkte Rekonstruktion von Gewäs-
sernetzen nur ansatzweise gelingt.

Als brauchbares Argument für die Rekonstruktion von Gleichgewichtslagen kann die
Lage der Rinnenbasis von ehemaligen Flusstälern verwendet werden. Dabei gilt es
aber zu beachten, dass solche Rinnen oft das Resultat einer kurzen, heftigen Ero-
sionsphase sind, v.a. wenn sie innerhalb mächtigerer Quartärabfolgen vorkommen.
Die Rinnenbasis kann anhand des Verlaufs der Felsoberfläche oder klarer Diskordan-
zen innerhalb von Lockergesteinsabfolgen rekonstruiert werden. Es muss zwischen
der Entstehung der Rinnen und deren Füllung unterschieden werden, weil durchaus
ein grösserer Zeitraum dazwischenliegen kann. Hinweise für diese Vermutung zeigen
z.B. die häufig auftretenden Lagen von verwittertem Material auf der Felsoberfläche
oder an der Basis von Rinnenfüllungen (Paläoböden/Hangschutt).
NAGRA NTB 99-08 76

Für die Korrelation von Talsystemen sind Konfluenzstellen, d.h. Orte, an denen sich
zwei grössere Flüsse vereinigt haben, massgebend. Denn es kann vorausgesetzt wer-
den, dass die Flüsse zweier Täler zu einem bestimmten Zeitpunkt an ihrem Zusam-
menfluss auf derselben Höhe lagen. Deshalb ist eine vergleichbare Höhenlage der
Rinnenbasis von zwei Talsystemen ein Hinweis auf deren Gleichaltrigkeit, während
deutliche Unterschiede in der Höhenlage auf eine Heterochronie oder auf neotekto-
nische Vorgänge hindeuten.
Die im Folgenden präsentierten Gewässernetzrekonstruktionen basieren einerseits auf
der heutigen Verbreitung von fluviatilen (bzw. fluvioglazialen) Ablagerungen des jewei-
ligen Zeitabschnitts, und andererseits auf sedimentpetrographisch begründeten Rück-
schlüssen auf das Liefergebiet einer Talfüllung.

Das Gewässernetz der Nordschweiz im Pleistozän


Die heute für das Gebiet der Nordschweiz bestehenden Kenntnisse reichen nicht aus,
um eine flächendeckende lithostratigraphische Gliederung der pleistozänen Ablage-
rungen vorzuschlagen (vgl. Kap. 2.5). Deshalb sind auch die landschaftsgeschicht-
lichen Rekonstruktionen, die seit den Vorschlägen von LINIGER (1966) in diversen
Variationen publiziert wurden (z.B. HOFMANN 1982 und 1996, HANTKE 1984,
SCHINDLER 1985, VILLINGER 1989) mit grossen Unsicherheiten behaftet. Mit Vorbe-
halt werden im Folgenden für vier Abschnitte des Pleistozäns (Höhere Deckenschotter,
Tiefere Deckenschotter, älteste Hochterrasse, Niederterrasse) die generellen Charak-
teristiken des Gewässernetzes kurz beschrieben und in Fig. 3.1d-g dargestellt.

Zeitraum der Höheren Deckenschotter (Fig. 3.1d)


Aufgrund einer detaillierten Untersuchung der Morphologie der Felsoberflächen, auf
denen die Höheren Deckenschotter südlich von Thur und Rhein abgelagert wurden,
konnten mehrere gegenüber der allgemein eher flächenhaften Auflagerungsebene um
30 bis 40 m eingetiefte Rinnen festgestellt werden (GRAF 1993). Von Osten nach
Westen sind es folgende Elemente: Rinne Schöfflisdorf – Siglistorf – Böbikon (= Egg-
Rinne, Basis ca. 520 m ü.M.), Rinne Albis – Heitersberg – Endingen (Basis ca.
530 m ü.M.) und Rinne Mandach – Leibstadt (Basis bisher nicht genau bestimmt, evtl.
457 m ü.M., JÄCKLI AG 1982). In den Deckenschottern des Irchels (Basis ca.
625 m ü.M., Fig. 2.10) ist eine Paläoströmung nach Nordwesten festzustellen. Die Ent-
wässerungsrinnen scheinen also gegen Westen hin allmählich von einer SE-NW- in
eine S-N-Richtung umzuschwenken, während die jeweilige Basis der Rinnen gleich-
zeitig gegen Westen immer tiefer liegt. Dabei bildete der Aargauer Tafeljura zwischen
Mandach und Leibstadt offenbar die Westbegrenzung der Entwässerung des Ost-
schweizer Mittellands, die höchstwahrscheinlich bereits durch das Aare – Donau-
System vorgezeichnet (vgl. Fig. 3.1d) wird.
Im Bodensee – Rhein-Gebiet trat während dieser Phase ein nach Westen entwässern-
des Rhein – Bodensee-System in Erscheinung. Davon zeugen z.B. die höchsten
Schotter des Neuhauser Walds sowie diejenigen des Schiener Bergs zwischen dem
Untersee und dem Hegau (Beil. 2.6, Nr. 16 – 18). Die Entwässerung verlief weiter
durch das heutige Klettgautal in Richtung Waldshut. Die Rinnenbasis senkte sich zwi-
schen Schaffhausen und Waldshut von 550 auf 460 m ü.M. (VERDERBER 1992). Im
Gebiet von Koblenz – Waldshut vereinigten sich die verschiedenen Talzüge, und die
Entwässerung folgte dem heutigen Rheintal in Richtung Basel zum Oberrheingraben.
Die Vorflutbasis des Hochrheins bei Basel lag zu dieser Zeit auf etwa 360 m ü.M. (vgl.
Fig. 5.1 und VERDERBER 1992).
77 NAGRA NTB 99-08

Zeitraum der Tieferen Deckenschotter (Fig. 3.1e)


Nach Ablagerung der Höheren Deckenschotter fand im Gebiet südlich des Hochrheins
eine markante Umgestaltung der Tallandschaft statt, indem die flächenhaft verbreite-
ten Höheren Deckenschotter in einzelne Platten zerlegt wurden. Die neuen Talzüge
entsprachen in ihren wesentlichen Zügen bereits den heutigen. Neu entstanden die
Töss – Irchel-Rinne, die Bachser Rinne, die Gubrist – Baregg-Rinne und eine stark
gewundene Aare-Rinne im heutigen unteren Aaretal. Möglicherweise entstand bereits
in einer späteren Phase der Zeit der Höheren Deckenschotter die Menzinger Rinne,
die seither die neue westliche Fortsetzung der Walensee-Rinne bildete (Fig. 3.1e).

Im Bereich der heutigen Aare-Mündung vereinigten sich die verschiedenen Talzüge,


und das Wasser floss dem Oberrheingraben zu.

Die Tieferen Deckenschotter zwischen Bodensee und Koblenz wurden generell im


gleichen Tal abgelagert wie die Höheren Deckenschotter. Ausser der Höhenlage des
Flussnetzes änderte sich wohl wenig. Wahrscheinlich existierte auch ein Zufluss aus
dem Gebiet der heutigen Thur.

Zeitraum der Hochterrasse (Fig. 3.1f)


Nach der Ablagerung der Tieferen Deckenschotter stellte sich wieder eine markante
Tieferlegung des Entwässerungsnetzes ein. Es entstanden die Rinnen der älteren
Hochterrasse, welche die tiefstliegenden Rinnen des Hochterrassenkomplexes darstel-
len. Bisher sind erst zwei dieser Rinnen mit einiger Sicherheit nachgewiesen. Im Osten
ist es die Klettgau-Rinne (Basis 350 m ü.M. bei Schaffhausen, 320 m ü.M. südlich von
Tiengen) und im Westen die Aare-Rinne, die über das Gebiet der Habsburg (Basis ca.
360 m ü.M.), das Rinikerfeld (Basis ca. 340 m ü.M.), über Würenlingen, Endingen, das
Ruckfeld (Basis ca. 325 m ü.M.) und den Strick bei Leibstadt (Basis ca. 305 m ü.M.)
verlief. Im Bachsertal existierte möglicherweise eine weitere Rinne, die sich Rheintal-
abwärts fortsetzte und bei Koblenz in die Klettgau-Rinne mündete.

Über die damalige Morphologie der Nordostschweiz (Rhein- und Thurgebiet) sind nur
lückenhafte Aussagen möglich. Es scheint, dass das Gebiet des mittleren Thurgaus
damals über eine Ur-Thur gegen Norden zum Rhein hin entwässerte (Buechberg-
Rinne, s. Beil. 2.6 und 2.7). Die Mündung der Thur in den Rhein wäre dann im Bereich
von Diessenhofen gelegen, wobei die Buechbergschotter als Zeugen dieser Phase zu
deuten wären (vgl. Kap. 2.5.6). Die Felsoberfläche im Gebiet unteres Thurtal –
Rheintal liegt heute zwar höhenmässig durchaus in dem Bereich, wie er für ein dama-
liges tiefliegendes Hochterrassental angenommen werden müsste, sie wurde jedoch
später noch mehrfach überprägt. Deshalb dürfte die heutige Felsmorphologie jüngeren
Datums sein. Zudem bestehen Diskrepanzen zu Hochterrassenschotter-Vorkommen,
deren Oberfläche zwar mit den ältesten Hochterrassen im Aare- und Klettgautal korre-
liert werden kann, die aber nach bisherigen Erkenntnissen eine wesentlich höherlie-
gende Felsbasis aufweisen. Aus diesen Gründen kann das Entwässerungsnetz der
ältesten Hochterrasse im Bereich Thurtal – Rheintal zur Zeit nicht sicher rekonstruiert
werden (Fig. 3.1f). Dasselbe gilt auch für das untere Reuss- und Limmattal, worin bis-
her keine Ablagerungen nachgewiesen werden konnten, welche die damalige Existenz
eines tiefliegenden fluviatilen Rinnensystems definitiv belegen. Die Entwässerung der
Walensee-Rinne erfolgte damals über die Menzinger und die Blickensdorfer Rinne in
das heutige Reusstal (s. Fig. 2.15).
NAGRA NTB 99-08 78

Während der Hochterrassen-Zeit entstanden die glazial übertieften Becken des nörd-
lichen Alpenvorlands. Eine zeitliche Beziehung zwischen den tiefsten fluviatilen Rinnen
der Hochterrasse und diesen Becken kann bisher erst an einer Stelle, im Hausener Tal
südlich von Windisch, erfasst werden. Dort durchschneidet die Beckenfüllung des
Reusstals (Seeablagerungen?) die Schotter des Ur-Aaretals (1 in Fig. 3.1f), ist also
jünger. Ob diese Altersbeziehung aber für die gesamte alte Beckenfüllung des Birr-
felds (= "Reusstallehm") gilt, ist bisher nicht klar (s. Fig. 2.15).

Die beschriebene Situation im Hausener Tal markiert eine jüngere Phase der
Hochterrassenzeit, die auch in der übrigen Nordschweiz die Entstehung von etlichen
neuen Rinnen mit sich brachte. So entstand im Bereich Habsburg – Brugg noch eine
weitere Rinne, die südlich des Habsburg-Gebiets nach Westen führte und von dort
nach Norden umbog, um sich mit derjenigen aus dem Hausener Tal zu vereinigen. Die
Fortsetzung verlief über das Rinikerfeld nach Würenlingen und über das westliche
Ruckfeld. Dort mündete ein Zufluss aus dem Surbtal. Gegen Norden verlief die Rinne
über Leuggern in den Bereich des heutigen Rheintals, durchbrach also den vorher zwi-
schen Reuenthal und Koblenz liegenden Felsriegel. Die weitere Fortsetzung dürfte im
heutigen Rheintal gelegen haben. Im oberen Klettgau entstand zusätzlich zur beste-
henden Rinne über Schaffhausen die neue Neuhauserwald-Rinne, die von Süden her
den Kleinen Randen durchbrach.

Die Basis all dieser jüngeren Rinnen liegt deutlich höher als diejenige der älteren
Hochterrassenrinnen. Die Korrelation der Schotterfüllungen der jüngeren Rinnen lässt
auch vorläufige Analogieschlüsse auf das Gebiet des Glatttals sowie des Rheintals ab
dem Rafzerfeld zu. Morphologisch können die Aathalschotter und ihre möglichen Äqui-
valente bei Kloten und auf dem Strassberg bei Stadel mit der Basis dieser jüngeren
Rinnen korreliert werden, ebenso wie die Ablagerungen der mittleren Hochterrasse im
Rheintal. Das Thurtal entwässerte möglicherweise auch in dieser Phase noch nach
Norden, sofern die Ittinger Schotter als zeitliches Äquivalent betrachtet werden (s. Kap.
2.5.6). Die Ur-Töss floss südlich des Irchels über Eglisau nach Westen.

Die sog. Schaffhauser Rinnenschotter markieren einen nächsten Schritt in der Ent-
wicklung des Gewässernetzes. Sie dokumentieren eine erneute markante Tieferlegung
der Felsoberfläche im Bodensee – Rhein-Gebiet. Die Basis der Rinnenschotter liegt
bei Schaffhausen sogar tiefer als die Basis der Klettgau-Rinne (unterhalb 340 m ü.M.,
SCHINDLER 1985). Die Entstehung der heutigen Felsmorphologie im Gebiet des
Rafzerfelds ist möglicherweise dieser Phase zuzuschreiben. In den übrigen Gebieten
ist dieser Entwicklungsschritt bisher noch nicht fassbar, weil in den potenziellen Ver-
breitungsgebieten solcher "Rinnenschotter" die Niederterrasse in ihren eigenen Rinnen
verbreitet ist (Fig. 3.1g).

Zeitraum der Niederterrasse (Fig. 3.1g)


Der Übergang zur Niederterrasse brachte bemerkenswert wenige weitere Umgestal-
tungen im Entwässerungsnetz mit sich. Insbesondere ist es bisher kaum möglich, die
Lage der fluviatilen Erosionsbasis vor der Ablagerung der Niederterrassenschotter
genau anzugeben. Dies zum einen, weil bereits frühere fluviatile Rinnen für die Fels-
morphologie der heutigen Täler verantwortlich sein können (z.B. "Rinnenschotter") und
zum anderen, weil weit ausserhalb des letzteiszeitlichen Maximums am Boden der
Niederterrassen-Rinnen glazigene Ablagerungen vorkommen, wie z.B. im unteren
Aaretal (BITTERLI et al. 2000).
79 NAGRA NTB 99-08

Im Gebiet Glattal – Thurtal – Klettgau kommen die Schotter der Niederterrasse in zwei
Gruppen von Rinnen vor, deren jeweilige Basis in deutlich unterschiedlicher Höhe liegt.
Tiefliegende Rinnen sind diejenigen von Andelfingen – Rafzerfeld, Glattfelden –
Rheinsfelden und Stadel – Rheinsfelden. Hochliegende Rinnen sind die Tösstal-Rinne
Pfungen – Eglisau sowie die Rinne Station Glattfelden – Eglisau. Auch die Rhein-
Rinne oberhalb des Rheinfalls muss als hochliegend betrachtet werden, wenn die
Malmschwelle und die Obergrenze der Rinnenschotter als Bezugspunkt genommen
werden. Die landschaftsgeschichtliche und stratigraphische Bedeutung der unter-
schiedlichen Höhenlage der Rinnen ist bisher noch nicht klar. Möglicherweise äussert
sich hier eine Heterochronie der Rinnenbildung oder eine Mehrphasigkeit der Rinnen-
füllungen (Fig. 3.1g).

Heutiger Zustand (Fig. 3.1h)


Der heutige Verlauf der nordalpinen Flüsse orientiert sich im Wesentlichen an den
Niederterrassentälern. Auffällig sind jedoch zahlreiche epigenetische Talabschnitte, in
denen die Flüsse die lockergesteinserfüllten Rinnen verliessen und ihr Bett in den an-
stehenden Fels einschnitten (z.B. Schaffhausen, Rheinau, Rüdlingen, Beznau etc.).

Viele der mit Schottern der Niederterrasse erfüllten Rinnen sind heute Trockentäler
(z.B. Klettgau). Offenbar wurden von den Schmelzwässern im Maximalstand mehrere
Abflusswege gleichzeitig (bzw. alternierend) benutzt, je nachdem, ob eine bestimmte
Gletscherzunge an mehrere bestehende Talläufe angrenzte. Die akkumulierenden
"Braided-River"-Systeme (verflochtene Flusssysteme) der Gletschervorfelder waren
ebenfalls in der Lage, mehrere Talläufe gleichzeitig aufzuschottern. Beim Gletscher-
rückzug mussten sich die nun dominant erosiv wirkenden Schmelzwässer dann quasi
für einen bestimmten Entwässerungsweg entscheiden, und die übrigen Rinnen wurden
demzufolge zu Trockentälern.

Die Flusssohle der Haupttäler liegt heute deutlich höher als die Rinnenbasis der Fels-
oberfläche in den Haupttälern. Dies illustriert die zuvor gemachte Bemerkung, dass die
Lage der Rinnenbasis nur als Näherung für einen Gleichgewichtszustand zu verstehen
ist. Die beim Gletscherrückzug kurzfristig anfallenden riesigen Schmelzwassermengen
bewirkten offenbar in der Nähe des Schüttungszentrums ein steileres Sohlgefälle als
es warmzeitliche Flüsse aufweisen. Dadurch wurde dieser Bereich der Täler quasi
"übertieft" und stellte anschliessend in Anpassung an die Strömungsverhältnisse der
warmzeitlichen Flüsse vorübergehend eine Sedimentfalle dar.

Im Klartext bedeutet diese ganze Terrassengeschichte, dass das heutige und jüngst-
pleistozäne Tal- oder Erosionsniveau im Bereich der Haupttäler z.T. deutlich höher
liegt als ältere Talniveaus (Hochterrasse). Dies bedeutet, dass der generelle, langfris-
tige Trend zur Tieferlegung der lokalen Erosionsbasis von der Deckenschotter- über
die Hochterrassen- bis zur Niederterrassen-Zeit von kurzfristigen Schwankungen über-
lagert wird, die diesem Trend zuwiderlaufen. Die Herleitung von Hebungsraten mithilfe
der Interpolation von Terrassenniveaus muss also einen grösseren Zeitraum von min-
destens einigen Eiszeiten (oder mehreren 100'000 Jahren) umfassen, um verlässliche
Aussagen zu ergeben.
NAGRA NTB 99-08 80

3.3.3 Alte Talniveaus und heutige Erosionsbasis

Im vorliegenden Kapitel wird versucht, die Kenntnisse über die alten Talniveaus im
Hinblick auf eine quantitative, neotektonische Aussage auszuwerten.

Mit überhöhten Übersichtsprofilen durch die Nordschweiz (s. Beil. 3.1) sollen die
Niveaudifferenzen zwischen dem heutigen und älteren Talniveaus veranschaulicht und
neotektonisch interpretiert werden. Gemäss generellem Konzept sollte sich aus der
Höhendifferenz zwischen dem rezenten Talboden (≈ heutige Erosionsbasis) und einem
älteren Talniveau geteilt durch den Altersunterschied, eine gemittelte Hebungsrate
ableiten lassen. Diese lineare Interpolation impliziert einen kontinuierlichen Prozess,
wie er durch die sukzessive Tieferlegung der plio-pleistozänen Talböden angezeigt
wird; dieser kann sich im Einzelnen aber aus Zeitabschnitten mit unterschiedlichen
Hebungsgeschwindigkeiten zusammensetzen. Lokale Unterschiede der Hebungsge-
schwindigkeiten, wie sie z.B. diesseits und jenseits von aktiven Störungen erwartet
werden, sind mit diesem Vorgehen kaum erfassbar, es können aber regionale Trends
aufgezeigt werden.

Die Ausführungen in Kap. 3.3.2 zeigen, dass die Definition und regionale Korrelation
sowie besonders die Alterseinstufung von plio-pleistozänen Talniveaus viele Unsicher-
heiten enthält. Dennoch sind die Kenntnisse heute soweit fortgeschritten, dass sie für
eine grobe quantitative Analyse ausreichen. Die folgenden drei Talniveaus wurden
berücksichtigt (Tab. 3.1) und – soweit überhaupt Daten vorhanden sind – auf den Pro-
filen in Beil. 3.1 eingezeichnet.

Tab. 3.1: Verwendete plio-pleistozäne Talniveaus

Talniveau Alter Epoche

Aare – Donau ca. 5 Millionen Jahre Pliozän

Ostschweizer Gipfelflur ca. 2.5 Millionen Jahre Grenze Plio-/Pleistozän

Höhere Deckenschotter ca. 2 Millionen Jahre Pleistozän

Das Niveau der Aare – Donau bezieht sich im Wesentlichen auf zwei hochgelegene
Restschotter auf dem Villiger Geissberg (Beil. 3.1, Profil A, ca. 600 m ü.M.) und auf
dem Eichberg bei Blumberg (Beil. 3.1, Profil B, ca. 900 m ü.M.), deren Mindestalter
gemäss den Ausführungen in Kap. 3.3.2 bei etwa 5 Millionen Jahren liegen dürfte (s.
auch Beil. 2.6).

Die heutige Ostschweizer Gipfelflur wird korreliert mit dem Geländeniveau, das etwa
die Wende vom Plio- zum Pleistozän markiert, d.h. der Erosionsbasis zu Beginn der
quartären Vorlandvereisungen entspricht. Zu dieser Zeit dürfte die Durchtalung des
nördlichen Alpenvorlands noch wesentlich geringer gewesen sein als heute, so dass
grob vereinfachend ein ausgedehntes Flachland mit nur mässig definierten Talläufen
angenommen werden kann. Im Verbreitungsgebiet der Höheren Deckenschotter ent-
spricht diese Gipfelflur zudem grob den höchsten Lagen dieser altquartären Schotter
selbst.
81 NAGRA NTB 99-08

Eine Ermittlung von Hebungsraten mithilfe dieser Gipfelflur als ca. 2.5 Millionen Jahre
altes Talniveau ergibt nur im Bereich der Molasse sinnvolle Resultate. Im Tafeljura
(Randen) und wahrscheinlich auch im benachbarten Schwarzwaldkristallin, wo der
Felsuntergrund wesentlich erosionsresistenter ist, dürfte schon zu Beginn des Quar-
tärs eine ausgeprägte Durchtalung geherrscht haben, und es muss deshalb angenom-
men werden, dass die heutige Gipfelflur dort wesentlich älter ist (vgl. z.B. HOFMANN
1996).

Die Deckenschotter der Nordostschweiz bilden die höchsten Lagen auf den Molas-
sehöhen, die sich zwischen dem Bodensee und Koblenz beidseits des Hochrheins bis
zu 350 m über das heutige Talniveau erheben. Wie die Übersichtsprofile in Beil. 3.1
zeigen, liegen sie in einer Höhe etwa zwischen dem Niveau der heutigen Gipfelflur, die
teilweise durch die Höheren Deckenschotter selbst bestimmt wird, und etwas mehr als
der halben Distanz bis zur heutigen Erosionsbasis. Die Höheren Deckenschotter des
Irchels, von wo die bisher einzige biostratigraphische Datierung stammt (BOLLIGER et
al. 1996), müssen an ihrer Basis mindestens 2 Millionen Jahre alt sein (s. Fig. 2.10
und 2.7). Im Sinne einer vorsichtigen Schätzung dient deshalb im Folgenden die Ober-
fläche der Deckenschotter als Zeitmarke für 2 Millionen Jahre und demzufolge die
halbe Distanz bis zur heutigen Erosionsbasis als Zeitmarke für eine Million Jahre, wie
das bei einer kontinuierlichen Entwicklung vorausgesetzt werden darf.

Die mithilfe der verschiedenen Talniveaus ermittelten Hebungsraten sind in Beil. 3.1
als farbig hinterlegte Zahlenwerte entlang der Profile eingetragen. Diese Werte wurden
in Fig. 3.2 übertragen und mit Linien gleicher Hebungsraten korreliert. Dies ergibt eine
Karte der mit geologischen Kriterien ermittelten Hebungstendenzen im Quartär des
Nordschweizer Alpenvorlands. Die Hebungsrate für den Zeitraum der letzten 10 Millio-
nen Jahre (Wendepunkt Molassesedimentation/Erosion, s. Kap. 4.4.4) wurde aufgrund
thermischer Reifeparameter und Spaltspuren aus den Daten der Tiefbohrungen
Weiach, Benken und Herdern-1 ermittelt (LEU et al. 2001). Die Resultate wurden in
Beil. 3.1 und Fig. 3.2 integriert, wobei zwischen Werten in Bezug auf die Oberfläche
der Höheren Deckenschotter, die heutige Gipfelflur, das pliozäne Aare –Donau-Niveau
und die postmolassische Hebung unterschieden wird.

Die auf die Profillinien in Beil. 3.1 projizierten Schotter und Hügelkuppen beziehen sich
auf einen Korridor von ca. 10 km Breite, womit gewisse Ungenauigkeiten in Kauf
genommen werden. Für einen Vergleich mit den rezenten Bewegungen sind auf dem
Profil A noch die Relativbewegungen der Landesnivellement-Punkte eingetragen. Im
Folgenden werden die Profile von Beil. 3.1 kurz kommentiert.

Übersichtsprofil Feldberg – Aare/Limmat – Zürichsee/Albis


Das Profil A gliedert sich in 2 Abschnitte, nämlich die Südabdachung des Schwarz-
walds mit einem durchschnittlichen Gefälle zwischen Feldberg und Hochrhein von ca.
35 ‰ und das Aare-Limmattal mit ca. 2.5 ‰ Gefälle auf der Strecke Zürich – Waldshut
(Beil. 3.1, Profil A).

Das Tal der Aare – Limmat vom Hochrhein bei Waldshut bis zum mittleren Zürichsee
ist beidseits begleitet von zahlreichen hochgelegenen Schotterrelikten, die z.T. von
GRAF (1993) im Einzelnen beschrieben wurden (vgl. Kap. 2.5.5). Im unteren Limmat-
und im Aaretal liegen die Höheren Deckenschotter häufig auf den höchsten Molasse-
höhen, so dass ihre oft von jüngeren Moränen bedeckten Höhen hier gleichzeitig die
heutige Gipfelflur bilden. Einzig der Höhenzug der Mandacher Aufschiebung mit dem
NAGRA NTB 99-08 82

Geissberg, auf welchem die erwähnten Restschotter der Aare – Donau vermutet wer-
den, sowie die Lägerenkette überragen die übrigen Höhen deutlich. Ob dies auf unter-
schiedliche Verwitterungsresistenz oder neotektonische Hebung entlang der bekann-
ten Aufschiebungen zurückzuführen ist, bleibt vorläufig offen. Auffallend ist auch, dass
das Gefälle der Höheren Deckenschotter-Oberfläche zwischen dem Aare – Limmattal
und Zürich, d.h. dem Deckenschotter des Üetlibergs deutlich ansteigt. Es stellt sich
deshalb die Frage, ob diese Übersteilung der Höheren Deckenschotter-Oberfläche
neotektonisch interpretierbar ist oder aber ob die Höheren Deckenschotter des Üetli-
bergs lediglich einem höheren, d.h. älteren Talniveau angehörten als die Höheren
Deckenschotter des mittleren Limmattals (vgl. auch HEIM 1919).

Die auf diesem Profil ermittelten Hebungsraten nehmen vom Albis (ca. 200 m/Ma) bis
zum Hochrhein (ca. 85 m/Ma) relativ kontinuierlich ab.

Die Südabdachung des Schwarzwalds im Profil der Schwarza zeigt ein stark übersteil-
tes Relief, das mit Sicherheit Ausdruck junger Hebungsbewegungen ist. Das maximale
Gefälle der Gipfelflur im Abschnitt zwischen Bözberg (D) und Waldshut ist möglicher-
weise auf eine die Hebungszone des Schwarzwalds begrenzende, neotektonisch
aktive Flexurzone zurückzuführen (vgl. DIEBOLD & MÜLLER 1985).

Der Verlauf der maximalen glazialen Übertiefung zeigt, dass v.a. das Aare – Reusstal
durch die Gletscher massiv erodiert wurde; die tiefe Felsrinne endet aber etwa im Be-
reich der Mandacher Aufschiebung, diejenige des Zürichsee – Limmattals schon süd-
lich von Wettingen, d.h. vor dem Durchbruch durch die Lägerenkette.

Übersichtsprofil Randen – Zürcher Weinland – Winterthur – Hörnli


Das Profil B führt vom oberen Wutachtal (Blumberg) über den oberen Klettgau, das
Zürcher Weinland und untere Thurtal bei Andelfingen über Winterthur ins Tösstal und
ins Hörnligebiet hinein (Beil. 3.1, Profil B). Das übersteilte Relief des Hohen Randens
und des Hörnligebiets kommt klar zum Ausdruck, wobei der Verlauf der Gipfelflur zwi-
schen dem Schauenberg am Rand des Hörnligebiets und dem Thurtal eventuell etwas
höher liegen sollte.

Vom mittleren Klettgau bis zum Thurtal besitzt die regionale Erosionsbasis praktisch
kein Gefälle; es ist dies der Raum, in welchem die pleistozäne Hauptentwässerung des
Rheins pendelte. Diese Ebene wird überragt vom Kleinen Randen (Wannenberg) und
den von Deckenschotterresten bedeckten Höhen des Buechbüels, Cholfirsts und v.a.
des Irchels. Extrem sind die Höhenunterschiede zum Hohen Randen, der den benach-
barten Klettgau um ca. 450 m überragt. Dies ist v.a. auf die hohe Erosionsbestän-
digkeit der Jurakalke zurückzuführen, weshalb sich der Randen auch schon früh topo-
graphisch aus seiner Umgebung herausgehoben haben dürfte (vgl. HOFMANN 1996).
Die Gipfelflur des Randens kann deshalb nicht mit der präquartären Landoberfläche
gleichgesetzt werden.

Der Klettgau sowie das Zürcher Weinland um die Sondierbohrung Benken liegen
schon ausserhalb der grossen Übertiefungen, während das Thurtal im Profilschnitt
noch eine nicht genau bekannte Quartärbasis von < 70 m ü.M. hat (Aufzeitbohrung
Dättwil, HALDIMANN et al. 1992).

Zwischen dem mittleren Wutachtal und dem unteren Tösstal betragen die abgeleiteten
Hebungsraten maximal 120 m/Ma, im Gebiet Schaffhausen – Klettgau weisen die
Werte mit ca. 60 bis 80 m/Ma ein deutliches Minimum auf.
83 NAGRA NTB 99-08

Der Wert von 180 m/Ma beim Hörnli dürfte tendenziell eher etwas zu hoch sein, weil
der zentrale Hörnlischuttfächer mehrheitlich aus relativ verwitterungsresistenten Sand-
steinen und Nagelfluhen besteht, während die Molasseunterlage der umliegenden Ge-
biete viel höhere Mergelanteile enthält und deshalb bedeutend rascher eingeebnet
werden kann.

Im Bereich der Nordostschweiz ist relativ deutlich eine Konvergenz zwischen Basis
und Top der Deckenschotter zu sehen, welche die Abnahme der lokalen Hebungen
von Südosten nach Nordwesten nahelegt, wie das auch durch die Nivellementdaten (s.
Beil. 3.2 und 3.3) angezeigt wird.

Übersichtsprofil Donautal – Hegau – Thurgau – Toggenburg


Dieser Profilschnitt C durch das Nordostschweizer Mittelland (Beil. 3.1, Profil C) zeigt
auf den ersten Blick ähnliche Verhältnisse wie die Profile A und B. Auffallend ist jedoch
der vergleichsweise kleine Abstand zwischen Gipfelflur und rezenter Erosionsbasis im
Hegau, der auf minimale Hebungsraten schliessen lässt; einzig die verwitterungsresis-
tenten Schlote der Hegau-Vulkane überragen die Landschaft um 100 bis 200 m. Mögli-
cherweise hat auch der mehrfach bis dorthin vorgestossene Bodenseegletscher für
eine gegenüber den randlichen Bereichen nachhaltigere, flächenhafte Erosion gesorgt.
Dazu kommt, dass die im Hegau anstehenden Glimmersande häufig nur unvollständig
verfestigt sind und deshalb eher flächenhaft erodiert werden konnten. Andererseits
verläuft das Profil nordwestlich des Schiener Bergs im Bereich des Hegau – Boden-
see-Grabens. Dort sind neotektonische Absenkungen zwar nicht direkt nachgewiesen,
aber doch naheliegend (s. auch Kap. 3.4) und könnten deshalb ein weiterer Grund für
die scheinbar minimalen Hebungsraten sein.

Im Querschnitt des Thurgaus zwischen Schiener Berg – Untersee und der Heid wer-
den durchwegs Hebungsraten von > 100 m/Ma ermittelt mit einem scheinbaren Maxi-
mum etwa über dem Seerücken. Erst im unteren Toggenburg, am Südostrand des
Profils, zeigt der Verlauf der rezenten Erosionsbasis und der Gipfelflur wieder eine
deutliche Divergenz und damit in Richtung Alpenfront ansteigende Werte an.

Zusammenstellung der ermittelten Hebungsraten


Fig. 3.2 gibt einen Überblick der mithilfe alter Talniveaus, d.h. geologischer Methoden
über grössere Zeiträume gemittelten Hebungsraten. Mit wenigen Ausnahmen zeigt
sich ein erstaunlich konsistentes Bild mit Werten von minimal 60 bis 80 m/Ma im Raum
Tafeljura – Hochrhein – Klettgau, die nach Südosten generell ansteigen. Dem Alpen-
rand entlang dürfte die Hebungsrate im betrachteten Gebiet durchwegs grösser als
200 m/Ma sein.

Insgesamt ergibt sich eine gute Datenkonsistenz, v.a. der mit quartären Talniveaus
ermittelten durchschnittlichen Hebungsraten; die aus Maturitätsstudien in Tiefbohrun-
gen ermittelten Hebungs-/Erosionsraten wurden allerdings über eine 10 Millionen
Jahre dauernde Zeitspanne (Miozän bis rezent) ermittelt (Fig. 2.3), passen aber gut mit
den aus den Profilen in Beil. 3.1 für das Plio-Pleistozän abgeleiteten Werte überein.
Für letztere wurde angenommen, dass die von LEU et al. (2001) berechneten Mächtig-
keiten der bereits wieder erodierten Molasseablagerungen über einen Zeitraum von ca.
10 Millionen Jahren sukzessive abgetragen wurden (vgl. Kap. 4.4.4). Unter der
Voraussetzung, dass die regionale Hebung des Gebiets durch die lokale Erosion lau-
fend kompensiert wird, lassen sich die in Fig. 3.2 eingetragenen durchschnittlichen
NAGRA NTB 99-08 84

Hebungsraten von 100 m/Ma für die Sondierbohrung Weiach, 100 m/Ma für Benken
(hypothetische Datengrundlagen) und 125 m/Ma für Herdern-1 ableiten. Das detaillier-
te Vorgehen für die Rekonstruktion der alten Talniveaus und der daraus abgeleiteten
Hebungsraten ist in NAEF (1999a) beschrieben. Die Genauigkeit dieser Resultate liegt
im Bereich von ± 20 – 30 %.

680 720
Legende
Schätzung der mittleren Hebungsraten
Feldberg (m/Ma) aufgrund:
Postmolassischer Hebung mit
Blumberg
100 Maturitätsstudien in Tiefbohrungen
120 (LEU et al. 2001)
m
0m
70 Interpolation zwischen Aare – Donau
80
10 70
ch

0m und Erosionsbasis Rhein bei Koblenz


ta

90 12
Wu

75 125 Interpolation zwischen Basis Höhere


100 75 Deckenschotter und rezenter
m 135 Erosionsbasis
0
280 15 60
80 110 130
Bodensee Interpolation zwischen heutiger
m 100 65
80 130 Gipfelflur und rezenter Erosionsbasis
125
85 90 105 Thu Linien gleicher Hebungsrate gegenüber
80 Rhein 120 r der heutigen Erosionsbasis in m/Ma
100 m 105
100
100
120 90
70 115 Tö
50 m 120 120
ss
120
125
160 110
135 150
Aare Lim
ma
160 t 180 150 m

Hörnli
200 m
Re
us

190 170
240
s

Zürichsee
200
20 km

Fig. 3.2: Hebungsraten nach geologischen und geomorphologischen Kriterien (Zeit-


raum: Pliozän – Pleistozän)

3.4 Geodätische Untersuchungen

3.4.1 Analysen des Landesnivellements

Das landesweite Netz der Nivellementlinien wurde zwischen 1903 und 1930 erstellt
und durch das Bundesamt für Landestopographie erstmals vermessen. Seit 1943
werden die Linien sukzessive nachgemessen. Aufgrund dieser Nachmessungen erga-
ben sich erste konkrete Hinweise auf rezente, vertikale Krustenbewegungen in der
Schweiz. JEANRICHARD (1972) konnte zeigen, dass sich der Alpenraum gegenüber
dem Mittelland und dem Jurasüdfuss relativ hebt. Mit zunehmender Datendichte
konnte das Bild wesentlich verfeinert werden (GUBLER 1976 und 1991, SCHLATTER
1999). Die aktuellste Darstellung der rezenten Vertikalbewegungen zeigt eine sehr
deutliche Hebungszone mit Werten bis zu 1.5 mm/a im Raum der Zentralalpen (oberes
Rhonetal, Vorder- und Hinterrheintal) und im Engadin (s. Fig. 3.3). Alle Messungen
des Landesnivellements beziehen sich auf den vom Bundesamt für Landestopographie
gewählten Referenzpunkt bei Aarburg.
85 NAGRA NTB 99-08

Vom Alpenkamm bis ins Mittelland nehmen die Werte der relativen jährlichen Höhen-
änderungen deutlich ab. Im Gebiet des Westschweizer Juras (Delémont bis Genf) zei-
gen die Daten sogar mehrheitlich Senkungstendenzen an. Vielleicht steht dieses Sen-
kungsgebiet mit der von SCHLANKE et al. (1978) postulierten südlichen Fortsetzung
des Rheingrabens und der Raurakischen Senke in Zusammenhang (s. auch DIEBOLD
& MÜLLER 1985).

3.4.1.1 Durchgeführte Arbeiten

Im Jahre 1982 wurde das Bundesamt für Landestopographie von der Nagra beauf-
tragt, alle zur Verfügung stehenden Nivellementdaten des Nagra-Untersuchungsge-
biets Nordschweiz zu analysieren, um daraus detaillierte Kenntnisse der rezenten
Kinematik der obersten Kruste in der Nordschweiz abzuleiten. Das näher zu untersu-
chende Netz des Landesnivellements umfasste die Linien erster und zweiter Ordnung:
Hägendorf – Olten – Brugg – Baden – Kaiserstuhl, Aarburg – Olten – Pratteln – Basel,
Pratteln – Koblenz – Kaiserstuhl, Koblenz – Brugg und Stein – Bözberg – Brugg. Die
erste Messung dieser Linien erfolgte zwischen 1906 und 1930, die zweite zwischen
1949 und 1982. Alle Messpunkte wurden zudem geologisch auf ihre Langzeitstabilität
hin beurteilt, wobei von den mehr als 280 untersuchten Messpunkten immerhin 190 als
stabil betrachtet wurden. Als Referenzpunkt für das Nagra-Netz Nordschweiz wurde
eine im Gneis bei Laufenburg fundierte Punktserie gewählt. Die Resultate (GUBLER et
al. 1984) zeigten Senkungszonen im Gebiet zwischen Schwaderloch und Rekingen
(-0.2 – -0.3 mm/a) sowie Hebungen im Raum Wildegg bis Baden (0.1 – 0.3 mm/a). Die
Resultate der über den Hauenstein verlaufenden Linie mussten hingegen angezweifelt
werden, weil bei den Erstmessungen im Jahre 1911 Messlatten mit Holzkörpern ver-
wendet wurden.

Da für das kinematisch-tektonische Konzept nicht nur Daten aus der Nordschweiz von
Interesse sind, sondern auch solche aus dem umliegenden Raum, wurden die geodä-
tischen Untersuchungen auch auf die angrenzenden Gebiete von Baden-Württemberg
(Südschwarzwald bis Bodensee) erweitert. Ein entsprechender Auftrag wurde an das
Geodätische Institut der Universität Karlsruhe (Leitung Prof. Mälzer) vergeben. Die
Resultate (MÄLZER et al. 1988) zeigten gegenüber dem Referenzpunkt Laufenburg
Hebungen im Südschwarzwald (Höllental) von etwa 0.3 mm/a, Senkungen zwischen
Neustadt und Waldshut (-0.3 mm/a) sowie stärkere Absenkungen im Raum Donau-
eschingen – Tuttlingen – Stockach (< -0.5 mm/a). Im Bodensee-Gebiet gehen die
Senkungen in eine Hebungstendenz von 0.2 mm/a über. Die von DEMOULIN et al.
(1998) im Südschwarzwald durchgeführten Untersuchungen ergaben ein ähnliches
Bewegungsbild.

In einem Gemeinschaftsprojekt zwischen der SBB, der Landestopographie und der


Nagra wurde 1991 die Neumessung der Hauensteinlinie (inkl. der beiden Bahntunnels)
durchgeführt. Die Auswertungen (SCHNEIDER et al. 1992) sämtlicher Nivellement-
messungen seit 1911 zeigten, dass sich Messpunkte am Jurasüdfuss und im Falten-
jura relativ gegenüber den Punkten im Tafeljura um 0.2 bis 0.4 mm/a heben. Diese
Aussagen gelten auch für die Relativbewegung zwischen dem südlichen und nördli-
chen Portalbereich des Hauensteinbasistunnels. Die Untersuchungen bestätigten auch
die oben erwähnte Vermutung, dass die Messungen von 1911, bei denen noch Holz-
latten verwendet wurden, durch einen systematischen Fehler verfälscht sind.
NAGRA NTB 99-08 86

Fig. 3.3: Netz des schweizerischen Landesnivellements mit rezenten Höhenände-


rungen (SCHLATTER 1999)
87 NAGRA NTB 99-08

Mit den erwähnten Studien wurde das Untersuchungsgebiet im Kristallin der Nord-
schweiz abgedeckt. Für die neotektonische Beurteilung des erweiterten Gebiets Opali-
nuston fehlten jedoch die Auswertungen von Messdaten aus der Nordostschweiz. Aus
diesem Grund beauftragte die Nagra im März 1998 das Bundesamt für Landestopo-
graphie, die Nivellementmessungen der Nordostschweiz systematisch aufzuarbeiten
und gemeinsam mit den schon vorhandenen Daten der Nordschweiz auszuwerten.
Das Landeshöhennetz der Nordostschweiz umfasst die Linien Weiach – Schaffhausen
– Stein – Rorschach – St. Gallen – Wattwil – Pfäffikon – Zürich, Zürich – Frauenfeld –
Steckborn, Eglisau – Frauenfeld – Lütisburg, Neuhausen – Hallau und Zürich – Baden
(Beil. 3.2).

3.4.1.2 Klassifizierung der Messpunkte


Jeder Messpunkt wurde aufgesucht und aufgrund geologischer und geodätischer
Kriterien auf seine Langzeitstabilität beurteilt (vgl. SCHLATTER 1999). Messpunkte,
die an einem auf Fels fundierten Gebäude oder Bauten angebracht waren, die keine
sichtbaren Schäden (Risse) aufwiesen oder Punkte im Fels wurden am höchsten klas-
siert. Bei Bauten, die auf Lockergesteinen fundiert waren, wurde aufgrund geolo-
gischer Karten oder Feldbeobachtungen der Lockergesteinstyp, dessen Hanglage und
die Stabilität beurteilt, wobei bei all diesen Nivellementmesspunkten die berechneten
Hebungsgeschwindigkeiten wegen der Kompaktion und der Hanglage einen Wert
angeben, der kleiner oder bestenfalls gleich der realen Hebungsrate ist. Relativ zuver-
lässige Werte der aktuellen vertikalen Krustenverstellungen erhält man nur bei Mess-
punkten, die im ungestörten Fels oder an bzw. auf Fels fundierten Gebäuden ange-
bracht sind und keine sichtbaren Schäden aufweisen.
Aufgrund dieser Beurteilung zeigte sich, dass im erweiterten Untersuchungsgebiet
Nord- bis Nordostschweiz nur ca. 15 – 20 % der insgesamt ca. 6'000 Messpunkte für
die neotektonische Interpretation verwendet werden können. Alle Höhenänderungen
beziehen sich auf den Referenzpunkt bei Laufenburg. Mit diesem Datensatz können
signifikante Vertikalbewegungen der obersten Kruste der letzten 50 – 90 Jahre erfasst
werden. Eine detaillierte Beschreibung der kinematischen Ausgleichung der Landes-
nivellementlinien, eine Auflistung aller Messpunkte mit der geologischen Beurteilung
und eine Übersicht über die Ergebnisse der geodätischen Messungen finden sich in
SCHLATTER (1999).

3.4.1.3 Darstellung der Resultate


Im Übersichtsplan 1:200'000 (Beil. 3.2) wurden die wesentlichen Resultate der kinema-
tischen Ausgleichung der in Kap. 3.4.1.1 erwähnten Landesnivellementlinien in Form
von Bewegungsvektoren mit Standardabweichung dargestellt. Aus Platzgründen
konnten nicht alle Messpunkte eingetragen werden. Von einer Punktgruppe wurde
jeweils nur der repräsentativste Wert verwendet. Messpunkte mit ungenügender geo-
dätisch/geologischer Qualifikation blieben im Allgemeinen unberücksichtigt. Der Plan
enthält aber auch viele Messpunkte, die an Bauten angebracht wurden, die auf Locker-
gesteinen fundiert sind.
Im Übersichtsplan 1:400'000 (Beil. 3.3) sind neben den schweizerischen Daten auch
die süddeutschen Resultate von MÄLZER et al. (1988) auf einer tektonischen Über-
sichtskarte dargestellt. Auf Schweizer Seite wurden aus Gründen der Übersicht nur
Punkte mit hoher Klassifizierung aufgenommen. In Punktgruppen mit mehreren klas-
sierten Punkten wurde nur ein Geschwindigkeitsvektor dargestellt.
NAGRA NTB 99-08 88

Die Ergebnisse der Nivellementmessungen zeigen gegenüber dem gewählten Refe-


renzpunkt bei Laufenburg Gebiete mit deutlichen Hebungstendenzen sowie solche mit
stagnierenden bis sinkenden Tendenzen, die im Einzelnen nachstehend diskutiert wer-
den.

Hebungszone: Westliches Bodenseeufer


Am auffälligsten sind signifikante Hebungen entlang des Westufers des Bodensees
(Beil. 3.2) zwischen Arbon (TG 291) und Bottighofen (TG 246). Auf dieser Strecke
ergaben sich fast ausschliesslich Hebungsraten von über 0.4 mm/a, wobei die höch-
sten Werte von bis zu 0.56 mm/a (TG 275) für die Messpunkte in Romanshorn
bestimmt wurden. Dabei muss erwähnt werden, dass die meisten dieser Punkte an
Gebäuden angebracht sind, die auf Lockergesteinen fundiert sind, so dass die He-
bungsgeschwindigkeiten Minimalwerte darstellen dürften. Die in dieser Zone ermittel-
ten Hebungsgeschwindigkeiten von über 0.5 mm/a sind die höchsten gemessenen
Werte im Schweizerischen Mittelland, solche hohen Hebungsraten finden sich sonst
nur im voralpinen und alpinen Gebiet.

Von Bottighofen über Kreuzlingen und entlang des Untersees zum Rhein hin nehmen
die Hebungsraten kontinuierlich ab, erreichen bei Steckborn (TG 197) noch Werte
über 0.2 mm/a, bei Stein am Rhein 0.13 mm/a (SH 78) und sind bei Diessenhofen mit
0.05 mm/a (TG 157) nicht mehr signifikant.

Hebungszone: Steckborn – Frauenfeld – Winterthur – Tagelswangen – unteres


Toggenburg (Ganterschwil) – St. Gallen – Rorschach
Die Hebungszone des westlichen Bodensees scheint sich, wenn auch in etwas abge-
schwächter Form, nach Westen fortzusetzen, im Norden bis ins Gebiet Winterthur –
Tagelswangen und im Süden bis ins untere Toggenburg. Werden in dieser Region nur
die als zuverlässig klassierten Messpunkte bei Frauenfeld (TG 11: 0.24 mm/a, TG 4:
0.25 mm/a), Winterthur (ZH 332a: 0.28 mm/a), Kemptthal (ZH 321: 0.23 mm/a),
Tagelswangen (ZH 317: 0.21 mm/a), Müllau (SG 302: 0.23 mm/a), Lütisburg (SG 295:
0.27 mm/a), Bütschwil – Ganterschwil (SG 361: 0.23 mm/a), Bruggen bei St. Gallen
(SG 276: 0.29 mm/a) und Rorschach (SG 243: 0.36 mm/a) betrachtet, so sind alle
berechneten Hebungsraten signifikant und liegen deutlich über 0.2 mm/a.

Geringe Hebungen im Raum mittleres Toggenburg – Ricken


Im Toggenburg sind alle in Beil. 3.2 eingetragenen Messpunkte als zuverlässig klas-
siert, die ermittelten Hebungsraten können daher als real betrachtet werden. Über den
Ricken hinweg kann jedoch nur der Wert bei Neuhaus (SG 398: 0.13 mm/a) als ver-
lässlich betrachtet werden. Die Senkung auf dem Ricken (SG 389: -0.19 mm/a) muss
jedoch in Frage gestellt werden, da der Messpunkt erst zweimal gemessen wurde und
die erste Messung noch mit den alten Holzlatten erfolgte, die keine zuverlässigen
Daten lieferten.

Im Toggenburg, südlich von Bütschwil gegen Wattwil und über dem Ricken sind die
Vertikalbewegungen deutlich niedriger als im Bodenseeraum, sie liegen zwischen
0.06 mm/a bei St. Loretto (SG 374), 0.16 mm/a bei Liechtensteig (SG 379), 0.09 mm/a
bei Wattwil (SG 387) und 0.13 mm/a bei Neuhaus (SG 398).
89 NAGRA NTB 99-08

Senkungszone: Neuhausen – Schaffhausen – Klettgau


Die neun als gut taxierten Messpunkte in Schaffhausen (auf Fels fundierte Gebäude)
und die beiden Punkte in Neuhausen zeigen deutliche Senkungstendenzen mit Werten
zwischen -0.05 mm/a (SH 33) und -0.15 mm/a (SH 10). Im Klettgau gibt es nur einen
verlässlichen Messpunkt zwischen Beringen und Neunkirch, der in verkitteten Mittleren
Klettgauschottern verankert ist (SH 62: -0.04 mm/a). Die Messpunkte (SH 66 und
SH 73) in Neunkirch (Schwemmlehm) und Hallau (Gehängelehm, Steillage) können
nicht für eine neotektonische Interpretation benutzt werden.
Von Schaffhausen in Richtung Osten gegen Langwiesen sowie gegen Singen scheint
die Senkungstendenz anzuhalten.

Hebungszone: Rafzerfeld – Weiach – Kaiserstuhl – Siglistorf


Die meisten als gut klassierten Messpunkte zeigen in diesem Gebiet Hebungsraten
zwischen 0.11 und 0.19 mm/a. Auffallende Ausnahmen bilden aber die beiden Punkte
ZH 232 (Seglingen/Eglisau) und ZH 251 (Flach/Rüdlingen) mit signifikanten Hebungs-
raten von 0.25 bzw. 0.40 mm/a. Beide Punkte sind an Brückenwiderlagern angebracht,
die direkt auf der Unteren Süsswassermolasse fundiert wurden. Lokale Störungen sind
keine bekannt (AMMANN 1992). Möglicherweise wurde bei Renovationsarbeiten die
Lage der Punkte verändert.

Leichte Hebungstendenz im Zürcher Weinland


Im Norden grenzt das Zürcher Weinland an das Senkungsgebiet Neuhausen – Schaff-
hausen – Langwiesen. Gegen Osten entlang des Rheins ist eine Tendenz leicht zu-
nehmender Hebungen ersichtlich (Diessenhofen TG 157: 0.05 mm/a, Rheinklingen TG
169: 0.10 mm/a, Stein am Rhein SH 78: 0.13 mm/a). Gegen Süden zeigen die Daten
eine signifikante Zunahme der Hebungsraten an (Niederneunforn TG 34: 0.16 mm/a,
Ossingen ZH 266: 0.19 mm/a, Andelfingen ZH 257: 0.10 mm/a, Flaach ZH 253a:
0.20 mm/a). Diese Tendenz setzt sich gegen die Hebungszone Winterthur – Frauen-
feld fort.

Stagnierende bis leichte Senkungstendenzen im Gebiet nördlich des Faltenjuras


(Tafeljuras)
Sehr auffällig ist, dass sich zwischen der Hauptüberschiebung des Faltenjuras und
dem Rhein im Gebiet des Tafeljuras von Liestal über das untere Aaretal bis ins Gebiet
nördlich der Lägeren (Neerach) eine breite, tektonisch stabile Zone abbildet, in der
stagnierende oder leicht sinkende Bewegungen vorherrschen. Eine Besonderheit bil-
den die Messpunkte im Gebiet von Klingnau – Koblenz – Zurzach, in welchem deutlich
stärkere Senkungen festgestellt wurden. Diese starken Senkungen müssen jedoch
nicht zwingend endogener Natur sein; sie sind eher eine Folge des Salzabbaus, der in
diesem Gebiet seit Jahrzehnten durch Auslaugung der unterirdischen Salzlager prakti-
ziert wird.

Hebungszone: Faltenjura
Der östliche Faltenjura hebt sich in seiner rezenten Bewegungscharakteristik sehr
deutlich gegenüber dem Tafeljura ab. Die relative Hebung dieser Zone äussert sich
v.a. am Hauensteinpass, durch den Hauensteinbasistunnel (s. auch SCHNEIDER et
al. 1992), in Aarburg, zwischen Wildegg und Brugg sowie in Baden und erreicht
Hebungsraten von bis zu 0.35 mm/a bezogen auf das Referenzniveau bei Laufenburg.
NAGRA NTB 99-08 90

Unterschiedliche Hebungstendenzen auf der Linie Limmattal – Zürich – Pfäffikon


– Rapperswil
Vom Kloster Wettingen entlang der Limmat bis Zürich liegen die Hebungsraten im
Bereich zwischen 0.15 mm/a und 0.12 mm/a mit einem kleinen Maximum bei Dietikon
(ZH 154: 0.19 mm/a). Von Zürich entlang des linken Zürichseeufers erreichen die
Werte bei Thalwil – Oberrieden (ZH 70) ein Minimum von 0.05 mm/a (Synklinale),
steigen gegen Süden wieder an und erreichen bei der zwischen Horgen (ZH 79:
0.16 mm/a) und Wädenswil (ZH 92: 0.25 mm/a) verlaufenden Antiklinale ein erstes
Maximum (s. Beil. 2.1). Bei Richterswil (ZH 96) folgt, wie von der Geologie her erwartet
(Synklinale), ein weiterer Minimalwert von 0.12 mm/a; gegen die Antiklinale von Pfäffi-
kon (SZ 112) kommt es zu einem markanten Anstieg der Hebungsraten (0.28 mm/a),
der auch durch die Daten von Rapperswil (SG 415: 0.28 mm/a) dokumentiert wird.

Hebungen und Senkungen im Südschwarzwald und angrenzenden Gebieten


Die in Beil. 3.3 dargestellten Vertikalbewegungen im Südschwarzwald (s. auch
MÄLZER et al. 1988) beziehen sich ebenfalls auf den Referenzpunkt bei Laufenburg
und zeigen ein relativ heterogenes Bild. Im Westen entlang des Oberrheingrabens
weisen die Werte mit Ausnahme von DEU 411 und BS 16 (bei Basel, s. Beil. 3.2)
leichte Hebungstendenzen auf, die bei Freiburg einen Höchstwert von 0.24 mm/a
erreichen. Von Freiburg durch das Höllental wurden wiederum fast ausschliesslich po-
sitive Werte registriert, wobei die höchsten Hebungsraten bei Kirchzarten (0.27 mm/a)
und bei Breitnau (0.51 mm/a) ermittelt wurden (Beil. 3.3). Von Breitnau gegen Steig
nehmen die Werte deutlich ab und zeigen beim Titisee einen leicht negativen Trend
(-0.07 m/a). Nach Osten im Gebiet von Neustadt – Rötenbach gibt es nochmals eine
grössere Punktgruppe mit deutlichen Hebungstendenzen (> 0.2 mm/a). Ab Löffingen
beim Übergang vom Schwarzwald in die Schwäbische Alb kehrt die Tendenz von
Hebungen zu Senkungen um. Diese Senkungstendenzen nehmen über Donaueschin-
gen nach Tuttlingen stetig zu, werden signifikant und erreichen zwischen Tuttlingen
und Liptingen Werte von < -0.7 mm/a. Am westlichen Bodanrücken zwischen Radolf-
zell und Konstanz zeigen die ermittelten Werte wieder Tendenzen zu leichter Hebung.

Die Messpunkte der einzigen Linie quer durch den Südschwarzwald zwischen Neu-
stadt und Waldshut zeigen überwiegend Senkungstendenzen mit Werten bis
< -0.3 mm/a. Die einzige Ausnahme bildet eine als sehr gut klassierte Punktgruppe bei
Häusern, die Hebungsraten von > 0.5 mm/a angeben.

3.4.1.4 Geologische Aussagen zu den Nivellementmessungen

Die Aufschiebung des Faltenjuras hält an


Die Nivellementmessungen zeigen, dass sich der östliche Faltenjura gegenüber dem
Tafeljura hebt und zwar mit Vertikalgeschwindigkeiten zwischen 0.25 und 0.35 mm/a.
Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Aufschiebung des Juras auch heute noch anhält,
zumindest im Bereich der vorliegenden analysierten Nivellementmessungen. Unter der
Annahme, dass der Aufschiebungswinkel ca. 30° betragen dürfte, ergibt sich für die
horizontale Komponente der Überschiebung eine Geschwindigkeit von ca. 0.5 –
0.7 mm/a. Wird davon ausgegangen, dass die Juraüberschiebung vor ca. 10 –
11 Millionen Jahren begonnen hat und der totale Zusammenschub in dieser Region bis
heute ca. 4 – 6 km betrug, ergibt sich ein erstaunlich ähnliches Resultat von ca. 0.4 –
0.6 mm/a. Diese beiden gemittelten Überschiebungsgeschwindigkeiten, die sehr unter-
91 NAGRA NTB 99-08

schiedliche Zeiträume abdecken, sind ein weiterer Hinweis dafür, dass es sich bei der
Juraüberschiebung um einen Prozess handelt, der wahrscheinlich mit konstanter Ge-
schwindigkeit abläuft (s. auch Fig. 3.4). Diese Aussage wird gestützt durch verschie-
dene weitere Studien zur Juraüberschiebung: den Untersuchungen über das rheologi-
sche Verhalten von Anhydrit, dem Gleitmaterial an der Basis der Überschiebung
(MÜLLER et al. 1981), den Modellrechnungen zur Juraüberschiebung (MÜLLER &
BRIEGEL 1980, MÜLLER & HSÜ 1980) und den strukturgeologischen Untersuchun-
gen an deformiertem Anhydrit aus dem Abscherungshorizont (JORDAN & NÜESCH
1989, JORDAN 1992).

Die Hebungsraten zeichnen die Synklinal- und Antiklinalstrukturen entlang der


Linie Dietikon – Zürich – Pfäffikon ab
Ausgehend vom Raum Dietikon – Schlieren – Engstringen in Richtung Zürich fallen die
Schichten der Oberen Süsswassermolasse generell nach SSE ein, südlich von Zürich
wird die WSW-ENE streichende Synklinale von Wollishofen (PAVONI et al. 1992)
gequert (s. Beil. 2.1). Die nächste klare Struktur ist eine Antiklinale, deren Scheitel
zwischen Horgen und Wädenswil liegt und deren Achse in Richtung Männedorf ver-
folgt werden kann. Bei Richterswil wird eine weitere Mulde durchquert und an der
Grenze zum Obersee die Antiklinale von Pfäffikon erreicht. Die ermittelten Hebungs-
raten zeichnen den Verlauf der seichten Antiklinal- und Synklinalstrukturen deutlich ab
(Beil. 3.2 und 3.3, Fig. 3.4).

Die Vertikalbewegungen widerspiegeln die strukturelle Gliederung (Horst- und


Grabenstrukturen) des Südschwarzwalds und der angrenzenden Gebiete
Im Südschwarzwald und den angrenzenden Gebieten zeigen die von MÄLZER et al.
(1988) erhobenen Daten, dass die rezenten Vertikalbewegungen die strukturelle Glie-
derung abbilden (Beil. 3.3). Messpunkte innerhalb einer Grabenstruktur weisen auf
Subsidenz, Punkte in Horststrukturen auf Hebungen hin. Im Folgenden werden die ein-
zelnen Hebungs- und Senkungsgebiete kurz erläutert:

Die Vorbergzone, die im Osten begrenzt wird durch die Schwarzwald-Randverwerfung,


beinhaltet die Markgräfler Hügelzone und die Sulzburger Vorberge. Alle in dieser Zone
liegenden Messpunkte zwischen Weil am Rhein und Freiburg zeigen leichte Hebungs-
tendenzen.

Der Schauinsland – Feldberg-Horst zieht von Freiburg in Südostrichtung quer durch


den Südschwarzwald und wird im Norden durch den Lenzkirch – Bonndorf-Graben und
im Süden durch den Münstertal – Albtal-Graben begrenzt (METZ & REIN 1958).

Die Messpunkte zwischen Freiburg/Kirchzarten und dem unteren Höllental zeigen


deutlich Hebungstendenzen auf. Ein weiterer Messpunkt dieses Horsts liegt auf der
Linie zwischen Neustadt und Waldshut bei Häusern. Dieser Messpunkt wurde als sehr
gut klassiert und weist eine Hebungsrate von über 0.5 mm/a auf.

Der Horst von Hochfirst wird im Norden durch eine W-E verlaufende Abschiebung, im
Süden durch die Höllental-Bruchlinie, welche die nördliche Begrenzung der Bonndorfer
Grabenzone bildet und im Osten durch eine NW-SE streichende Grabenstruktur be-
grenzt, die sich nordöstlich von Rötenbach befindet. Die Punkte innerhalb dieses
Horsts zwischen Neustadt und Rötenbach zeigen wiederum deutliche Hebungstenden-
zen.
NAGRA NTB 99-08 92

Die Bonndorfer Grabenzone s.l. wird im Norden begrenzt durch die nordvergente Ab-
schiebung, die von der Höllental-Bruchlinie ausgeht, nördlich des Titisees vorbeizieht
und in südöstlicher Richtung ins Gebiet der Wutach-Schlucht streicht. Die Grabenzone
wird gegen Süden durch ein gestaffeltes System von nordvergenten, NW-SE strei-
chenden Abschiebungen versetzt. Die südlichste Abschiebung stellt die nördliche
Flanke des Schauinsland – Feldberg-Horsts dar.

Im nördlichsten Abschnitt der Bonndorfer Grabenzone gehen die Messwerte, ausge-


hend vom oberen Höllental über den Titisee von Tendenzen geringer Hebung in leichte
Senkung über. Gegen Süden im Gebiet des Schluchsees zur Grenze des Schauins-
land – Feldberg-Horsts zeigen die Messwerte eine verstärkte Subsidenz an.

Die im Süden von Häusern auf der Linie Neustadt – Waldshut liegenden Messpunkte
weisen alle bis Waldkirch auf eine verstärkte Subsidenz hin. Diese Messpunkte kön-
nen noch im weitesten Sinne dem Münstertal – Albtal-Graben zugeordnet werden. Erst
der Punkt bei Waldshut zeigt eine minimale Hebungstendenz.

Signifikante Senkungen in der Interferenzzone des Hegau – Bodensee-Grabens


und einer N-S streichenden Grabenbruchzone im Raum Tuttlingen – Hegau
Beim Übergang vom Kristallin des Südschwarzwalds zur Sedimentbedeckung der
Schwäbischen Alb zwischen Rötenbach und Löffingen findet ein klarer Wechsel be-
züglich der Vertikalbewegungen von Hebungen zu Senkungen statt. Diese Senkungs-
tendenzen verstärken sich nach Osten zunehmend. Die Messpunkte liegen fast aus-
schliesslich im WNW-ESE streichenden Hegau – Bodensee-Grabensystem. Gegen
Osten folgt ein weiteres N-S streichendes, ca. 10 – 15 km breites Grabensystem, das
den Hegau – Bodensee-Graben quert. In dieser Interferenzzone kommt es zu einer
markanten Subsidenz von < -0.7 mm/a im Raum Tuttlingen – Liptingen. Gegen den
Bodensee hin nehmen die Senkungsraten ab, und entlang des Gnadensees gegen
Konstanz wurden wieder kleinere Hebungsraten von 0.2 mm/a registriert.

Signifikante Hebungen im Raum Bodensee – St. Gallen – Frauenfeld – Winter-


thur – Tagelswangen
Die Hebungszone im Bodenseegebiet, die im Süden über St. Gallen ins untere Tog-
genburg und im Norden über Frauenfeld bis in die Gegend von Winterthur – Tagels-
wangen weiterverfolgt werden kann, ist geologisch nicht einfach zu erklären. Die weni-
gen strukturgeologischen Daten in dieser Region geben keine konkreten Hinweise für
eine plausible Interpretation. Die einzige publizierte seismische Sektion durch diese
Region, die von Stammheim über Frauenfeld, Wil, Wattwil in Richtung Krummenau
führt, wurde im Rahmen des Projekts NFP 20 (PFIFFNER et al. 1997) von STÄUBLE
& PFIFFNER (1991) interpretiert. Diese Interpretation zeigt im Abschnitt Wil – Stamm-
heim eine grössere Anzahl steil stehender Störungen ("normal faults" und "reverse
faults"), die teilweise nur das Kristallin und das Mesozoikum, z.T. aber auch das ganze
Molassepaket versetzen. Die einzelnen Versetzungsbeträge liegen bei maximal 150 m.

Aufgrund der Oberflächenaufnahmen gibt es mit Ausnahme des von HOFMANN


(1993) postulierten Lauchetalgrabens kaum Hinweise, die solche markanten Stö-
rungen bestätigen würden. Daher ist es fraglich, ob die von STÄUBLE & PFIFFNER
(1991) interpretierten Störungen nicht Artefakte sind. Die von der SEAG ebenfalls frei-
gegebene Seismiklinie 84-05, welche die Ostschweizer Molasse von der Tiefbohrung
Lindau-1 bis zum Bodensee quert, zeigt auf der ganzen Strecke nur minimale Defor-
93 NAGRA NTB 99-08

mationen des Deckgebirges. Einzig ganz im Osten – nordwestlich von Romanshorn –


gibt es eine markante ostvergente Verwerfung (s. auch Beil. 2.3, Profil 7b).

Die geographische Lage der Hebungszone weist zwischen Winterthur und dem
Bodensee mit ihrer alpinen Streichrichtung darauf hin, dass der anhaltende alpine
Nordschub auch in der Ostschweiz eine stetige Kompression und eventuell leichte Ab-
scherung verursacht, die sich als beginnende Auffaltung des Ostschweizerischen
Alpenvorlands äussert (s. auch Fig. 3.4). Zumindest lassen sich die wenigen Daten der
Seismik auch in diesem Sinne interpretieren, z.B. Deformationsstrukturen im Bereich
des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments (s. auch Beil. 2.2). Wichtige Hinweise für
eine Kompression sind auch die hohen seismischen Geschwindigkeiten des Deckge-
birges der Nordostschweizer Tiefbohrungen sowie die Anzeichen penetrativer Defor-
mation an Molassegeröllen (SCHRADER 1988) und die aus der Sondierbohrung
Benken ermittelten Daten, die ein in Richtung NNW-SSE bis N-S verlaufendes kom-
pressives Spannungsfeld (Kap. 3.6.3) und einen duktil deformierten Abscherhorizont in
der Anhydritgruppe (BLÄSI et al. 1999) zeigen.

Als alternative Erklärung für die starken Hebungen im Bodenseegebiet können glazial
bedingte isostatische Hebungen postuliert werden, die als anhaltende Ausgleichsbe-
wegungen auf das Abschmelzen des mächtigen Bodensee-Vorlandgletschers zu
betrachten sind. Ähnliche rezente Ausgleichsbewegungen werden heute über dem
skandinavischen und nordamerikanischen Schild registriert. Für diese Hypothese
sprechen im Wesentlichen zwei Gründe:
• Die grössten Hebungsraten wurden im zentralen Bereich des Bodensee-Westufers
bei Romanshorn registriert.
• Die Hebungsraten nehmen gegen die Eisrandlage der letzten Eiszeit in Richtung
Untersee und bis nach Schaffhausen hin kontinuierlich ab.

Es gibt allerdings auch wichtige Argumente, die gegen die These eines glazial beding-
ten isostatischen Ausgleichs sprechen. Von Romanshorn in Richtung St. Galler Rhein-
tal nahm die Eisbelastung während des Würmmaximums generell zu, wobei die
grösste quartäre Übertiefung und damit auch die maximale Eismächtigkeit im Bereich
des Obersees zwischen Lindau und Rorschach lag (SCHOOP & WEGENER 1984).
Die gemessenen rezenten Hebungsraten nehmen dagegen in dieser Richtung ab. Die
Hebungszone kann vom Bodensee, wenn auch in abgeschwächter Form, über Frauen-
feld in Richtung Winterthur – Tagelswangen verfolgt werden und reicht damit bei gleich
bleibenden Hebungsgeschwindigkeiten bis an die westliche Begrenzung des ehema-
ligen Bodenseegletschers. Das angrenzende Gebiet des Tösstals zwischen Irchel und
Hörnli war nämlich auch während des Hochwürms eisfrei. Die signifikanten Hebungen
im Gebiet Winterthur – Tagelswangen können damit kaum als Folge eines glazial-iso-
statischen Ausgleichs erklärt werden. Zudem müssten auch im Verbreitungsgebiet des
ehemaligen Linthgletschers ähnliche Hebungsgeschwindigkeiten feststellbar sein; dies
ist jedoch nicht der Fall.

Das Bewegungsbild im Zürcher Weinland


Die mit wenigen Grad nach Südosten einfallenden, mesozoischen und tertiären
Schichten werden im Norden durch die NW-SE streichende Neuhauser Störung um bis
zu ca. 80 m versetzt. Nördlich von Benken befindet sich die W-E streichende Wildens-
bucher Flexur. Diese versetzt den nördlichen Abschnitt um ca. 20 – 40 m (BIRK-
HÄUSER et al. 2001). Die Nivellementdaten zeigen, dass das Gebiet nördlich dieser
NAGRA NTB 99-08 94

beiden Strukturelemente zwischen Schaffhausen und Neuhausen eine Senkungs-


tendenz aufweist. Südlich davon werden leichte Hebungen gemessen, die in Richtung
Winterthur stetig zunehmen. Aufgrund der vorliegenden Daten kann nicht entschieden
werden, ob es sich zwischen Schaffhausen und Winterthur um eine kontinuierliche Zu-
nahme der Hebungsraten handelt oder um eine Unstetigkeit an der Neuhauser Stö-
rung.

3.4.2 GPS-Messungen Nordschweiz

Für die Erfassung der Kinematik der oberen Erdkruste werden neben Daten über die
Vertikalbewegungen auch Informationen über die Horizontalbewegungen benötigt.
Wegen der begrenzten Genauigkeit der Messungen der Landestriangulation gab es
bis vor kurzem keine verlässlichen Daten über Horizontalbewegungen. Zudem fehlte
für grosse Teile der Schweiz eine systematische Wiederholung der Messungen.

Seit der Entwicklung des "Global Positioning Systems" (GPS) durch das Verteidi-
gungsdepartement der Vereinigten Staaten und dessen ziviler Nutzung für geodä-
tische Zwecke ist es nun möglich, grosse Distanzen mit der erforderlichen Genauigkeit
und einem vernünftigen Aufwand zu messen. Aus diesem Grund entschloss sich die
Nagra im Jahre 1986, in der Nordschweiz ein Messnetz zu installieren. Die Messorte
wurden nach tektonischen Gesichtspunkten von der Nagra vorgegeben. Alle wichtigen
Strukturelemente wurden durch eine Anzahl Messpunkte fixiert. Das Ziel dieser
Messungen war die Erfassung von differenziellen Bewegungen an bedeutenden Stö-
rungsflächen, Überschiebungszonen und an Schollengrenzen. Das GPS-Netz Nord-
schweiz umfasst 25 vorwiegend auf Fels verankerte Messpunkte und deckt das Unter-
suchungsgebiet "Kristallines Grundgebirge" sowie die Untersuchungsgebiete für die
Sedimentoptionen ab. Der Auftrag für die Installation des Messnetzes Nordschweiz
und die Durchführung der ersten doppelten Nullmessung wurde an das Bundesamt für
Landestopographie erteilt. Das Netz wurde im Herbst 1988 zweimal unabhängig
gemessen, wobei zu jener Zeit erst sieben Satelliten zur Verfügung standen
(SCHNEIDER & WIGET 1990).

Im Herbst 1995 erfolgte die erste doppelte Wiederholungsmessung des GPS-Netzes


Nordschweiz. Diesmal standen 25 Satelliten für die Messungen zur Verfügung, wo-
durch die Messgenauigkeit dieser zweiten Messung erheblich verbessert werden
konnte (WIGET et al. 1996). Das Netz der Kontrollpunkte von 1988 konnte zudem um
einige Punkte erweitert werden. Diese wurden im Rahmen der neuen Landesvermes-
sung LV95 im Untersuchungsgebiet installiert und sind in der Messkampagne 1989
erstmals gemessen worden.

Die Auswertung zeigt, dass im Zeitintervall 1988 – 1995 keine signifikanten Deforma-
tionen erkannt werden können (s. WIGET et al. 1996 sowie Beil. 3.2 und 3.3). Das
Feld der Koordinatenänderungen ist allein durch die unvermeidlichen Messfehler
bedingt. Die Messungen 1988 weisen aufgrund der schlechteren Satellitenkonstellation
grössere Messfehler auf. Daher muss zum heutigen Zeitpunkt auf eine geologische
Interpretation der GPS-Daten verzichtet werden. Aussagekräftigere Resultate können
erwartet werden, wenn nach Ablauf eines weiteren Zeitintervalls von ca. 7 Jahren eine
zweite Wiederholungsmessung durchgeführt wird. Hingegen kann bereits nach der
ersten Wiederholungsmessung gezeigt werden, dass die horizontalen Bewegungs-
raten sehr klein sind.
95 NAGRA NTB 99-08

Einen in Zukunft wichtigen Datensatz für das Verständnis der Geodynamik liefert das
"Automatische GPS-Netz Schweiz, AGNES" (BROCKMANN et al. 2002a). Dank die-
sen permanenten Messungen erhält man nun erste Informationen über die Richtungen
und Geschwindigkeiten horizontaler Bewegungen. Die ersten Stationen wurden 1999
installiert und in Betrieb genommen. Heute besteht das automatische GPS-Netz
Schweiz aus 29 permanent arbeitenden, stabil verankerten Stationen (BROCKMANN
et al. 2002b, SCHNEIDER et al. 2002). Fig. 3.4 zeigt eine Übersichtskarte der AGNES-
Stationen sowie der aktuellen Verschiebungsvektoren und deren Fehlerellipsen, die
sich auf die Referenzstation Zimmerwald südlich von Bern beziehen. Diese Karte wird
wöchentlich neu berechnet und kann jederzeit im Internet unter der folgenden Adresse
abgerufen werden:

http://www.swisstopo.ch/images/geo/pnac/resplt/diffvel_swiss.jpg

Stationen, die erst vor kurzem installiert und in Betrieb genommen wurden, weisen
noch keine Verschiebungsvektoren und Fehlerellipsen auf (z.B. Graubünden, mit Aus-
nahme von Davos). Die bis heute vorliegenden Daten lassen zwar gewisse Tendenzen
erkennen, eine detaillierte Interpretation ist jedoch noch nicht möglich. Dazu ist einer-
seits die Messzeitdauer noch zu kurz, und andererseits zeigen die Fehlerellipsen, dass
die Daten noch eine beachtliche Streuung aufweisen.

Fig. 3.4: Karte der AGNES-Stationen mit Verschiebungsvektoren und deren Fehler-
ellipsen relativ zur Station Zimmerwald (Referenzstation) vom 19. Dezem-
ber 2002
Für Details s. auch:
http://www.swisstopo.ch/de/geo/pnac_results.htm (Residuen).
NAGRA NTB 99-08 96

Das Bewegungsbild zeigt aber immerhin, dass die Stationen entlang dem Alpennord-
rand sowie auch die Station Martigny in den Westalpen Verschiebungsvektoren in
Richtung Nordwest bis Nordost aufweisen. Die Verschiebungsgeschwindigkeiten die-
ser Stationen liegen im Bereich von ca. 1 bis 2 mm/a. DIEBOLD & MÜLLER (1985)
und SCHMID et al. (1996) postulierten – unter der Annahme einer anhaltenden alpinen
Orogenese – einen jährlichen Zusammenschub der Alpen von ca. 3 mm, was immer-
hin in der gleichen Grössenordnung liegt wie diese rezent gemessenen Werte.
Die Stationen im Norden der Schweiz zeigen mit Ausnahme der Station Schaffhausen
kaum Bewegungen. Der kleine Geschwindigkeitsvektor von Schaffhausen ist nach
Südosten gerichtet. Aufgrund der dargelegten Vektorkonstellation, den nordwestlich
bis nordöstlich gerichteten Vektoren am Alpennordrand und den weitgehend stationä-
ren Verhältnissen in der Nordschweiz muss das Mittelland unter Kompression stehen.
Dies steht wiederum in Übereinstimmung mit dem geodynamischen Konzept.

3.5 Erdbebenaktivität in der Nordschweiz

3.5.1 Einleitung

Mit der Analyse von Erdbeben können Aussagen über rezent aktive Störungszonen,
Herdmechanismen und das rezente Spannungsfeld gemacht werden. Die Aussage-
kraft einer solchen Analyse hängt jedoch von der Anzahl und Lokalisierungsgenauig-
keit der erfassten Erdbeben ab. Damit auch in einem Gebiet mit geringer Erdbeben-
aktivität genügend Daten für eine Auswertung zur Verfügung stehen, wurde 1983 im
Auftrag der Nagra in der Nordschweiz ein modernes Mikroerdbebennetz mit neun
Stationen installiert (MAYER-ROSA et al. 1984). Mithilfe dieses Netzes und dem be-
stehenden Stationsnetz des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) war es mög-
lich, auch Erdbeben sehr schwacher Magnitude (< 1.0 auf der Richter-Skala) zu erfas-
sen und die Lokalisierungsgenauigkeit wesentlich zu verbessern (DEICHMANN &
RENGGLI 1984).
Die Erdbebenaktivitäten und die Resultate der Analysen wurden in den folgenden
Nagra Technischen Berichten publiziert: DEICHMANN & RENGGLI (1984), PAVONI
(1984), DEICHMANN (1987 und 1990) sowie DEICHMANN et al. (2000).
Im Folgenden werden die für den vorliegenden Bericht wichtigsten Erkenntnisse zu-
sammenfassend dargelegt (s. auch DEICHMANN et al. 2000).

3.5.2 Zusammenstellung der historischen Erdbeben seit dem Jahr 1000


Die Datengrundlage der makroseismisch beschriebenen historischen Erdbeben bildet
der Erdbebenkatalog des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED). Dieser wurde
aufgrund historischer Quellen sowie der Jahresberichte des Schweizerischen Erdbe-
bendienstes im Rahmen der Arbeiten zur Erdbebengefährdungskarte der Schweiz
erstellt (SÄGESSER & MAYER-ROSA 1978) und wird seitdem laufend den neuen Er-
kenntnissen angepasst.
Informationen über historische Erdbeben beruhen ausschliesslich auf makroseismi-
schen Beobachtungen, d.h. es wird aufgrund von Angaben über Schäden an Bau-
werken und Wahrnehmungen von Personen eine Intensität abgeschätzt. Für länger
zurückliegende Zeiten nimmt daher die Vollständigkeit und die Zuverlässigkeit eines
97 NAGRA NTB 99-08

historischen Erdbebenkatalogs ab. Um dem unterschiedlichen Grad des Daten-


umfangs Rechnung zu tragen, wurden die makroseismisch beschriebenen Erdbeben
der Nordschweiz in zwei getrennten Epizentrenkarten für die Zeiträume 1021 – 1878
(Fig. 3.5a) und 1879 – 1998 (Fig. 3.5b) dargestellt. Für den Zeitabschnitt 1021 – 1878
wurden die Ereignisse mit einer Intensität (I) von mindestens V (MSK-Skala) berück-
sichtigt (Fig. 3.5a), bei der erste Gebäudeschäden auftreten können. Für die Zeit da-
nach wurden auch die Epizentren der Beben mit einer Intensität von mindestens IV
dargestellt (Fig. 3.5b), denn seit 1879, mit der Veröffentlichung des ersten Jahresbe-
richts der damals neu gegründeten Schweizerischen Erdbebenkommission, besteht
Gewähr, dass auch Beben mit einer Epizentralintensität von IV mit genügender Zuver-
lässigkeit erfasst werden.
In der Epizentrenkarte (Fig. 3.5a) für den Zeitabschnitt 1021 – 1878 fällt die sehr hohe
Konzentration an schadenverursachenden Beben (I ≥ V) in der Region Basel auf. Das
bekannte Beben von 1356 mit der Intensität IX, das grosse Teile der Stadt Basel und
zahlreiche Burgen in der weiteren Umgebung stark beschädigt hatte, war nur eines der
grossen Beben, das sich seit dem frühen Mittelalter dort ereignet hatte. Zudem fällt
auf, dass die meisten historischen Epizentren in Siedlungsgebieten liegen. Dies hängt
natürlich damit zusammen, dass auch nur an solchen Orten Informationen über
Schäden beobachtet und aufgezeichnet wurden. Diese Einschränkung muss bei einer
seismotektonischen Interpretation berücksichtigt werden.
In der Karte (Fig. 3.5b) für den Zeitabschnitt 1879 – 1998 ist eine bedeutend diffusere
Verteilung der Epizentren ersichtlich. Sie ist als Folge der detaillierteren Information,
die seit 1879 zur Verfügung steht, wesentlich realitätsnäher und erlaubt deshalb eine
zuverlässige Erfassung wie auch eine genauere Lokalisierung der tatsächlichen Epi-
zentren. Auf dieser Karte kommt deutlich zum Ausdruck, dass sich während der letzten
120 Jahre der überwiegende Teil der seismischen Aktivität in der Nordschweiz auf
zwei Regionen konzentrierte, nämlich auf ein Gebiet im Westen, das sich vom Ober-
rheingraben und Dinkelberg im Norden über das Gebiet von Basel bis südlich des
Juras erstreckt, sowie auf eine Zone im Osten, die subparallel zum alpinen Streichen
vom Untersee bis in die Region Zürich reicht. Aus beiden Karten ist zudem eine
Häufung von Beben im Raum Eglisau ersichtlich. Im Gebiet der zentralen Nordschweiz
und im Zürcher Weinland war die Erdbebenaktivität dagegen während des gesamten
Beobachtungszeitraums vergleichsweise gering.

3.5.3 Instrumentelle Beobachtungen seit 1975


Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz die ersten Seismographen in
Betrieb genommen. Der Aufbau eines modernen Seismographennetzes erfolgte aber
erst ab 1972. In der Nordschweiz erreichte das Netz 1975 eine ausreichende Dichte,
um wenigstens Epizentren mit einiger Zuverlässigkeit zu lokalisieren. Die Herdtiefen
resp. die Hypozentren liessen sich aber damals nur in Ausnahmefällen genauer be-
rechnen (MAYER-ROSA & GARCIA 1984). Die erfassbare Magnitudenschwelle
(Detektionsempfindlichkeit) betrug zu jener Zeit etwa 1.6 (MAYER-ROSA et al. 1983).
Durch die Inbetriebnahme des Nagra-Netzes in der Nordschweiz im Jahre 1983
(MAYER-ROSA et al. 1984) und der damit verbundenen Verdichtung der Beobach-
tungsstationen in der Nordostschweiz war es nun möglich, die Epizentren und Herdtie-
fen relativ zuverlässig zu berechnen und die Detektionsempfindlichkeit merklich zu ver-
bessern (DEICHMANN & RENGGLI 1984, DEICHMANN 1987). Aus diesen Gründen
sind in Fig. 3.6a und b die Epizentren der instrumentell erfassten Erdbeben für die
Zeitabschnitte 1975 – 1982 und 1983 – 1999 getrennt dargestellt.
NAGRA NTB 99-08 98

(a)

47° 30’

Max. Intens.

IX

VIII

VII

VI
50 km
V
47° 00’
7° 30’ 8° 00’ 8° 30’ 9° 00’

(b)

47° 30’

Max. Intens.

VIII

VII

VI

V
50 km
IV
47° 00’
7° 30’ 8° 00’ 8° 30’ 9° 00’

Geologisches Modell Messgebiet der 3D-Seismik


Zürcher Weinland

Fig. 3.5: Epizentrenkarte der bekannten Erdbeben mit Intensitäten von mindestens
V für den Zeitraum 1021 – 1878 (a) und mit Intensitäten von mindestens IV
für den Zeitraum 1879 – 1998 (b)
Es sind alle Beben mit Ausnahme derjenigen in den Voralpen der Ost- und Zentral-
schweiz berücksichtigt.
99 NAGRA NTB 99-08

(a)

47° 30’

Magnitude
5.0
4.0
3.0
2.0
50 km
1.0
47° 00’
7° 30’ 8° 00’ 8° 30’ 9° 00’

(b)

47° 30’

Magnitude
5.0
4.0
3.0

50 km 2.0
1.0
47° 00’
7° 30’ 8° 00’ 8° 30’ 9° 00’

Geologisches Modell Messgebiet der 3D-Seismik


Zürcher Weinland

Fig. 3.6: Epizentren der instrumentell erfassten Erdbeben für den Zeitraum 1975 –
1982 (a) und für den Zeitraum 1983 – 1999 (b)
Es sind alle Beben berücksichtigt mit Ausnahme derjenigen am Nordrand der Ost-
und Zentralalpen.
NAGRA NTB 99-08 100

Bei der Interpretation der beiden Karten in Fig. 3.6 ist neben den unterschiedlichen
Magnitudenschwellen auch die rund doppelt so lange Dauer des zweiten betrachteten
Zeitabschnitts zu berücksichtigen. Ersichtlich ist aber aus beiden Karten, dass sich die
Aktivitäten auf zwei Gebiete konzentrieren, einerseits auf die Region Basel mit dem
südlichen Teil des Oberrheingrabens und des Dinkelbergs bis südlich des Hauensteins
sowie andererseits auf einen breiten Streifen, der sich vom Überlinger See über den
Thurgau, das untere Toggenburg, das Zürcher Oberland und den Zürichsee bis in die
Zentralschweiz erstreckt. Der zentrale Teil der Nordschweiz inkl. dem Gebiet des
Zürcher Weinlands hat sich seismisch in den letzten 25 Jahren vergleichsweise wenig
bemerkbar gemacht. Auffallend ist, dass die räumliche Verteilung der instrumentell
erfassten seismischen Aktivität und der berechneten Epizentren der letzten 25 Jahre
(Fig. 3.6b) in hohem Masse mit derjenigen der makroseismisch erfassten Beben der
letzten 120 Jahre übereinstimmt (Fig. 3.5b).

3.5.4 Herdmechanismen und rezente Deformation der Erdkruste in der


Nordschweiz

Die Charakterisierung der rezenten regionalen Deformation der Erdkruste in der Nord-
schweiz wird aufgrund aller zur Verfügung stehenden und gut belegten Herdmechanis-
men abgeleitet. Die Datengrundlagen finden sich in den Nagra Technischen Berichten
PAVONI (1984), DEICHMANN (1987 und 1990) und DEICHMANN et al. (2000) sowie
in BONJER (1997). Die verwendeten Herdmechanismen sind in Beil. 3.4 dargestellt,
das vollständige Verzeichnis der Herdmechanismen ist in Tab. 3.2 aufgeführt.

Um die Analyse auf ein tektonisch möglichst einheitliches Gebiet zu beschränken,


werden nur die Daten der Nordschweiz verwendet. Die Daten aus dem weiter nördlich
liegenden Oberrheingraben und dem Südschwarzwald wurden nicht mit einbezogen,
sie sind jedoch von BONJER (1997) und PLENEFISCH & BONJER (1997) ausführlich
bearbeitet und dokumentiert worden. Im Folgenden wird das Deformationsbild einer-
seits der gesamten Nordschweiz und andererseits der Teilgebiete Nordost- und Nord-
westschweiz betrachtet. Wegen der geringen Seismizität im zentralen Teil der Nord-
schweiz erlaubt die dort vorhandene Datenlücke eine zwanglose Trennung dieser bei-
den Teilgebiete. Ein drittes Teilgebiet umfasst die Daten der Nordwestschweiz zusam-
men mit vier zusätzlichen Herdmechanismen in der südlich angrenzenden Gegend von
Murten, Fribourg und Romont (Teilgebiet der West-/Nordwestschweiz).

Die Herdmechanismen zeigen ein relativ differenziertes Bild, das keine eindeutige
Interpretation der tektonischen Verhältnisse zulässt (Beil. 3.4). Dennoch lässt sich
erkennen, dass die häufigsten Bewegungsmechanismen Blattverschiebungen sind, die
neben reinen Abschiebungen und einigen Abschiebungen mit starker Horizontalkom-
ponente die rezente Dynamik in der Kruste des Alpenvorlands dominieren. Anzeichen
von Aufschiebungen oder gar Überschiebungen liegen keine vor. Aufgrund der stereo-
graphischen Darstellung (s. Fig. 3.7, Nordschweiz) aller T-Achsen (Richtung maxima-
ler Extension) und P-Achsen (Richtung maximaler Kompression) ist ersichtlich, dass
insgesamt gesehen die Deformation der Erdkruste in der Nordschweiz v.a. durch eine
ENE-WSW orientierte Extension gekennzeichnet ist. Die entsprechende Horizontal-
komponente der maximalen Kompression ist NNW-SSE ausgerichtet. Die Abschie-
bungsbeben zeigen aber auch eine bedeutende vertikale Bewegungskomponente
parallel zur maximalen Kompressionsrichtung an.
101 NAGRA NTB 99-08

Tab. 3.2: Parameter der Herdmechanismen in der Nordschweiz (nach DEICHMANN


et al. 2000)
NAGRA NTB 99-08 102

Tab. 3.2: Fortsetzung

Um Rückschlüsse auf das regionale und tiefenabhängige Deformationsbild der Kruste


zu erhalten, haben DEICHMANN et al. (2000) die Daten bezüglich der drei erwähnten
Teilgebiete und der Herdtiefe (Z ≤ 15 km, Z > 15 km) differenziert analysiert (s.
Fig. 3.7).

Aus der Darstellung aller Herdmechanismen über den ganzen Tiefenbereich der Erd-
kruste (linke Kolonne ≤ 30 km in Fig. 3.7) ist eine von Osten nach Westen zuneh-
mende Drehung der P- und T-Achsen im Gegenuhrzeigersinn von bis zu 15° zu erken-
nen. Das Bild wird wesentlich deutlicher, wenn die Herdtiefenbereiche ober- und unter-
halb 15 km getrennt betrachtet werden. Die Herdmechanismen der tieferen Beben
lassen auf eine für die gesamte Nordschweiz erstaunlich homogene Deformation
schliessen, mit Extension in ENE-WSW-Richtung und Kompression in NNW-SSE-
Richtung (rechte Kolonne > 15 km in Fig. 3.7). Hingegen erhöht sich der Betrag der
von der Nordostschweiz zur Nordwestschweiz zunehmenden Drehung der T-Achsen-
Azimute für die weniger tiefen Beben auf ca. 25° (mittlere Kolonne ≤ 15 km in Fig. 3.7).
Somit scheint sich die Richtung maximaler horizontaler Extension in der oberen Kruste
von rund 260° in der Nordostschweiz auf rund 235° in der Nordwestschweiz zu drehen.
Die entsprechende Richtung der horizontalen Kompression verläuft in der Nordost-
schweiz annähernd N-S (350°) und in der Nordwestschweiz ca. NW-SE (325°).

Die aus den Herdmechanismen abgeleitete regionale Drehung der Richtungen maxi-
maler horizontaler Kompression und Extension in der oberen Kruste der Nordschweiz
steht in Einklang mit dem grossräumigen tektonischen Bild, das sich im bogenförmigen
Verlauf des Juras und der Alpen widerspiegelt.
103 NAGRA NTB 99-08

Z < 30 km Z < 15 km Z > 15 km


N N N
Nordschweiz

W EW EW E

S S S
N N N
Nordostschweiz

W EW EW E

S S S
N N N
Nordwestschweiz

W EW EW E

S S S
N N N
West-/Nord-
westschweiz

W EW EW E

S S S

Fig. 3.7: Stereographische Darstellungen der Orientierung der P- und T-Achsen für
verschiedene Herdtiefenbereiche und Gebiete
Nordschweiz ohne Murten, Fribourg und Romont
Unausgefüllte Kreise = P-Achse, ausgefüllte Kreise = T-Achse
Die Diagonale zeigt die Richtung des jeweiligen Medians der T-Achsen-Azimute an.
NAGRA NTB 99-08 104

3.6 Rezentes Spannungsfeld in der Nordschweiz

Das Spannungsfeld wird durch folgende Parameter bestimmt:

σ1 ≥ σ2 ≥ σ3 Hauptspannungskomponenten

SH maximale horizontale Spannungskomponente

Sh minimale horizontale Spannungskomponente

Sv vertikale Spannungskomponente

3.6.1 Durchgeführte Arbeiten

Im Rahmen des Untersuchungsprogramms Nordschweiz wurden zur Ermittlung des


rezenten Spannungsfelds die folgenden Methoden eingesetzt:
• Analysen von Bohrlochrandausbrüchen in allen Nagra-Tiefbohrungen
• In-situ-Spannungsmessungen an Oberflächenaufschlüssen
• Analysen von Herdflächenlösungen und Erdbebenschwärmen (vgl. Kap. 3.5.4).

Die Resultate dieser Arbeiten sind in den Publikationen BECKER et al. (1984, 1986),
PAVONI (1984), BLÜMLING (1986), MÜLLER et al. (1987), DEICHMANN (1990)
sowie NAGRA (1991b und 1992b) dargelegt und eingehend diskutiert.

Diese Arbeiten zeigen, dass das Spannungsfeld der Nordschweiz sowohl lateral als
auch vertikal inhomogen ist. Im kristallinen Grundgebirge konnte aufgrund der Bohr-
lochrandausbrüche eine relativ einheitliche Richtung der maximalen horizontalen
Spannungskomponente von 135° ± 15° ermittelt werden (MÜLLER et al. 1987). Diese
generelle Richtung wird weitgehend auch durch seismotektonische Untersuchungen
(PAVONI 1984, DEICHMANN 1990) und durch die Spannungsmessungen im Felsla-
bor Grimsel (PAHL et al. 1989) sowie die Messungen im Untersuchungsgebiet Wellen-
berg (NAGRA 1997) bestätigt.

Im Nordschweizer Permokarbontrog ist das Spannungsfeld leicht nach Süden (Rich-


tung der maximalen horizontalen Spannungskomponente 160° ± 10°) gedreht. Für das
Deckgebirge südlich des Juras konnte aufgrund der Bohrlochrandausbrüche (Sondier-
bohrung Schafisheim) in den über dem Abscherungshorizont liegenden Sedimenten
eine mittlere Richtung der maximalen horizontalen Spannungskomponente von 10°
± 10° ermittelt werden. Die Daten in den autochthonen Sedimenten (Unterer Muschel-
kalk) und dem Kristallin zeigten eine Richtung der maximalen horizontalen Spannungs-
komponente von 135°. Diese Entkopplung des Spannungsfelds wird auf eine anhal-
tende Abscherung des Deckgebirges durch Fernschub zurückgeführt (MÜLLER et al.
1987).

Im Rahmen des Untersuchungsprogramms Zürcher Weinland wurde der Datensatz


zum rezenten Spannungsfeld durch folgende Untersuchungen erweitert:
105 NAGRA NTB 99-08

• Ableitung des rezenten Spannungsfelds mittels der Inversionsmethode der Herdflä-


chenlösungen (s. Kap. 3.6.2).
• Spannungsmessungen durch Hydraulic Fracturing sowie die Analyse von Bohr-
lochrandausbrüchen, induzierten Rissneubildungen und Horizontalstylolithen in der
Sondierbohrung Benken (s. Kap. 3.6.3).

Die relevanten Ergebnisse aller Untersuchungen werden in Kap. 3.6.4 zusammenge-


fasst und diskutiert.

3.6.2 Ableitung des rezenten Spannungsfelds mittels Inversion der


Herdflächenlösungen

Für die Bestimmung des Stressfelds unter Verwendung der Herdflächenlösungen (s.
Kap. 3.5.4) wurde von DEICHMANN et al. (2000) die Inversionsmethode nach GEP-
HART & FORSEYTH (1984) angewendet. PLENEFISCH & BONJER (1997) bestimm-
ten mit derselben Methode das rezente Spannungsfeld für die Gebiete des nördlichen
und südlichen Oberrheingrabens sowie des nördlichen Alpenvorlands. DEICHMANN et
al. (2000) untersuchten die Nordschweiz detaillierter, indem sie die West- und Nordost-
schweiz sowie die Tiefenabhängigkeit separat betrachteten. Die Inversionsmethode
stützt sich auf die folgenden grundsätzlichen Annahmen:
1. Der Verschiebungsvektor auf einer gegebenen Herdfläche muss parallel sein zur
Scherspannung auf dieser Bruchfläche.
2. Das Spannungsfeld im betrachteten Krustenvolumen muss homogen sein.
3. Es sollte eine genügend grosse Anzahl möglichst unterschiedlich orientierter
Bruchflächen für den Datensatz zu Verfügung stehen.
Die Inversionsmethode liefert Aussagen über die Orientierung der Hauptspannungs-
achsen σ1, σ2, σ3 (σ1 > σ2 > σ3) sowie über den Formfaktor R = (σ2 - σ1 )/(σ3 - σ1), der
die Magnitude von σ2 relativ zu σ1 und σ3 spezifiziert. Sie kann jedoch keine Angaben
über die Grösse von σ1, σ2, σ3 machen.
Die beste Lösung der auf den gesamten Datensatz der Nordschweiz angewandten
Spannungsinversion entspricht einem Blattverschiebungsregime, denn die grösste
kompressive Hauptspannung (σ1) wie auch die kleinste (σ3) liegen fast horizontal
(Fig. 3.8c). Für σ1 ergibt sich eine NNW-SSE- und für σ3 eine ENE-WSW-Richtung
(73°, Fehlerbereich s. Tab. 3.3). Aufgrund der Resultate ist jedoch auch ein Abschie-
bungsregime (Fig. 3.8c) möglich (wenn σ1 steil oder senkrecht steht). Diese Zweideu-
tigkeit ist einerseits ein Abbild der im Datensatz vorhandenen Mischung von Blattver-
schiebungs- und Abschiebungsmechanismen (s. Kap. 3.5.4), andererseits kann sie
auch ein Hinweis darauf sein, dass die Annahme eines homogenen Stressfelds für die
gesamte Nordschweiz und alle Herdtiefen nicht zutrifft. Aus diesem Grund wurde die
Spannungsinversion auch noch auf die verschiedenen Teildatensätze Nordostschweiz
und West-/Nordwestschweiz sowie für die gesamte Nordschweiz nach Herdtiefen mit
einer Trennung bei 15 km angewandt (Z ≤ 15 km, Z > 15 km). Die Resultate für die
verschiedenen Teildatensätze sind in Tab. 3.3 und Fig. 3.8 dargestellt.
Für die Nordostschweiz ergibt die beste Lösung ein Blattverschiebungsregime. Die
möglichen Lösungen decken jedoch wie im Falle des Gesamtdatensatzes den ganzen
Bereich von Blattverschiebung bis zu reiner Abschiebung ab. Für die West-/Nordwest-
NAGRA NTB 99-08 106

schweiz entspricht die beste Lösung eher einem Abschiebungsregime. Da in beiden


Fällen σ3 praktisch horizontal liegt, kann der Vergleich der Streichrichtungen von σ3
einen Hinweis auf eine mögliche Änderung der Orientierung des Spannungsfelds lie-
fern. Die Richtung von σ3 der besten Lösung für die Nordostschweiz (79°, Fehlerbe-
reich s. Tab. 3.3) ist um 27° im Uhrzeigersinn gegenüber derjenigen der West-/Nord-
westschweiz (52°, Fehlerbereich s. Tab. 3.3) gedreht. Da der Fallwinkel von σ1 den
ganzen Bereich abdecken kann, ist es nur möglich, Aussagen über die Orientierung
der grössten maximalen horizontalen Spannungskomponente (SH) zu machen, welche
sich aus den Richtungen der kleinsten horizontalen Spannungskomponente (Sh) ablei-
ten lassen. Die Richtung von SH würde für die Nordostschweiz 169° und für die West-
/Nordwestschweiz 142° betragen.

Fig. 3.8: Resultat der Spannungsinversion für verschiedene Teilgebiete der Nord-
schweiz: (a) West-/Nordwestschweiz inklusive der Beben von Murten,
Romont und Fribourg, (b) Nordostschweiz, (c) gesamter Datensatz Nord-
schweiz, dabei Tiefenbereich (d) ≤ 15 km und Tiefenbereich (e) > 15 km
der Nordschweiz
Die möglichen Richtungen von σ1 (Quadrate) und σ3 (Kreise) sind in einer stereo-
graphischen Projektion (untere Halbkugel) dargestellt. Die entsprechenden Konfi-
denzintervalle der Lösungen sind durch verschiedene Graustufen dargestellt. Erläu-
terung zum Formfaktor R siehe Text.
107 NAGRA NTB 99-08

Tab. 3.3: Spannungsinversion – Richtung der kleinsten horizontalen Spannungskom-


ponente Sh

Gebiet N Sh Typ
Nordschweiz 60 231 – 253 – 262 SS-NF
Nordostschweiz 24 231 – 259 – 275 SS-NF
West-/Nordwestschweiz 36 215 – 232 – 265 SS-NF
Nordschweiz (Z 15) 33 220 – 255 – 278 SS-NF
Nordschweiz (Z 15) 27 215 – 240 – 267 SS-NF

Legende:
Z 15 bzw.
Z 15 = Herdtiefenbereiche in km
N = Anzahl der verwendeten Herdmechanismen
Sh = Azimut Minimum – Optimum – Maximum in Grad (Minimum und Maximum
sind die Grenzen der 68 %-Konfidenzintervalle)
Typ = Spannungsregime
SS = Blattverschiebung
NF = Abschiebung
Bemerkung: Richtungen < 180 Grad wurden um 180 Grad erhöht

Die Daten der getrennten Herdtiefenbereiche (≤ 15 km, > 15 km) ergeben für beide
Datensätze wiederum ein Blattverschiebungsregime. Die Inversion lässt jedoch auch
ein Abschiebungsregime zu. Das erhöhte Verhältnis der Anzahl Abschiebungen zu der
Anzahl Blattverschiebungen in der unteren Kruste (Kap. 3.5.4, Tab. 3.2 und Beil. 3.4)
scheint sich auf das Resultat der nach Herdtiefen getrennten Spannungsinversion
nicht so stark wie erwartet auszuwirken.

Richtungen der möglichen Bruchflächen


Die Zusammenstellung der Streichrichtungen aller möglichen Herdflächen (s. Fig. 3.9)
zeigt, dass die bevorzugten Brüche entweder NW-SE (Bruchsystem des Hegau –
Bodensee-Grabens) oder NNE-SSW streichen, und dass die ENE-WSW gerichteten
Brüche, insbesondere die Randbrüche des Nordschweizer Permokarbontrogs, für eine
rezente Reaktivierung ungünstig ausgerichtet sind (s. auch DEICHMANN et al. 2000).
Die tendenzielle Drehung des Spannungsfelds von der Nordost- zur Nordwestschweiz
zeigt sich auch in der grösseren Anzahl von fast NE-SW streichenden Herdflächen in
der Nordostschweiz und der Dominanz des rheinischen (N-NNE/S-SSW) und des
herzynischen Störungssystems (WNW-ESE) in der Nordwestschweiz. Auch mit der
Tiefe scheint sich die Richtung der bevorzugten Herdflächen zu ändern. In der oberen
Kruste sind die NW-SE streichenden Flächen am stärksten vertreten und in der unte-
ren Kruste findet sich ein auffallendes Maximum im Sektor N-NNE bzw. S-SSW.
NAGRA NTB 99-08 108

N N

Nordostschweiz W E W E

S S
N N

Nordwestschweiz W E W E

S S
N N

Z < 15 km W E W E

S S
N N

Z > 15 km W E W E

S S

Fig. 3.9: Streichrichtungen der möglichen Bruchflächen, die sich aus den Herdflä-
chenlösungen ergeben
Da das Bild von der verwendeten Klasseneinteilung abhängt, ist je ein Bild für Klas-
sengrenzen bei Vielfachen von 10 Grad (links) und für um 5 Grad verschobene
Klassengrenzen (rechts) gezeigt.
109 NAGRA NTB 99-08

3.6.3 Die Messungen in der Sondierbohrung Benken

In der Sondierbohrung Benken wurden für die Ermittlung des rezenten Spannungs-
felds verschiedene Methoden eingesetzt. Einerseits wurde die Spannung und deren
Orientierung direkt mittels Hydrofrac-Versuchen bestimmt (KLEE & RUMMEL 2000)
und andererseits erhielt man aus der Analyse von Bohrlochrandausbrüchen und der
durch den Bohrbetrieb induzierten Rissneubildungen die Richtungen der horizontalen
Spannungskomponenten (ALBERT 2000). Das Paläostressfeld, d.h. das Spannungs-
feld der letzten tektonischen Phase wurde aufgrund der Analyse von Horizontalstylo-
lithen ermittelt (BÜRGIN 2000). Der Vergleich zwischen der Orientierung des Paläo-
stressfelds und der des rezenten Stressfelds liefert wertvolle Hinweise über die jünge-
re Entwicklung des Spannungsfelds. Daraus lassen sich auch gewisse Aussagen über
zukünftige Tendenzen ableiten. Solche Trendinformationen sind besonders für die
Herleitung der geologischen Langzeitszenarien von Bedeutung, die für zukünftige geo-
logische Entwicklungen betrachtet werden müssen.

Ermittlung des rezenten Spannungsfelds durch Hydrofrac-Messungen


Die Hydrofrac-Versuche (KLEE & RUMMEL 2000, NAGRA 2001) wurden in einem
Teufenbereich zwischen 175.0 m und 789.5 m (Jura bis Trias) durchgeführt. Bei sämt-
lichen Tests wurden dabei typische Riss-Initiierungsereignisse festgestellt. Die zur
Orientierung der hydraulisch induzierten Risse vor und im Anschluss an die Hydrofrac-
Versuche durchgeführten FMI-Messungen (Formation Micro Imager) sowie die Ergeb-
nisse der Abdruckpackertests erbrachten in den meisten Versuchstiefen den Nachweis
der Erzeugung vertikaler bis subvertikaler Risse mit einer Orientierung zwischen NNW-
SSE und NNE-SSW. Die daraus abgeleitete mittlere Orientierung der maximalen hori-
zontalen Spannungskomponente SH beträgt 178° ± 14°, d.h. verläuft annähernd N-S.

Aufgrund der einheitlichen Rissorientierungsdaten erfolgte die Bestimmung der mini-


malen Horizontalspannung Sh direkt aus den Shut-in-Druckwerten. Die Berechnung
der maximalen horizontalen Hauptspannungskomponente SH erfolgte unter Berück-
sichtigung des Porendrucks sowie nummerischer Modellrechnungen zur Poroelasti-
3
zität. Die Vertikalspannung wurde für eine mittlere Deckgebirgsdichte von 2.5 g/cm
ermittelt. Die Ergebnisse liefern für den Opalinuston in ca. 631 m Tiefe Horizontal-
spannungen von SH = 19.7 MPa, Sh = 14.6 MPa ± 2.6 MPa und eine Vertikalspannung
von Sv = 15.5 MPa.

Analyse von Bohrlochrandausbrüchen und induzierten Rissen


Die räumliche Lage der Bohrlochrandausbrüche und der durch den Bohrbetrieb indu-
zierten Risse gilt als zuverlässiger Indikator für die Ermittlung der Orientierung des
rezenten Spannungsfelds (BLÜMLING 1986, MÜLLER et al. 1987, NAGRA 1997).
Eine Beschreibung der Methoden, die Darlegung der Daten und die Ergebnisse der
Analysen sowie deren Diskussion finden sich in ALBERT (2000).

Für die Auswertung von Bohrlochrandausbrüchen und induzierten Rissen standen von
der Sondierbohrung Benken mehrere orientierte Kaliber- und Strukturlogs zur Verfü-
gung. Die UBI-Aufnahmen (Ultrasonic Borehole Imager, s. Fig. 3.10) und die Kaliber-
Messungen lieferten die Datengrundlage für die Auswertung der Bohrlochrandaus-
brüche. Die FMI-Aufnahmen wurden auf induzierte Rissneubildungen hin untersucht.
NAGRA NTB 99-08 110

Fig. 3.10: Laufzeitimage und Bohrlochradien, die aus den UBI-Daten berechnet wur-
den: Sondierbohrung Benken, Abschnitt unterer Dogger – Lias

Die mittlere Orientierung der maximalen horizontalen Spannungskomponente (SH)


konnte aufgrund der verschiedenen Untersuchungen wie folgt bestimmt werden:

Analyse der vertikalen Risse anhand der FMI-Aufnahmen: SH = 171° ± 13°

Die Streichrichtungen der Rissflächen liegen in Richtung der maximalen horizontalen


Spannungskomponente.

Analyse der Bohrlochrandausbrüche anhand des FMI-Kalibers: SH = 172° ± 9°

UBI-Messungen: SH = 171° ± 11°

6-Arm-Kaliber: SH = 190° ± 16°


111 NAGRA NTB 99-08

Werden die Untersuchungen der FMI- und UBI-Daten zusammengefasst, so ergibt


sich als Richtung der maximalen horizontalen Spannungskomponente SH = 171° ± 11°.
Die Analyse der Bohrlochrandausbrüche anhand der 6-Arm-Kaliber-Daten weist eine
Abweichung im Uhrzeigersinn von 19° auf. ALBERT (2000) führt diese Diskrepanz auf
eine systematische Rotation der Messsonde zurück (Orientierungsfehler).

Auswertung der Horizontalstylolithen (Bestimmung des Paläostressfelds)


Wichtige Indikatoren, die Informationen über das Paläostressfeld liefern können, sind
Horizontalstylolithen (s. auch MEIER 1984, HUBER & HUBER 1994). Stylolithen sind
kegel- oder säulenförmige Zapfen, die sich aufgrund von Druck- und Löslichkeitsdiffe-
renzen an gesteinsinternen Kontaktstellen entwickeln. Die Zapfenachse gibt die Rich-
tung des grössten Belastungsdrucks an. Unterschieden wird zwischen Vertikal- und
Horizontalstylolithen. Bei den Vertikalstylolithen ist die Richtung der Zapfenachsen
senkrecht zur Schichtung, und ihre Entstehung kann auf lithologische Überlagerung
zurückgeführt werden. Die Horizontalstylolithen sind durch laterale Kompression ent-
standen und können daher als Indikatoren für das Paläostressfeld benutzt werden.

An den Bohrkernen der Sondierbohrung Benken wurde eine Analyse der Horizontal-
stylolithen durchgeführt (BÜRGIN 2000). Die auswertbaren Stylolithen und Strie-
mungen wurden bezüglich ihrer Zusammenhangslinie (ZL) eingemessen. Die räum-
liche Orientierung der jeweiligen Zusammenhangslinie erfolgte aufgrund des Ver-
gleichs mit den FMI-Logs (BLÄSI et al. 1999, LINIGER 1999). Die gesuchte geogra-
phische Richtung der Strukturen konnte mit diesen Daten bestimmt werden. Der Feh-
ler bei der Orientierung der ZL ist bis auf wenige Abschnitte relativ gross. Dies beruht
darauf, dass in der Sondierbohrung Benken die Schichten relativ flach einfallen und
dementsprechend ihr Abbild im FMI-Log nur eine wenig ausgeprägte Sinusform auf-
weist. Zudem fehlen über weite Strecken für die exakte Orientierung hilfreiche, steil
stehende Strukturen.

In Tab. 3.4 sind die ermittelten Richtungen der Horizontalstylolithen und Striemungen
mit den jeweils abgeschätzten Fehlern aufgeführt. Aufgrund dieser Daten können fol-
gende Aussagen gemacht werden:

Die Richtungen der Stylolithen und Striemungen (BÜRGIN 2000) zeigen wegen der
über weite Strecken oft schwierigen Orientierung der Kerne eine deutliche Abhängig-
keit von der Zusammenhangslinie (ZL). Innerhalb einer ZL sind Abweichungen der
Richtungen sehr klein mit Ausnahme bei ZL 80 und 83, innerhalb derer zwei Richtun-
gen festgestellt werden konnten. Aus diesen Gründen können für die Festlegung des
Paläostressfelds nur die Daten aus den Vertrauensbereichen mit den kleinsten Fehlern
verwendet werden.

Die Bereiche, in denen die Zusammenhangslinien sehr sicher (± 17°) bestimmt werden
konnten, decken mit Ausnahme von drei Ausreissern (ZL 4: 53°, ZL 26: 74°, ZL 49:
140°) den Sektor zwischen 350° (170°) und 40° ab. Aufgrund dieser Daten müsste die
Richtung der grössten Spannungskomponente zwischen N-S und NNE-SSW liegen.
Nach mündlicher Mitteilung von M. Liniger konnten innerhalb dieses Bereichs die
Zusammenhangslinien 5 und 6 noch exakter orientiert werden. Der Fehler dürfte hier
bei ca. ± 2° liegen. In diesem Abschnitt mit der sichersten Orientierung der ZL weisen
die Daten auf eine N-S-Richtung (1°) für die maximale horizontale Spannungskom-
ponente hin. Aber auch wenn der vollständige Datensatz verwendet und gemittelt wird,
liegt die bestimmte Richtung für die maximale horizontale Komponente praktisch N-S
(178°).
NAGRA NTB 99-08 112

Tab. 3.4: Ermittelte Richtungen der Horizontalstylolithen und Striemungen mit abge-
schätztem Fehlerbereich bezüglich der Zusammenhangslinien (ZL)

Lithologische ZL Messung Azimut Mittlerer


Einheiten Fehler der ZL
Nr. Nr. Teufe [m] Stylolith Striemung
Wohlgeschichtete Kalke 2 1 401.41 14 14
2 401.82 16 16
3 401.98 15 15
4 404.82 12
3 5 407.29 32 17°
6 407.38 34 34
7 408.45 34
8 410.83 34 34
9 410.91 30
Hornbuck-Schichten 4 10 415.86 53
5 11 421.07 11
12 421.83 10
6 13 425.04 175 2°
14 425.15 177 177
15 425.55 177
16 427.83 177
7 17 429.68 28
18 429.81 30 30 34°
19 433.80 34
Effinger Schichten 8 20 437.59 170 17°
11 21 447.80 148 34°
Wedelsandstein 26 22 534.30 74
17°
Arietenkalk 49 23 684.50 140
Trigonodus-Dolomit 77 24 831.06 46
25 831.14 50
78 26 837.01 48
27 837.04 46
28 847.91 30 30
29 848.13 31
Hauptmuschelkalk 80 30 851.60 138
31 851.72 144 144
32 851.80 137 137
33 851.84 134 134
34 851.90 137
35 851.96 131
36a 852.09 124
36b 852.09 137 34°
81 37 854.30 50
82 38 856.66 22
39 857.37 168
40 857.49 166 166
41 857.66 165
42 857.97 175
83 43 860.57 143 143
44 860.71 143
45 861.01 143 143
46a 861.25 141 141
46b 861.25 163 163
47 861.39 149
48 861.58 148
113 NAGRA NTB 99-08

Interessante Ergebnisse zeigen die Daten im Hauptmuschelkalk. BÜRGIN (2000)


konnte in diesem Abschnitt zwei Deformationsrichtungen nachweisen. Auf zwei Kern-
querschnittsflächen lassen sich eindeutig zwei verschiedene Striemungsrichtungen
(ZL 80, Teufe 852.09 m Nr. 36a und 36b sowie ZL83, Teufe 861.25 m Nr. 46a und
46b; Tab. 3.4) und bei der letzten auch zwei sich kreuzende Zapfenachsen von Hori-
zontalstylolithen erkennen. Die Differenz zwischen den beiden Richtungen betrug 13°
bzw. 22°. Die beiden beobachteten Deformationsrichtungen beschränken sich auf
diese triadischen Sedimente, in den hangenden Abfolgen konnte nur eine Richtung
festgestellt werden. Diese Beobachtung von zwei Phasen in den triadischen Gesteinen
würde sich gut mit den Erkenntnissen aus der strukturgeologischen Interpretation der
3D-Seismik (BIRKHÄUSER et al. 1999) decken, aufgrund welcher sich eine triadisch-
liasische und eine känozoische Kompressionsphase unterscheiden lassen (s.
Tab. 4.2). Aufgrund der vorliegenden Daten zum Paläostressfeld kann aber nicht ent-
schieden werden, ob es sich hier wirklich um zwei zeitlich unabhängige Deformations-
phasen handelt oder ob die beobachtete Richtungsänderung auf eine relativ kleine
Rotation des Spannungsfelds während der gleichen Phase zurückzuführen ist.

3.6.4 Zusammenstellung und Diskussion der Resultate

Die Betrachtung des rezenten Spannungsfelds in der Nordschweiz dient in erster Linie
dem Verständnis der Dynamik und Kinematik der obersten Kruste in diesem Gebiet.
Aus diesem Grund wurden nur Daten aus den Tiefbohrungen und der Analyse von
Herdflächenlösungen verwendet. Auf die zahlreichen Informationen von Messungen
nahe oder an der Oberfläche (s. BECKER 2000, BECKER & WERNER 1995) wurde
bewusst verzichtet, weil diese aufgrund der Oberflächeneffekte (Entlastungseffekte,
Beeinflussung durch die Topographie etc.) oft schwierig zu interpretieren sind.

In der zentralen Nordschweiz ergeben die Daten aus den Sondierbohrungen der Nagra
für die Richtung der grössten horizontalen Spannungskomponente im kristallinen
Grundgebirge Azimutwerte zwischen 125° und 145° (s. Tab. 3.5 und Fig. 3.11). Die
ermittelten Daten im Nordschweizer Permokarbontrog weisen auf eine Rotation im
Uhrzeigersinn von ca. 30° gegenüber dem Grundgebirge (Azimut SH = 160 ± 15°) hin.
In der Sedimentabfolge des Deckgebirges im Tafeljura ist die Rotation mit Werten zwi-
schen 10 und 30° etwas geringer.

Die Daten aus der Sondierbohrung Schafisheim, die südlich des Faltenjuras liegt und
in der die Abscherhorizonte der Juraüberschiebung durchteuft wurden, zeigen deutlich
verschieden orientierte Spannungsfelder unterhalb und oberhalb des Abscherhorizonts
resp. im Deckgebirge (Azimut SH = 7°) und im Grundgebirge (Azimut SH = 135°). Diese
Entkopplung des Spannungsfelds betrachten MÜLLER et al. (1987) als weiteres Indiz
für den noch aktiven Fernschub.

Die Ermittlung des rezenten Spannungsfelds mit der Inversionsmethode der Herdflä-
chenlösungen (DEICHMANN et al. 2000 und Kap. 3.6.2) ergibt für das Grundgebirge
der Nordwestschweiz und der zentralen Nordschweiz ein ähnliches Bild. Die Achse der
grössten horizontalen Spannungskomponente (SH) liegt wiederum in NW-SE-Richtung
(142°) und die der kleinsten (Sh) weist eine NE-SW-Orientierung (52°) auf. Die vielen
Herdmechanismen mit Abschiebungscharakter (Fig. 3.7) deuten auf Extension in Rich-
tung der kleinsten Spannungskomponente hin.
NAGRA NTB 99-08 114

Tab. 3.5: Zusammenstellung der Resultate zur Orientierung des Spannungsfelds in


der Nordschweiz aus den Daten der Nagra-Sondierbohrungen und aus den
Analysen der Herdflächenlösungen

Lokalität Geologie Orientierung Angewandte Referenz


Methode
Sondierbohrung Deckgebirge SH = 140° Bohrlochrand- BLÜMLING
Böttstein ausbrüche 1986
Kristallines SH = 125° ± 15°
Grundgebirge MÜLLER et al.
1987
Sondierbohrung Permokarbon SH = 160°
Kaisten
Kristallines SH = 125° ± 10°
Grundgebirge
Sondierbohrung Deckgebirge SH = 160°
Riniken
Sondierbohrung Deckgebirge SH = 142° ± 5°
Weiach
Permokarbon SH = 160° ± 15°
Kristallines SH = 130° ± 10°
Grundgebirge
Sondierbohrung Deckgebirge Malm SH = 7° ± 10°
Schafisheim
Unterer – Mittlerer SH = 135° ± 10°
Muschelkalk
Kristallines SH = 135° ± 10°
Grundgebirge
Sondierbohrung Kristallines SH = 136° NAGRA 1991a
Leuggern Grundgebirge
Sondierbohrung Kristallines SH = 145° ± 17° NAGRA 1992b
Siblingen Grundgebirge
Sondierbohrung Deckgebirge SH = 172° ± 11° ALBERT 2000
Benken
SH = 171° ± 13° Induzierte Risse
SH = 7° ± 15° S-Wellengeschw.- HAGOOD 2000
anisotropie
SH = 178° ± 14° Hydrofrac- KLEE &
Messungen RUMMEL 2000
SH = 1° ± 10° Horizontal- BÜRGIN 2000
stylolithe

Nordwestschweiz vorwiegend 1 = 142° Analyse der DEICHMANN


Grundgebirge Herdflächen- et al. 2000
3 = 52° lösungen
Nordostschweiz vorwiegend 1 = 169°
Grundgebirge
3 = 79°
115 NAGRA NTB 99-08

In der Nordostschweiz weisen die Ergebnisse der Inversionsmethode auf eine Rotation
des Spannungsfelds von ca. 27° im Uhrzeigersinn gegenüber der Nordwestschweiz
hin. Die grösste horizontale Spannungskomponente weist annähernd eine N-S-Rich-
tung (Azimut SH = 169°) auf. In Richtung der kleinsten horizontalen Spannungskompo-
nente (Azimut Sh = 79°), die ungefähr dem alpinen Streichen entspricht, muss auf-
grund der Herdflächenlösungen Extension erwartet werden.

300
Oberrheingraben

Schwarzwald-
Massiv Siblingen
Schaffhausen
Benken Bodensee
Leuggern
Thur
in
Rhe Böttstein Weiach
Basel Kaisten Riniken Winterthur
ljura
Ta f e Lim
ma
ra t
nju
Re

e Zürich
us

alt
250
s

F Schafisheim

re Ermittelte S H - Richtung aufgrund von Bohrdaten


Aa

c he Grundgebirge Sondierbohrungen
dis e
Permokarbontrog
ä n s Deckgebirge
ll s
tte la
Mi Mo Orientierung des Spannungsfelds aufgrund der
Analyse von Herdflächenlösungen
SH S H / S h : Maximale / minimale
10 km Sh horizontale Hauptspannung
600 650

Fig. 3.11: Überblick über die Orientierung des rezenten Spannungsfelds in der Nord-
schweiz

Sehr ähnliche Richtungen ergeben die Analysen und Messungen, die mit verschie-
denen Methoden und von unterschiedlichen Bearbeitern aus der Sedimentabfolge der
Sondierbohrung Benken ermittelt wurden. Die Werte der Hydrofrac-Messungen weisen
eindeutig auf Kompression hin und ergeben für die grösste horizontale Spannungs-
komponente eine Richtung von annähernd N-S (Azimut SH = 178° ± 14°). Dass das
Deckgebirge im Zürcher Weinland – zumindest während der letzten Deformations-
phase, die möglicherweise auch heute noch anhält – unter Kompression stand, wird
durch das Auftreten zahlreicher Horizontalstylolithen bestätigt, deren Achsen ebenfalls
eine N-S-Orientierung (Azimut SH = 1° ± 10°) aufweisen. Dies ist ein wichtiger Hinweis
darauf, dass sich das Spannungsfeld seit der letzten Deformationsphase nicht grundle-
gend geändert hat. Auch die Analysen der Bohrlochrandausbrüche, der induzierten
Risse und der S-Wellengeschwindigkeitsanisotropie (HAGOOD 2000) bestätigen diese
generelle N-S-Richtung für die grösste horizontale Spannungskomponente im Deck-
gebirge. Dieses konsistente Bild der Spannungsanalysen widerspiegelt eine hohe Zu-
verlässigkeit des dargelegten Datensatzes.
NAGRA NTB 99-08 116

3.7 Die geothermischen Verhältnisse in der Nordschweiz


Für das Verständnis der jungen geodynamischen Vorgänge (tektonische Prozesse,
Intrusionen, Magmatismus) sind zuverlässige Kenntnisse über das regionale geother-
mische Bild notwendig. Die Arbeiten von RYBACH et al. (1987) und THURY et al.
(1994) wurden für eine aktuelle Darstellung der geothermischen Verhältnisse in der
Nordschweiz mit den neuesten Daten und Auswertungen ergänzt (SCHÄRLI &
RYBACH 2002).
Die Analyse der geothermischen Verhältnisse in der Nordschweiz basiert auf Tempe-
raturmessungen aus insgesamt 59 Bohrungen (s. Beil. 3.5 und Fig. 3.12). Diese Tem-
peraturmessungen wurden mit verschiedenen Methoden und unterschiedlicher Mess-
dichte durchgeführt, weshalb die Datenqualität von Bohrung zu Bohrung stark variieren
kann. Die ausgewerteten Bohrungen sind zudem unregelmässig auf die Nordschweiz
verteilt mit Häufungen in der Region Basel, dem unteren Aaretal, der Region Zürich
und dem westlichen Bodenseegebiet.
Die Auswertung der Temperaturmessungen ist in SCHÄRLI & RYBACH (2002) de-
tailliert beschrieben. In Fig. 3.12 sind die gemittelten Temperaturgradienten für alle
untersuchten Bohrungen der Nordschweiz dargestellt (vgl. auch Beil. 3.5). Aufgrund
der unterschiedlichen Datenverteilung und Qualität der Messungen wird in diesem
Bericht auf eine Isoliniendarstellung der Temperaturgradienten verzichtet.
Die Daten zeigen eine graduelle Zunahme der Gradientenwerte von SSE nach NNW,
d.h. etwa senkrecht zum alpinen Streichen (Fig. 3.12). Die höchsten Werte finden sich
im Gebiet des Zusammenflusses der Aare, Reuss und Limmat und dem unteren Aare-
tal sowie im Gebiet des oberen Rheintals in der Gegend von Basel. Östlich des unte-
ren Aaretals wurden aber auch in den Bohrungen Weiach, Eglisau und Benken mittlere
Temperaturgradienten von über 40° C/km bestimmt. Im Gebiet des unteren Bodensees
zeigen die bestimmten mittleren Gradienten, mit Ausnahme von Berlingen-3, Werte
zwischen 31 und 37° C/km. In der Bohrung Berlingen-3 wurde ein extrem hoher Wert
von 47° C/km bestimmt. Die Bedeutung dieses Datenpunkts ist zur Zeit noch unklar.
Möglicherweise ist dieser erhöhte Gradient bedingt durch eine Störung, wie sie durch
die Seerückenseismik in diesem Gebiet mehrfach nachgewiesen, aber bisher noch nie
unter diesem Gesichtspunkt untersucht wurde.
Die Zone unteres Aaretal – Schaffhausen, in der erhöhte Gradienten gemessen wur-
den, deckt sich auffallend mit der Verbreitung der Nordschweizer Permokarbonvor-
kommen (Beil. 2.4). Ein Zusammenhang zwischen den erhöhten geothermischen Gra-
dienten und dem Weiach-Trog wurde daher schon wiederholt postuliert (DIEBOLD &
MÜLLER 1985, RYBACH et al. 1987). Dabei wird angenommen, dass Bruchsysteme,
welche die einzelnen Grabensegmente begleiten (DIEBOLD et al. 1991), den Aufstieg
warmer Tiefenwässer begünstigen.
Der geothermische Gradient wird durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Ohne weitere
Kenntnisse oder Annahmen über die Lithologie und Tektonik vermag er deshalb nur
einen beschränkten Einblick in die geothermischen Verhältnisse des Untergrunds zu
vermitteln. Daher wurde für die weiteren Betrachtungen auch der geothermische
Wärmefluss bestimmt, der die lokalen lithologischen Bedingungen berücksichtigt und
deshalb ein Mass für die tatsächliche Wärmeproduktion ist. Der Wärmefluss ist das
Produkt der Wämeleitfähigkeit der Gesteinsabfolge und des Temperaturgradienten in
vertikaler Richtung. Die entsprechenden Werte aus Beil. 3.5 sind in der Wärmefluss-
karte (Fig. 3.13) dargestellt. Aufgrund dieser Karte, die von SCHÄRLI & RYBACH
(2002) erstellt wurde, lassen sich Zonen erhöhter Wärmeproduktion abgrenzen.
+ + + + + + + +
+ + + + + + + + 57 Schaffhausen 38 30 13 7
55 5 + + + + + + + + 33 36 34
45 46 24
+ + + + + + + + 35 47 34
58 832 50
+ + + + + + + + 31 37
44 49
42 18 32 25
+ + + + + + + + 36 37
Basel 54 55 27
+36 + + + + + +
41
22+44 42
49
1 52 10 47 Thu
r
2 41 + + + + + 41+ 41
+ 34 + 56 21 36 42
43 Rhein 41
43 42 33 20 51
14 38 35

Beil. 3.5)
31 38 Winterthur
38 44 42
28 53
39 9
15 23 43
17 51 40 29
12 50 47 31
16
32 29
40 35 St. Gallen
250
36 6 51 48
37 37 31
56 34 4 30 se
r a 31
39 26 as
Ju Zürich ol 30 59
29

Reu
11
M

ss
31
ne
l pi
32 32 ba
40
117

Aare 3 Su
33 34
27 31 19
24

Luzern

“Alte” Bohrungen (bis 1987) 200


“Neue” Bohrungen (nach 1987)
48 Nummer der Bohrung
30 30 Gemittelter Temperaturgradient °C/km
27 zwischen T0 und tiefstem Temperatur-
wert T(zm)
10 km

00 650 700 750

Fig. 3.12: Geographische Lage der untersuchten Bohrungen der Nordschweiz mit
Angabe der gemittelten Temperaturgradienten (Datengrundlage s.
NAGRA NTB 99-08
+ + + + + + + +
+ + + + + + + + 57 Schaffhausen 69 83 13 0 7
86 38 10 105
123 5 + + + + + + + + 116
80
45 46 24
120 + + + + + + + + 58 102
100 98
+ + + + + + + + 44
125 49 890 50 115
109 25
+ + + + + + 0 18 115
+ + 27 10 104
Basel 54
+55 + + + + + 138 + 127
+ 10 22127 42 47
1 52 Thu
r
2 + 97 + +34 + + + + 1402 + 169+ 41
97 80 21 124 136 120
114 Rhein20 99 117 36
107 155
NAGRA NTB 99-08

117 0 53 35 168
10 14 122 0 Winterthur
31 12
28 70 99
9 15 101

80
17 122 23 29
0 120
10 109

140
12 160
1 101
16 43 92
86 St. Gallen
37 250
80 6 48
100 51 39
80

95 83 93
115 97 4 se
r a 56 69 26 as
Zürich ol 66

80
Ju 59

Reu
82 M

ss
11 ne
91 100 l pi
32 ba
80 87 40
118

Aare 3
Su
33
70 103

19

80
Luzern 1 Anomalie bei Schinznach-Bad – Baden
2 Anomalie bei Böttstein – Klingnau
Bohrungen mit Wärmeflusswerten
aus MEDICI & RYBACH (1995)
Bohrungen mit Wärmeflusswerten aus
SCHÄRLI & RYBACH (2002)
200
Bohrung ohne Wärmeflussanalyse
48 Nummer der Bohrung (s. Beil. 3.5)
2
30 Wärmeflusswert in mW/m
61
30
70 Wärmefluss-Isolinie (mW/m2)
> 160 mW/m2

Fig. 3.13: Wärmeflusskarte der Nordschweiz (nach SCHÄRLI & RYBACH 2002)
140 - 160 80 - 100
10 km 120 - 140 < 80
100 - 120
650 700 750

Die Wärmeflusskarte (Fig. 3.13) ergibt ein ähnliches Bild wie die Temperaturgradien-
tenkarte (Fig. 3.12). Die Karte zeigt eine graduelle Zunahme des geothermischen
119 NAGRA NTB 99-08

2
Wärmeflusses von SSE (Alpennordrand, Werte < 80 mW/m ) nach NNW bis etwa zum
2
Rhein (100 – 120 mW/m ), d.h. die Richtung der Zunahme verläuft etwa senkrecht
zum Streichen der Alpenfront resp. des Molassebeckens. Dieses regionale Bild wird
2
überlagert durch zwei Zonen mit erhöhtem Wärmefluss, wo Werte bis 170 mW/m
erreicht werden.
2
Eine ausgedehnte positive Anomalie mit Wärmeflusswerten > 120 mW/m liegt in der
zentralen Nordschweiz zwischen dem Rhein und dem Zusammenfluss von Aare,
Reuss und Limmat. Innerhalb dieser Anomalie lassen sich zwei lokale Zonen mit Wär-
2
meflusswerten von über 160 mW/m abgrenzen (Fig. 3.13). Die eine liegt am Südrand
des östlichsten Faltenjuras zwischen Bad Schinznach und Baden (Zone 1), die andere
im unteren Aaretal bei Böttstein – Klingnau (Zone 2). Nördlich von Basel sind die Wär-
meflusswerte im Bereich des Oberrheingrabens ebenfalls erhöht.
Nach SCHÄRLI & RYBACH (2002) lassen sich diese Zonen erhöhten Wärmeflusses
nur durch den advektiven Wärmetransport aufsteigender Tiefengrundwässer entlang
tektonischer Störungen erklären, bei allerdings sehr geringer Fliessrate. Aufgrund der
geologischen bzw. der tektonischen Situation der beiden Zonen mit erhöhtem Wärme-
fluss kann diese Hypothese der aufsteigenden Tiefengrundwässer als plausibel be-
trachtet werden. Zumindest für die Zone 1 gibt es in den oberflächennah gefassten
Thermalquellen von Baden/Ennetbaden hydrochemische Evidenzen für die Beimi-
schung von Tiefengrundwässern aus dem Grundgebirge (Kap. 3.7.3 in NAGRA 2002).
Beide lokalen Anomalien liegen über dem südlichen bzw. nördlichen Rand des
Weiach-Trogs, dessen Randzonen durch nordvergente bzw. südvergente Sockel-
sprünge (SPRECHER & MÜLLER 1986) geprägt sind. Der Permokarbontrog weist
gegenüber dem kristallinen Grundgebirge eine bedeutend geringere hydraulische
Durchlässigkeit auf (THURY et al. 1994) und wirkt daher als Barriere für aufsteigende
Tiefenwässer. Die geographische Situation der Anomalien lässt sich nicht nur durch
ihre Lage über den Randzonen des Permokarbontrogs mit tiefgreifenden tektonischen
Störungszonen erklären, sondern auch durch die Potenzialdifferenz zwischen der
jeweiligen Infiltrations- und der Exfiltrationszone (s. THURY et al. 1994).
So liegt die südliche Anomalie von Bad Schinznach – Baden im Bereich nordvergenter
Sockelsprünge des Permokarbontrog-Südrands sowie zahlreicher Aufschiebungen des
Faltenjuras, und gleichzeitig besteht aber auch eine hohe Potenzialdifferenz gegen-
über dem vermuteten Infiltrationsgebiet am Alpennordrand.
Als Infiltrationsgebiet für die Tiefenwässer, welche die nördlich des Permokarbontrogs
liegende Wärmeanomalie von Böttstein – Klingnau und in abgeschwächter Form auch
2
eine solche bei Weiach – Eglisau (136 und 120 mW/m ) bewirken, gelten Kristallin-
zonen des Südschwarzwalds. Die beachtliche Höhen- und damit Potenzialdifferenz
zwischen dem Infiltrationsgebiet im Südschwarzwald und dem untersten Aaretal dürfte
zusammen mit der tektonischen Situation (Trogrand & Vorwaldstörung, s. Beil. 2.1) der
Grund für den hohen, bei Böttstein – Klingnau gemessenen Wärmefluss sein. Entlang
des Permokarbontrogs nimmt die Potenzialdifferenz gegen Osten ab. In gleicher Rich-
tung zeigt auch die Karte geringere Wärmeflusswerte.

3.8 Geodynamisches Konzept Nordschweiz

Als Synthese der neotektonischen Daten dieses Kapitels wird im Folgenden ein geo-
dynamisches Konzept für die Nordschweiz vorgeschlagen und kurz diskutiert. Es
NAGRA NTB 99-08 120

nimmt Bezug auf die regionalgeologischen Daten und Zusammenhänge, wie sie in
Kap. 2, insbesondere Kap. 2.4 über die Sedimentation und Tektonik während des
Tertiärs und Kap. 2.5 zur jüngsten geologischen Entwicklung im Quartär abgehandelt
wurden. Beil. 2.1 zeigt die aktuelle tektonische Situation und die wichtigen Strukturen
der Region zwischen dem Alpennordrand und dem mesoeuropäischen Vorland (Ober-
rheingraben – Südschwarzwald – Hegau). Diese an sich statische Momentaufnahme
soll nun mit dem neotektonischen Konzept dynamisiert werden, um so die rezent akti-
ven und damit für die Langzeitszenarien wichtigen Strukturen und deren Bewegungs-
sinn aufzeigen zu können.

In den bisherigen Berichten der Nagra zur Neotektonik und zu den geologischen Lang-
zeitszenarien wurde ausführlich über tektonische Rahmenszenarien diskutiert.
(DIEBOLD & MÜLLER 1985, NAEF 1992, THURY et al. 1994). Für die beiden tektoni-
schen Rahmenszenarien:

A = alpine Orogenese und damit aktive Krustenverkürzung beendet

B = andauernde alpine Orogenese und aktiver Zusammenschub

werden mehr oder minder stichhaltige Argumente aufgeführt. Die neuesten Daten zu
Geodäsie, Seismotektonik und Spannungsmessungen wie sie in Kap. 3.4 bis 3.6 be-
reits ausführlich behandelt wurden, scheinen eher für Szenarium B zu sprechen. Da
dieses Szenarium auch projektorientiert, d.h. im Hinblick auf die Erosionsszenarien
letztlich von grösserer Tragweite ist, wird im Weiteren nur noch die Variante B "an-
dauernde alpine Orogenese und aktiver Zusammenschub" in Betracht gezogen. Unter
diesen Voraussetzungen wird die aktuelle endogene Dynamik der Nordschweiz und
ihrer Umgebung bestimmt von:
• dem Nordschub der Alpen im Südosten, dessen frontale Kompression sich sowohl
auf das Deckgebirge (Abscherung, Fernschub) wie auch auf das kristalline Grund-
gebirge (Blattverschiebungen und Abschiebungen, aber keine Überschiebungen)
auswirkt, und
• einer weiteren Zerblockung, Zerscherung und differenzierten Heraushebung des
Schwarzwalds im Nordwesten, die sich in Form einer zumeist extensiven Horst-
und Grabentektonik sowie ± konzentrisch angeordneter Randflexuren äussert.

Daraus ergibt sich das in Fig. 3.14 skizzierte geodynamische Konzept für die Nord-
schweiz, das die rezenten Bewegungen in dieser Interferenzzone zwischen dem
aktiven alpinen Zusammenschub und dem tektonisch weitgehend inaktiven mesoeuro-
päischen Vorland erklären soll. Diese Darstellung ist eine Synthese des neotektoni-
schen Datensatzes aus Kap. 3; sie zeigt schematisch auf, wie sich die wichtigen tekto-
nischen Elemente unter den herrschenden Spannungsbedingungen weiterbewegen
resp. reaktivieren lassen. Im Gebiet ausserhalb des Nordrands der Kompressionszone
verursacht durch Fernschub verlaufen dabei die Bewegungen des Sockels (Abschie-
bungen sowie transtensive und transpressive Blattverschiebungen) weitgehend kon-
gruent mit denjenigen des Deckgebirges, d.h. sie können mit oberflächengeologischen
Methoden direkt beobachtet und gemessen werden (z.B. Hohenzollern-Graben, ILLIES
1982). Innerhalb des vom alpinen Fernschub betroffenen Gebiets findet aber eine
zunehmende Entkopplung der Bewegungen des Sockels von denjenigen des abge-
scherten Deckgebirges statt; hier sind die rezenten Bewegungen des Sockels nur
konzeptionell oder indirekt aus Messungen der Seismotektonik (Beil. 3.4) ableitbar.
121 NAGRA NTB 99-08

*
Benken
Rhein

20 km

Orientierung der horizontalen Haupt- Nordrand des Alpenkörpers mit


spannung in der oberen Kruste aktiver Hebung und Krustenverkürzung

Abscherung und Hebung im Deckgebirge


Gebiete mit rezenter Hebung
durch Fernschub (seismisch kartierbar)
Gebiete mit rezenter Absenkung Kompression und Hebung im Deckge-
birge (gemäss Neotektonik-Datensatz)
Gebiete mit minimalen
Vertikalbewegungen Oberrheingraben
Nordrand der Kompressionszone
Gebiete mit Vorherrschen von
Nordrand des Fernschubs Transtension und Absenkung
seismisch kartierbar Übergangszone ohne Daten
(Tafeljura)
Schematische Darstellung der
Gebiete mit Vorherrschen von
* bevorzugten Bewegungen im
herrschenden Spannungsfeld Transpression und Hebung

Störung
Flexur
Aufschiebung Farbcodierung:
Antiklinale Rot = Deckgebirge im Alpenvorland
Reaktivierung von Sprödstrukturen Violett = Grund- und Deckgebirge von
als: Mesoeuropa
Blau = Seismotektonische Indizien
Dextrale Transversalstörungen aus der tieferen Kruste
Sinistrale Transversalstörungen

Abschiebungen

Fig. 3.14: Geodynamisches Konzept Nordschweiz


NAGRA NTB 99-08 122

Oberrheingraben – Schwarzwald – Hegau


Die seismotektonischen Daten des Schwarzwalds und seiner Umgebung (Oberrhein-
graben und Dinkelberg) zeigen, dass die Kruste auch hier vom rezenten alpinen Span-
nungsfeld mit einer horizontalen, ca. NNW-SSE verlaufenden Hauptspannung be-
stimmt ist (z.B. BONJER et al. 1989). Neueste seismotektonische Analysen ergeben
ein etwas differenzierteres Bild der Spannungsverteilung über die gesamte Kruste des
südlichen Oberrheingrabens und angrenzender Gebiete. Nach PLENEFISCH &
BONJER (1997) dominieren in der oberen Kruste (bis ca. 15 km Tiefe) Herdflächenlö-
sungen mit vorwiegend "Blattverschiebungscharakter", die auf eine horizontale Haupt-
spannungskomponente infolge anhaltender Kollision im Alpenbogen hinweisen. Somit
wäre hier, neben der vorherrschenden Horst- und Grabentektonik, auch eine neotekto-
nische Reaktivierung geeignet ausgerichteter Schwächezonen, wie z.B. des Albtal-
oder des Bonndorfer Grabens, als Blattverschiebungen zu erwarten (vgl. METZ &
REIN 1958 und Fig. 3.14). In der tieferen Kruste ist die Orientierung der grössten
Hauptspannungskomponente vorwiegend vertikal, wodurch eine Zerrung in der Unter-
kruste belegt wird. Für PLENEFISCH & BONJER (1997) ist dies ein klarer Hinweis auf
anhaltende Subduktion der europäischen Kruste am Alpennordrand.

Die seismotektonischen Analysen (s. auch Beil. 3.4 sowie DEICHMANN et al. 2000
und PLENEFISCH & BONJER 1997) ergaben dagegen keinerlei Hinweise auf eine
Krustenverdickung an Auf- und Überschiebungen, welche die beträchtliche postmolas-
sische Heraushebung des Schwarzwalds erklären könnten. Das Konzept eines sub-
krustalen Massentransports, wie es auch von LAUBSCHER (1992) vorgeschlagen
wurde, ist deshalb weiterhin als plausible Erklärung der jungen, domartigen Heraushe-
bung des Schwarzwalds anzusehen.

Die jungen reaktivierten, vorwiegend NW-SE streichenden Verwerfungen des Süd-


schwarzwalds setzen sich in den benachbarten Tafeljura und zumindest bis an den
Nordrand des Nordschweizer Permokarbontrogs fort, sind aber südlich des Baden –
IrcheI – Herdern-Lineaments nicht mehr festzustellen (s. Beil. 2.1). Dazu gehören v.a.
die wichtigen Randverwerfungen des Hegau – Bodensee-Grabens, die während und
nach der Ablagerung der OSM im Miozän nachweislich aktiv waren. Rezente oder
zumindest quartäre Abschiebungen wurden zwar bisher weder an der Randen-Störung
noch an den zahlreichen kleineren Verwerfungen des Hegaus mit oberflächengeo-
logischen Methoden nachgewiesen, eine entsprechende Aktivität wäre aber im herr-
schenden Spannungsfeld plausibel und wird deshalb auch konzeptionell postuliert
(Fig. 3.14).

Wie die seismotektonischen Analysen der oberen Kruste des Hegaus und der an-
grenzenden Nordostschweiz zeigen, kommen dort – wie im Oberrheingraben – Süd-
schwarzwald-Gebiet – auch Herdflächenlösungen mit reinem Blattverschiebungs-
charakter und solche mit Abschiebungscharakter vor (Beil. 3.4). Entsprechende Herd-
flächenlösungen zeigen dextrale Horizontalverschiebungen an NNW-SSE bis WNW-
ESE verlaufenden Flächen. Eine entsprechende neotektonische Aktivität wird deshalb
auch für die Verwerfungen des Hegau – Bodensee-Grabens postuliert. Bei eher steil
verlaufenden Bruchflächen herrscht dabei Transtension vor, bei flacher, d.h. ca.
WNW-ESE verlaufenden, dominiert Transpression, die zur Bildung lokaler Hebungs-
zonen führt. Die zum dextralen System konjugierten sinistralen Störungen mit rheini-
schem Streichen (NNE-SSW) sind östlich des Gebiets Oberrheingraben – Dinkelberg
– Zeiningen nur untergeordnet vorhanden.
123 NAGRA NTB 99-08

Andererseits werden im Hegau und im nördlich angrenzenden Donautal durch die


Nivellementdaten deutliche Senkungstendenzen angezeigt (Beil. 3.3), die mit einer an-
dauernden Aktivität als Grabenzone gut vereinbar sind. Diese Senkungszone setzt
sich aber nicht nach Südosten in Richtung Bodensee fort, sondern wird hier von einem
Gebiet mit teilweise relativ starken Hebungen begrenzt. Auch im Süden, über den
Hochrhein hinaus, befindet sich wieder ein Hebungsgebiet; einzig bei Schaffhausen,
östlich der Neuhauser Störung werden noch Senkungen angezeigt (Beil. 3.2). Diese
relative Senkungszone im Gebiet Hegau – Donautal liegt ausserhalb der Hebungszone
des Schwarzwalds und wird auch nicht durch die Hebungen des alpinen Fernschubs
beeinflusst. Dabei könnten v.a. parallel bis subparallel zur herrschenden horizontalen
Hauptspannung, d.h. NNW-SSE bis NNE-SSW verlaufende Strukturen als Abschie-
bungen aktiv sein (z.B. Nr. 52 in Beil. 3.4).
Grössere Bedeutung besitzt eine seismisch aktive Zone, die von Stuttgart über die
Schwäbische Alb nach Süden streicht und wahrscheinlich bis ins Gebiet Hegau –
Hochrhein reicht (SCHNEIDER 1967). Sie wurde von REINECKER & SCHNEIDER
(2002) in Zusammenhang mit den neotektonischen Verwerfungen des Hohenzollern-
Grabens analysiert und als sinistrale Albstadt-Scherzone bezeichnet. Entsprechende
Verwerfungen und die ausgeprägte Senkungszone bei Tuttlingen (Beil. 3.3) könnten
Teil dieser rheinisch streichenden Störungszone sein. Eine weitere Fortsetzung nach
Süden (bis in die Nordostschweiz) ist aber nicht zu erkennen.

Das alpine Spannungsfeld


Aufgrund der zahlreichen Daten aus Kap. 3.6 verläuft die maximale Hauptspannungs-
richtung des alpinen Stressfelds im Nordschweizer Alpenvorland NW-SE bis N-S,
wobei insbesondere im Deckgebirge lokal grössere Abweichungen auftreten können.
Im geodynamischen Konzept Nordschweiz (Fig. 3.14) wurde für die Region Nordost-
schweiz ein gemitteltes Streichen von ca. 170° gewählt (vgl. Kap. 3.6 und DEICH-
MANN et al. 2000). Der theoretisch bestehende Zusammenhang zwischen der Aus-
richtung tektonischer Elemente und dem entsprechenden Bewegungsmechanismus ist
im Spannungsdiagramm (Fig. 3.14, rechts oben) dargestellt. Daraus geht hervor, dass
die Auf- und Überschiebungen sowohl an der Alpenfront wie auch im Faltenjura und
der Vorfaltenzone für eine rezente Aktivität annähernd ideal, d.h. in etwa senkrecht
zum herrschenden Spannungsfeld verlaufen.
Charakter und Ausbildung der Auf- und Überschiebungen des Faltenjuras und der Vor-
faltenzone sind aus Oberflächenaufschlüssen bekannt und können mithilfe der zahl-
reichen Seismikdaten unter dem Molassenordrand weiter nach Nordosten verfolgt wer-
den. Der eigentliche Nordrand der durch Fernschub verursachten Kompressionszone
lässt sich bis etwa ins Zürcher Weinland, wo er nördlich der Sondierbohrung Benken
verlaufen muss, relativ genau darstellen, weiter im Osten sind die Belege aber nur
noch spärlich.
Südlich des in Beil. 3.3 eingezeichneten Nordrands der Kompressionszone zeigen die
Nivellementdaten durchwegs relative Hebungen gegenüber dem Referenzpunkt bei
Laufenburg an (s. Kap. 3.4.1); dies wird als Ausdruck anhaltender Kompression und
eines aktiven Zusammenschubs interpretiert, wobei v.a. südlich der Faltenjura-Front
aber auch in der westlichen Vorfaltenzone eine fortschreitende interne Deformation
des abgescherten Deckgebirges durch Antiklinalen und Synklinalen angezeigt wird (s.
Beil. 2.2, Profil 1 und 2). Weiter im Osten sind auf den Reflexionsseismik-Linien nur
vereinzelt Strukturzonen zu erkennen, die im Sinne eines embryonalen Zusammen-
schubs, z.B. als flache Rampen oder Deformation steil stehender älterer Abschie-
NAGRA NTB 99-08 124

bungen (Beil. 2.2, Profil 3) interpretiert werden können. Es deutet aber einiges darauf
hin, dass v.a. die interne Deformation der USM entlang von flachen Scherbahnen bis
weit ins Mittelland hinausreicht (NAEF 1999b). Dies könnte bedeuten, dass die Defor-
mation des Alpenvorlands ihren Stil nach Osten ändert, indem neben der Abscherung
des gesamten Deckgebirges über einem basalen Gleithorizont eine komplexe interne,
penetrative Zerscherung und Verdickung des Molassekeils tritt.
Zwischen der Schwarzwald-Hebungszone und dem Nordrand der Kompressionszone
befindet sich das Gebiet des östlichen Tafeljuras und weiter im Osten des Süddeu-
tschen Molassebeckens, das strukturell vom quer verlaufenden Hegau – Bodensee-
Graben geprägt ist (vgl. Beil. 2.1). Dort ist die Tektonik des (im strengen Sinne autoch-
thonen) Deckgebirges mit derjenigen des Sockels gekoppelt, wodurch von den Ober-
flächenstrukturen direkt auf den Bau des Sockels geschlossen werden kann. Aufgrund
der neotektonischen Daten reicht der Einfluss des alpinen Spannungsfelds bis weit
über die strukturell erkennbare Fernschubfront hinaus nach Norden und Nordwesten
und wirkt sich entsprechend auf die rezente Dynamik des mesoeuropäischen Vorlands
aus. Im Hinblick auf eine mögliche Reaktivierung der im Jungtertiär entstandenen
Strukturen ergeben sich daraus folgende Konsequenzen:
1. Die herzynischen Abschiebungen des Hegau – Bodensee-Grabens werden
bevorzugt als dextrale Transversalstörungen reaktiviert, wobei diese je flacher
(WNW-ESE) sie streichen, desto transpressiver und je steiler (NW-SE bis
NNW-SSE) desto transtensiver sind (s. Fig. 3.14).
2. Störungen, die ungefähr parallel zur maximalen horizontalen Spannungsrich-
tung verlaufen, tendieren zu Abschiebungen (z.B. steil stehende Segmente der
Neuhauser Störung).
3. Die rheinisch, d.h. um die N-S-Achse streichenden Flexuren und Verwer-
fungen, die in der Molasse des nördlichen Hegaus beobachtet wurden, sind
potenzielle sinistrale Transversalverschiebungen, wobei Analoges gilt wie unter
Punkt 1.
Im geodynamischen Konzept Nordschweiz wird also unterschieden zwischen drei
eigenständigen tektonischen Einheiten:
• Schwarzwald-Kristallin als Ausdruck einer durch subkrustalen Massenfluss bewirk-
ten Hebungszone und/oder als aktive Krusteninversion im Bereich des alpinen
Spannungsfelds.
• Alpin abgeschertes Deckgebirge mit aktivem Zusammenschub und vielfältiger
interner Deformation.
• Mesoeuropäischer Sockel/Grundgebirge mit aktiver, durch die Alpenfront verur-
sachter Kompression senkrecht zur Alpenfront, Zerscherung und Extension in
Streichrichtung.

3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Ableitung von Differenzialbewegungen und Hebungsraten aus geomorphologi-


schen Studien
Aufgrund zahlreicher geomorphologischer Untersuchungen der Nagra und dem Stu-
dium der publizierten Literatur konnten folgende Hinweise auf mögliche tektonische
Bewegungen während des Quartärs gefunden werden:
125 NAGRA NTB 99-08

• Die generelle Aufdomung des Schwarzwaldmassivs und die damit verbundene zu-
nehmende Verkippung des Untergrunds in den Randzonen setzt sich bis in die
jüngste Zeit fort. Das Bewegungsbild wird differenziert durch die aktive Entwicklung
der bekannten Horst- und Grabenzonen des Südostschwarzwalds, die sich weit-
gehend an den schon existierenden Strukturen des Sockels orientieren. Die
grösste relative Hebung erfolgte im Gebiet des Feldbergs (Schauinsland – Feld-
berg-Horst), während sich die Bonndorfer Grabenzone, die sich am Nordrand des
durch Fernschub abgescherten Deckgebirges in den Hegau – Bodensee-Graben
fortsetzt, relativ zu diesen Hebungen einsenkte.
• Die Aufschiebung des östlichen Faltenjuras und die mit ihr verbundene Mandacher
Überschiebung waren während des Quartärs aktiv.
Die Rekonstruktion der Fluss- und Talgeschichte wurde aufgrund von Literaturdaten
zusammengestellt (s. Fig. 3.1). Dank einiger Datierungen und ihrer Höhenlage konnte
die zeitliche Abfolge der verschiedenen Talniveaus grob gegliedert werden. So ist das
Ende des ältesten postmolassischen Talsystems, der Aare – Donau auf mindestens 5
Millionen Jahre festzulegen. Die biostratigraphische Datierung der Höheren Decken-
schotter am Irchel ergab ein Mindestalter von ca. 1.8 – 2.1 Millionen Jahren. Diese bei-
den Zeitmarken bilden die wichtigsten Eckpfeiler für die Rekonstruktion der Hebungs-
geschichte und damit die Ableitung durchschnittlicher Hebungsraten für das Plio-
Pleistozän der Nordschweiz.
Die abgeleiteten Hebungsraten zeigen ein konsistentes Bild mit Werten von 60 –
80 m/Ma für den Raum Tafeljura – Rafzerfeld – Klettgau. Gegen Südosten steigen die
Werte kontinuierlich an und dürften am Ostschweizer Alpennordrand Werte von
durchwegs > 200 m/Ma erreichen (s. auch Fig. 3.2).

Aussagen aus den Analysen der Nivellementmessungen


Die in der Nordschweiz und dem angrenzenden Gebiet von Baden-Württemberg
durchgeführte Auswertung der Nivellementmessungen (Beil. 3.3) widerspiegelt das
strukturgeologische Bild dieser Region. Im Südschwarzwald zeigen Horststrukturen
deutliche Hebungstendenzen an, Gräben sind durch relative Absenkung gekennzeich-
net. Generell wird festgestellt, dass die Hebung des Schwarzwalds, wenn auch diffe-
renziert, weiter anhält. Alle Bewegungen sind relativ und beziehen sich auf den im
Kristallin verankerten Referenzpunkt bei Laufenburg. Die östlich anschliessende
Schwäbische Alb unterscheidet sich deutlich von der Aufdomung des Schwarzwald-
massivs und weist eine markante Senkungstendenz auf.
Der südlich des Schwarzwalds liegende Tafeljura zwischen Liestal und Neerach (nörd-
lich der Lägeren) weist eine leichte Subsidenz bis stagnierende Verhältnisse auf
(Beil. 3.2). Die Daten der Messlinien durch den östlichen Faltenjura deuten mit mar-
kanten Hebungen gegenüber dem Tafeljura auf eine andauernde Aufschiebung dieses
jungen Gebirgskörpers hin. Berechnungen aufgrund der Hebungsraten ergeben, dass
in diesem Gebiet die Überschiebungsgeschwindigkeiten des über den Evaporiten des
Mittleren Muschelkalks abgescherten Sedimentstapels mit 0.4 – 0.7 mm/a in der glei-
chen Grössenordnung liegen wie seit Beginn der Juraaufschiebung (Kap. 3.4.1.4, vgl.
auch Fig. 3.4).
Auf der Linie Limmattal – Zürich – Pfäffikon – Rapperswil durch das Mittelland konnten
die Vertikalbewegungen mit den Anti- und Synklinalen der Zürcher Molasse korreliert
werden. Dies ist wiederum ein Hinweis auf eine noch aktive Kompressions- und Ab-
scherungstektonik des Mittellands.
NAGRA NTB 99-08 126

Aufgrund der vermuteten direkten Beziehung zwischen den Nivellementdaten und den
neotektonischen Bewegungen muss angenommen werden, dass die markante rezente
Hebungszone im Raum des Bodensees, die sich im Süden bis ins untere Toggenburg
und im Norden über Frauenfeld – Winterthur bis nach Tagelswangen verfolgen lässt,
ebenfalls durch tektonische Vorgänge entstanden ist. Aufgrund des vorliegenden
Nivellementdatensatzes reicht in dieser Region der Einfluss der alpinen Kompression
vermutlich bis auf eine Linie, die von Rheinklingen über Benken ins Rafzerfeld verläuft
(vgl. auch Kap. 3.8 und Beil. 3.3).

Generell kann festgestellt werden, dass die rezenten, mit Nivellement-Wiederholungs-


messungen ermittelten Hebungsraten eine gute Übereinstimmung mit den Resultaten
der geologisch-geomorphologischen Studien zeigen.

Erdbebenaktivität, Herdflächenlösungen, rezentes Spannungsfeld


Die während der letzten 25 Jahre instrumentell erfasste Erdbebenaktivität in der Nord-
schweiz konzentriert sich einerseits auf die Region um Basel mit dem südlichen Teil
des Oberrheingrabens und des Dinkelbergs bis südlich des Hauensteins sowie ande-
rerseits auf einen breiten Streifen, der sich vom Überlinger See über den Thurgau, das
untere Toggenburg, das Zürcher Oberland und den Zürichsee bis in die Zentral-
schweiz erstreckt. Der zentrale Teil der Nordschweiz wie auch das Untersuchungs-
gebiet Zürcher Weinland hat sich dagegen in den letzten 25 Jahren seismisch wenig
bemerkbar gemacht. Auffallend ist zudem, wie gut das Bild der räumlichen Verteilung
seismischer Aktivität des letzten Vierteljahrhunderts mit der Verteilung der makro-
seismisch erfassten Beben der letzten 120 Jahre übereinstimmt.

Die analysierten Herdflächenlösungen (Beil. 3.4) umfassen vorwiegend Erdbeben-


herde im kristallinen Sockel und zeigen als dominante Mechanismen reine Blattver-
schiebungen und etwas untergeordnet Abschiebungen an, wobei letztere z.T. deutliche
Horizontalkomponenten aufweisen. Im Mittelland gibt es keine Mechanismen, die auf
Auf- oder Überschiebungen hinweisen. Dies bedeutet, dass sich die von PFIFFNER
(1997, NFP 20) postulierte Hypothese einer wenig geneigten nordvergenten Aufschie-
bung im kristallinen Grundgebirge zumindest seismotektonisch nicht nachvollziehen
lässt.

Die Ableitung des rezenten Spannungsfelds aufgrund der Inversionsmethode von


Herdflächenlösungen ergibt für die Nordostschweiz eine maximale horizontale Span-
nungskomponente von 169° (349°) und für die Nordwestschweiz eine solche von 142°
(322°). Diese Werte zeigen eine gute Übereinstimmung mit der Auswertung von Bohr-
lochrandausbrüchen in den Sondierbohrungen der Nagra in der Nordschweiz und den
"Hydrofrac-Messungen" in der Sondierbohrung Benken. Aufgrund der Spannungsmes-
sungen in der Sondierbohrung Benken befindet sich auch die Region Zürcher Wein-
land noch in einem kompressiven Regime (σ1 horizontal).

Die Streichrichtungen der möglichen Bruchflächen, die sich aus Herdflächenlösungen


ergeben, liegen für die Nordostschweiz im Sektor zwischen 290° und 40°, wobei die
beiden dominanten Bruchsysteme eine NW-SE- (Hegau – Bodensee-Graben) und
eine NNE-SSW-Streichrichtung aufweisen.

In der Nordwestschweiz liegt der Sektor zwischen 270° bis 30°, wobei dort die rheini-
schen (N-S bis NNE-SSW) und herzynischen (WNW-ESE) Bruchsysteme dominant
sind.
127 NAGRA NTB 99-08

In der gesamten Nordschweiz liegen die ENE-WSW ausgerichteten Brüche, insbeson-


dere die Randbrüche des Nordschweizer Permokarbontrogs nicht im Bereich der seis-
misch aktiven Strukturen.

Generelle Aussagen zur Neotektonik Nordschweiz


Die Nordschweiz liegt im Grenzbereich zwischen dem durch die alpine Gebirgsbildung
verursachten Fernschub und der Aufdomung des Südschwarzwalds und seiner Rand-
gebiete. Das noch durch die alpine Gebirgsbildung beeinflusste Gebiet (Fernschub,
Kompressionszone) kann im Norden aufgrund der neotektonischen Datensätze wie
folgt abgegrenzt werden: In der zentralen Nordschweiz beschreibt die Mandacher Stö-
rung die nördlichste Grenze des duktil abgescherten Deckgebirges (Vorfaltenzone).
Der Aufschiebungscharakter dieser Störung konnte aufgrund der Interpretation der
Nagra-Seismik klar erkannt werden (SPRECHER & MÜLLER 1986). Eine möglicher-
weise quartäre Aktivität wird durch Indizien aus den geomorphologischen Studien an-
gezeigt. Die Mandacher Aufschiebung ist mit Sicherheit zwischen Frick und Böttstein
ausgebildet. Ihre östliche Fortsetzung ist nicht aufgeschlossen und deshalb weniger
klar. Bei Endingen kann sie an der Oberfläche nur noch schwach als die W-E strei-
chende Endinger Flexur aus den Schichtlagen des Malms rekonstruiert werden. Die
Mandacher Struktur dürfte nach Osten in Richtung Weiach auskeilen. Die Absche-
rungsfront des Fernschubs (Vorfaltenzone) kann aber nach Osten südlich von Rümi-
kon über das Rafzerfeld bis nördlich der Sondierbohrung Benken in Richtung Rhein-
klingen verfolgt werden (s. Fig. 3.14).

Im eigentlichen Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland konnten aufgrund der Inter-


pretation der 3D-Seismik einzelne Hinweise auf eine Kompressionstektonik gefunden
werden (BIRKHÄUSER et al. 2001). Zudem zeigen die Spannungsmessungen in der
Sondierbohrung Benken, dass die grösste horizontale Spannungskomponente annä-
hernd N-S verläuft. Das Gebiet steht also noch unter Kompression, vermutlich bis an
die Wildensbucher Flexur bzw. Neuhauser Störung (vgl. Kap. 4.3). Nördlich dieser bei-
den Strukturen zeigen die Nivellementdaten Senkungstendenzen. Die südlich der Neu-
hauser Störung erhobenen Messdaten bei Flaach, Andelfingen, Ossingen und Nieder-
neunforn zeigen Hebungstendenzen mit Zunahme nach Süden an. Das Gebiet östlich
der Neuhauser Störung in Richtung Untersee – Kreuzlingen liegt im Einflussbereich
des südlichen Endes der Bonndorf – Hegau – Bodensee-Grabenzone. Die bedeuten-
den, herzynisch streichenden Verwerfungen scheinen zumindest hier im Westteil des
Hegau – Bodensee-Grabens bis etwa zum WSW-ENE streichenden Baden – Irchel –
Herdern-Lineament auszukeilen. Anhand von Deformationen dieser nordvergenten,
d.h. antithetischen Abschiebungszone, die den Südrand des tieferen Nordschweizer
Permokarbonrands (Weiach-Trog) markiert, kann die laterale Kompression resp.
Abscherung im Deckgebirge (Fernschub) noch bis zum Irchel erkannt werden. Weiter
östlich weist das Baden – Irchel – Herdern-Lineament einen wechselhaften Charakter
auf und erscheint teilweise als reine antithetische Abschiebung. Dieses Lineament
zeigt andererseits aber auch deutliche kompressive Deformationen. Dabei sind die
basalen Molasseschichten resp. Top Malm auf allen verfügbaren Seismiklinien ver-
setzt, die höheren Molasseformationen (Obere Meeresmolasse und Obere Süss-
wassermolasse) weisen nur teilweise einen Versatz auf. Dies zeigt, dass das Baden –
Irchel – Herdern-Lineament wohl seit dem späten Oligozän aktiv ist, im Miozän und
allenfalls postmolassisch eine differenzierte Aktivität aufweist, die im Einzelnen noch
nicht geklärt ist. Die Hebungstendenzen in diesem Gebiet (Bodensee – Frauenfeld –
Winterthur) können aber kaum anders als durch Kompression erklärt werden.
NAGRA NTB 99-08 128

Die geothermischen Verhältnisse in der Nordschweiz


Die Wärmeflusskarte der Nordschweiz (Fig. 3.13) zeigt eine regionale graduelle Zu-
nahme des geothermischen Wärmeflusses von SSE (Alpennordrand) nach NNW bis
zum Rhein. Dieses regionale Bild wird überlagert durch lokale positive Anomalien am
Nordrand des Nordschweizer Permokarbontrogs bei Böttstein – Klingnau und am Süd-
rand des Trogs bei Bad Schinznach – Baden. Das Gebiet des Zürcher Weinlands zeigt
keinen erhöhten Wärmefluss.

Geodynamisches Konzept für die Nordostschweiz


Aus diesen umfassenden Kenntnissen wurde ein geodynamisches Konzept für die
geologische Langzeitentwicklung der Nordostschweiz während der nächsten eine
Million Jahre abgeleitet (Fig. 3.14). Dabei wird lediglich das Rahmenszenarium B "an-
dauernde alpine Orogenese und aktiver Zusammenschub" weiterverfolgt, einerseits
weil sich die Indizien für eine andauernde Krustenverkürzung im Bereich der Alpen in
jüngster Zeit stark verdichtet haben, andererseits weil dieses Szenarium für die Lang-
zeitsicherheit eines Tiefenlagers von grösserer Tragweite ist.

Der alpine Nordschub bewirkt eine anhaltende Kompression im gesamten Alpenvor-


land, die sich im Sockel vorwiegend in Form von Blattverschiebungen äussert und im
Bereich des Schwarzwalds von einer anhaltenden Hebungszone mit Horst- und Gra-
benbrüchen überlagert wird. Gleichzeitig erfolgt an dafür geeigneten Horizonten eine
zunehmende Abscherung des Deckgebirges, wobei sich die Front dieses Fernschubs
sukzessive weiter nach Osten und nach Norden ausdehnen dürfte. Es ist damit zu
rechnen, dass innerhalb des betrachteten Zeithorizonts überwiegend bestehende
Strukturen im Sinne des herrschenden Spannungsfelds reaktiviert und nur untergeord-
net, v.a. in Zusammenhang mit dem Fernschub, neue Strukturelemente entstehen
werden. Als bevorzugt aktive Zonen sind die herzynisch streichenden Strukturen des
Südostschwarzwalds und des Hegau – Bodensee-Grabens zu betrachten, wobei steil
stehende, d.h. NW-SE bis NNW-SSE streichende Elemente eher in transtensivem
Sinne und sogenannte flachherzynische (ca. WNW-ESE streichende) Brüche eher in
transpressivem Sinne aktiviert werden. Dazu konjugierte rheinisch, d.h. ca. NNE-SSW
streichende Scherbrüche dürften eine untergeordnete Rolle spielen.

Die anhaltende Kompression im Alpenvorland bewirkt eine ausgedehnte Hebungs-


zone, wobei die Hebungsbeträge zwar vom Alpenrand bis zur Fernschubfront generell
abnehmen, innerhalb dieses Bereichs aber je nach struktureller Situation erhebliche
Differenzen aufweisen können (Antiklinale / Synklinale). Sie werden zudem überlagert
von den Differenzialbewegungen des Sockels, deren Muster von Hebungs- und Sen-
kungszonen das mesoeuropäische Vorland prägt.
129 NAGRA NTB 99-08

4 DIE GEOLOGIE DES ZÜRCHER WEINLANDS UND IHR ZUSAMMEN-


HANG MIT DER REGIONALEN GEODYNAMIK

4.1 Einleitung

Ausgehend von der Beschreibung der regionalen und überregionalen Verhältnisse der
Geologie (Kap. 2) und der Neotektonik (Kap. 3) wird in Kap. 4 auf die Nordostschweiz
und besonders das Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland fokussiert. Ziel dieses
Kapitels ist die Herleitung eines geodynamischen Konzepts Zürcher Weinland, das die
qualitativen Rahmenbedingungen für die geologischen Langzeitszenarien festlegt.

Anhand einer tektonischen Übersicht des Gebiets zwischen den Tiefbohrungen Sib-
lingen, Weiach, Lindau-1 und Herdern-1 und von Isohypsenkarten der wichtigsten
seismischen Markerhorizonte (BIRKHÄUSER et al. 2001) werden in Kap. 4.2 der
Deformationsstil des Deckgebirges dargestellt, die wichtigen Strukturen beschrieben
und die tektonischen Einheiten gegeneinander abgegrenzt. Davon ausgehend wird in
Kap. 4.3 auf das engere Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland zwischen Thur und
Hochrhein fokussiert. Mit je sechs Profilschnitten im Fallen und im Streichen wird das
Geologische Modell Zürcher Weinland definiert, das einen Perimeter von 10 km ×
10 km aufweist und damit etwas über das Messgebiet der 3D-Seismik hinausreicht (s.
Fig. 4.1). In enger Anlehnung an BIRKHÄUSER et al. (2001) werden die lokalen Struk-
turen in diesem Gebiet beschrieben und anhand ausgewählter Einzeldarstellungen
erläutert.

Diese Kenntnisse über die Geologie des Zürcher Weinlands werden dann in Kap. 4.4
in Zusammenhang mit dem geodynamischen Konzept für die Nordschweiz, wie es in
Kap. 3.8 entworfen wurde, diskutiert und dabei v.a. die folgenden Aspekte berücksich-
tigt:
• Bedeutung und aktuelle Dynamik des Sockels
• Mächtigkeit, Fazies und Strukturen des Mesozoikums und ihre Bedeutung für die
Neotektonik
• Stratigraphie und Tektonik am Molassenordrand der Nordostschweiz
• Ende der Molassesedimentation und Ableitung von postmolassischen Hebungs-
raten
• Auswirkungen der Schwarzwald-Hebungszone auf das Zürcher Weinland
• Fernschub und laterale Kompression im Nordostschweizer Deckgebirge.

Die Kenntnisse über den Bau des Zürcher Weinlands und die tektonischen Prozesse
werden in Kap. 4.5 zusammengefasst. Ein qualitatives geodynamisches Konzept für
das Zürcher Weinland und seine Umgebung wird in Kap. 4.6 entworfen. Dieses dient
als Voraussetzung für die Definition der quantitativen Aspekte der Geologischen Lang-
zeitszenarien in Kap. 5.
NAGRA NTB 99-08 130

Fig. 4.1: Geographische Abgrenzung des Messgebiets der 3D-Seismik und des
Geologischen Modells Zürcher Weinland

4.2 Tektonische Übersicht Zürcher Weinland und Umgebung

NAEF et al. (1995) haben die Geologie zwischen Faltenjura-Ostende und dem Hegau
– Bodensee-Graben untersucht und anhand von geologischen Profilen entlang der
1991/1992 aufgenommenen 2D-seismischen Linien sowie Strukturkarten der seismi-
schen Markerhorizonte dokumentiert. Am Beispiel der Strukturkarte des Niveaus
"Basis Opalinuston" = "Top Lias" wurde eine tektonische Gliederung des Gebiets vor-
131 NAGRA NTB 99-08

geschlagen und drei in ihrer strukturellen Überprägung unterschiedliche Zonen gegen-


einander abgegrenzt (s. auch NAEF & BIRKHÄUSER 1996):
• im Südwesten der Faltenjura mit einer nach Norden und Osten ausgreifenden Vor-
faltenzone, innerhalb welcher das Deckgebirge durch den alpinen Fernschub im
Bereich des Mittleren Muschelkalks abgeschert wurde und in unterschiedlichem
Ausmass deformiert ist,
• im Nordosten der Hegau – Bodensee-Graben mit zahlreichen Sockelstörungen und
Hinweisen auf junge Sockelinversion (Transpression und Transtension) und
• im zentralen sowie nordwestlichen Bereich der Tafeljura und der angrenzende
Molassenordrand mit einem weitgehend ruhig gelagerten autochthonen Deckge-
birge.

Fig. 4.2 zeigt eine durch die Resultate der jüngsten Untersuchungen, besonders der
3D-Seismik-Kampagne 1997/98 (BIRKHÄUSER et al. 2001) leicht modifizierte tekto-
nische Karte der näheren Umgebung des Untersuchungsgebiets Zürcher Weinland am
Hochrhein. Die dargestellten Strukturen stützen sich im Tafeljura vorwiegend auf Ober-
flächenkartierungen, im Bereich der Molasse im Wesentlichen aber auf seismische
Aufnahmen und besitzen dort folglich einen gewissen "Tiefgang". In Fig. 4.3 sind die
wichtigen Strukturmerkmale der Region Zürcher Weinland durch ein nicht-massstäb-
liches Profil schematisch dargestellt.

Tektonische Einheiten sind Teile der Kruste, die in erster Linie über eine gemeinsame
Deformationsgeschichte oder einen gemeinsamen Deformationsstil aber auch über die
vorherrschende Lithologie definiert sind. In Gebieten mit weiträumiger Abscherung von
Krustensegmenten, z.B. im alpinen Deckengebirge, können deshalb mit einer tektoni-
schen Karte nur die oberflächennahen Bereiche erfasst werden; tieferliegende Einhei-
ten mit unterschiedlicher Deformationsgeschichte oder Lithologie müssen zusätzlich
mit Profilschnitten dargestellt werden. In der Nordschweiz stellt sich dieses Problem
insofern, als der lithologische Aufbau des Deckgebirges (Mesozoikum und Tertiär) und
des Grundgebirges (Sockels) stark verschieden ist und diese deshalb auch bei analo-
ger Beanspruchung Deformationsstile mit unterschiedlichem Charakter aufweisen kön-
nen. Zudem ist das Deckgebirge südlich des Fernschub-Nordrands vom Grundgebirge
abgeschert, wodurch zwei übereinanderliegende Einheiten mit unterschiedlicher Defor-
mationsgeschichte geschaffen wurden. Auch grössere, ein Gebiet dominierende Struk-
turzonen können als gesonderte tektonische Einheiten abgegrenzt werden.

Für das Zürcher Weinland und Umgebung wurden nach diesen Kriterien die in Fig. 4.2
und 4.3 farblich unterschiedenen tektonischen Einheiten gegeneinander abgegrenzt.
Dabei ist zwischen den drei tektonischen Grosseinheiten Sockel, Autochthones Deck-
gebirge und Abgeschertes Deckgebirge zu unterscheiden; diese sind folgendermassen
weiter gliederbar:
• Sockel: Kristallines Grundgebirge, wie es z.B. in der Sondierbohrung Benken
erbohrt wurde sowie darin eingelagerte, jungpaläozoische Sedimente (s. Kap. 2.2
und Beil. 2.4). Es ist dabei zu unterscheiden zwischen:
- einem nördlichen Kristallinbereich, der als Fortsetzung des im Südostschwarz-
wald aufgeschlossenen Grundgebirges gilt und z.B. in Siblingen erbohrt wurde,
- einem zentralen Bereich mit der Hochzone von Benken, der als Sockelhoch
aus kristallinem Grundgebirge betrachtet wird und in der Sondierbohrung Ben-
ken angebohrt wurde, sowie
NAGRA NTB 99-08 132

680 690 700 710

HEGAU-
GRABEN
290

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SIB

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Baden

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Bülach

C H Tö
ss
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BG Winterthur 10 km
A
G
la
tt

Abschiebung Farbcodierung der Datenherkunft: Tertiär


Struktur vermutet Vulkanite des Hegaus
Flexur Rot = Oberflächendaten und
Bohrungen Molasse
Antiklinale Violett = Reflexionsseismik
Synklinale Mesozoikum
Jura
Nordrand des Fernschubs, des Tafeljuras
seismisch kartierbar Trias
im Deckgebirge
Nordrand der Kompressionszone
gemäss neotektonischem Datensatz
Messgebiet der 3D-Seismik wichtige Tiefbohrungen:
Perimeter Geologisches BEN = Benken HER = Herdern-1
Modell Zürcher Weinland WEI = Weiach NA = Nack
Landesgrenze SIB = Siblingen

Fig. 4.2: Tektonische Karte des Zürcher Weinlands und Umgebung


133 NAGRA NTB 99-08

NW Tafeljura Ostschweizer SE
Molasse Abgescherte Molasse
Kompressionszone Nordrand des
Fernschubs BIH

0 +
km ü.M.

+ +
+ + + +
+ ? +
-1 + Hochzone
ca. 1 km + +
+ + von Benken

Deckgebirge: Sockel:
Molasse Lias Weiach-Trog

Malm Keuper Permokarbon vermutet


oberer und
mittlerer Dogger Oberer Muschelkalk Kristallin
Opalinuston Mittlerer und Baden – Irchel –
BIH
Unterer Muschelkalk Herdern-Lineament

Fig. 4.3: Schematisches geologisches Profil durch die Nordostschweiz (überhöht,


nicht massstäblich)

- einem Sockelhoch südöstlich des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments, das


durch die Tiefbohrung Herdern-1 erschlossen wurde und zumindest dort eben-
falls kristallines Grundgebirge aufweist (s. Beil. 2.4).
Zwischen diesen kristallinen Hochzonen werden aufgrund zahlreicher Indizien aus
der Reflexionsseismik paläozoische Sedimenttröge vermutet, wobei der südliche
dem in Weiach erbohrten zentralen Trogteil entsprechen dürfte. Die nördlich der
Hochzone von Benken sowie südlich des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments
eingezeichneten Permokarbonvorkommen sind aufgrund seismischer Indizien
möglich, aber nicht durch Bohrungen nachgewiesen (s. Kap. 2.2.2 und Beil. 2.4).
Aspekte der jungen Sockeltektonik, die für die Langzeitszenarien von Bedeutung
sein können, werden in Kap. 4.4.1 ausführlicher behandelt.
• Autochthones Deckgebirge: Das von der alpinen Abscherung nicht erfasste
Deckgebirge ausserhalb des seismisch kartierbaren Fernschub-Nordrands gilt als
autochthon. Gemäss den an der Oberfläche anstehenden Gesteinen wird unter-
schieden zwischen dem mesozoischen Tafeljura und dem autochthonen Molasse-
nordrand, der überwiegend süddeutsches Gebiet betrifft und deshalb in Beil. 2.1
als Süddeutsche Molasse bezeichnet wurde. Als diskrete Strukturzone mit wesent-
lich kleinräumigerem Bruchmuster innerhalb des autochthonen Deckgebirges wird
der Hegau – Bodensee-Graben als eigenständige tektonische Einheit behandelt.
• Abgeschertes Deckgebirge: Das kompressiv überprägte und abgescherte Deck-
gebirge im Kartenausschnitt von Fig. 4.2 befindet sich im Bereich der Mittelländi-
schen Molasse. In Beil. 2.1 wurde dieser vom alpinen Fernschub betroffene Teil
des Molassebeckens insgesamt als "Abgescherte Molasse" bezeichnet. Ihr fron-
taler Bereich zwischen dem Baden – Irchel – Herdern-Lineament und der Flexur
von Rafz – Marthalen entspricht der östlichen Fortsetzung der weiter westlich defi-
nierten Vorfaltenzone (Beil. 2.1). Für den zwischen dem seismisch nachweisbaren
Nordrand des Fernschubs und dem Aussenrand des kompressiv überprägten
Deckgebirges liegenden Teil wird neu der Begriff "Ostschweizer Molasse" verwen-
det.
NAGRA NTB 99-08 134

Die bestimmenden Strukturelemente im Ausschnitt von Fig. 4.2 können zwei überge-
ordneten Kategorien zugeordnet werden:
A die NW-SE bis WNW-ESE streichenden Randverwerfungen des Hegau – Boden-
see-Grabens, d.h. die Randen-Störung und die Neuhauser Störung, an denen die
Schichten generell nach Nordosten herabgesetzt sind, sowie ihre zahlreichen klei-
neren Begleitstörungen; sie dominieren das Strukturbild des nördlichen Kartenaus-
schnitts (östlicher Tafeljura und Hegau – Bodensee-Graben).
B WSW-ENE bis W-E, d.h. etwa beckenparallel streichende Verwerfungen und Fle-
xuren, die den südlichen Teil im Bereich des Molassenordrands zergliedern; deren
Kenntnis basiert praktisch durchwegs auf der Auswertung von Reflexionsseismik-
Linien. Wichtig ist v.a. das schon in NAEF et al. (1995) definierte Baden – Irchel –
Herdern-Lineament; daneben können die Flexur von Rafz – Marthalen, die Rüd-
linger Flexur und die in Zusammenhang mit der Neuhauser Störung stehende
Wildensbucher Flexur als beckenparallel streichende Elemente des Deckgebirges
erkannt werden.

Wie in der tektonischen Übersicht (Beil. 2.1) deutlich wird, sind die Elemente A als
südöstliche Ausläufer eines überregionalen Verwerfungssystems im Sockel zu be-
trachten, das den gesamten Südostschwarzwald und den angrenzenden Tafeljura
dominiert (herzynisches Streichen). Diese herzynischen Verwerfungen interferieren am
Aussenrand des Molassebeckens mit den Strukturen B, die als Fortsetzung des öst-
lichen Faltenjuras und seiner Vorfaltenzone erscheinen. Im Bereich des Untersu-
chungsgebiets gehen diese Antiklinalen, Auf- und Überschiebungen des östlichen
Faltenjuras über in blosse Flexuren oder steil stehende Verwerfungen und verlieren
damit ihren kompressiven Charakter. Sie sind in der Regel mit analog streichenden
Verwerfungen des liegenden Sockels korreliert, d.h. gleichzeitig auch Ausdruck einer
entsprechenden Zergliederung des Sockels.

Wie in Kap. 2.4 und 3.8 bereits beschrieben, ist dieser Strukturplan des Zürcher Wein-
lands eine Folge der vom Schwarzwald ausgehenden Sockeltektonik, deren jüngste
Phase auch die Entstehung des Hegau – Bodensee-Grabens bewirkte, und der ins
Vorland ausgreifenden Dynamik der entstehenden Alpen. Letztere bewirkte im Oligo-
bis Miozän während der Absenkung des Molassebeckens vorwiegend beckenparallele
Zerrungsstrukturen, die dann in jüngster Zeit zunehmend kompressiv überprägt wur-
den (vgl. Fig. 2.6).

Im Folgenden werden die in Fig. 4.2 benannten Strukturen kurz charakterisiert. Eine
Detailbeschreibung der Strukturelemente innerhalb des Messgebiets der 3D-Seismik
folgt in Kap. 4.3.

4.2.1 Herzynisch streichende Strukturen

Die Randen-Störung ist eine auch an der Oberfläche im Detail kartierte Verwerfungs-
zone mit einem maximalen Versatz von ca. 250 m (SCHREINER 1992, ADELMANN
1982, HOFMANN 1997, HOFMANN et al. 2000). Die geologischen Karten zeigen,
dass es sich keineswegs um eine über mehrere Kilometer zusammenhängende Ein-
zelstörung handelt, sondern dass sie sich zumindest im aufgeschlossenen Niveau des
Malms am nördlichen Randen aus zahlreichen Elementen mit stark unterschiedlichem
Streichen zusammensetzt. Weiter im Nordwesten, wo sie im Niveau des tieferen
Mesozoikums aufgeschlossen ist, scheint die Fortsetzung der Randen-Störung eher
135 NAGRA NTB 99-08

eine zusammenhängende Einzelverwerfung zu sein; moderne Aufschlusskartierungen


sind aber von dort nicht verfügbar. Diese Feldbefunde bestätigen die Vermutung, dass
sich die Randen-Störung und wahrscheinlich auch weitere, aus dem Sockel aufstei-
gende, grössere Verwerfungen, nach oben zunehmend verästeln und aufgliedern, so
dass bis zu einige Hundert Meter breite, im Einzelnen nur schwer prognostizierbare
Störungszonen entstehen.

HOFMANN et al. (2000) haben die Randen-Verwerfung an zwei Stellen genauer be-
schrieben und in Profilen dargestellt. Im Steinbruch Biberegg, ca. 2 km nordwestlich
von Thayngen, lassen sich anhand der Aufschlüsse und einiger Bohrungen mehrere,
gegeneinander verkippte Bruchschollen rekonstruieren, wie sie typisch für Abschie-
bungen in Zusammenhang mit Zerrungstektonik sind. An der eindrücklich aufgeschlos-
senen, steil nach Nordosten einfallenden Hauptverwerfung sind deutliche Abschlep-
pungen mit subvertikalen Striemungen einer reinen Abschiebung sichtbar. Es lassen
sich aber auch schief dazu verlaufende Rutschharnische beobachten, deren Auswer-
tung in Zusammenhang mit der regionalen Tektonik eine Entstehung infolge dextraler
Horizontalverschiebungen anzeigen. HOFMANN et al. (2000) vermuten eine miozäne
Abschiebungstektonik, die von jüngeren Scherbewegungen gefolgt wurde. Ein Profil
durch die Störungszone weiter westlich bei Bargen zeigt mehrere steil stehende, an-
nähernd W-E verlaufende Verwerfungen, die horstartige Bruchschollen begrenzen, wie
sie eher für Schnitte durch Horizontalverschiebungszonen typisch sind als für reine Ab-
schiebungen. Dies ist ein weiteres Indiz für bedeutende jüngere Lateralbewegungen
an der Randen-Störung.

Das Epizentrum des Erdbebens von Singen (s. Nr. 83 in Beil. 3.4) kann bezüglich
seiner geographischen Lage der Randen-Störung zugeordnet werden. Dies ist ein Hin-
weis, dass die Randen-Störung heute noch aktiv ist. Auch die Herdflächenlösung die-
ses Bebens ergab eine Blattverschiebung mit dextralem Verschiebungssinn.

Innerhalb des Hegau – Bodensee-Grabens bis zu seinen Randverwerfungen im Nord-


osten (s. Beil. 2.1 und 2.3) dominieren eindeutig die herzynisch streichenden Verwer-
fungen. Untergeordnet kommen auch steiler, etwa NNW-SSE verlaufende Elemente
vor (eggisch).

Südöstlich von Thayngen ist die Randen-Störung von ausgedehnten Quartärvorkom-


men bedeckt und ihr Verlauf deshalb nicht genau bekannt. Ein nördlicher Ast setzt sich
nach Südosten fort und wird dort gemäss SCHREINER (1992) mit einer bekannten
Störung am Schiener Berg-Nordrand verbunden (HOFMANN 1997, ERB 1967,
SCHREINER 1992). Der südliche Ast der Randen-Störung reicht wahrscheinlich nach
Südosten bis zum Rhein zwischen Diessenhofen und Stein am Rhein und dürfte dort
auskeilen. Dieser Verlauf ist in den Isohypsenkarten (Beil. 4.1 – 4.4) schematisch dar-
gestellt. Schnitte durch die Randen-Störung finden sich auch in Beil. 2.3 (Übersichts-
profile) und in NAEF et al. (1995).

Die Neuhauser Störung, die etwa parallel zur Randen-Störung verläuft, besitzt pro-
jektorientiert eine vorrangige Bedeutung. Sie wurde erstmals von HOFMANN (1981)
kartiert und lässt sich anhand von Oberflächenaufschlüssen vom westlichen Randen in
Südostrichtung bis nach Neuhausen verfolgen. SCHINDLER (1985) hat anhand von
Baugrunduntersuchungen im Gebiet Flurlingen den weiteren Verlauf dieser Störung
vom SBB-Bahnhof Neuhausen bis in den südlichsten Teil des Cholfirsts abgeschätzt.
Demnach soll sie dort einer in die Felsoberfläche erodierten Rinne folgen und schliess-
lich eine Sattelzone in den Tieferen Deckenschottern nördlich von Uhwiesen erreichen.
NAGRA NTB 99-08 136

NAEF et al. (1995) haben diese nordostvergente Abschiebung aufgrund der Auswer-
tung der 2D-Seismik südöstlich des Rheins weiter verfolgen können und sie als Neu-
hauser Störung bezeichnet (Fig. 4.2). Der vertikale Versatz an den nordostvergenten
Abschiebungsflächen beträgt hier an der Basis Mesozoikum maximal ca. 100 m (2D-
Linie 91-NO-75, unmittelbar östlich des Messgebiets der 3D-Seismik (NAEF et al.
1995). Er nimmt von der Basis Mesozoikum nach oben generell ab und dürfte an der
Basis Quartär noch einige Dekameter betragen. Die Fallwinkel liegen zwischen 60°
und 80°.

Die Neuhauser Störung ist in Beil. 2.3 und 4.1 bis 4.6 in Profilschnitten und Struktur-
karten dargestellt. Eine detailliertere Beschreibung ihrer Abschnitte innerhalb des
Messgebiets der 3D-Seismik und des Geologischen Modells Zürcher Weinland folgt in
Kap. 4.3 (s. auch BIRKHÄUSER et al. 2001).

4.2.2 Beckenparallel streichende Strukturzonen

Auf der Linie Irchel – Herdern ist das Deckgebirge von einer markanten, aus mehreren
Einzelelementen bestehenden Strukturzone, dem sogenannten Baden – Irchel –
Herdern-Lineament geprägt, das im Westen als Kombination von Syn- und Antiklina-
len, im Osten aber als Folge von gestaffelten, antithetischen Verwerfungen erscheint
(s. Beil. 2.1 und 2.2). Die kombinierte Interpretation der 2D-Reflexionsseismik-Linien
zeigt, dass dieses Lineament im Westen noch deutlich vom Fernschub erfasst und
überprägt wurde, östlich des Thurtals aber einen uneinheitlichen Deformationsstil auf-
weist. Dieser Übergang von mehrheitlich kompressiven im Westen zu vorwiegend
extensiven Strukturen im Osten ist in den Isohypsenkarten der vier seismischen Mar-
kerhorizonte (Basis Mesozoikum, Top Muschelkalk, Top Lias, Top Malm) gut nachvoll-
ziehbar (Beil. 4.1 bis 4.4). Wie die früheren, regionalen Untersuchungen gezeigt
haben, markiert das Baden – Irchel – Herdern-Lineament eine wichtige Verwerfungs-
zone des liegenden Sockels, die den Weiach-Trog nach Südosten begrenzt (s.
Beil. 2.2 und 2.4).

An den einzelnen Elementen des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments werden unter-


schiedliche Verwerfungsbeträge festgestellt. An der Basis Mesozoikum liegen sie im
Bereich von 80 bis 150 m und nehmen nach oben – zumindest bei den nicht kom-
pressiv überprägten Abschiebungen – ähnlich wie bei der Neuhauser Störung generell
ab. Stellenweise sind an dieser Strukturzone deutliche Änderungen der seismischen
Fazies und der Mächtigkeit der mesozoischen Formationen feststellbar, die auf Diffe-
renzialbewegungen während des Mesozoikums hinweisen. Auf allen 2D-seismischen
Linien, die das Baden – Irchel – Herdern-Lineament überqueren, ist auch ein deut-
licher Versatz des Top Malm resp. der Basis Molasse zu sehen, womit nachgewiesen
wird, dass am Baden – Irchel – Herdern-Lineament die Hauptbewegungen während
und/oder nach Ablagerung der Molasse stattgefunden haben.

Hinweise auf kompressive Strukturen im Deckgebirge sind auf diversen 2D-seismi-


schen Linien der Nagra und der SEAG auch noch nördlich des Baden – Irchel –
Herdern-Lineaments bis hin zum Hochrhein zu erkennen (Profil 2 in Beil. 2.2). Die Iso-
hypsenkarten Top Muschelkalk und Top Lias zeigen im Raum Eglisau – unterstes
Thurtal Überschiebungen und flexurartige Verbiegungen, die als Ausdruck des Fern-
schubs interpretiert wurden. Sie orientieren sich ihrerseits an entsprechend verlaufen-
den Verwerfungen im Sockel, sind aber auf dem Niveau Top Malm oder der hangen-
den Molasse nur noch als schlecht definierte Flexurzonen erkennbar. Eine südlich von
Eglisau bis nach Andelfingen streichende, SSE-vergente Abbiegung der Schichten
137 NAGRA NTB 99-08

wird als Rüdlinger Flexur bezeichnet. Eine zweite, vom Hochrhein nördlich der Son-
dierbohrung Weiach über das Rafzerfeld nach ENE bis ins Messgebiet der 3D-Seismik
hinein verfolgbare Zone wurde als Flexur von Rafz – Marthalen benannt (vgl. BIRK-
HÄUSER et al. 2001). Wie die Auswertung der 2D-seismischen Linien vermuten lässt,
hängen diese Flexurzonen mit Bruchzonen im Sockel zusammen, die den Weiach-
Trog im Norden begrenzen (sog. Trograndstörungen, vgl. Beil. 4.2 und 2.4). Diese be-
reits in NAEF et al. (1995) dargestellten Zusammenhänge konnten zumindest für
dieFlexur von Rafz – Marthalen durch die 3D-seismischen Daten bestätigt werden (s.
Kap. 4.3).

Der seismisch kartierbare Nordrand des Fernschubs und damit die nördliche Begren-
zung der abgescherten Molasse ist in der tektonischen Karte (Beil. 2.1, Fig. 4.2) einge-
tragen. Er verläuft etwa parallel zur Flexur von Rafz – Marthalen und dann weiter nach
Osten. Der frontale Bereich der abgescherten Molasse zwischen der Irchel-Antiklinale
und der Flexur von Rafz – Marthalen ist als Ostende der Vorfaltenzone zu betrachten.

Neben den beschriebenen, grösseren, beckenparallelen Strukturen gibt es eine ganze


Reihe weiterer thetischer und antithetischer Verwerfungen und Flexuren. Im Gebiet
zwischen Weiach und dem Bodensee treten sie v.a. an der Basis Mesozoikum und in
der tieferen Trias auf. Dies spricht für einen Zusammenhang mit den liegenden Permo-
karbonvorkommen (Beil. 4.1 und 4.2).

Die Wildensbucher Flexur liegt vollständig innerhalb des 3D-seismischen Messge-


biets und wird deshalb in Kap. 4.3 genauer beschrieben.

4.3 Geologisches Modell Zürcher Weinland

Die Auswertung der 3D-seismischen Daten ist in BIRKHÄUSER et al. (2001) anhand
zahlreicher interpretierter Schnitte durch den seismischen Datensatz, mit Tiefenkarten
der Markerhorizonte, Karten der seismischen Attribut-Analyse und diversen Modellie-
rungen zur Seismostratigraphie ausführlich dargestellt und beschrieben. Geologische
Profile und Darstellungen, die über den Perimeter des Messgebiets der 3D-Seismik
hinausgehen, fehlen jedoch weitgehend. Das im Folgenden beschriebene Geologische
Modell Zürcher Weinland soll diesen Übergang zur regionalen Geologie herstellen.
Dazu wurden die geologischen Profile der Beil. 4.5 und 4.6 konstruiert, die ein Gebiet
von 10 km × 10 km um das Messgebiet der 3D-Seismik im nördlichen Zürcher Wein-
land abdecken. Dort wo die Profile das 3D-seismische Messgebiet durchqueren, ent-
sprechen sie der Interpretation in BIRKHÄUSER et al. (2001) und zeigen auch lokale
Strukturen, wie sie mit den 2D-seismischen Messungen des umliegenden Gebiets
nicht rekonstruiert werden können. Die Einbindung der neuen Kenntnisse in den beste-
henden regionalen Rahmen erfolgt mit den Isohypsenkarten der seismischen Marker-
horizonte Basis Mesozoikum (BMz), Top Muschelkalk (TMk), Top Lias (TLi) und Top
Malm (TMa), die aus NAEF et al. (1995) übernommen und entsprechend überarbeitet
wurden (Beil. 4.1 – 4.4). Es wird unterschieden zwischen regionalen Strukturelementen
(rot), wie sie sich aus den 2D-seismischen Daten konstruieren lassen, und den lokalen
Strukturelementen (violett), die nur anhand der 3D-seismischen Daten in ihrem Cha-
rakter erkannt werden können.

Wie im regionalen Rahmen ist auch innerhalb des Messgebiets der 3D-Seismik wenig
Konkretes über die strukturelle Gliederung des Sockels bekannt. Die im Sockel einge-
zeichneten Verwerfungen stellen in jedem Fall die Verlängerung einer entsprechenden
NAGRA NTB 99-08 138

Diskontinuität des tieferen Mesozoikums dar, insbesondere von dessen Basis, wobei
der Verlauf dieser Verwerfungen in die Tiefe in der Regel nicht genauer verfolgt wer-
den kann, sondern vorwiegend konzeptionell begründet ist. Im Deckgebirge, insbeson-
dere im Bereich Trias – Lias, sind jedoch zahlreiche Diskontinuitäten bis zu einem
minimalen Verwerfungsbetrag von etwa 10 m, unter bestimmten Voraussetzungen bis
zu 4 m, kartierbar (BIRKHÄUSER et al. 2001). Das höhere Mesozoikum ist dagegen
über weite Strecken störungsfrei; dies äussert sich auch in einer entsprechend ein-
fachen Isohypsenkarte des Top Malm (Beil. 4.4).

Entsprechend ihrer örtlichen Lage, dem vorherrschenden Deformationsstil und dem


Zusammenhang mit der regionalen Geologie wurden innerhalb des 3D-seismischen
Messgebiets sechs Strukturzonen unterschieden. Diese werden im Folgenden kurz be-
schrieben und in Kap. 4.4 im Hinblick auf ihre Bedeutung für die geologischen Lang-
zeitszenarien bzw. die Neotektonik diskutiert. Dabei ist zu unterscheiden zwischen
Strukturzonen von regionaler Bedeutung (Neuhauser Störung und Flexur von Rafz –
Marthalen), die bereits in Kap. 4.2 angesprochen wurden, und solchen von lokaler
Bedeutung, die nur innerhalb des 3D-seismischen Messgebiets definiert resp. im Zu-
sammenhang erkannt werden können (Wildensbucher Flexur, Strukturzone von Nider-
holz und Strukturzone von Trüllikon).

4.3.1 Neuhauser Störung

Die Interpretation der 3D-Seismik zeigt deutlich, dass die Neuhauser Störung, ähnlich
wie die Randen-Störung, aus mehreren Teilästen mit unterschiedlichem Streichen be-
steht. Der generelle NW-SE-Verlauf der Störungszone ist zudem südlich des Rheins
bei Flurlingen (Nordgrenze des 3D-seismischen Messgebiets, Profil E in Beil. 4.5) und
in der östlichen Fortsetzung der Wildensbucher Flexur gestört, wobei jeweils der südli-
chere Abschnitt um ca. 1 km nach Osten versetzt ist.

Die Neuhauser Störung verläuft grösstenteils am Nordostrand des Messgebiets der


3D-Seismik und damit in einem Bereich mit nicht-optimaler Qualität des Datensatzes.
Mit Detailstudien (BIRKHÄUSER et al. 2001) wird gezeigt, dass der Abschiebungsbe-
trag zwar auf eine Hauptstörung konzentriert ist, diese aber sowohl horizontal wie auch
vertikal mehrfach versetzt sein muss und zudem von mehreren Nebenstörungen
begleitet wird, die ebenfalls einen Teil der Bewegung aufgenommen haben. An der ca.
NW-SE verlaufenden Hauptverwerfung, wie sie in den Profilen E bis K in Beil. 4.5 und
4.6 vereinfacht dargestellt ist, beträgt der Versatz der mesozoischen Schichten zwi-
schen ca. 20 und maximal etwa 60 m. An der Basis Quartär dürfte er teilweise immer
noch wenige Dekameter betragen. So wurde aufgrund der unterschiedlichen Höhen-
lage von Molasseaufschlüssen am Cholfirst schon seit längerem vermutet, dass hier
eine nordostvergente Abschiebung durchziehen muss (HANTKE et al. 1967).

Diese Befunde wie auch die Tatsache, dass an der Neuhauser Störung keine Mächtig-
keits- oder Faziesunterschiede der mesozoischen Formationen festgestellt wurden,
belegen, dass die Abschiebungen postmesozoischen, allenfalls sogar postmolassi-
schen Alters sind.

4.3.2 Flexur von Rafz – Marthalen

Eine auf den 2D-seismischen Linien sichtbare Flexurzone, die nördlich von Eglisau das
Rafzerfeld quert, wird mit der ähnlich aufgebauten Strukturzone korreliert, die etwa bei
139 NAGRA NTB 99-08

Marthalen das 3D-seismische Messgebiet von WSW nach Osten durchzieht. Sie ist
innerhalb des Messgebiets der 3D-Seismik an der Basis Mesozoikum durch zwei
Hauptverwerfungen mit maximal ca. 20 m Versatz definiert. Diese divergieren von
Osten nach Westen und interferieren dort mit der Strukturzone von Niderholz (s.
Kap. 4.3.5 und Profil B und C in Beil. 4.5 sowie Beil. 4.1 und 4.2), wobei ihr Versatz
teilweise umgekehrt ist. Letzteres muss in Zusammenhang mit den Reflexionshori-
zonten des basalen Mesozoikums im Sinne von Aufschiebungen (reverse faults) inter-
pretiert werden (Profil B in Beil. 4.5). Daraus lässt sich für diese Verwerfungen eine
zweiphasige Entstehung ableiten, d.h. sie entstanden als Abschiebungen, die später
teilwiese kompressiv überprägt wurden (Inversion). Diese "Basisabschiebungen" der
Flexur von Rafz – Marthalen sind lediglich innerhalb der Trias als diskrete Verwerfun-
gen zu erkennen; schon die Karbonate des Oberen Muschelkalks sind kaum noch ver-
setzt, und in den darüberliegenden Formationen ist die Struktur zwar deutlich, aber nur
noch als Flexur zu erkennen.

In den Isohypsenkarten Top Lias und Top Malm (Beil. 4.3 und 4.4) ist die Flexur von
Rafz – Marthalen ebenfalls eingezeichnet, obwohl sie besonders im höheren Mesozoi-
kum nur noch schwach an der etwas engeren Scharung der Tiefenlinien erkennbar ist.

4.3.3 Wildensbucher Flexur

Ca. 700 m nördlich der Sondierbohrung Benken wird das Deckgebirge von einer mar-
kanten, etwa W-E streichenden, nordvergenten Flexurzone gestört, die – an die Ober-
fläche projiziert – durch die Mulde von Wildensbuch streicht. Sie zeichnet sich auf den
Dip- und Azimut-Karten der 3D-seismischen Interpretation deutlich ab. Eine entspre-
chende Deformation ist zwar auch in den 2D-seismischen Daten sichtbar, wurde aber
nicht im Zusammenhang erkannt (z.B. Linie 91-NO-77 in NAEF et al. 1995). Die ca.
500 m breite Strukturzone ist geprägt von mehreren en échelon angeordneten Klein-
störungen mit jeweils geringen Verwerfungsbeträgen (Beil. 4.1 und Profil D und E in
Beil. 4.5). An der Basis Mesozoikum wurden 10 kurze, im Sockel gründende Einzelver-
werfungen kartiert, die sich nur teilweise bis zum Top Muschelkalk und in das höhere
Mesozoikum fortsetzen (Beil. 4.1 – 4.4). Die Schichten des mittleren Mesozoikums
werden im Bereich der Wildensbucher Flexur von drei gestaffelt angeordneten Ab-
schiebungen (Beil. 4.3) mit einem maximalen Versatz von 17 m gestört. Insgesamt
ergibt sich über die ganze Flexurzone hinweg ein Versatz von 20 bis maximal 40 m
(Profil E in Beil. 4.5 und Profil I in Beil. 4.6).

Die Anordnung der Einzelstörungen an der Wildensbucher Flexur wäre typisch für eine
dextrale Lateralverschiebung. Eine entsprechende Bewegung ist aber zumindest im
Kontext des heutigen Stressfelds nicht zu erwarten (s. Kap. 4.4). Es wird deshalb ver-
mutet, dass diese Staffelung der Einzelbrüche ein Abbild analoger, älterer Strukturen
im Sockel darstellt.

Gemäss heutigen Kenntnissen ist die Wildensbucher Flexur auf das 3D-seismische
Messgebiet beschränkt und scheint nach Osten in die Neuhauser Störung überzu-
gehen. Es wird vermutet, dass es sich dabei um den Ausdruck einer reaktivierten
Sockelstörung handelt, die wahrscheinlich in Zusammenhang mit den Abschiebungen
an der Neuhauser Störung in einem generell extensiven Regime remobilisiert wurde.

Dieser genetische Zusammenhang mit der Neuhauser Störung wird besonders aus der
3D-Ansicht des Niveaus Basis Opalinuston (Fig. 4.4) deutlich.
NAGRA NTB 99-08 140

Fig. 4.4: Stark überhöhte 3D-Ansicht der Wildensbucher Flexur und Neuhauser Stö-
rung von Nordwesten (aus BIRKHÄUSER et al. 2001)

4.3.4 Hochzone von Benken

Auf geeignet verlaufenden Schnitten durch den 3D-seismischen Datensatz lässt sich
eine etwa 3 km breite, ca. E-W streichende Hochzone erkennen, in deren Bereich
auch die Sondierbohrung Benken liegt; sie wird deshalb als Hochzone von Benken be-
zeichnet (s. Beil. 4.5).

Die nördliche Begrenzung dieser Hochzone bildet die Wildensbucher Flexur, der Süd-
rand ist durch die Flexur von Rafz – Marthalen definiert (Beil. 4.1). Die in Beil. 4.5 und
4.6 dargestellte Annahme eines Kristallin-Hochs, das auf beiden Seiten von Permo-
karbontrögen begrenzt wird, ist zumindest für den südlichen Bereich gut belegt. Hier
können in den 3D-seismischen Daten die für Permokarbonsedimente typische seismi-
sche Fazies (hohe Amplitude) und zudem charakteristische, leichte Diskordanzen über
grössere Strecken kartiert werden (BIRKHÄUSER et al. 2001). Diese lassen sich auch
auf den 2D-seismischen Linien erkennen und sind direkt mit dem südlich des Mess-
gebiets der 3D-Seismik liegenden Weiach-Trog korrelierbar. Somit liegt der südliche
Teil des 3D-seismischen Messgebiets im Bereich der nördlichen Schulter des Weiach-
Trogs. Nördlich der Wildensbucher Flexur treten im Sockel ebenfalls deutliche Refle-
xionsbänder mit hoher Amplitude, d.h. Permokarbon-Indikationen in Erscheinung; sie
können aber nicht eindeutig von multiplen Reflexionssignalen unterschieden werden,
wie sie z.B. auch im Sockel unter der Hochzone von Benken vorkommen. Die Existenz
des hier postulierten Klettgau-Trogs kann also nicht weiter verifiziert werden. Die Pro-
141 NAGRA NTB 99-08

file des Geologischen Modells (Beil. 4.5 und 4.6) zeigen diese Situation in leicht verein-
fachter Form.

Aus den Profilen ist ersichtlich, dass sich die Deformationen an der Flexur von Rafz –
Marthalen auf den tieferen Teil des Mesozoikums konzentrieren, am Top Malm aber
kaum mehr wahrgenommen werden. Über der Wildensbucher Flexur wird der Malm
zwar noch leicht bis deutlich verbogen, aber insgesamt äussert sich die Hochzone von
Benken in Oberflächennähe lediglich noch durch eine kaum mehr wahrnehmbare Auf-
wölbung, die zwar anhand überhöhter seismischer Linien, aber nicht mit den spärli-
chen Oberflächenaufschlüssen nachgewiesen werden kann (s. a. BIRKHÄUSER et al.
2001).

Es fällt also innerhalb der Hochzone von Benken ein grosser Kontrast zwischen dem
kleinräumigen Bruchmuster an der Basis Mesozoikum und dem sehr ruhig gelagerten
Top Malm auf.

4.3.5 Strukturzone von Niderholz

Die Strukturzone von Niderholz erstreckt sich etwa in N-S-Richtung über den südwest-
lichen Teil des Messgebiets der 3D-Seismik und interferiert dort mit der Flexur von
Rafz – Marthalen. In der Isohypsenkarte Basis Mesozoikum (Beil. 4.1) erscheint sie als
Zone kurzer, ziemlich unsystematisch angeordneter Verwerfungen, die mehrheitlich als
Aufschiebungen, d.h. kompressive Elemente zu interpretieren sind. Profilschnitte durch
den 3D-seismischen Datensatz zeigen zahlreiche, nach unten, in den Sockel hinein
keilförmig zusammenlaufende Schollen, über denen das tiefere Mesozoikum um bis zu
wenige Dekameter aufgewölbt ist, während dazwischenliegende Segmente nach unten
gebogen sind (s. Profil I und J in Beil. 4.6). Diese Deformationen verlieren nach oben
rasch ihren ausgeprägten Charakter; sie sind an der Basis des Opalinustons nur noch
als sehr geringe Verbiegungen festzustellen. Im Bereich der Interferenz mit der Flexur
von Rafz – Marthalen sind auch deren Verwerfungen kompressiv überprägt. Dies
wurde in BIRKHÄUSER et al. (2001) im Sinne einer dextralen Scherbewegung inter-
pretiert. In einem entsprechenden Stressfeld könnte die etwa senkrecht dazu verlau-
fende Strukturzone von Niderholz als konjugierte sinistrale Scherzone angesehen
werden.

Aufgrund von Detailstudien (BIRKHÄUSER et al. 2001) an diesen Strukturen im Süd-


westen des 3D-seismischen Messgebiets kann angenommen werden, dass hier mittel-
triadische Zerrungsstrukturen von einer spättriadischen Inversionsphase überprägt
wurden. Dies wird durch die Tatsache bekräftigt, dass sich die Strukturen der Zone
von Niderholz in den höheren Schichten des Mesozoikums in keiner Weise mehr
bemerkbar machen (vgl. auch RINGGENBERG 2001).

Die Feststellung einer spättriadischen-liasischen Kompressionstektonik im Sockel der


Nordschweiz ist ein neuer, unerwarteter Aspekt für die Rekonstruktion der regionalen
geologischen Entwicklung. Mit den detaillierten Kenntnissen aus dem Messgebiet der
3D-Seismik ergibt sich die Möglichkeit, ähnliche, bisher nur schwer verständliche
Phänomene auf benachbarten 2D-seismischen Linien neu zu verstehen (z.B. Linie
91-NO-75 in NAEF et al. 1995).
NAGRA NTB 99-08 142

4.3.6 Strukturzone von Trüllikon


Im Osten des 3D-seismischen Messgebiets wird eine weitere, lokal deutlich ausge-
prägte, etwa N-S streichende Struktur von ca. 2 km Länge festgestellt (Beil. 4.1 – 4.3).
Sie besteht aus zwei steil stehenden Verwerfungen, die in den Sockel reichen und zu-
mindest teilweise ebenfalls als Aufschiebungen interpretiert werden müssen. Die han-
genden Schichten des höheren Mesozoikums sind nicht mehr versetzt, bilden aber
eine sanfte Antiklinale, die sich im Bereich des Opalinustons noch deutlich abbildet
(Profil E in Beil. 4.5). Mächtigkeitsänderungen des Opalinustons im Nahbereich dieser
Antiklinale zeigen, dass die Struktur zumindest bis in den unteren Dogger aktiv gewe-
sen sein muss (BIRKHÄUSER et al. 2001).

4.4 Die Baueinheiten des Zürcher Weinlands im Kontext der regionalen


Dynamik
Die beschriebenen Strukturen müssen in ihrer kinematischen Bedeutung für die Lang-
zeitszenarien interpretiert werden, um damit Rahmenbedingungen für die rezente
Dynamik, d.h. die Neotektonik formulieren zu können. Dazu werden zuerst die wich-
tigen Aspekte der endogenen Dynamik und ihre Bedeutung für das Zürcher Weinland
diskutiert. Aus den Ergebnissen wird dann ein geodynamisches Konzept Zürcher
Weinland abgeleitet (Kap. 4.6).

4.4.1 Die Bedeutung des Sockels


Wie die früheren Untersuchungen der Nagra in der Nordschweiz gezeigt haben, sind
die jüngeren Sockelstörungen, die das darüberliegende Deckgebirge versetzen, über-
wiegend Ausdruck älterer Strukturen sowie lithologischer Diskontinuitäten im Sockel
und deshalb im Grossen und Ganzen als Abbild des paläozoischen Strukturplans zu
betrachten (DIEBOLD et al. 1991, THURY et al. 1994). Für die Interpretation der De-
formationen im hangenden autochthonen Deckgebirge wäre es deshalb von einiger
Bedeutung, auch die Tektonik und lithologische Gliederung des Sockels zu kennen.
Da die seismische Reflektivität des Sockels sehr gering resp. schwer interpretierbar
ist, kann dessen Bau nur anhand geeigneter Konzepte und Modelle verstanden wer-
den, wie das in DIEBOLD et al. (1991) detailliert dargestellt und in NAEF et al. (1995)
für das Gebiet des Zürcher Weinlands und dessen Umgebung weiterentwickelt wurde.
Die Prognose eines zusammenhängenden Nordschweizer Permokarbontrogs, der sich
vom Klettgau bis zum Baden – Irchel – Herdern-Lineament ausdehnt (s. NAEF et al.
1995), wurde durch die Sondierbohrung Benken widerlegt. Die konzeptionelle Vorstel-
lung von ausgedehnten Permokarbontrögen, deren Randzonen sich durch eine mehr-
fache Remobilisierung während des Mesozoikums und des Tertiärs im Deckgebirge,
v.a. im Strukturplan der Basis Mesozoikum abzeichnen, wurde aber auch durch die
Auswertung der 3D-Seismik bestätigt. Schwieriger sind Aussagen über die Bedeutung
der relativen Hochzonen und leichten Aufwölbungen in der Sockeloberfläche.
Sowohl die Sondierbohrung Benken als auch die Tiefbohrung Herdern-1 liegen beide
im Bereich von Sockelhochs und haben direkt unter der Basis Mesozoikum kristallines
Grundgebirge erbohrt; auch der Granit von Siblingen liegt jenseits einer markanten
Flexurzone, die möglicherweise dem Nordrand eines "Klettgau-Trogs" entspricht, wie
er erstmals in DIEBOLD & NAEF (1990) und NAEF & DIEBOLD (1990) dargestellt
wurde. Es ist deshalb naheliegend, die sich an der Basis Mesozoikum abzeichnenden
Hochzonen als Kristallinhorste innerhalb der Nordschweizer Permokarbonvorkommen
143 NAGRA NTB 99-08

zu interpretieren, wie dies in Beil. 2.4 skizziert ist. Dort wo die Sockeloberfläche eine
Mulde aufweist, wird dies entsprechend als Indiz für eine liegende Permokarbonzone
aufgefasst, besonders dann, wenn solche Mulden über mehrere Seismikprofile hinweg
korreliert werden können oder wenn sie in Kombination mit den für Permokarbon
typischen Reflexionen vorkommen.
Diese Hochzonen und Mulden streichen in der Regel beckenparallel, so dass deren
Randstörungen als thetische und antithetische Verwerfungen resp. Flexuren erschei-
nen. Es gibt aber auch wesentlich kleinräumigere Aufwölbungen und Vertiefungen in
der Sockeloberfläche, deren Ausdehnung durch die Maschenweite der 2D-seismi-
schen Linien fällt, d.h. kaum je mit einiger Sicherheit über zwei Linien korreliert werden
kann. Sie erinnern z.T. an die Strukturformen der Zone von Niderholz oder der Antikli-
nale von Trüllikon und werden deshalb als Ausdruck kompressiver Sockelstörungen
interpretiert.
Aufgrund der mehrphasigen, mesozoisch-tertiären Geschichte des Nordschweizer So-
ckels darf angenommen werden, dass alle wesentlichen Strukturelemente/Schwäche-
zonen des Sockels (s. Beil. 4.1), die gemäss Konzept auch die aktuelle Dynamik be-
stimmen, zumindest leicht remobilisiert wurden und deshalb in groben Zügen bekannt
sind. Die Entstehung bedeutender neuer Diskontinuitäten wird deshalb zumindest für
den Zeithorizont von einer Million Jahren nicht erwartet (s. auch Kap. 5.1.2).
Aussagen über die aktuelle Bedeutung der Sockelstrukturen werden v.a. in Zusam-
menhang mit den Kenntnissen aus der Seismotektonik (Kap. 3.5.4) ermöglicht. Das in
der Nordostschweiz ca. N-S ausgerichtete Spannungsfeld (Kap. 3.6) wird den Charak-
ter der Bewegungen an den bestehenden Strukturzonen bestimmen.

4.4.2 Mächtigkeit, Fazies und Strukturen des Mesozoikums und ihre


Bedeutung für die Neotektonik

Die gute Reflektivität der mesozoischen Schichtreihe und ihre kontrastreiche Ausbil-
dung sind der Schlüssel für das Verständnis der geologischen Geschichte bis in die
jüngste Vergangenheit. Da es sich im Zürcher Weinland – abgesehen von den margi-
nalen Auswirkungen des Fernschubs – um Bewegungen des Sockels unter einem
autochthonen Deckgebirge handelt, ist das Strukturinventar dieses Deckgebirges ein
direkter Ausdruck der tektonischen Ereignisse seit Beginn des Mesozoikums. Dabei
gilt generell: Je älter die Schichten, d.h. je näher die Basis Mesozoikum, desto inten-
siver ist die Deformation und desto mehrphasiger sind die einzelnen Strukturen.
Die über weite Strecken kontinuierliche Ausbildung und Mächtigkeit der mesozoischen
Schichtreihe bezeugt generell eine lange Zeit der relativen tektonischen Ruhe
(Kap. 2.3). Bei einer detaillierten Analyse zeigen sich aber doch teilweise Differenzen,
deren Interpretation wichtige Hinweise für die tektonische Geschichte des Zürcher
Weinlands und dessen Umgebung geliefert hat:
• Die Mächtigkeiten des Malms erreichen im Untersuchungsgebiet ein Minimum, wie
die Korrelation der Nordschweizer Schichtabfolge in Beilage 2.5 klar zeigt. Dies
betrifft sowohl den gesamten Malm wie insbesondere auch das Oxfordian, womit
auf die Existenz einer seit dem ausgehenden Dogger aktiven, regionalen Hoch-
zone hingewiesen wird (vgl. BÜCHI et al. 1965, s. auch Kap. 2.3). Dabei handelt es
sich um einen grossräumigen, wahrscheinlich über lange Zeit anhaltenden Trend,
der nicht durch Bewegungen (Abschiebungen) an bekannten Einzelstrukturen ge-
steuert wurde. Dieser regionale Trend wird aber noch von lokalen Mächtigkeits-
NAGRA NTB 99-08 144

änderungen überlagert. So ist v.a. in den 3D-seismischen Daten, aber auch auf
den Diplinien der 2D-Seismik 1991/92 deutlich zu sehen, wie der Malm von Süd-
osten nach Nordwesten über wenige km rasch geringmächtiger wird; dies dürfte
wohl erste tertiäre Kippbewegungen im Bereich des späteren Molassenordrands
anzeigen (vgl. Fig. 4.5) und steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der nach
extern wandernden Vorlandschwelle (CRAMPTON & ALLEN 1995).
• Das ältere Mesozoikum zwischen Basis Mesozoikum und Top Lias resp. Basis
Opalinuston weist lokal deutliche Mächtigkeitsschwankungen auf, die eine synsedi-
mentäre Remobilisierung von Sockelstrukturen anzeigen. So werden z.B. am Süd-
rand der Hochzone von Benken, im Bereich der Flexur von Rafz – Marthalen, deut-
liche Mächtigkeitsänderungen im Bereich des basalen Mesozoikums festgestellt.
Dies äussert sich auch in einem Wechsel der Seismofazies (BIRKHÄUSER et al.
2001). Zudem sind die Schichten der Trias lokal stark deformiert (Strukturzone von
Niderholz) und weisen abrupte Mächtigkeitsvariationen von mehreren Dekametern
auf, die sich in den jüngeren Schichten über der Basis Opalinuston kaum mehr
abzeichnen. In solchen Bereichen haben synsedimentäre, spättriadische Bewegun-
gen stattgefunden, deren Abbild in der Reflexionsseismik sehr deutlich zur Geltung
kommt (Strukturzone von Niderholz). Auch ALLIA (1996) und WETZEL & ALLIA
(2000) vermuten, dass Mächtigkeitsdifferenzen im Dogger der Nordschweiz auf
differenzielle Setzungen im Bereich von Permokarbontrögen (tektonisch, d.h. durch
Zerrung, nicht durch Kompaktion!) und auf leichte Remobilisierung/Rotation von
Grundgebirgsschollen zurückzuführen sind.
• Auf diversen 2D-seismischen Linien ist eine deutliche Änderung des seismischen
Charakters der mesozoischen Formationen am Baden – Irchel – Herdern-Linea-
ment zu beobachten, wobei die Mächtigkeiten im Norden, d.h. über dem tiefen
Nordschweizer Permokarbontrog insgesamt grösser sind als im Süden.

In BIRKHÄUSER et al. (2001) wird das Strukturinventar des Mesozoikums im Mess-


gebiet der 3D-Seismik beschrieben und in die bestehenden, regionalen Strukturkarten
aus NAEF et al. (1995) integriert. Beil. 4.1 bis 4.4 zeigen die lokalen Strukturkarten
zwischen Basis und Top Mesozoikum, wobei der Kontrast zwischen der kleinräumigen
Zergliederung der Basis Mesozoikum und der nur an sanften Flexuren leicht defor-
mierten Basis des Tertiärs offensichtlich ist (s. auch Beil. 4.5 und 4.6). In Zusammen-
hang mit den zuvor (in Kap. 4.3.5) gemachten Feststellungen muss deshalb ange-
nommen werden, dass die tektonische Zergliederung v.a. des tieferen Mesozoikums
mancherorts auf eine mehrphasige prätertiäre Geschichte zurückzuführen ist (s.
Tab. 4.2).
Einzig die von Nordwesten nach Südosten verlaufende Neuhauser Störung sowie das
Baden – Irchel – Herdern-Lineament weiter im Süden versetzen als diskrete Bruch-
zonen auch die Basis des Tertiärs, d.h. sie sind (auch) postmesozoisch aktive Verwer-
fungen. Leichte postmesozoische Bewegungen sind auch an der Wildensbucher
Flexur nachweisbar.
Gemäss geodynamischem Konzept Zürcher Weinland ist eine mio-pliozäne Abschie-
bungstektonik von einer jüngeren, rezent aktiven Zerscherung mit Abschiebungsten-
denz an den NNW-SSE bis NW-SE verlaufenden und mit Kompressionstendenz an
WNW-ESE bis W-E verlaufenden Segmenten anzunehmen (s. Kap. 4.6 u. Fig. 4.7).
Die beckenparallel verlaufenden Strukturelemente, wie z.B. das Baden – Irchel –
Herdern-Lineament, sind im aktuellen Spannungsfeld nur als Aufschiebungen reakti-
vierbar.
145 NAGRA NTB 99-08

Zwar wirken die inkompetenten Formationen der Trias sowie besonders auch der Opa-
linuston für die aus dem Sockel aufsteigenden Verwerfungen generell dämpfend, d.h.
kleinere Versetzungen der Basis Mesozoikum, die sich nicht durch die ganze Schicht-
reihe bis in Oberflächennähe fortsetzen, können auch sehr jungen Alters sein. Da-
durch entsteht ein gewisser Ermessensspielraum, dies bedeutet, dass kleinere Einzel-
strukturen im tieferen Mesozoikum für neotektonische Aussagen nicht geeignet sind.
Deren tektonische Bedeutung darf nur in Zusammenhang mit grösseren Elementen
oder zumindest mit einem konsistenten Konzept erklärt werden.

4.4.3 Stratigraphie und Tektonik des Tertiärs am Nordostschweizer Molas-


senordrand
Für die Analyse der Molasse und ihrer synsedimentären Dynamik spielt der Nordrand,
in dessen Bereich das Zürcher Weinland liegt, eine entscheidende Rolle. Dort sind die
verschiedenen Schichten zwar geringmächtig, aber annähernd vollständig vorhanden
und in zahlreichen Aufschlüssen auch zugänglich, ähnlich wie dies in der Subalpinen
Molasse am Südrand des Molassebeckens der Fall ist. Das dazwischenliegende Ge-
biet der Mittelländischen Molasse muss weitgehend mit den Ergebnissen der wenigen
Tiefbohrungen sowie der Reflexionsseismik rekonstruiert werden.
Fig. 4.5 zeigt einen NNW-SSE-Schnitt durch die in Fig. 2.6 dargestellte Situation des
Molassenordrands. In 7 Zeitschnitten werden die Vertikalbewegungen und die Lage
der ehemaligen prämolassischen Peneplain dargestellt, wobei die Zeitschritte zwi-
schen den einzelnen Bildern nicht gleich gross sind. Deutlich kommt zur Geltung, dass
das Gebiet zwischen dem Randen und dem Baden – Irchel – Herdern-Lineament wäh-
rend der gesamten Molassezeit als Scharnierzone und Kippachse zwischen dem sich
absenkenden Molassebecken und dem relativ lagestabilen Tafeljura diente. In dieser
Knickzone bildeten sich beckenparallel streichende Flexuren und syn- sowie antithe-
tische Verwerfungen, deren wichtigste das Baden – Irchel – Herdern-Lineament ist.
In Fig. 4.5 (Profil 1) ist die "Prämolassische Peneplain" (= Basis Molasse) mit einer
strichpunktierten Linie markiert. Ihre Lage wird jeweils auf den nächst folgenden Zeit-
schnitt als gepunktete Linie übertragen, womit sich aus der Differenz mit der nächst
jüngeren Lage dieses Referenzniveaus die im zurückgelegten Zeitintervall erfolgte Ab-
senkung resp. Hebung ablesen lässt. Der Punkt, an dem sich die beiden Linien schnei-
den, wird als Kippachse oder "hingeline" bezeichnet. Die relativ stabile, im Laufe des
Miozäns leicht nach extern (NNW) wandernde Lage dieser Kippachse ergibt sich aus
der Rekonstruktion mit den heute erhaltenen Mächtigkeiten der USM und OMM. Denk-
bar wäre aber auch, dass die älteren Molasseformationen primär wesentlich mächtiger
waren und weiter ins Vorland hinausgegriffen haben, als dies heute erkennbar ist. Zwi-
schen älterer OMM, von der in den Profilen am Nordrand nichts mehr erhalten ist (falls
sie überhaupt je abgelagert wurde) und der jüngeren OMM muss jedenfalls eine regio-
nale Hebungsphase für Erosion resp. Omission gesorgt haben, wofür es zahlreiche
Hinweise gibt (vgl. z.B. SCHREINER 1992). An der Wende zur OSM hat sich dann die
Graupensandrinne (vgl. Fig. 2.6) bis zu 100 m in die marinen Ablagerungen der
jüngeren OMM eingetieft. Dies kann kaum allein durch eine Absenkung des Meeres-
spiegels erklärt werden, sondern zeigt eine deutliche regionale Hebung an, mit welcher
der Zeitabschnitt der miozänen Meeresablagerungen in der Nordschweiz beendet
wurde. Diese Hebungsphase während der späten OMM-Zeit (ca. 18 Millionen Jahre)
wird auch am Alpenrand festgestellt (z.B. KEMPF et al. 1999) und ist wahrscheinlich
Ausdruck einer überregionalen Umgestaltung der alpinen Tektonik ("miozäne Revo-
lution" in LAUBSCHER 1987).
NAGRA NTB 99-08 146

Ab ca. 17 bis ca. 10 Millionen Jahren wurden die Schichten der heute noch erhaltenen
OSM abgelagert. Am Molassenordrand kann die Verfingerung der drei wichtigen
Faziesgürtel Juranagelfluh, Glimmersandrinne und Hörnli-Schuttfächer beobachtet
werden (Fig. 2.6). Die Schichten der Juranagelfluh-Formation erreichen im zentralen
Hegau, am Übergang zur Glimmersandrinne eine Mächtigkeit von ca. 400 m. SCHREI-
NER (1992) konnte anhand von Leithorizonten zeigen, dass derselbe Schichtstapel
nach Nordwesten bis etwa zur ehemaligen Klifflinie der OMM (ca. 15 km) auf etwa ein
Drittel ausdünnt. Dies belegt die fortschreitende Kippbewegung am Molassenordrand,
deren Kippachse am Ende der Molassezeit etwa im zentralen Bereich der Juranagel-
fluh-Schuttfächer, d.h. etwa am Nordrand des Nordschweizer Permokarbontrogs s.l.
gelegen haben dürfte. Es wird angenommen, dass die mittelmiozäne Landoberfläche
im Zürcher Weinland auf ca. 300 m ü.M. lag und sich infolge Auflandung (Akkumu-
lation) bis zum Ende der Molassesedimentation vor ca. 10 Millionen Jahren bis auf ein
mit heute vergleichbares Niveau von ca. 400 m ü.M. angehoben hat, während sich der
Untergrund gleichzeitig absenkte. Diese mittel- bis spätmiozäne Subsidenz während
der Ablagerung der OSM wird auf ca. 400 m im Bereich der Sondierbohrung Benken
und ca. 1200 m bei der Tiefbohrung Lindau-1 geschätzt.
Während der mittel- bis spätmiozänen Absenkung des Molassebeckens können syn-
sedimentäre Bewegungen an verschiedenen tektonischen Elementen im Bereich des
Molassenordrands nachgewiesen werden. Aufgrund der Interpretation von Reflexions-
seismik-Linien muss angenommen werden, dass Einzelverwerfungen des Baden –
Irchel – Herdern-Lineaments bis an die Oberfläche resp. die Basis des Quartärs
reichen (s. Beil. 2.2). Solche Strukturen sind allerdings bis heute aus Oberflächenauf-
schlüssen nicht bekannt. Aus dem benachbarten Hegau beschreibt SCHREINER
(1992) verschiedene Beispiele von beckenparallel, herzynisch wie auch ca. N-S (rhei-
nisch) streichenden Flexuren und Brüchen, die während der Ablagerung der OSM
nachweislich aktiv waren (s. Fig. 2.6). Im Gegensatz zur älteren Molasse, bei der v.a.
die beckenparallelen Strukturen aktiv waren, dominierten im Mittel- und Spätmiozän
die herzynisch und untergeordnet ca. N-S streichenden Verwerfungen. Die Absenkung
des Hegau – Bodensee-Grabens an der Randen-Störung setzte zur Zeit der frühen
OSM ein und dauerte wahrscheinlich bis in die postmolassische Zeit an. Eine rezente
oder doch pleistozäne Aktivität kann jedoch mit geologischen Methoden nicht direkt
nachgewiesen werden. Unsichere Hinweise auf junge Bewegungen an Verwerfungen
des Hegau – Bodensee-Grabens gibt es lediglich aufgrund nicht-höhengleicher
Deckenschottervorkommen im zentralen Hegau (SCHREINER 1992).
147 NAGRA NTB 99-08

NNW Schwäbische Alb Hegau Randen SB Benken BIH TB Lindau-1 SSE

1 Prämolassische Peneplain, USM I Alttertiäre Erosion im Bereich der Hebung und Erosion über
Schwarzwald – Aarmassiv-Schwelle Oligozäner Vorlandschwelle
0

Kippachse
2 Ende USM, vor ca. 20 Ma USM-Randfazies
Erosion im Schwarzwald Ältere Juranaglfluh Antitheter
0
Oberaquitane
Mergelzone
Randflexur Granitische
USM
3 Ende OMM, vor ca. 18 Ma
OMM-Klifflinie Kippachse
jüngere OMM
0
Ältere OMM

4 Frühe OSM, vor ca. 17 Ma


Frühmittelmiozäne Landoberfläche (ca. 200 m ü.M.)
0

Graupensandrinne
5 Späte OSM, vor ca. 13 Ma
Kippachse m ü.M.
500
Spätmittelmiozäne Landoberfläche (ca. 300 m ü.M.)
Glimmersandrinne Hörnli-
0
Schuttfächer

20 km -1000
ca. 10-fach überhöht jüngere Juranagelfluh

6 Ende Molasseablagerung, vor ca. 10 Ma -2000


Kippachse
Obermiozäne Landoberfläche (ca. 400 m ü.M.)

0
-3000
Prinzipskizze:
prämola Kippachse =
ssisch hingeline
e

Hebung Lage im vorhergehenden


Zeitabschnitt
Pe
ne
pla
in
Absenkung

7 Heute post-
molassische
Erosion

Zürcher Weinland

BIH = Baden – Irchel – Herdern-Lineament

Nordschweizer Permokarbontrog s.l.

Fig. 4.5: Tertiäre Dynamik des Molassenordrands im NNW-SSE-Profil Hegau –


Randen – Zürcher Weinland – Tiefbohrung Lindau-1
NAGRA NTB 99-08 148

4.4.4 Das Ende der Molassesedimentation

In Kap. 2.4.5 wurden die geologischen Daten zur Festlegung der geodynamischen
Wende zwischen Subsidenz und Hebung am Ende der Molassesedimentation fest-
gehalten und kurz diskutiert. Mithilfe alter Talniveaus und der heutigen Erosionsbasis
wurden im Rahmen der geomorphologischen Analyse ebenfalls Hebungsraten ermit-
telt, was zu vergleichbaren Resultaten führte (Kap. 3.3.3). Auch die Auswertung der
geodätischen Messungen ergab ähnliche Werte für die rezenten lokalen und regio-
nalen Hebungsraten.

Im Folgenden soll der Wendepunkt von Subsidenz zu Hebung resp. von Akkumulation
zu Erosion mithilfe von Durchschnittswerten ("realistic values") des gesamten Daten-
satzes konstruktiv eingeengt und graphisch dargestellt werden. Dabei werden stark
vereinfachend über die gesamte OSM-Zeit linear gleich bleibende Absenkraten und
dann vom Beginn der Hebung bis heute konstante Hebungsraten angenommen. Es
wurden die Bohrstandorte Benken, Herdern-1 und Lindau-1 betrachtet (Fig. 4.6). Die
Landoberfläche als Bezugsebene lag zu Beginn der OSM auf Meeresniveau, stieg
dann durch Auflandung/Akkumulation im Laufe der OSM bis auf ca. 400 m ü.M. an
und wurde dort bis heute konstant gehalten. Die heutige Höhe wurde etwa mit dem
Wendepunkt erreicht.

Mit diesen Rahmenbedingungen lässt sich das in Fig. 4.6 dargestellte Szenarium kon-
struieren. Tab. 4.1 gibt einen Überblick über die verwendeten Daten. Die Zahlen für die
Gesamtmächtigkeiten der Molasse in den drei Tiefbohrungen wurden anhand der
Daten von LEU et al. (2001) sowie weiteren Kenntnissen aus dem gesamten Geoda-
tensatz abgeschätzt sowie konstruktiv ermittelt. Der Wert für die fehlende OSM bei der
Tiefbohrung Lindau-1 wurde aus Fig. 4.5 abgelesen.

Weil linear interpoliert wurde, sind alle Varianten, die sich aus variablen Bewegungs-
raten ergeben, nicht berücksichtigt. Variable Raten ergeben praktisch unendlich viele
Möglichkeiten, und insbesondere die heute gemessenen rezenten Bewegungsraten
wären dann in ihrer langfristigen Bedeutung nicht genauer fassbar. Die gewählten
Parameter stellen einen Kompromiss dar, zeigen aber immerhin, dass ein gewisser
Spielraum durchaus vorhanden ist. Der Wendepunkt liegt im Bereich zwischen 10.5
und 9.5 Millionen Jahren.

Je kleiner die Sedimentations- resp. Subsidenzraten während der OSM gewählt wer-
den, desto jünger wird der Wendepunkt, aber desto grösser muss auch die Geschwin-
digkeit für die Resthebung sein. Diese ist aber durch die abgeleiteten Hebungsraten
für das Plio-Pleistozän gegeben (s. Beil. 3.1 und Fig. 3.2).

Es ist daher naheliegend, den Wendepunkt bei etwa 10 Millionen Jahren festzulegen.
Daraus ergeben sich aber z.B. für die Tiefbohrung Herdern-1 gewisse Probleme, in-
dem hier bei ca. 13 Millionen Jahren (Datierung der Sandgrube Helsighausen auf dem
Seerücken in BOLLIGER 1998), d.h. in ca. 4 Millionen Jahren erst etwa 700 m OSM
abgelagert wurden und dann für die restlichen 900 m nur noch 3 Millionen Jahre Zeit
zur Verfügung stand. Gemäss Grafik müssten vor 13 Millionen Jahren bei der Tiefboh-
rung Herdern-1 bereits ca. 950 m OSM vorliegen. Dieser Widerspruch kann nur bei
Annahme variabler Bewegungsraten gelöst werden, z.B. dass die Absenkung während
der OSM zuerst zögernd begann, etwa zwischen 14 und 12 Millionen Jahren ein
Maximum erreichte und dann bis vor ca. 10 Millionen Jahren abklang. In jedem Fall
wird aber deutlich, dass die Absenkung am Molassenordrand während des Mittelmio-
zäns am grössten war.
Ende der Molassesedimentation
USM OMM OSM [m ü.M.]

Fig. 4.6:
Geländeoberfläche
400
20.5 17 [Ma]
Benken
Meeresniveau 0
ehemalige
Gesamtmächtigkeit
der Molasse bei /a
Benken = 1200 m mm
0 .1
0.07
mm
/a
Durchschnittliche
Hebungsraten in der Herdern-1
postmolassischen Zeit
-1000
/a
mm Lindau-1
. 125
0. ehemalige 0

(verwendete Daten s. Tab. 4.1)


19
m Gesamtmächtigkeit
149

m der Molasse bei


/a
Herdern = 2400 m
/a
m
Durchschnittliche m
Absenkraten während 17
0.

0.
Ablagerung der OSM

24
-2000

m
m
/a
ehemalige
Gesamtmächtigkeit
der Molasse bei
Lindau = 3200 m

-3000
25 20 15 [Ma] 10 5 0
23.8 16.5 11 2.6
Oligo- Früh- Mittel- Spät-
zän Pliozän Quartär
Miozän

Eingrenzung des Wendepunkts anhand einer schematischen Darstellung


der Absenkung und Hebung des Untergrunds seit der Wende Oligozän /
Miozän am Beispiel der Tiefbohrungen Benken, Herdern-1 und Lindau-1
NAGRA NTB 99-08
NAGRA NTB 99-08 150

Im Übrigen ist z.B. der Einfluss der Schwarzwaldhebung bei der Sondierbohrung
Benken nicht berücksichtigt. Er zeigt sich aber darin, dass Benken gegenüber dem
Stand zu Beginn der OSM um ca. 500 m angehoben wurde, während die Höhenlagen
bei den Tiefbohrungen Herdern-1 und Lindau-1 heute etwa gleich sind wie zu Beginn
des Mittelmiozäns. Ähnliches wie für die Sondierbohrung Benken gilt auch für die Boh-
rung Weiach, deren Parameter auch in Tab. 4.1 aufgeführt sind, in der Grafik aber
nicht berücksichtigt wurden.

Tab. 4.1: Verwendete Werte für die Konstruktion von Fig. 4.6

20.5 17 10 Zeitmarken [Ma]


Mächtigkeit [m]

Hebungsrate [mm/a]
Sedimentationsrate
Gesamtmächtigkeit
Bohrung [m ü.M.]

Postmolassische

Resthebung [m]
Basis Molasse
Subsidenzrate
OSM [mm/a]

OSM [mm/a]

heute [m]
Molasse
OMM

OSM
USM

Benken 125+ (50) (850) 1200 0.12 0.07 0.1 200 1000
(400 m) (175)

Herdern-1 600 207 490+ 2400 0.23 0.19 0.125 -770 1225
(527 m) (1103)

Lindau-1 1035 265 365+ 3200 0.27 0.24 0.17 -1150 1650
(516 m) (1535)

Weiach 140+ (50) (900) 1250 0.15 0.07 0.1 192 1040
(369 m) (160)

4.4.5 Die Auswirkung der Schwarzwald-Hebungszone auf das Zürcher


Weinland

Die vom Schwarzwald nach Südosten streichenden Verwerfungen können etwa bis
zum Baden – Irchel – Herdern-Lineament verfolgt werden, reichen aber nicht weiter in
die Mittelländische Molasse hinein. Einzig nordwestlich von Romanshorn kann auf den
Thurgauer Seismiklinien eine ca. parallel zum Bodenseeufer verlaufende Verwerfung
beobachtet werden (s. Beil. 2.1 und 2.3, Profil 7), welche die Schichten des basalen
Mesozoikums um ca. 200 m und die Basis der OSM, die dort in einer Tiefe von
ca. 500 m liegt, noch um einige Dekameter nach Osten verwirft. Generell wird der Ein-
druck vermittelt, dass die herzynischen Verwerfungen des Hegau – Bodensee-Gra-
bens nach Südosten in ein E-W-Streichen oder in den WSW-ENE-Trend des Nord-
schweizer Permokarbontrogs umbiegen und dann einen antithetischen Verwerfungs-
sinn aufweisen. Es ist deshalb anzunehmen, dass diese etwa E-W streichenden Ele-
mente, wie z.B. die Wildensbucher Flexur, die Verwerfungen des Thurgauer See-
rückens oder die Schiener Berg-Nordrandstörung gleichzeitig mit den herzynischen
Verwerfungen, d.h. im Mio-Pliozän aktiv waren.
151 NAGRA NTB 99-08

Neben den zahlreichen herzynisch verlaufenden Störungen beschreibt SCHREINER


(1992) auch prägnante, um die N-S-Achse pendelnde, insgesamt als rheinisch be-
zeichnete Verwerfungen und Flexuren des Hegaus. Im westlichen Hegau ist ihr Ver-
werfungssinn durchwegs ostvergent, im Osten, nördlich des Überlinger Sees teilweise
auch westvergent, so dass der Eindruck einer breiten, wenn auch nur sehr sanften
Grabenzone entsteht. Anhand der guten Leithorizonte in der OMM und OSM des
Hegaus kann die Aktivität an diesen rheinischen Strukturen überwiegend als syn-OSM
und jünger eingestuft werden. Die Verwerfungsbeträge bewegen sich im Rahmen von
wenigen bis einigen Dekametern und überschreiten nirgends 100 m.

Im Gebiet Nordostschweiz – Hegau überlagern sich also während der OSM-Zeit:


• beckenparallel bis E-W streichende Strukturen (Nordschweizer Permokarbontrog),
• die herzynischen Lineamente des Bonndorf – Hegau – Bodensee-Grabens und
• untergeordnet rheinische Elemente.

Diese Überlagerung verschiedener, aktiver Störungssysteme ist vielleicht Ausdruck


tiefgreifender Störungszonen (Wegsamkeiten), an denen die Vulkanite des Hegaus
aufsteigen konnten; deren radiometrische Alter haben Werte zwischen 16 und
7 Millionen Jahren. Sie wurden also grösstenteils während der Ablagerung der OSM
gebildet.
Eine eindeutige Trennung in mittel- bis obermiozäne Verwerfungen, deren Aktivität mit
der Absenkung der Alpenvortiefe zusammenhängt und solche, die der Heraushebung
des Schwarzwalds zuzuordnen sind, ist nicht möglich. Bis zum Ende der Molassezeit
im späten Miozän dürfte im Interferenzbereich Südostschwarzwald – Molassenordrand
aber generell eine Zerrungstektonik vorgeherrscht haben, durch die bereits existie-
rende Schwächezonen weitgehend reaktiviert wurden (vgl. Fig. 2.6).
Im Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland können v.a. an der Neuhauser Störung
spät- bis postmolassische Bewegungen vermutet werden, weil dort auch die Schichten
der OSM deformiert wurden; eine genauere Datierung ist aber nicht möglich. Im be-
schriebenen Kontext naheliegend wären auch miozäne Bewegungen an der ca. E-W
streichenden Wildensbucher Flexur und an der ca. N-S streichenden Antiklinale von
Trüllikon (Beil. 4.1), die das Messgebiet der 3D-Seismik im Südosten zumindest bis an
die Basis der Molasse deformieren. Eine ähnlich verlaufende Antiklinale wurde auch
von SCHREINER (1992) aus dem nordwestlichen Hegau beschrieben.

4.4.6 Fernschub und laterale Kompression im Nordschweizer Deckgebirge


Eine Aufarbeitung des Fernschubmodells für die Interpretation der 2D-Seismik
1991/92 erfolgte in NAEF et al. (1995), wobei v.a. die speziellen Probleme am Über-
gang des abgescherten zum autochthonen Vorland von Belang waren (s. auch
Kap. 2.4.6). Die Ausbildung der sog. Vorfaltenzone am Ostende des Faltenjuras sowie
deren Abgrenzung zum autochthonen Deckgebirge des Tafeljuras resp. der Ost-
schweizer Molasse ist auch für die Diskussion der jungtertiären Strukturen des Zürcher
Weinlands und dessen Umgebung von einiger Bedeutung. Dabei geht es auch um die
Beurteilung einer allenfalls vorhandenen lateralen Druckspannung im abgescherten
sowie im autochthonen Bereich, und es ist die Existenz von steil stehenden Transver-
salstörungen zu diskutieren. Letztlich muss eine Trennlinie zwischen abgeschertem
und autochthonem Deckgebirge, der sog. Nordrand des Fernschubs festgelegt
werden.
NAGRA NTB 99-08 152

Im Messgebiet der 3D-Seismik wurden keine deutlichen kompressiven Strukturen be-


obachtet, die eindeutig in Zusammenhang mit dem Fernschub interpretiert werden
müssen, wie sie weiter westlich auf den 2D-seismischen Linien klar auftreten (s. NAEF
et al. 1995). Zwar gibt es lokal Hinweise auf eine flache Abscherung im Mittleren
Muschelkalk; deren Bedeutung im regionalen Kontext ist aber nicht gesichert (s.
BIRKHÄUSER et al. 2001). Die Hochzone von Benken liegt offenbar ausserhalb des
abgescherten Bereichs, obwohl hier die Evaporite der Trias gut ausgebildet sind und
die Anhydritgruppe in der Sondierbohrung Benken sogar einen 13 m mächtigen Ab-
schnitt mit Steinsalz aufweist. Es müssen im Gegenteil diverse Abschnitte der 2D-Seis-
miklinien, die in NAEF et al. (1995) als Beispiele embryonaler Kompressionsstrukturen
der Fernschubfront erscheinen, uminterpretiert werden. Aufgrund der heutigen Kennt-
nisse sind sie eher als Ausdruck der triadischen Inversion anzusehen, wie sie im Süd-
westen des Messgebiets der 3D-Seismik postuliert wird (Strukturzone von Niderholz, s.
Kap. 4.3.5 und Beil. 4.1) und sind somit nicht durch neogene Bewegungen entstanden.
In gewissem Widerspruch zu dieser Analyse der Reflexionsseismik stehen aber die
Daten der Sondierbohrung Benken, bei der die evaporitischen Serien der Anhydrit-
gruppe und des Gipskeupers deutliche Deformationsstrukturen aufweisen. Zwischen
den Oberen Sulfatschichten und den Unteren Sulfatschichten wurde eine duktile
Scherzone ausgeschieden (s. BLÄSI et al. 1999). Zudem zeigen die Spannungsmes-
sungen (Hydrofrac-Messungen und Horizontalstylolithen s. Kap. 3.6.3) eine deutliche
Kompression. Diese Phänomene führen zur Annahme, dass die Auswirkungen des
Fernschubs, wenn auch nicht im Auflösungsbereich der heutigen Reflexionsseismik
nachweisbar, so doch eindeutig bis zumindest an den Nordrand der Hochzone von
Benken reichen. Eine entsprechende Kompressionsfront muss also nördlich der Son-
dierbohrung Benken verlaufen, wie dies in Fig. 3.14, 4.2 und 4.3 sowie Beil. 2.1 einge-
zeichnet ist.
Südlich des Messgebiets der 3D-Seismik sind auch weiter im Osten kompressive
Deformationen bekannt, z.B. am Baden – Irchel – Herdern-Lineament und im Bereich
um die Tiefbohrung Herdern-1. Der seismisch kartierbare Nordrand von kompressiven
Deformationen ist auch aus den Deformationen der Markerhorizonte Top Muschelkalk
und Top Lias (Beil. 4.2 und 4.3) ersichtlich, dort wo das Gebiet westlich des Rheins
und südlich der Thur zahlreiche Antiklinalen und Überschiebungen aufweist.
Die Erdölseismik-Linien zeigen unter der Ostschweizer Molasse über weite Strecken
ein ungestörtes Reflexionsbild des Deckgebirges, aus dem sich eine Deformation
durch zahlreiche steil stehende Verwerfungen, wie sie von STÄUBLE & PFIFFNER
(1991) dargestellt wurden, nur schwer ableiten lässt. Aber es gibt doch einige Hinweise
auf mögliche, kompressive Deformationen an steil stehenden Verwerfungen, z.B. an
der NW-SE verlaufenden Störung am Bodensee und den in Beil. 2.1 eingezeichneten
NNE-SSW streichenden Verwerfungen nördlich von St. Gallen.
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich der generelle Eindruck, dass die Ostschweizer
Molasse bis zum Seerücken und Bodensee kompressiv überprägt ist. Diese Vermu-
tung wird auch gestützt durch die seit langem bekannte Tatsache, dass die seismi-
schen Geschwindigkeiten in den Ostschweizer Tiefbohrungen im Vergleich zu den ent-
sprechenden Schichten der benachbarten Süddeutschen Molasse wesentlich höher
sind (LOHR 1967). Auch die Beobachtungen von SCHRADER (1988) über das regio-
nale Gefüge von Drucklösungsdeformationen an Geröllen der Molasse lässt auf eine
weitgehend junge, penetrative Deformation infolge lateraler Kompression vor der
Alpenfront schliessen.
153 NAGRA NTB 99-08

Unter Berücksichtigung der neotektonischen Daten aus Kap. 3 wäre diese laterale
Deformation im Deckgebirge als Folge junger bis rezent aktiver Prozesse zu inter-
pretieren, wie sie nur unter der Voraussetzung einer anhaltenden Krustenverkürzung
durch alpinen Zusammenschub bewirkt werden kann. Es ist deshalb naheliegend,
auch einen direkten Zusammenhang zwischen rezenten Hebungen und aktiver Kom-
pression herzustellen. Der Aussenrand dieser durch den alpinen Schub verursachten
rezenten Kompression könnte demnach nördlich der Sondierbohrung Benken und
südlich von Diessenhofen über Stein a. Rhein und den südlichen Schiener Berg nach
ENE verlaufen (s. Fig. 3.14 und 4.2). Der Nordrand der seismisch kartierbaren Defor-
mationen wurde parallel zur Flexur von Rafz – Marthalen angenommen; er kann nicht
wesentlich weiter nach Osten verfolgt werden.

4.5 Synthese: Tektonische Phasen und deren Auswirkung auf die


Strukturen des Zürcher Weinlands

Im Folgenden werden die Kenntnisse über den Bau des Zürcher Weinlands und die
tektonischen Prozesse, die diesen seit dem späten Paläozoikum beeinflusst haben,
kurz zusammengefasst. Tab. 4.2 gibt einen Überblick über das Alter sowie den gene-
rellen Charakter und Bewegungssinn der benannten Strukturelemente des Zürcher
Weinlands. Die Zeitskala wird gemäss Kap. 2 und Fig. 2.2 gegliedert in spätpaläozoi-
sche (variskische), mesozoische und känozoische (paläogene und neogene) Bewe-
gungen, wobei innerhalb dieser drei Zyklen einzelne Phasen mit unterschiedlichen
Bewegungsmechanismen voneinander getrennt werden können. Mit einfachen Sym-
bolen wird der vorherrschende Bewegungscharakter dargestellt.

A: Paläozoische Bewegungen
Die in der Nordschweiz rekonstruierbaren, paläozoischen Bewegungen sind Ausdruck
der Spätphase der variskischen Gebirgsbildung mit Einsenkung und Zerscherung der
Permokarbontröge (s. DIEBOLD et al. 1991 und Fig. 2.2). Im Zürcher Weinland kön-
nen die Flexur von Rafz – Marthalen und die Rüdlinger Flexur als Trograndstrukturen
dieser spätpaläozoischen Tektonik zugeordnet werden.

Auch für die Begrenzung der Hochzone von Benken nach Norden kann in Form der
Wildensbucher Flexur eine spätpaläozoische Anlage postuliert werden. Wird das Kon-
zept, dass postpaläozoisch in der Nordschweiz keine grösseren Störungszonen neu
entstanden sind, konsequent angewendet, so wären auch Neuhauser und Randen-
Störung als Teil des spätpaläozoischen Bruchmusters zu betrachten. Zudem können
sie zwanglos ins Muster der herzynischen Störungszonen eingeordnet werden, das
den ganzen Südostschwarzwald dominiert und das nachweislich im späten Paläozoi-
kum angelegt wurde (Kap. 2.2.2).

Auch die Zonen von Niderholz und Trüllikon könnten gemäss Konzept auf eine spät-
paläozoische Anlage zurückgeführt werden. Unter dem Aspekt, dass die frühtriadische
Extension im Wesentlichen als leichte Remobilisierung von Sockelstrukturen zu be-
trachten ist, die eine ausklingende differenzielle Kompaktion der Permokarbonvorkom-
men begleitet, wäre gerade die Zone von Niderholz, deren Elemente schon in der
frühen Trias als Abschiebungen aktiv waren (BIRKHÄUSER et al. 2001), als spät-
paläozoische Struktur zu betrachten.
NAGRA NTB 99-08 154

Als wichtige Trennzone innerhalb des Nordschweizer Permokarbontrogs hat wohl auch
das Baden – Irchel – Herdern-Lineament eine spätpaläozoische Anlage.

Daraus ergibt sich die schon wiederholt formulierte Annahme, dass das gesamte,
heute an der Basis Mesozoikum prominent in Erscheinung tretende Strukturmuster
eine Remobilisierung bereits bestehender, älterer Störungen ist. Schlüssige Evidenz
liegt allerdings nur für wenige dieser Elemente vor (Flexur von Rafz – Marthalen,
vgl. Tab. 4.2).

Tab. 4.2: Tektonische Bewegungen an den Strukturelementen des Zürcher Wein-


lands
Beim vorherrschenden Bewegungscharakter wird unterschieden zwischen "ausge-
bildet" (E, K oder S) und "möglich" (E, K oder S in Klammern).

Tektonische Phasen im Zürcher Weinland


Spät-
Mesozoische Paläogene und neogene Bewegungen
paläozoische
Bewegungen (Neotektonik s.l.)
Bewegungen

Tektonische Zyklen A B C

mittl. – spätes Mioz. (OSM)


Bewegungscharakter

Extension und Subsidenz

Extension und Subsidenz


Subsidenz, Zerscherung

im späten Oligozän und


frühen – mittleren Trias

Abscherung und
frühen Miozän (USM)

späten Miozän
Genereller

regionaler Extension

Hebung und Erosion

Kompression,
Inversion im späten
Frühmiozän (OMM)

Hebung vom

bis Rezent
Extension in der
und Hebung im

Ruhephase mit

und Subsidenz
Keuper – Lias
Permokarbon

Inversion im

im Alttertiär

Miozän – Pliozän –
Strukturelemente Pliozän Rezent

Kompressive Elemente
Keine Hinweise auf Bewegungen an

Keine Hinweise auf Bewegungen an

Keine Hinweise auf Bewegungen an

im Deckgebirge (K) K
Störungen im Zürcher Weinland

Störungen im Zürcher Weinland

Störungen im Zürcher Weinland

(WSW-ENE bis W-E)

Neuhauser und Randen-


Störung (NW-SE) (E) (E) E E S

Wildensbucher Flexur
(W-E) (E) (E) (E) (E) (S)

Zonen von Niderholz und


Trüllikon (um N-S-Achse) (E) E S (S)

Flexur von Rafz –


Marthalen und Rüdlinger E E S (E) (E)
Flexur (WSW-ENE)

E: Extension und Absenkung, Abschiebungen K: Kompression und Hebung, Auf- und Überschiebungen S: Vorwiegend Scherung

B: Mesozoische Bewegungen
Die mesozoische Geschichte des Zürcher Weinlands vollzieht sich im Rahmen intra-
bis epikontinentaler Verhältnisse ohne grössere Differenzialbewegungen an diskreten
Strukturen. Es erfolgt eine stetige Subsidenz mit Ablagerung von ca. 1'200 bis 1'300 m
mächtigen, vorwiegend flachmarinen Sedimenten, deren Fazies und Strukturen drei
Bewegungszyklen erkennen lassen (s. Kap. 2.3 und Fig. 2.1).
155 NAGRA NTB 99-08

Während der Unter- und Mitteltrias (Skythian – Anisian – Ladian) erfolgte die Subsi-
denz am Südrand des Germanischen Meeres, begleitet von leichten synsedimentären
Bewegungen im Bereich der Trogränder (s. oben). Entsprechende Zerrungsbrüche
werden an der Flexur von Rafz – Marthalen und an Elementen der Strukturzone von
Niderholz anhand von Mächtigkeitsunterschieden aber auch von Faziesveränderungen
vermutet (s. BIRKHÄUSER et al. 2001).

Die grossräumige tektonische Wende während Keuper und Lias, die sich in der Nord-
schweiz durch zunehmend kontinentale Verhältnisse und deutliche Schichtlücken ab-
zeichnet, äussert sich im Zürcher Weinland in Form lokal ausgeprägter Deformationen
und Mächtigkeitsunterschiede, wie sie v.a. im Bereich der Strukturzone von Niderholz
und dem sie kreuzenden Abschnitt der Flexur von Rafz – Marthalen festgestellt wer-
den. Die vom Sockel ausgehenden Aufschiebungen ("reverse faults") weisen eine
kompressive Inversionstektonik mit vertikalen Verstellungen von bis zu einigen Deka-
metern nach. Dabei dürfte es sich mehrheitlich um reaktivierte Abschiebungen der
frühtriadischen Extension handeln. Aus dem Bruchmuster dieser reaktivierten Struk-
turen im Bereich Basis Mesozoikum geht zudem hervor, dass die Inversionsbewe-
gungen von dextralen Horizontalverschiebungen entlang von E-W streichenden Ab-
schnitten der Trograndstörungen begleitet waren. Auch die Isopachenkarte des Inter-
valls Basis Gipskeuper – Stubensandstein (in BIRKHÄUSER et al. 2001) deutet darauf
hin, dass die Flexur von Rafz – Marthalen in diesem Zeitabschnitt teilweise als Auf-
schiebung aktiv gewesen sein musste; dabei wurde der südlich angrenzende Bereich
des Weiach-Trogs offenbar leicht invertiert.

Triadisch-liasische Bewegungen lassen sich auch im Bereich der Strukturzone von


Trüllikon nachweisen (s. oben). Hier müssen die Bewegungen in Form der lokalen Auf-
wölbung aber bis in den unteren Dogger hinein angedauert haben, dies drückt sich
sowohl in leichten Mächtigkeitsschwankungen wie auch in lokalen Änderungen der
Seismofazies aus (BIRKHÄUSER et al. 2001).

Im Dach des Mesozoikums besteht – wie überall in der Region Nordschweiz – eine
deutliche Erosionsdiskordanz. Aufgrund von Maturitätsstudien (LEU et al. 2001) muss
angenommen werden, dass über dem heutigen Top Malm noch ca. 500 m jüngere
Sedimente, wahrscheinlich grösstenteils Kreide lagen, die dann prämolassisch wieder
erodiert wurden. Die in Zentral- und Nordeuropa weiträumig feststellbare jüngstkretazi-
sche bis alttertiäre Kompression und die damit verbundene Inversion und Hebung
könnten in der Nordschweiz zur Erosion dieser Sedimente geführt haben (z.B. ZIEG-
LER & ROURE 1995).

C: Känozoische Bewegungen
Die känozoische Geschichte des Zürcher Weinlands steht in direktem Zusammenhang
mit der alpinen Orogenese, besonders mit der Bildung der Molassevortiefe zwischen
Alpenrand und dem zentraleuropäischen Vorland (Schwarzwald). Im Gebiet Hegau –
Nordostschweiz können anhand der differenziert ausgebildeten tertiären und quartären
Ablagerungen mindestens vier Bewegungsphasen unterschieden werden (Tab. 4.2).
Die genaue Zuordnung entsprechender Strukturen im Zürcher Weinland ist nur teil-
weise möglich, weil hier die jüngeren Molassesedimente fehlen. Für deren Beurteilung
ist man deshalb auf Vergleiche und Analogieschlüsse mit den umliegenden Gebieten
angewiesen.
NAGRA NTB 99-08 156

Die Auflagerungsfläche der Molasse (≈ Top Malm) verläuft nicht parallel zur Schich-
tung, sondern greift von Südosten nach Nordwesten deutlich tiefer in die Karbonate
des Malms hinein. Dies drückt sich in einer erosiv bedingten Mächtigkeitsreduktion des
Malms um 50 – 100 m aus. Eine erste leichte Schrägstellung in Richtung Alpenfront
hat also bereits vor der Ablagerung der Molasse stattgefunden (vgl. Fig. 4.5).

An der Wende vom Paläogen zum Neogen, im spätesten Oligozän und frühesten
Miozän ("Aquitanian"), erfolgte dann in relativ kurzer Zeit die Ablagerung der Unteren
Süsswassermolasse. Diese weist im Südosten des Zürcher Weinlands unter dem
Thurtal bei Andelfingen eine Mächtigkeit von ca. 500 m auf, keilt aber unmittelbar
nördlich von Schaffhausen bereits aus. Die damit verbundene Kippung und differen-
zierte Absenkung des Molassenordrands war begleitet von einer synsedimentären Zer-
rung mit Abschiebungen, die v.a. an trogparallelen Verwerfungen um den Nord-
schweizer Permokarbontrog beobachtet werden, so z.B. am Baden – Irchel – Herdern-
Lineament (leichte Remobilisierung von Sockelstrukturen). Im Zürcher Weinland finden
sich keine Anzeichen entsprechender Bewegungen.

Im Hangenden der USM tritt eine markante, am gesamten Nordostschweizer Molasse-


nordrand zu beobachtende Schichtlücke auf, die offenbar eine Hebungsphase und ent-
sprechende Erosion im unteren Miozän anzeigt. Am Cholfirst liegen die Schichten der
höheren OMM direkt über der USM, wodurch eine Schichtlücke von ca. 3 – 4 Millionen
Jahren impliziert wird (vgl. Fig. 2.5). Anhand der spätuntermiozänen Graupensand-
rinne, die dort ca. 100 m tief in ältere Ablagerungen der Meeresmolasse einerodiert
wurde, sind im Hegau – Randen-Gebiet für diese Zeit entsprechende Hebungen nach-
weisbar. Diskrete Strukturen, die durch diese miozäne Inversion verursacht wurden,
sind nicht bekannt.

Im mittleren Miozän erfolgte nochmals eine kräftige Subsidenzphase am Molassenord-


rand (Ablagerung der Oberen Süsswassermolasse). Diese war wiederum begleitet von
trograndparallelen Flexuren (SCHREINER 1992). Mit der Aufdomung des Schwarz-
walds trat aber auch zunehmend das NW-SE bis WNW-ESE streichende herzynische
Element in Erscheinung. Die Aktivität der Randen-Störung als wichtigster Verwerfung
des herzynisch streichenden Bonndorf – Hegau – Bodensee-Grabensystems kann zu-
mindest teilweise als synsedimentär mit der Ablagerung der OSM im Hegau datiert
werden. Es ist deshalb auch eine gleichzeitige Aktivität an der parallel dazu verlaufen-
den Neuhauser Störung zu vermuten, wie dies in Tab. 4.2 angedeutet ist.

Weitere synsedimentäre Aktivitäten sind für die Zeit der OSM im Perimeter des lokalen
geologischen Modells nicht nachweisbar. Das Baden – Irchel – Herdern-Lineament
war aber an diversen Abschnitten auch im Mittel- und Spätmiozän aktiv.

Im Verlauf des späten Miozäns und dann im Pliozän geriet die abgebogene Alpenvor-
landkruste zunehmend in den Bereich lateraler Kompression. Dies verursachte den
Zusammenschub der subalpinen Molasseschuppen und die Abscherung des Deckge-
birges im zentralen und westlichen Mittelland (Fernschub und Jurafaltung). Zugleich
muss mit einer anhaltenden Aufdomung des Schwarzwalds und damit Aktivität an den
Verwerfungen des Hegau – Bodensee-Grabens gerechnet werden. Mit zunehmender
Krustenverkürzung während des Mio-Pliozäns bis heute dürfte sich die Front der Kom-
pressionsstrukturen sukzessive weiter nach Norden und Nordwesten verlagert haben.
Es wird angenommen, dass das Zürcher Weinland vorerst ganz im Einflussbereich des
Schwarzwalddoms lag, wodurch generell eher eine regionale Dehnung und damit reine
Abschiebungen an den aktiven Strukturen verursacht wurden.
157 NAGRA NTB 99-08

Daraus kann gefolgert werden, dass die Hauptaktivität an der Neuhauser Störung etwa
ins späte Miozän bis frühe Pliozän fällt. Die Interferenz mit der Wildensbucher Flexur
zeigt den genetischen Zusammenhang dieser beiden Strukturen des Weinlands, womit
die Abbiegung entlang der Wildensbucher Flexur auch in diesen spät- bis postmolas-
sischen Abschnitt fallen dürfte. Es gibt aber ausser der konzeptuellen Überlegung
keine konkreten Anhaltspunkte für diese Annahme.

Die neotektonischen Untersuchungen haben gezeigt, dass sowohl Deckgebirge wie


Sockel des Zürcher Weinlands heute generell unter einer horizontalen Differenzial-
spannung stehen, die Ursache einer anhaltenden Krustenverkürzung sein dürfte. In
diesem Regime entstehen neben etwa parallel zur horizontalen Hauptspannung ver-
laufenden Abschiebungen v.a. Scherbrüche, Auf- und Überschiebungen, wie sie im
Faltenjura ausgebildet sind. Analoge Strukturen können auch im Zürcher Weinland
erwartet werden.

An den herzynisch streichenden Abschiebungen des Hegau – Bodensee-Grabens und


damit auch an der Neuhauser Störung sind rezent bevorzugt dextrale Scherbewegun-
gen zu erwarten, die zumindest im Sockel durch die seismotektonischen Analysen
auch nachgewiesen sind (Kap. 3.5). Dabei gilt generell: Je flacher, d.h. WNW-ESE die
Bruchflächen streichen, desto transpressiver und je steiler, d.h. NNW-SSE desto
transtensiver sind die rezenten Bewegungen. Unter diesen Voraussetzungen dürfte die
Wildensbucher Flexur als E-W streichende Struktur nicht mehr aktiv sein; ihre einzel-
nen Bruchelemente könnten aber dextral-transpressiv überprägt werden. Diese v.a.
das heutige Bewegungsbild bestimmenden Prozesse werden im Folgenden noch aus-
führlicher beschrieben.

4.6 Geodynamisches Konzept Zürcher Weinland

Das geodynamische Konzept Zürcher Weinland dient als Grundlage für die Abschät-
zung von tektonischen Bewegungen im Untersuchungsgebiet. Es basiert auf dem in
Kap. 3.8 dargestellten geodynamischen Konzept für die Nordschweiz, ergänzt durch
die Beobachtungen und Indizien aus dem Messgebiet der 3D-Seismik, der Sondier-
bohrung Benken und den tektonischen Daten aus der näheren Umgebung, wie sie in
Kap. 4.2 bis 4.4 abgehandelt wurden. Dabei wird wiederum allein auf das Rahmen-
szenarium B ("es geht weiter") abgestützt (s. Kap. 3.8).

In Fig. 4.7 wird versucht, im Sinne eines geodynamischen Konzepts alle rezent oder in
jüngster Zeit aktiven Prozesse und die wichtigsten Strukturen schematisch darzu-
stellen. Dabei ist es wiederum notwendig, zwischen den Bewegungen des Grundge-
birges resp. Sockels und denjenigen innerhalb des abgescherten Deckgebirges bis zur
Kompressionsfront zu unterscheiden.

Dabei muss gemäss den Anforderungen in Kap. 2.4.6 und 4.4.6 unterschieden werden
zwischen:
A einem seismisch kartierbaren Nordrand des Fernschubs, der den Aussenrand ent-
sprechender Strukturen im Mesozoikum markiert, und
B einer vermuteten, weiter extern (nordwestlich) verlaufenden Front interner, durch
laterale Kompression bedingter Deformationen im Deckgebirge, die sich zwar
nicht als seismisch kartierbare Strukturen beobachten lassen, sich aber durch
Indizien oder direkten Nachweis aus dem neotektonischen Datensatz ergeben.
NAGRA NTB 99-08 158

290 680 690 700 710

Rhein

?
280

Thu
r
s

270

Glatt

Töss 10 km

Neotektonisch aktive Strukturen:

als Überschiebungen im Deckgebirge (Fernschub)


als Aufschiebungen
im Sockel und dem darüber-
als Abschiebungen
liegenden Deckgebirge
als Transversalverschiebungen

Nordrand des Fernschubs, seismisch kartierbar


Kompressionsfront im Deckgebirge gemäss Neotektonik-Datensatz

Sockelhoch

Orientierung der horizontalen Spannungskomponenten


in der oberen Kruste

Messgebiet der 3D-Seismik Sondierbohrung Benken

Fig. 4.7: Geodynamisches Konzept Zürcher Weinland


159 NAGRA NTB 99-08

In der einige Kilometer breiten Zone, die östlich des Rheins zwischen den Grenzen A
und B liegt, gibt es deutliche Hinweise auf Kompression (hohe seismische Geschwin-
digkeiten, maximale horizontale Hauptspannung, duktiler Abscherhorizont im Mittleren
Muschelkalk und äusserst geringe Porosität im Mesozoikum der Sondierbohrung Ben-
ken etc.) aber keine mit Reflexionsseismik nachvollziehbaren Beweise für Kompres-
sions- oder Abscherungsstrukturen im Deckgebirge. Diese gemäss Konzept neotekto-
nisch aktive Zone weist eine generelle Hebungstendenz auf (vgl. auch Beil. 3.1 – 3.3),
während nördlich davon die Senkungszone des Hegau-Gebiets liegt, die nach Nord-
westen über eine Zone ohne neotektonisch auswertbare Daten (s. Fig. 3.14) in die
Hebungszone des Schwarzwalds übergeht.

Wie aus dem Faltenjura und der Vorfaltenzone weiter im Südwesten bekannt ist, orien-
tieren sich die neu entstehenden Auf- und Überschiebungen an der Jurafront im
Wesentlichen an den bestehenden Diskontinuitäten im Bereich der Abscherung (z.B.
Basisabschiebungen). Gemäss Konzept betrifft dies präexistierende Verwerfungen
und Flexuren, die etwa senkrecht oder zumindest in einem stumpfen Winkel zum vor-
herrschenden horizontalen Spannungsfeld, d.h. etwa SW-NE bis W-E verlaufen. Im
Bereich des Messgebiets der 3D-Seismik bietet sich die Flexur von Rafz – Marthalen
am Südrand der Hochzone von Benken sowie die Wildensbucher Flexur für eine
solche Überprägung durch Fernschub, d.h. als neotektonische Strukturzone des Deck-
gebirges an. Eine als embryonale Rampe interpretierte Struktur im Bereich der Flexur
von Rafz – Marthalen wird in BIRKHÄUSER et al. (2001) beschrieben.

Die etwa N-S (± rheinisch) und WNW-ESE verlaufenden Strukturen des Deckgebirges
im Bereich der Fernschubfront liegen gemäss Schema in Fig. 3.14 in günstigem Win-
kel zum heutigen Spannungsfeld, um bevorzugt als Transversalverschiebungen reak-
tiviert zu werden. Dies betrifft Elemente der Strukturzonen von Niderholz und Trülllikon,
besonders aber auch das Südostende der Neuhauser Störung, die dort gemäss
Fig. 4.7 innerhalb des vom Fernschub deformierten Gebiets liegt.

Von grosser Bedeutung ist auch die Frage nach dem Vorhandensein und der neotek-
tonischen Relevanz von Kleinstrukturen, die gemäss Feldgeologie stets die Gross-
strukturen begleiten. Generell gilt, dass sich auch diese an bereits existierenden Dis-
kontinuitäten, wie z.B. Klüftung, inkompetente Gesteinspakete, Faziesgrenzen etc.
orientieren, so dass in diesen Bereichen vermehrt mit zunehmend gestörten Schichten
zu rechnen ist. So würden z.B. die Horizontalstylolithen der Malmkalke aus der Son-
dierbohrung Benken bestens ins Konzept eines neotektonisch penetrativ überprägten
Deckgebirges passen. In dieses Bild passen auch die hohen seismischen Geschwin-
digkeiten, insbesondere der Molasseeinheiten, aller Ostschweizer Erdöl/Erdgastiefboh-
rungen.

Die Sockeltektonik wird vom N-S bis NW-SE verlaufenden Spannungsfeld bestimmt.
Gemäss Spannungsdiagramm in Fig. 3.14 wäre auch eine Inversion der in stumpfem
Winkel zum Spannungsfeld verlaufenden Strukturen des Sockels denkbar, analog zum
Auf- und Überschiebungsmodell des Deckgebirges, womit die Entstehung des v.a. öst-
lich der Neuhauser Störung und südlich des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments auf-
fallenden Sockelhochs erklärt werden könnte. Eine neotektonische Aktivität der Trog-
randstörungen in Form von Flexuren oder Abschiebungen kann jedenfalls ausge-
schlossen werden.

Die deutliche Senkungszone im Bereich des Hegau-Grabens sowie des nördlich an-
schliessenden Grenzbereichs zwischen Molasse und Tafeljura / Schwäbische Alb
NAGRA NTB 99-08 160

könnte als neotektonisch aktive Grabenstruktur interpretiert werden, die durch parallel
bis in spitzem Winkel zur Hauptspannung, d.h. NW-SE bis N-S streichende Verwer-
fungen zergliedert und begrenzt ist. Als aktive Abschiebungen in der Umgebung des
Zürcher Weinlands kommen demnach steile, d.h. NW-SE bis NNW-SSE streichende
Segmente der Neuhauser Störung und der Randen-Störung in Frage.

Wie vorhergehend schon wiederholt bemerkt, kann der Einfluss der rezenten Schwarz-
waldhebung nur schwer abgegrenzt werden. In erster Näherung dürfte die Grenzzone,
d.h. Zone minimalster Hebung gemäss Nivellements und geomorphologischer Ana-
lyse, etwa vom Klettgau über den nordwestlichen Randen zum Nordwestrand des
Hegaus verlaufen. Im Zürcher Weinland und dessen Umgebung ist heute der für das
Jungtertiär vermutete Einfluss der Schwarzwaldhebung nicht nachweisbar.

Unter diesem Aspekt kann angenommen werden, dass die Aktivität des Hegau –
Bodensee-Grabens als aktive, herzynisch streichende Grabenzone zumindest im Süd-
osten beendet ist. Im geodynamischen Kontext dürfte die Neuhauser Störung heutzu-
tage eine im Einzelnen wahrscheinlich kompliziert aufgebaute Scherzone darstellen,
wobei in einem kleinräumigen Schollenmosaik transpressive und transtensive Ab-
schnitte sowie steil stehende Äste mit Tendenz zu Abschiebungen wechseln. Ähn-
liches kann für die Randen-Störung und auch für die in den Schwarzwald hinein-
ziehenden herzynischen Störungen angenommen werden.

Bei dieser Sockeltektonik verhält sich das Deckgebirge nördlich des Nordrands der
Kompressionszone im Wesentlichen passiv. Dabei ist auch die Verbreitung von Per-
mokarbonvorkommen von einiger Bedeutung. Die WSW-ENE-Ausrichtung der wich-
tigen, vorwiegend steil stehenden Trograndverwerfungen des Nordschweizer Permo-
karbontrogs (s. Beil. 2.4) liegt für eine neotektonische Reaktivierung ungünstig,
weshalb an diesen Strukturen im Sockel auch keine rezente Aktivität zu erwarten ist.
161 NAGRA NTB 99-08

5 SICHERHEITSRELEVANTE SZENARIEN DER GEOLOGISCHEN LANG-


ZEITENTWICKLUNG

Mit den folgenden Überlegungen zu Szenarien der geologischen Langzeitentwicklung


soll abgeschätzt werden, inwieweit die Geosphäre bei einem Zeithorizont von einer
Million Jahren ihre Schutzfunktion für ein geologisches Tiefenlager im Zürcher Wein-
land zu gewährleisten vermag. Es werden alle relevanten Prozesse und Ereignisse
berücksichtigt, die aus heutiger Sicht die regionale und lokale geologische Entwicklung
nachhaltig bestimmen können. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund:
• Werden im Zürcher Weinland Vertikalbewegungen erwartet? Handelt es sich um
Hebungen oder Senkungen? In welcher Bandbreite liegen die möglichen Bewe-
gungsraten?
• Wo und in welchem Ausmass sind Bewegungen an bekannten Störungszonen zu
erwarten?
• Ist mit der Bildung von neuen Strukturen zu rechnen, und welcher Art wären diese?
• Wie gross sind die maximal möglichen seismischen Ereignisse (Erdbeben), und
welchen Einfluss haben diese auf ein verfülltes geologisches Tiefenlager?
• Ist mit magmatischen Prozessen oder einer nachhaltigen Veränderung der heuti-
gen geothermischen Verhältnisse zu rechnen?
• Welches sind die möglichen Klimaentwicklungen, und welches Ausmass kann die
Erosion unter Berücksichtigung der Hebung im Untersuchungsgebiet haben?
• Wie gross ist die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Meteoriteneinschlags?

Um die geologischen Rahmenbedingungen für die Beantwortung dieser Fragen festzu-


legen, wurden die Kenntnisse über den geologischen Bau und dessen historische Ent-
wicklung (Kap. 2) mit den Daten der neotektonischen Analysen (Kap. 3.2 – 3.7) zu
einem regionalen geodynamischen Konzept (Kap. 3.8) verbunden, das die rezenten
und damit auch die in unmittelbarer geologischer Zukunft aktiven Prozesse aufzeigt.
Obwohl die verschiedenen Ansätze der Neotektonik – Geodäsie, Spannungsmes-
sungen, Seismotektonik, geomorphologische Analyse, geologische Rekonstruktionen,
Geothermie und Maturitätsstudien etc. – auf weitgehend voneinander unabhängigen
Daten und Methoden beruhen, vermittelt deren integrierte Auswertung für den Zeit-
raum der letzten zehn Millionen Jahre ein konsistentes Bild der aktuellen endogenen
Dynamik der Nordschweiz und ihrer Umgebung. Die geologische Langzeitentwicklung
wird demnach bestimmt durch:
• Den anhaltenden Nordschub der Alpen aus Südosten, dessen frontale Kom-
pression sich sowohl auf das Deckgebirge (Abscherung, Fernschub) wie auch auf
das kristalline Grundgebirge (Blattverschiebungen, Abschiebungen, aber keine
Überschiebungen) auswirkt, und
• die differenzierte Heraushebung des Schwarzwalds im Nordwesten, die sich in vor-
wiegend extensiven Horst- und Grabenstrukturen sowie in Randflexuren äussert,
welche die Hebungsgebiete begrenzen.

Die Nordostschweiz liegt gemäss diesem geodynamischen Konzept für die neotektoni-
schen Bewegungen in einer Interferenzzone zwischen dem anhaltenden alpinen
Stressfeld und der aktiven Hebungszone im Schwarzwald (Kap. 4.6). Diese Konstella-
tion wird im Weiteren als Referenzszenarium für die geologische Langzeitentwicklung
NAGRA NTB 99-08 162

betrachtet. Auf die quantitative Umsetzung eines alternativen geodynamischen Szena-


riums, für das der aktive alpine Zusammenschub beendet ist (wie es für das Kristallin-
projekt definiert wurde, s. DIEBOLD & MÜLLER 1985, THURY et al. 1994), wird im
Folgenden verzichtet. Denn einerseits spricht die heutige Datenlage ausdrücklich für
eine anhaltende Kompression und andererseits wäre das Alternativszenarium für die
Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers weit weniger kritisch und damit im Sinne
einer vorsichtigen Abschätzung auch weniger relevant.

Im Sinne der erarbeiteten Grundlagen ermöglicht das regionale geodynamische Kon-


zept eine realistische Analyse der Kinematik und Dynamik der oberen Kruste im Unter-
suchungsgebiet, und stellt eine ausreichend belastbare Grundlage für die Abschätzung
der geologischen Langzeitentwicklung dar. Für die verschiedenen Aspekte der Lang-
zeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers müssen nun sog. Szenarien entwickelt
werden. Die relevanten Prozesse und Ereignisse dieser Langzeitentwicklung lassen
sich in zwei Gruppen zusammenfassen:
• Die endogenen Szenarien, d.h. die Szenarien der tektonischen Entwicklung bezie-
hen sich auf die Dynamik des Erdinneren (Deformation der Erdkruste durch tekto-
nische Prozesse, Magmatismus, regionale Temperaturverteilung).
• Die exogenen Szenarien werden von den Zyklen der Atmosphäre und der Hydro-
sphäre (Klima) sowie der Biosphäre bestimmt: Chemie und Dynamik der Grund-
und Oberflächengewässer, Stoffumlagerungen an der Erdoberfläche durch Ver-
witterung, Erosion, Verfrachtung und Ablagerung sowie extraterrestrische Phäno-
mene (Meteorite) und anthropogene Einwirkungen (z.B. Flussverbauungen oder
Verstärkung des Treibhauseffekts). Dabei interessieren v.a. die Erosionsszenarien,
wie sie unter verschiedenen Klimabedingungen erwartet werden können. Die exo-
genen Szenarien werden langfristig durch die endogenen Prozesse gesteuert.

Tab. 5.1 zeigt einen Überblick der verschiedenen Teilaspekte (Prozesse und Ereig-
nisse) der endogenen und exogenen Szenarien der geologischen Langzeitsicherheit.
Dabei wird unterschieden zwischen statischen Aspekten oder Zuständen (heutige geo-
logische Situation) und dynamischen Aspekten, die wieder gegliedert sind in kurzzei-
tige Ereignisse und langfristige Prozesse.

Für die Langzeitsicherheit ist die Entwicklung der Tiefenlage resp. der Gesteinsüber-
deckung von entscheidender Bedeutung. Das Zusammenspiel der endogenen und
exogenen Aspekte, die dafür eine wichtige Rolle spielen, wird unter dem Begriff Ero-
sionsszenarien behandelt (s. Kap. 5.2.2).

Das Vorgehen für die Herleitung von standortspezifischen Szenarien besteht aus zwei
Schritten:
• Beschreibung, Quantifizierung und kritische Diskussion aller Teilaspekte der endo-
genen und exogenen Entwicklung.
• Beschreibung der Erosionsszenarien als Kombination der jeweiligen sicherheits-
relevanten Teilaspekte gemäss Tab. 5.1.

Im Folgenden werden in einem ersten Teil (Kap. 5.1) die endogenen (tektonischen)
Szenarien beschrieben. Diese liefern wichtige Rahmenbedingungen für die im zweiten
Teil (Kap. 5.2) behandelten exogenen Szenarien (Erosionsszenarien).
163 NAGRA NTB 99-08

Tab. 5.1: Für die geologische Langzeitentwicklung massgebende Prozesse und


Ereignisse und deren Bedeutung für die tektonischen Szenarien sowie für
die Erosionsszenarien

Kapitel Endogene Szenarien: Exogene Szenarien:


Tektonische Entwicklung Erosionsszenarien

Lithologie, Gesteinstyp 2 + +
Geologische
Situation

Störungsmuster, +
2+4 0
Tektonik
Topographie, –
3.3 +
Hydrographie
ENDOGEN
Regionale Hebungen 3.3 + 3.4 + +
Bewegungen an
5.1.2 + 0
Störungszonen
Prozesse und Ereignisse

Erdbeben 3.5 + 5.1.3 + –


Thermische und
3.7 (+) (0)
magmatische Prozesse
EXOGEN
Klimaentwicklung 5.2.1 – +
Permafrost 5.2.1 – –
Flächenhafter Abtrag –
5.2.2 +
(Denudation)
Lineare Tiefenerosion 5.2.2 – +
Meteoriteneinschlag 5.2.3 (+) (+)

+ relevante Aspekte – nicht relevante Aspekte


0 bedingt relevante Aspekte ( ) Eintretenswahrscheinlichkeit sehr gering

5.1 Endogene Szenarien

5.1.1 Vertikalbewegungen der oberen Kruste im Zürcher Weinland

Kenntnisse über zukünftige Vertikalbewegungen, insbesondere Hebungen der oberen


Kruste, sind wichtige Rahmenbedingungen für die Erosionsszenarien. Für die Ermitt-
lung dieser Bewegungen stehen zwei unterschiedliche Datensätze zur Verfügung:
• Geologische und geomorphologische Beobachtungen und Interpretationen (s.
Kap. 3.3.3, Beil. 3.1), die einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren abdecken
und entsprechende, langfristig gemittelte Bewegungsraten ergeben.
• Geodätische Messungen (z.B. Präzisionsnivellement, s. Kap. 3.4, Beil. 3.2 und
3.3), deren Auswertung Hinweise auf die in der geologischen Gegenwart ablaufen-
den Prozesse ergeben. Die ermittelten Relativbewegungen aus der Analyse der
geodätischen Messungen beziehen sich auf den Referenzpunkt bei Laufenburg.
NAGRA NTB 99-08 164

Geologisch-geomorphologische Studien
Mit einer geologisch/geomorphologischen Studie wurden die Vertikalbewegungen im
Gebiet zwischen Schwarzwald, Bodensee und Alpennordrand östlich der Aare –
Limmat entlang von Übersichtsprofilen analysiert. Mithilfe der verschiedenen Schotter-
vorkommen (Aare – Donau-Schotter, Höhere Deckenschotter) sowie der heutigen
"Ostschweizer Gipfelflur" wurden alte Talniveaus rekonstruiert und deren Höhenlage
mit dem heutigen Niveau der Haupttäler (= aktuelle Erosionsbasis) verglichen (s.
Kap. 3.3.3). Aus der Höhendifferenz zwischen älteren Talniveaus und dem heutigen
Talboden ergaben sich – dividiert durch den entsprechenden Altersunterschied –
Werte für lokale durchschnittliche Hebungsraten, wie sie in Beil. 3.1 dargestellt sind.
Diese Werte bewegen sich für den Raum Nordostschweiz im Bereich von 0.06 bis
0.2 mm/a.

Im selben Bereich liegen auch Werte, die über noch längere Zeiträume mithilfe von
Maturitätsstudien aus Tiefbohrungen (Beckenanalyse) abgeleitet wurden (vgl. LEU et
al. 2001, Kap. 3.3.3 und 4.4.4 sowie Tab. 4.1).

Als Gebiet mit minimaler Hebung erweist sich eine von WSW nach ENE verlaufende
Zone (Tafeljura – Klettgau – Randen). Sowohl nach Nordwesten in Richtung Schwarz-
wald wie auch nach Südosten gegen das Mittelland nehmen die vertikalen Abstände
zwischen dem rezenten Talniveau (= heutige Erosionsbasis) und älteren Talniveaus
zu, d.h. die gemittelten Hebungsraten werden grösser. Für das Untersuchungsgebiet
Zürcher Weinland und seine Umgebung ist gemäss Beil. 3.1 die Annahme einer fort-
schreitenden Hebung mit einer Rate von 90 m/Ma im Nordwesten bis 115 m/Ma im
Südosten begründbar.

Es ist aber zu beachten, dass es sich bei diesen auf regionale Daten beschränkten
Analysen stets um relative Hebungen handelt, d.h. die absolute Bewegung der regio-
nalen Bezugsebene (Erosionsbasis) gegenüber dem Geoid oder der globalen Vorflut-
basis, dem Meeresspiegel, ist nicht bekannt. Für diese Anbindung der Nordschweizer
Daten an die globale Vorflut muss das gesamte Längenprofil des Hauptvorfluters
Rhein betrachtet werden (Fig. 5.1).

Das Ausgleichslängenprofil des Rheins


Die lineare Tiefenerosion im Haupttal steht langfristig in einem dynamischen Gleichge-
wicht mit den Vertikalbewegungen sowie der Beschaffenheit des Felsuntergrunds, wo-
bei sich für grosse Flüsse ein idealisiertes Flusslaufprofil konstruieren lässt. Dieses
Konzept des Ausgleichslängenprofils beruht auf der qualitativen Beurteilung des
Längenprofils verschiedener grösserer Ströme der Erde (MAKIN 1948). Es entspricht
stets einer konkaven, von der Erosionsbasis (im Falle des Rheins die Nordsee) bis
zum Oberlauf exponentiell ansteigenden Kurve (s. Fig. 5.1). Der steile Oberlauf
zeichnet sich durch aktive Tiefenerosion aus, im Mittellauf herrscht Umlagerung und
Weitertransport des anfallenden Erosionsmaterials vor, und im Unterlauf wird vorwie-
gend abgelagert. Entsprechend der Erosionsresistenz des Felsuntergrunds und den
Hebungen oder Senkungen entlang des Flusslaufs bestehen Flüsse in der Regel aus
mehreren Teilsegmenten mit eigener lokaler Erosionsbasis und Ausgleichsprofil. So
lassen sich z.B. beim Rhein deutlich drei Flussabschnitte erkennen, von denen jeder
eine eigenständige Dynamik von Erosion, Umlagerung und Ablagerung aufweist.
165 NAGRA NTB 99-08

Bezüglich des Zürcher Weinlands interessiert v.a. der Flussabschnitt von Schaffhau-
sen bis Basel. Zwischen dieser als Hochrhein bezeichneten Strecke und dem Ober-
rheingraben (Oberrhein) zeigt das heutige Flusslaufprofil eine deutliche Steilstufe, die
in erster Linie durch den ausgeprägten Wechsel in der Erosionsresistenz des Unter-
grunds erklärt werden kann: Der Hochrhein verläuft weitgehend auf den Felsgesteinen
des Mesozoikums und zwischen Waldshut und Säckingen sogar teilweise auf kristalli-
nem Grundgebirge, während der Untergrund des Oberrheingrabens durch mächtige,
relativ weiche Tertiär- und Quartärablagerungen gebildet wird. Neben dieser unter-
schiedlichen Erosionsresistenz spielen wahrscheinlich auch unterschiedliche Hebungs-
geschwindigkeiten eine Rolle, indem am Hochrhein, der zwischen den rezenten
Hebungszonen Schwarzwald und Alpen verläuft, grössere absolute Hebungen statt-
finden als im Oberrheingraben und deshalb das Hochrheinprofil hier einen zusätzlich
übersteilten Verlauf mit aktiver Tiefenerosion zeigt.

Die Übersteilung des Hochrheinprofils gegenüber seiner Erosionsbasis bei Basel


kommt auch im unteren Ausschnitt von Fig. 5.1 klar zur Geltung. Dabei handelt es sich
offensichtlich nicht um die konkave Idealkurve eines reifen Flusslaufprofils. Weil aber
die ca. 1 bis über 2 Millionen Jahre alten Deckenschotterniveaus (s. Kap. 3.3.3) in an-
nähernd paralleler, gegen den Oberlauf leicht divergierender Lage über der heutigen
Erosionsbasis liegen, kann gefolgert werden, dass es sich hier um einen langzeitigen
dynamischen Gleichgewichtszustand handelt, der mit grosser Wahrscheinlichkeit auch
während der nächsten Million Jahre bestehen bleiben wird. Grundsätzlich ist aber
denkbar, dass dieses übersteilte Profil des Hochrheins inklusive Rheinfall und das
Ausgleichsbecken des Bodensees, d.h. die Erosionsbasis des Alpenrheins durch
Rückerosion des Hochrheins eliminiert würde und so Oberrhein, Hochrhein und Alpen-
rhein zusammen ein neues Gleichgewicht mit Erosionsbasis bei Bingen, am Rand des
Rheinischen Schiefergebirges finden müssten. Aus Fig. 5.1 ergibt sich rein graphisch,
dass dadurch v.a. im Abschnitt des Hochrheins gegenüber dem heutigen Verlauf eine
zusätzliche Tiefenerosion von bis zu etwa 80 m stattfinden könnte. Eine totale Rück-
erosion des gesamten Rheins von den Alpen bis zur Nordsee und damit Elimination
aller Steilstufen wäre mit einer zusätzlichen Tiefenerosion von ca. 20 m verbunden.
Damit wäre im Zürcher Weinland mit insgesamt 100 m zusätzlicher Tiefenerosion zu
rechnen. Diese Entwicklung zu einem durchgehenden Gleichgewichtsprofil ohne Steil-
stufen ist aber nur sehr langfristig möglich.

Als realistisch kann die Rückerosion der Steilstufe Rheinfall erachtet werden; dies
kann sich aber erst entwickeln, wenn der Bodensee aufgefüllt ist und dann genügend
Geschiebe mit entsprechendem Abrasionspotenzial bis zum Rheinfall gelangt.

Denkbar ist aber auch, dass der Alpenrhein z.B. nach einer weiteren Umgestaltung
des Gewässernetzes durch die nächste Eiszeit nicht mehr über das Bodenseegebiet
sondern über Seeztal – Walensee und Zürichsee zum Hochrhein fliessen würde (was
er ohne menschliche Eingriffe vielleicht heute schon tun würde!) und somit das Nord-
ostschweizer Mittelland von der Rückwärtserosion des Rheins nicht mehr betroffen
wäre.

Aufgrund der erwähnten Betrachtungen ist im Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland


eine zusätzliche Tiefenerosion des Hochrheins zwar unwahrscheinlich, kann aber nicht
absolut ausgeschlossen werden. Deshalb wäre im Sinne eines konservativen Szena-
riums mit dieser zusätzlichen einmaligen Eintiefung von ca. 100 m zu rechnen.
NAGRA NTB 99-08 166

Quelle auf 2340 m ü.M.


Schaffhausen
Königswinter

Mannheim

Bodensee
Nordsee

Koblenz
Ruhrort

Bingen
Mainz

Basel

rhein
Alpen
m ü.M. SB Benken
Idealisiertes Flusslaufprofil
nach PRESS & SIEVER 1995
500
Oberrheingraben
Erosionsbasis

0.5 ‰
400 Bodensee 395 m

0.93 ‰
Rheinisches Rückwärtserosion des

0.57 ‰
300 Schiefergebirge Rheins
(Erosionsbasis Bingen)

0.23 ‰
Niederrheinische Bucht

0.09 ‰
0.43 ‰
0.47 ‰
200 Totale Rückwärtserosion
0.22 ‰ des Rheins
0.19 ‰
0.14 ‰

(Erosionsbasis Nordsee)
0.03 ‰

100
Erosionsbasis Bingen 77 m
0
Erosionsbasis Nordsee 0 m
1163 km 1000 800 600 400 200 100 0
Aufschüttung Erosion Aufschüttung Erosion

Hochrhein
m ü.M.

Eichberg
900

a
M
.5

800
ca
u
na
Do

700
re

Irchel
Aa

ca. 300 m
s 150 m/Ma
600 ös
Geissberg –T
ur
Th

500
Höchste Terrassen
unbekannter Stellung
max. 190 m Schaffhausen
m Ho chrhein 95 m/Ma
400 eaus a
tter-Niv
nscho
Decke Molasse
ca. 130 m Hochrhein
Laufenburg 65 m/Ma sionsbasis Malm
Heutige Ero Molasse
300 Rheinfelden Malm
Basel Muschel- Keuper –
Rotliegendes Kristallin kalk Lias – Dogger
Tertiär Muschelkalk Zeiningen – Wehratal-Störung
200
Rheingraben-Störung 10 km

Korrelation der Deckenschotter nach VERDERBER 1992


100

Fig. 5.1: Verlauf des Talniveaus des Rheins (a); Vergleich der Höhenlage älterer
Schotterniveaus mit dem heutigen Erosionsbasisverlauf am Hochrhein (b)
Erläuterung zur Figur siehe gegenüberliegende Seite
167 NAGRA NTB 99-08

Erläuterung zu Fig. 5.1:


(a) Verlauf des Talniveaus des Rheins (blaue Linie) im Vergleich mit dem Idealprofil
eines reifen Flusslaufs im Gleichgewichtszustand, dessen Gefälle von der Ero-
sionsbasis (hier die Nordsee) bis zum Oberlauf exponentiell ansteigt (rote Kurve).
Die 1000fach überhöhte Darstellung zeigt, dass der Rhein insgesamt wohl diesem
Idealprofil entspricht, abschnittsweise aber ein den regionalen (und im Detail den
lokalen) Verhältnissen angepasstes Gleichgewicht ausgebildet ist.
(b) Vergleich der Höhenlage älterer Schotterniveaus mit dem heutigen Erosionsba-
sisverlauf am Hochrhein. Unterhalb Waldshut sind rezenter Tallauf und Decken-
schotterniveaus annähernd parallel und weisen eine ausgeglichene Tiefenerosion
resp. relative Hebung dieses Abschnitts nach. Oberhalb von Waldshut divergieren
heutige Erosionsbasis und Deckenschotterniveaus, woraus sich zunehmende rela-
tive Hebungsraten ableiten lassen; diese Tendenz verstärkt sich vom Rheinlauf
weg in Richtung Mittelland (Thur – Töss). Verbindet man die beiden Fundstellen
von Aare – Donau-Schottern am Geissberg im unteren Aaretal und am Eichberg im
oberen Wutachtal (s. Beil. 2.6), so wird ebenfalls eine zunehmende Hebungsten-
denz in dieser Richtung deutlich.

Geodätische Messungen
Bei den rezenten Hebungsgeschwindigkeiten, die aus den geodätischen Wiederho-
lungsmessungen des Landesnivellements errechnet wurden und einen Zeitraum von
beinahe 100 Jahren erfassen (Kap. 3.4), handelt es sich um Relativbewegungen, die
sich auf den Referenzpunkt im Kristallin von Laufenburg beziehen (Beil. 3.2 u. 3.3).
Dieser Referenzpunkt weist aber ebenfalls eine Vertikalbewegung gegenüber der heu-
tigen Erosionsbasis Hochrhein auf. Um diese Vertikalbewegung abzuschätzen, können
wiederum die geologisch-geomorphologischen Daten benutzt werden. Fig. 5.1 (unten)
zeigt eine stark vereinfachte Rekonstruktion des Flussprofils entlang dem Hochrhein
zwischen Basel und Schaffhausen mit der Höhenlage der Deckenschotterniveaus, die
im Nahbereich des Rheins vorkommen. Sie liegen alle zwischen 80 m und maximal
200 m über dem heutigen Hochrheintal, der lokalen Erosionsbasis. Unter der An-
nahme eines dynamischen Gleichgewichtsgefälles innerhalb des Hochrheintals lässt
sich für das oberste Deckenschotterniveau bei Laufenburg, dessen Mindestalter etwa
2 Millionen Jahre beträgt (s. Kap. 2.5.5.1), eine maximale Hebungsrate von ca.
65 m/Ma ableiten. Dies bedeutet, dass sich der geodätische Referenzpunkt gegenüber
der lokalen Erosionsbasis mit einer maximalen Rate von 0.065 mm/a hebt.

Die geodätisch ermittelten Vertikalbewegungen in der näheren Umgebung des Zürcher


Weinlands liegen zwischen ca. -0.05 mm/a bei Schaffhausen und 0.1 mm/a bei Andel-
fingen (Beil. 3.3). Wird die geomorphologisch ermittelte Hebungsrate des Referenz-
punkts von Laufenburg (0.065 m/Ma) dazugezählt, so erhält man ähnliche vertikale
Bewegungen, wie sie aus den geologisch-geomorphologischen Befunden über Zeit-
räume von Millionen Jahren ermittelt wurden.

Diskussion hinsichtlich der Erosionsszenarien


Eine kritische Diskussion dieser Ergebnisse muss glaubhaft darlegen können, dass die
Annahme langfristig kontinuierlicher Hebungen gerechtfertigt ist. Für diese These
spricht die Tatsache, dass die voneinander unabhängigen Methoden der Beckenana-
lyse, Geomorphologie und der Geodäsie Daten ergaben, die über weite Bereiche und
unterschiedliche Zeitskalen im selben Grössenbereich liegen. Die Tendenzen der geo-
dätischen Ergebnisse entsprechen auch dem im geodynamischen Kontext zu erwar-
NAGRA NTB 99-08 168

tenden Bild. Es ist demnach gerechtfertigt, eine langfristig kontinuierliche, vom Gebiet
Hochrhein sowohl nach Nordwesten zum Schwarzwald wie auch nach Süden und Süd-
osten zunehmende Hebung anzunehmen, die den anhaltenden Zusammenschub am
Nordrand der Alpen widerspiegeln dürfte. Wenn dieser Prozess fortschreitet, ist auch
die Annahme begründet, dass sich die Hebungstendenz kurzfristig, d.h. im Verlauf der
nächsten Million Jahre nicht grundlegend verändern wird.

Aufgrund dieser Betrachtungen lässt sich für den Zeitraum von einer Million Jahren die
mögliche fluviatile Erosionsleistung im Zürcher Weinland wie folgt abschätzen:
• Realistisches Szenarium: 90 m im Norden bis 115 m im Süden.
• Konservatives Szenarium (einschliesslich Rückerosion des Rheins): 190 m im Nor-
den bis 215 m im Süden.

5.1.2 Bewegungen an Störungszonen

Für die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers gelten solche Störungs-


zonen als kritisch, die in dessen Nahbereich hydraulische Wegsamkeiten entweder
direkt zur Biosphäre oder zu wichtigen Aquiferen schaffen könnten. Kleinere Struk-
turen, die lediglich für die lokalen hydraulischen Verhältnisse innerhalb einer Formation
von Bedeutung sein können, sind nicht als sicherheitsrelevant zu betrachten.

Die Geometrie bestehender Störungszonen und der Versatz der Schichten sind aus
den reflexionsseismischen Untersuchungen, zumindest innerhalb des Messgebiets der
3D-Seismik gut bekannt (s. Kap. 4 und Beil. 4.1 – 4.6). Über deren hydrogeologische
Bedeutung sind zwar keine direkten Informationen vorhanden. Aus verschiedenen Stu-
dien ist jedoch bekannt, dass Störungen und Klüfte im Opalinuston ab etwa 200 m
Tiefe in der Regel hydraulisch nicht wirksam sind (GAUTSCHI 2001a) und wahrschein-
lich auch in der geologischen Vergangenheit nie als bedeutende wasserführende
Systeme wirksam waren (GAUTSCHI 2001b).

Für eine Beurteilung möglicherweise aktiver Störungszonen müssen neben den Struk-
turdaten v.a. Kenntnisse aus den neotektonischen Untersuchungen (Geodäsie, Seis-
mologie, Spannungsfeld) beachtet werden (Kap. 3.4 – 3.6). Über die mögliche rezente
Aktivität von Störungszonen im Umfeld des Zürcher Weinlands wurden bereits in
Kap. 4.2, 4.3 und 4.5 dezidierte Aussagen gemacht. Demnach zeigt sich, dass nur die
Neuhauser Störung und die drei kleineren Verwerfungen im Bereich der Wildensbu-
cher Flexur als potenziell aktive Strukturen betrachtet werden müssen (Beil. 4.1 – 4.6).

Für die Abschätzung einer möglichen rezenten Aktivität an der Neuhauser Störung
können, neben konzeptuellen Überlegungen, die Analysen der Nivellementmessungen
(Beil. 3.2) beigezogen werden: Nördlich der Störung, im Raum Schaffhausen, weisen
alle Messpunkte, einschliesslich der beiden Punkte bei Neuhausen, eine Senkungsten-
denz auf. Südlich der Neuhauser Störung, im Zürcher Weinland, zeigen die Werte von
Ossingen, Andelfingen und Flaach Hebungstendenzen (s. auch SCHLATTER 1999).
Diese Tendenz nimmt nach Süden im Gebiet von Frauenfeld – Winterthur noch zu. Ein
Ausgleich dieser von Norden nach Süden gegenläufigen Tendenzen der Nivellement-
messungen könnte als rezente Abschiebung im Bereich der Neuhauser Störung erfol-
gen. Die Versetzungsrate müsste aufgrund der geodätischen Daten aber sehr klein
sein und dürfte bedeutend unter 0.1 mm/a liegen. Diese kleine Bewegungsrate liegt im
Bereich der erwarteten Denudationsrate bei gemässigtem und glazialem Klima in die-
169 NAGRA NTB 99-08

sem Gebiet (Kap. 5.2.1). Versucht man anhand geologischer Evidenzen (bei Annahme
von 100 m Versatz seit Beginn der Aktivität im Miozän vor 10 – 20 Ma) durch lineare
Interpolation mittlere Bewegungsraten entlang der Neuhauser Störung zu ermitteln, so
ergeben sich Werte von 0.005 – 0.01 mm/a, die 5 – 10 m/Ma ausmachen würden.
Demzufolge kann eine Versetzungsrate angenommen werden, die zwischen 0.005 und
0.1 mm/a liegt. Bei so kleinen Versetzungsraten würden mögliche im Quartär gebildete
Versätze der Erdoberfläche durch Erosion und Materialumlagerung laufend wieder ver-
wischt. Dies erschwert eine direkte Erkennung von Verwerfungen mit solch kleinen
Bewegungsraten im Feldaufschluss oder in Luftbildanalysen, weshalb das Gebiet in
einer entsprechenden Untersuchung als neotektonisch inaktiv bewertet wurde (PFIFF-
NER et al. 2001).

Falls ein genetischer Zusammenhang zwischen der Neuhauser Störung und der Wil-
densbucher Flexur besteht (Kap. 4.3 und Fig. 4.4), wären auch geringfügige Bewegun-
gen im Bereich dieser Struktur denkbar.

Auch die Analyse der Erdbeben in der Nordostschweiz und das daraus ermittelte
Spannungsfeld (s. Kap. 3.5 und 3.6) zeigen, dass Bruchflächen mit der räumlichen
Orientierung der Neuhauser Störung oder der Randen-Verwerfung (s. Beben von
Singen, Kap. 5.1.3) zu den potenziell aktiven Störungszonen gehören. Bis heute gibt
es jedoch keine Hinweise auf Erdbeben, die in einem direkten Zusammenhang mit der
Neuhauser Störung stehen.

Wie bereits in Kap. 3.8 und 4.2 festgestellt, sind v.a. die grösseren Störungen im
Deckgebirge der Nordschweiz weitgehend mit einem älteren Strukturplan des Sockels
zu korrelieren. Zudem gilt ganz generell, dass sich bei weiterer Beanspruchung die
tektonischen Bewegungen bevorzugt auf bereits bestehende Schwächezonen be-
schränken, sofern deren räumliche Lage dies erlaubt. Die neotektonischen Analysen
zeigen (Kap. 3.8), dass entsprechende Störungszonen in der Nordostschweiz vorhan-
den sind und gemäss seismotektonischen Beobachtungen auch aktiv sein können
(Kap. 3.5 und Beil. 3.4). Dies betrifft insbesondere die herzynisch und rheinisch strei-
chenden Verwerfungen, die als dextrale resp. sinistrale Horizontalverschiebungen re-
aktiviert werden könnten.

Die Reaktivierung weiterer, bisher unbekannter Sockelstörungen und damit eine ent-
sprechende Beeinträchtigung des darüberliegenden Deckgebirges ist zwar nicht aus-
zuschliessen, muss aber – zumindest innerhalb der nächsten Million Jahre – als sehr
unwahrscheinlich angesehen werden.

Wie in BÄCKBLOM & MUNIER (2002) dargelegt, kann die Entstehung neuer Brüche in
tiefgelegenen Minen in Südafrika in einem Umfeld mit geringer Kluftdichte und ohne
grössere Störungen beobachtet werden. Dies lässt sich allerdings auf das dort herr-
schende Spannungsregime zurückführen mit einer gemessenen, kompressiven Span-
nungskomponente von > 300 MPa. Bei solchen Bedingungen – geringe Kluft- und
Störungsdichte – kann der hohe Stress nicht abgebaut werden, wodurch neue Brüche
induziert werden. Im Zürcher Weinland ist kein Stressregime mit derart hohen Kom-
pressionsspannungen gemessen worden, die Spannungen können an den vorhan-
denen Störungen, wie z.B. an der Neuhauser Störung, abgebaut werden.
NAGRA NTB 99-08 170

5.1.3 Erdbeben

Seismisch aktive Störungen


Die geologischen, geophysikalischen und neotektonischen Untersuchungen haben
u.a. zum Ziel, seismisch aktive Störungszonen zu identifizieren. Bei der Platzierung
eines geologischen Tiefenlagers werden solche tektonischen Schwächezonen gemie-
den.

Die Epizentrenkarten der historischen Erdbeben (Fig. 3.5) wie auch der instrumentell
erfassten Erdbeben (Fig. 3.6) zeigen, dass das Untersuchungsgebiet Zürcher Wein-
land zu den seismisch ruhigsten Gebieten der Schweiz gehört (s. auch DEICHMANN
et al. 2000).

Dennoch wurden in der weiteren Umgebung verschiedene seismische Ereignisse re-


gistriert und konnten von DEICHMANN et al. (2000) ausgewertet werden. Diese be-
treffen die Bebenserien von Singen und Diessenhofen/Ramsen sowie die Erdbeben
von Frauenfeld und von Eglisau.

Mit der Bebenserie von Singen wurden in der Zeit zwischen März 1995 und August
1996 sieben Ereignisse registriert, die bezüglich ihrer Seismogramme eine erstaun-
liche Ähnlichkeit aufweisen. Zwei dieser Beben erreichten eine Magnitude von etwas
mehr als 3. Die Herdtiefe lag bei rund 9 km im Kristallin. Die Auswertungen ergaben
eine dextrale ESE-WNW streichende Blattverschiebung mit einer steilen NNE-vergen-
ten Bruchfläche (Beil. 3.4 u. Tab. 3.2). Die Epizentren dieser Bebenserie von Singen
liegen wenige Kilometer nordöstlich der Randen-Verwerfung. Die herzynische Streich-
richtung der Bruchfläche und der Verwerfungssinn sind ein starkes Indiz, dass diese
Erdbebenserie in Zusammenhang mit der Randen-Verwerfung steht.

Im Jahre 1983 wurde zwischen Diessenhofen und Ramsen ein Erdbebenschwarm er-
fasst. Innerhalb von nur 2 Wochen wurden 40 Ereignisse mit Magnituden zwischen 1.2
und 2.8 registriert. Die Herdtiefe von 8 km konnte durch Daten gut bestimmt werden.
Die Auswertung ergab eine dextrale, NNW-SSE streichende Blattverschiebung mit
einer steilen Bruchfläche (Beil. 3.4 und Tab. 3.2). Solche NNW-SSE streichende Struk-
turen sind auch aus der unmittelbaren Umgebung im Hegau bekannt, z.B. die etwas
nördlicher liegende Tengener Verwerfung oder die Aulfinger Flexur (s. SCHREINER
1992).

Am Abend des 25. Juni 1995 wurden in der Gegend von Frauenfeld innerhalb von
anderthalb Stunden drei Beben mit Magnituden von 2.5, 1.9 und 3.6 registriert. Die
Epizentren dieser drei Beben sind Teil eines breiten Streifens seismischer Aktivität, der
sich vom Gebiet zwischen Winterthur und dem Untersee bis ins Untertoggenburg
erstreckt (vgl. Fig. 3.6 und Beil. 3.4). Im Gebiet von Frauenfeld allein wurden seit 1986
13 Beben erfasst. Für die drei Beben vom 25. Juni konnte eine Herdtiefe von 11 –
12 km bestimmt werden. Der Herdmechanismus entspricht einer reinen Abschiebung
mit einer E-W bis ENE-WSW orientierten T-Achse, die ungefähr dem alpinen Strei-
chen entspricht. Bedingt durch die konvexe Form des Alpenbogens ist es aus geome-
trischen Gründen sehr verständlich, dass es in der oberen Kruste zu Extensionsstruk-
turen kommen muss. Herdflächenlösungen mit Abschiebungscharakter und ähnlicher
Orientierung der T-Achsen sind in der Nordostschweiz verschiedentlich analysiert
worden, so z.B. die Beben von Bäretswil (1978), Steckborn (1986), Herisau (1987),
Wettingen (1989) und Kirchberg (1996) (Beil. 3.4 und Tab. 3.2).
171 NAGRA NTB 99-08

In der Gegend von Eglisau wurden, wie aus dem Katalog der historischen Erdbeben
des Schweizerischen Erdbebendienstes hervorgeht, in der Vergangenheit wiederholt
grössere Erdbeben wahrgenommen. So wurden zwischen 1705 und 1878 neun Erd-
beben mit einer Intensität von mindestens V und seit 1879 sieben weitere Ereignisse
mit einer Intensität von mindestens IV registriert (Fig. 3.5). Seit der Installierung des
Erdbebennetzes in der Nordschweiz im Jahre 1983 konnten in der gleichen Gegend
sieben weitere, jedoch schwächere Erdbeben aufgezeichnet werden (DEICHMANN et
al. 2000). Das letzte ereignete sich am 12. September 1999 mit einer Magnitude von
3.1. Die Herdtiefen aller sieben Beben konnten nicht genau bestimmt werden, sie müs-
sen jedoch durchwegs sehr oberflächennah gewesen sein. Auffallend war zudem,
dass einzelne der Beben einen beinahe identischen Signalcharakter zeigten. Aufgrund
der geringen Herdtiefe dieser sieben Beben und des Signalcharakters kann angenom-
men werden, dass sie alle Teil des gleichen Herds waren, dessen Tiefe auf etwa 2 km
geschätzt wird. Die seismische Aktivität fand also im Grenzbereich zwischen Grund-
und Deckgebirge statt und liegt zudem im Bereich der Nordgrenze des Nordschweizer
Permokarbontrogs. Für das Beben vom 12. September 1999 konnte eine Herdflächen-
lösung konstruiert werden. Die beiden daraus abzuleitenden möglichen Bruchsysteme
ergeben eine dextrale NNW-SSE streichende oder eine sinistrale ENE-WSW strei-
chende Blattverschiebung. Ein sinistraler horizontaler Versatz entlang des Nordrands
des Nordschweizer Permokarbontrogs würde den heutigen geologischen Modellvor-
stellungen widersprechen, die aus den Auswertungen der Reflexionsseismik in der
Nordschweiz gewonnen wurden (DIEBOLD et al. 1991, NAEF et al. 1995). Viel wahr-
scheinlicher ist, dass dieser Herd eine dextrale, NNW-SSE streichende Blattverschie-
bung darstellt.

Keine dieser seismisch aktiven Störungen im Gebiet Nordostschweiz – Süddeutsch-


land kann direkt mit dem Untersuchungsgebiet in Verbindung gebracht werden. Zudem
zeigen auch die aufgrund der 3D-Seismik kartierten Strukturen im Zürcher Weinland,
mit Ausnahme der Neuhauser Störung, keine Hinweise auf neotektonische Aktivität.
Die Aussage, dass auch während der nächsten Jahrmillion keine neuen aktiven Stö-
rungssysteme entstehen können, welche die ungestörte Schichtlage des Sedimentsta-
pels beeinträchtigen können, ist daher erdgeschichtlich gut begründet.

Wirkung seismischer Erschütterungen auf Untertagebauten


Für die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers sind die möglichen Auswir-
kungen eines Erdbebens grosser Magnitude auf ein Tiefenlager selbst abzuschätzen.
Dabei muss zuerst über die Grösse des maximal möglichen Erdbebens in der Nordost-
schweiz diskutiert werden. Aufgrund der Studie "Earthquake hazard evaluation for
Switzerland" (RÜTTENER 1995) kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Erdbe-
ben der Magnitude 7 in der Schweiz auftritt. Das Auftreten eines Erdbebens solcher
Stärke ist aber für das Gebiet des Zürcher Weinlands sehr unwahrscheinlich. Alle zur
Verfügung stehenden seismologischen Daten, die makroseismischen Epizentrenkarten
(Fig. 3.5) wie auch die Karten der instrumentell erfassten Erdbeben (Fig. 3.6) zeigen,
dass das Zürcher Weinland zu den Gebieten geringer Erdbebengefährdung gehört.
Aufgrund dieser Daten darf angenommen werden, dass die maximal mögliche Magni-
tude eines Erdbebens in diesem Gebiet kleiner als 7 ist.

Für die Abschätzung der möglichen Auswirkung eines Erdbebens grosser Magnitude
auf ein Tiefenlager stützt man sich einerseits auf empirische Erkenntnisse, d.h. auf
Untersuchungen von durch Erdbeben verursachten Schäden in Untertagebauten sowie
andererseits auf seismologische Messungen, die in verschiedeen Tiefenlagen in Un-
NAGRA NTB 99-08 172

tertagebauten erhoben wurden. Eingehende Untersuchungen von durch Erdbeben ver-


ursachte Schäden in Untertagebauten wurden in den siebziger Jahren von DOWDING
& ROZEN (1978) durchgeführt und dokumentiert. Dabei wurden in systematischer
Weise Erdbebenschäden an Tunnels in Kalifornien, Alaska und Japan analysiert, die
Erdbeben mit Magnituden von 5.8 bis 8.3 ausgesetzt waren. Die aus dieser Arbeit ab-
geleitete Beziehung zwischen Tunnelschäden und verschiedenen charakteristischen
Grössen (maximale Bodenbeschleunigung, Magnitude, Intensität) eines Erdbebens
sind in Fig. 5.2 dargestellt. Für jedes Objekt wurde der beobachtete Schaden als Funk-
tion der Epizentraldistanz und der am Standort abgeschätzten maximalen Bodenbe-
schleunigung dargestellt. Letztere wurde anhand der Magnitude, der Epizentraldistanz
und einer angenommenen Abminderungskorrelation bestimmt. Diese Studie zeigt
deutlich, dass Untertagebauten im Vergleich zu Oberflächenbauten weitaus günstigere
Eigenschaften in Bezug auf die Erdbebensicherheit zeigen. Bei einer Intensität von VIII
(MSK-Skala) erleiden z.B. viele oberirdische Gebäude bereits grössere Schäden. Hin-
gegen treten in Untertagebauten keine bis nur geringe Schäden auf.

Fig. 5.2: Beziehung zwischen Tunnelschäden und verschiedenen charakteristischen


Grössen eines Erdbebens (DOWDING & ROZEN 1978)
173 NAGRA NTB 99-08

BÄCKBLOM & MUNIER (2002) ergänzten die Arbeiten von DOWDING & ROZEN
(1978) durch eine breit angelegte Studie, in der sie in systematischer Weise weltweit
Erdbebenschäden an Untertagebauten untersuchten. Diese Studie beinhaltete eine
umfassende Literaturstudie, Internet-Recherchen und Besichtigungen in Japan, Tai-
wan und Südafrika, wobei rund 60 Organisationen und Wissenschaftler um Zusam-
menarbeit angefragt wurden. Die wichtigsten Schlussfolgerungen bezüglich des Unter-
suchungsgebiets Zürcher Weinland sind:

Erdbebeneffekte in nicht-verfüllten Untertagebauten


Die Beziehung zwischen Tunnelschäden und verschiedenen charakteristischen Grös-
sen (maximale Bodenbeschleunigung an der Oberfläche, Magnitude, Intensität) eines
Erdbebens zeigt, dass Untertagebauten im Vergleich zu Oberflächenbauten eine weit-
aus grössere Erdbebensicherheit aufweisen. Bei maximalen Bodenbeschleunigungen
2
kleiner als 2 m/s treten keine Schäden auf. Aufgrund der Bodenbeschleunigungskarte
von MAYER-ROSA (1986) liegt das Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland aus-
-3
serhalb der Gebiete, in denen mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 pro Jahr mit einer
2
durch Erdbeben hervorgerufenen maximalen Bodenbeschleunigung ≥ 1 m/s gerech-
net werden muss. Alle bis heute messtechnisch erfassten und aus historischer Zeit
überlieferten Erdbeben der Nordostschweiz (DEICHMANN et al. 2000) zeigen nur eine
unbedeutende Magnitude und in der Regel ein mehrere Kilometer tief im Sockel lie-
gendes Hypozentrum (vgl. Kap. 3.5).

Bedeutende Schäden an Untertagebauten waren auch nach starken Erdbeben mit


Magnitude > 6 kaum zu beobachten (BÄCKBLOM & MUNIER 2002). Wenn solche ent-
standen sind, dann entweder in Lockergesteinsabschnitten, Tunnel-Portalzonen oder
bei sehr hohen Gebirgsspannungen. Die meisten Schäden erfolgten im Bereich von
aktiven Störungen. Für ein Tiefenlager im Zürcher Weinland treffen solche Bedin-
gungen nicht zu, da bei der Platzierung des Lagergebiets potenziell aktiven Störungen
ausgewichen wird.

Eindrücklich werden die Untersuchungen von DOWDING & ROZEN (1978) und BÄCK-
BLOM & MUNIER (2002) durch das Erdbeben vom 28. Juli 1976 in der Bergbaustadt
Tang-Shan in China bestätigt. Das Erdbeben hatte eine Magnitude von 7.8 und eine
2
Intensität von mindestens XI. Der Bereich mit einer Intensität von XI umfasste 47 km .
Dem Hauptbeben folgten noch während drei Monaten Nachbeben mit Magnituden zwi-
schen 5.0 bis 7.1. Das Epizentrum des Hauptbebens lag inmitten der Stadt und richte-
te an der Erdoberfläche verheerende Verwüstungen an. Über 220'000 Menschen ver-
loren bei diesem Beben ihr Leben. Zur Zeit des Erdbebens waren die Arbeiten in den
zahlreichen Kohlebergwerken, die Tiefenlagen bis über 800 m erreichen, in vollem
Gang. Dank diesen Umständen konnte eine umfassende Beschreibung der Schäden
in den Bergwerken erstellt werden (WANG 1985). Diese qualitativen Untersuchungen
wurden durch instrumentelle Messungen der Nachbeben ergänzt. Die Resultate dieser
Studien ergaben folgendes Bild: Im Gegensatz zu den katastrophalen Auswirkungen
an der Erdoberfläche entstanden in den Stollen und Kavernen der Bergwerke zwar
zahlreiche, aber nur unbedeutende Schäden, wie feine Risse. Grössere Schäden, wie
Sohlbrüche traten nur im Bereich der oberflächennahen Lockergesteinsstrecken auf.
Im Festgestein waren keine grösseren Schäden zu beobachten. Die Intensität der
Beben nahm mit zunehmender Tiefe von maximal XI an der Oberfläche auf VII in einer
Tiefe von 500 m ab. Ab 500 m Tiefe blieb sie annähernd konstant. Nur im direkten
Umfeld der aktiven Störungszonen traten Schäden der Intensität VIII bis IX auf. Die
messtechnischen Untersuchungen ergaben, dass schon in einer Tiefe von 83 m die
Amplituden der seismischen Wellen um 20 – 80 % reduziert wurden.
NAGRA NTB 99-08 174

Einen weiteren klaren Hinweis auf die Verminderung des Erdbebenrisikos mit zuneh-
mender Tiefenlage, ergeben die seismologischen Messungen, die in der japanischen
Mine Kamaishi durchgeführt wurden (SHIMIZU et al. 1996). Das Bergwerk befindet
sich in einem Granit- und Granodiorit-Komplex. Die seismischen Instrumente wurden
oberflächennah und in Kavernen mit Tiefenlagen von 125 m, 300 m und 600 m aufge-
stellt. Die Epizentren der meisten registrierten stärkeren Beben lagen in einer Entfer-
nung von 20 bis 120 km, wobei durchwegs Magnituden von < 5 bestimmt wurden. Die
Auswertung von 41 in den verschiedenen Tiefenlagen zeitgleich registrierten Beben
zeigte, dass die maximale Beschleunigung, die oberflächennah gemessen wurde, in
den Tiefenlagen 125 m und 300 m um 50 % und im Tiefenbereich von 600 m sogar
um 75 % vermindert wurde.

Zur Abschätzung der Eintretenswahrscheinlichkeit von Schäden an Kanistern verur-


sacht durch abrupte, erdbebeninduzierte Bewegungen entlang von Störungen, die
einen Lagerstollen durchkreuzen, wurden für die schwedischen Endlager Modellrech-
nungen durchgeführt (LA POINTE et al. 1997, LA POINTE et al. 2000). Als Schlüssel-
parameter wurden verwendet: Magnitude und Frequenz von Erdbeben, Distanz vom
Kanister zum Hypozentrum, Grösse und Art des Bruchs, der den Kanister durchkreuzt,
und Orientierung des Bruchs. Die Rechnungen zeigten, dass die Distanz vom Hypo-
zentrum und die Magnitude des seismischen Ereignisses als sensitivste Faktoren zu
betrachten sind, gefolgt von der Bruchgrösse. Die Studie ergab, dass durch Erdbeben
verursachte Schäden an Kanistern auch für einen Zeitraum von 100'000 Jahren sehr
unwahrscheinlich sind, wenn das Tiefenlager nicht direkt in ein Gebiet mit hoher Häu-
figkeit von Erdbeben grosser Magnitude (6 und grösser) oder einer hohen Störungs-
dichte mit grossen Brüchen gebaut wird.

Erdbebeneffekte in einem verfüllten Tiefenlager


In einem Tiefenlager werden die Lagerstollen und -tunnel unmittelbar nach Einbringen
der Abfälle mit Bentonit resp. mit Zementmörtel verfüllt und versiegelt. Die Verfüllung/
Versiegelung der übrigen Tunnel und des Schachts erfolgt nach einer längeren Über-
wachungsphase (Überführung in ein Endlager). In verfüllten Untertagebauten sind
Schäden, die durch Erschütterungen hervorgerufen werden, vernachlässigbar. Die ein-
zigen, mechanischen Störeffekte könnten durch Differenzialbewegungen im Bereich
reaktivierter Störungen erfolgen. Aus den Untersuchungen von BÄCKBLOM &
MUNIER (2002) geht hervor, dass die Bildung neuer Brüche i.A. auf die unmittelbare
Umgebung der reaktivierten Störungen beschränkt ist, und dass die Gesteinsdeforma-
tionen mit der Distanz zur Störung rasch abnehmen. Die Breite der betroffenen Zone
ist standort- und störungsabhängig. Die Feldbeobachtungen zeigen, dass ihre Ausdeh-
nung je nach Situation Zehner bis Hunderte von Metern beträgt. Bei der Platzierung
eines Tiefenlagers wird diesen Befunden Rechnung getragen, indem zu allen grösse-
ren Störungen (aktive und nicht-aktive) ein Sicherheitsabstand eingehalten wird (vgl.
NAGRA 2002, Kap. 9.3.2). Als weitere Vorsichtsmassnahme ist vorgesehen, dass in
Lagerstollenabschnitten, die von kleinen Störungen geschnitten werden, keine Behäl-
ter eingelagert werden.

Aufgrund der Lage des Untersuchungsgebiets in einem seismisch ruhigen Gebiet


sowie der speziellen Massnahmen bei der Platzierung des Tiefenlagers und der Behäl-
ter ist eine Gefährdung des Lagers durch Erdbeben während der Betriebsphase ver-
nachlässigbar und die Langzeit-Integrität des verschlossenen Endlagers gewährleistet.
175 NAGRA NTB 99-08

5.1.4 Thermisch-magmatische Szenarien

Die Frage nach der möglichen Entwicklung magmatischer Aktivität in Form von Intru-
sionen oder Vulkanismus in der Nordschweiz wurde in DIEBOLD & MÜLLER (1985)
ausführlich diskutiert. Dabei zeigte sich, dass eine Intrusion oder Extrusion von Magma
für den zu betrachtenden Zeitraum in der Nordschweiz sehr unwahrscheinlich ist. Am
ehesten müsste mit einer Wiederbelebung des mittel- bis spätmiozänen, alkalischen
Vulkanismus im Kaiserstuhl oder Hegau gerechnet werden. Die relative Nähe des
Hegau-Vulkangebiets zum Zürcher Weinland erfordert nochmals eine Diskussion der
Frage möglicher magmatischer Extrusionen, die im Verlauf der nächsten eine Million
Jahre die Sicherheit eines geologischen Lagers beeinträchtigen könnten.

In der Nordschweiz waren vulkanische Erscheinungen während des Perms häufig


(NAGRA 1989). Sie waren Ausdruck des finalen Vulkanismus am Ende der variski-
schen Gebirgsbildung. Während des ganzen Mesozoikums und auch noch im Altter-
tiär, also über eine Zeitspanne von ca. 220 Millionen Jahren, sind aus dem epialpinen
Raum der Nordschweiz keine magmatischen Oberflächenerscheinungen bekannt. Ab
der späten Kreidezeit kam es aber in Mitteleuropa vereinzelt zur Bildung vorwiegend
basischer Vulkanite, deren Fördergebiete vornehmlich an den Oberrheingraben und
die ihn begleitenden Strukturen gebunden sind (z.B. GEYER & GWINNER 1991). Im
Mittel- bis Obermiozän waren auch die der Nordschweiz benachbarten Gebiete des
Kaiserstuhls und des Hegaus von diesem Vulkanismus betroffen. Radiometrische
Altersbestimmungen der Kaiserstuhl-Vulkanite zeigen Werte zwischen etwa 14 und
17 Millionen Jahren. Die Datierung der ältesten Tuffite aus dem Hegau ergab ein maxi-
males Alter von 16.4 Millionen Jahren und diejenige der jüngsten Phonolithe ein sol-
ches von 6.9 Millionen Jahren. Dieser relativ junge und über mehr als 9 Millionen Jahre
aktive Vulkanismus Südwestdeutschlands ist für die thermisch-magmatischen Szena-
rien von einiger Bedeutung, weshalb im Folgenden näher darauf eingegangen wird.

Die Vulkangebiete des Hegaus und des Kaiserstuhls liegen am Südost- resp. Nord-
westende der herzynisch streichenden Freiburg – Bonndorf – Bodensee-Grabenzone,
die in Zusammenhang mit der miozänen Aufdomung des Schwarzwalds als regionale
Zerrungsstruktur entstanden sein dürfte (s. Kap. 2, Beil. 2.1). Gleichzeitig liegen die
beiden Vulkangebiete innerhalb rheinisch (ca. N-S) streichender Bruchsysteme, der
Kaiserstuhl im Oberrheingraben selbst und die Hegau-Vulkane im Bereich einer weni-
ger gut definierten, über die zentrale Schwäbische Alb streichenden Bruchzone, an
deren Nordende das ebenfalls miozäne Urach – Kirchheimer Vulkangebiet liegt. So-
wohl Kaiserstuhl als auch Hegau liegen also auf einer Interferenzzone von herzynisch
und rheinisch streichenden, wahrscheinlich bis in die tiefere Kruste reichenden Gross-
strukturen und am Rand des Schwarzwaldkristallins. Diese spezielle geotektonische
Situation führte offenbar zum Durchbruch von hochmobilen Schmelzen eines basi-
schen Manteldiapirs, der sich seit dem frühen Tertiär unter dem südlichen Oberrhein-
graben entwickelte. Angesichts einer anhaltenden, durch diesen Diapirismus bedingten
Aufdomung des Schwarzwalds wäre also grundsätzlich auch ein erneutes Durch-
brechen von Mantelmaterial entlang von geeigneten, d.h. extensiv aktiven Bruchzonen
denkbar.

Die herzynisch streichende Neuhauser Störung wird als westliche Begrenzung der
Bonndorf – Bodensee-Grabenzone betrachtet. Südwestlich dieser Störung konnte auf-
grund der bisherigen strukturgeologischen Analysen (NAEF et al. 1995, BIRKHÄUSER
et al. 2001), weder ein markantes herzynisch noch rheinisch streichendes Element
gefunden werden. Eine mit dem Hegau vergleichbare, durch Extension gekennzeich-
NAGRA NTB 99-08 176

nete Grabenstruktur liegt also im Zürcher Weinland nicht vor. Die Spannungsmes-
sungen in der Sondierbohrung Benken wie auch die heutige strukturgeologische Situa-
tion belegen zudem kompressive Verhältnisse in der obersten Kruste des Untersu-
chungsgebiets. Die tektonische Situation des Zürcher Weinlands und dessen näherer
Umgebung unterscheidet sich demzufolge deutlich von derjenigen des Hegaus. Spe-
ziell für das Gebiet des Zürcher Weinlands muss daher nicht mit der Möglichkeit einer
zukünftigen vulkanischen Aktivität gerechnet werden.

Neben der tektonischen Situation wurden zu diesem Fragenkomplex noch die geother-
mischen Verhältnisse in der Nordschweiz betrachtet (s. Kap. 3.7). Ausgehend von der
Darstellung der geothermischen Verhältnisse in RYBACH et al. (1987) wurden auf-
grund etlicher jüngerer Bohrungen der geothermische Datensatz der Nordschweiz
aktualisiert und die Ergebnisse diskutiert (SCHÄRLI & RYBACH 2002). Anhand der
Datenbasis aller untersuchten Bohrungen (Fig. 3.12) kann generell eine graduelle
Zunahme des geothermischen Gradienten von SSE nach NNW, d.h. etwa senkrecht
zum Streichen der alpinen Front festgestellt werden. Dieser allgemeine Trend wird
überlagert von einer Zone leicht erhöhter Gradienten, die vom unteren Aaretal in ENE-
Richtung nach Schaffhausen zieht. Diese Zone steht möglicherweise in Zusammen-
hang mit dem Nordschweizer Permokarbontrog. Da die geothermischen Gradienten
nur einen beschränkten Einblick in die geothermischen Verhältnisse der obersten
Kruste erlauben, wurde auch der geothermische Wärmefluss in die Betrachtung mit
einbezogen (Fig. 3.13). Das Kartenbild zeigt deutlich eine regionale grossräumige
Komponente, die ein generelles Ansteigen der Wärmeflusswerte von Süden nach Nor-
den beinhaltet und von zwei Anomalien am Nord- und Südrand des Permokarbontrogs
im unteren Aaretal (Böttstein – Klingnau, Bad Schinznach – Baden) überlagert wird.
Die Karte des geothermischen Wärmeflusses zeigt aber auch, dass im Gebiet des
Zürcher Weinlands kein erhöhter Wärmefluss gemessen wurde.

Die Interpretation der Daten ergab nach SCHÄRLI & RYBACH (2002), dass für diese
WSW-ENE streichende Anomaliezone ein aufwärts gerichteter Wassertransport mit
einer sehr geringen Fliessrate von wenigen Litern pro Quadratmeter und Jahr verant-
wortlich sein muss. Hinweise auf eine thermische Diskontinuität im Erdmantel oder auf
einen untiefen Magmakörper können aus den Daten nicht abgeleitet werden.

Zusammenfassend kann aufgrund der tektonischen Situation und dem Fehlen von
geothermischen Anzeichen davon ausgegangen werden, dass während des zu be-
trachtenden Zeitraums von einer Million Jahren im Zürcher Weinland keine magmati-
sche Aktivität zu erwarten ist.

5.2 Exogene Szenarien

Für die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers sind v.a. der flächenhafte
Abtrag der Landoberfläche (Denudation) sowie die lokale Entwicklung des Reliefs als
relevante Prozesse zu betrachten. Von besonderem Interesse ist dabei die lineare
Erosion durch glaziale Tiefenerosion, d.h. die Entwicklung der Felsoberfläche unter
den Lockergesteinen der Talsysteme. Dabei spielen auch Kenntnisse über langfristige
Klimaveränderungen eine wichtige Rolle. Die Herleitung der Entwicklung des lokalen
Reliefs beruht also sowohl auf endogenen wie auch exogenen Aspekten, wie dies in
Tab. 5.1 dargestellt ist. Ausgehend von der heutigen, vom Menschen schon stark ge-
prägten Umwelt, sind für eine langfristige Prognose auch die möglichen anthropoge-
nen Auswirkungen zu berücksichtigen.
177 NAGRA NTB 99-08

5.2.1 Szenarien der zukünftigen Klimaentwicklung

Vor dem Entwurf der eigentlichen Erosionsszenarien ist die künftige Klimaentwicklung
genauer abzuschätzen. Solche Klimaszenarien beruhen auf Kenntnissen der Chrono-
logie und Kadenz der jüngsten Klimaveränderungen im Neogen und daraus abzulei-
tenden Regelmechanismen (s. auch Kap. 2.5.2). Zudem werden Argumente benötigt
für die Typisierung und Quantifizierung der Verwitterung und Erosion sowie der Ent-
wicklung des Gewässernetzes unter den verschiedenen Klima- und Reliefbedingun-
gen.

Periodizität von Klimaschwankungen


Wie in Kap. 2.5.2 bereits erläutert, werden heute die orbitalen Parameter (Milanko-
vitch-Zyklen) als wichtigste Ursache für die (geologisch gesehen) kurzfristigen Klima-
schwankungen des Quartärs angesehen, wenngleich die Mechanismen, die zu einem
globalen Eisaufbau bzw. -abbau führen, noch nicht im Detail geklärt sind. Die globalen
Klimaschwankungen lassen sich anhand der Variation der Sauerstoffisotopen-Verhält-
nisse in Sediment- oder Eisabfolgen nachweisen; je grösser der Gehalt an schwerem
18
O ist, desto tiefer waren die globalen Temperaturen. Die Entwicklung der δ18O-Kurve
über die vergangenen 4 Millionen Jahre (s. Fig. 5.3) veranschaulicht den Trend zu im-
mer kälterem Klima und weist gleichzeitig eine generelle Zunahme der Schwankungen
auf. Die Klimaentwicklung des Quartärs ab ca. 2.5 Millionen Jahren zeigt, dass die
Klimaschwankungen bis vor rund 0.9 Millionen Jahren in relativ kurzen Abständen auf-
traten. Dabei scheint der 41'000-Jahre-Zyklus (Neigung der Erdachse) das prägende
Element gewesen zu sein. Demnach wäre also für das ältere Pleistozän eine Steue-
rung der Grösse der arktischen Eiskappen durch den 41'000-Jahre-Zyklus anzuneh-
men (IMBRIE et al. 1992, MUDELSEE & STATTEGGER 1997).

Nach der sogenannten "Middle Pleistocene Revolution" (BERGER et al. 1994) folgte
eine kurze Übergangszeit mit uneinheitlicher Entwicklung und seit etwa 0.6 Millionen
Jahren scheinen die Klimaschwankungen durch den 100'000-Jahre-Zyklus der Exzen-
trizität der Erdumlaufbahn geprägt zu sein. Aus der Darstellung in Fig. 5.3 geht hervor,
dass dieser Wechsel auch zu beträchtlich grösseren Amplituden der Klimaschwan-
kungen und damit zu grösseren Eismassen geführt hat; daraus kann abgeleitet wer-
den, dass auch die Ausdehnung der Gletscher im Alpenvorland und das entsprechen-
de glaziale Erosionspotenzial im jüngeren Pleistozän deutlich zugenommen haben.

Wahrscheinlich wurde der Wechsel vom 41'000er zum 100'000er Zyklus nicht allein
durch die Veränderung der Sonneneinstrahlung infolge des 100'000er Exzentrizitäts-
zyklus verursacht, weil dessen Amplitude dafür zu gering erscheint. Andere Faktoren
könnten quasi als Verstärker gewirkt haben (IMBRIE et al. 1993), so z.B. die Ausdeh-
nung der arktischen Eiskappe, wobei beim Überschreiten einer gewissen kritischen
Grösse die Kopplung der Klimawechsel an den 41'000er Zyklus relativiert und dadurch
ein Wechsel zum 100'000er-Zyklus ermöglicht wurde. Dabei spielten sicherlich auch
Faktoren wie das Niveau des Meeresspiegels, die Wasserzirkulation in den Ozean-
becken, die Speicherung von CO2 im kalten Tiefenwasser etc. eine Rolle (vgl.
Kap. 2.5.2 und ZACHOS et al. 2001). Eine Prognose über zukünftige Änderungen der
Klimazyklizität ist kaum möglich, weshalb für den Zeithorizont von einer Million Jahren
mit einem Andauern der 100'000er-Zyklen gerechnet wird.
NAGRA NTB 99-08 178

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 Ma


2.0

3.0
18 O [‰]

A
4.0

5.0
P leistozän Pliozän
Holozän ka
500 1000 1500
-1.5

-1.0

-0.5
18 O [‰]

0 B

0.5

1.0

1.5
100 ka - Zyklus Über- 41 ka - Zyklus
Jungpleistozän gang Altpleistozän

wärmer
-2.5
18O (Standardabweichung)

-2.0
-1.5
-1.0
-0.5
C
0.0
0.5
1.0
1.5
2.0
kälter 0 -100 -200 -300 -400 -500 -600 Zeitskala in ka

A: Sauerstoffisotopen-Entwicklung der letzten 4 Millionen Jahre vom Pliozän zum Pleistozän mit generellem Trend zu
höheren 18 O-Werten, d.h. tieferen Temperaturen (rote Punktelinie); die blaue Kurve stellt die durch Filterung
ermittelte relative Kraft des 100 ka-Zyklus dar (nach ZACHOS et al. 2001).
B: Sauerstoffisotopen-Kurve der letzten 1.5 Millionen Jahre mit Übergang vom 41 ka-Zyklus des älteren Pleistozäns
zum 100 ka-Zyklus des jüngeren Pleistozäns und Entwicklung zu grösseren Amplituden (Trend abgezogen, nach
MUDELSEE & STATTEGGER 1997).
C: Die Sauerstoffisotopen-Kurve der letzten 700 ka, deutlich kommt die asymmetrische Temperaturentwicklung und der
Trend zu bimodalen Maxima zur Geltung (blau = Kaltzeiten, orange = Warmzeiten).

Fig. 5.3: Sauerstoffisotope und Klimaentwicklung im Plio-Pleistozän


179 NAGRA NTB 99-08

Tiefe [m]
0 500 1000 1500 2000 2500 2750 3000 3200 3300
D Eis [‰ SMOW]

-420

-440

-460

-480
18Oatm [‰ SMOW]

-0.5
0.0
0.5
1.0

280
CO2 [ppmv]

260
240
220
200

700
CH 4 [ppmv]

600
500

400

2
und 18 O Meerwasser
abgeleitet aus D Eis
Temperatur [°C]

0
-2
-4
-6
-8
Abschätzung anhand
18 O Meerwasser

0.0
Eisvolumen

0.5

1.0

100
in Aerosolen
Na [ppb]

50

0 50’000 100’000 150’000 200’000 250’000 300’000 350’000 400’000


Alter [Jahre BP]

Fig. 5.4: Die Schwankungen des globalen Klimas der letzten 400'000 Jahre anhand
von klimasensitiven Parametern im Antarktischen Eis (nach PETIT et al.
1999)
NAGRA NTB 99-08 180

Wann kommt die nächste Eiszeit?


Anhand von Modellrechnungen, die auf globalen Sauerstoffisotopen-Variationen basie-
ren, postulieren KUKLA et al. (1997), dass mindestens noch in den nächsten
10'000 Jahren warme Verhältnisse herrschen sollen. Dies wird durch Untersuchungen
über die Dauer von früheren Interglazialen bestätigt, die für die letzten vier Inter-
glaziale eine Dauer von jeweils 20'000 bis 26'000 Jahren annehmen (WINOGRAD et
al. 1997). Dem widersprechen aber die neuesten Ergebnisse der Untersuchung von
Eisbohrkernen aus der Antarktis (PETIT et al. 1999), weil aufgrund dieser hoch auf-
lösenden Messreihen das Holozän offenbar jetzt schon länger gedauert hat als alle
vier vorangegangenen Interglaziale. Demzufolge würde die nächste Eiszeit bereits vor
der Tür stehen.
Computersimulationen mit einem zweidimensionalen Klimamodell der nördlichen
Hemisphäre, die v.a. das Zusammenspiel der orbitalen Parameter, d.h. die Sonnenein-
strahlung berücksichtigen, ergeben aber ein wesentlich differenzierteres Bild. So be-
rechnen LOUTRE & BERGER (2000), dass die Temperaturschwankungen im Bereich
der höheren nördlichen Breiten während der nächsten ca. 50'000 Jahre nicht aus-
reichen werden, um eine neue Eiszeit zu bewirken, d.h. das gegenwärtige Interglazial
noch solange andauern dürfte. Das Modell berücksichtigt auch die Entwicklung der
Treibhausgase, insbesondere den CO2-Gehalt der Atmosphäre. Ein früheres Anwach-
sen der Eismassen kann nur simuliert werden, wenn der CO2-Gehalt konstant auf
einem unrealistisch tiefen Niveau von 210 ppmv gehalten wird. Andererseits zeigt das
Modell aber auch, dass die Ausbreitung der nördlichen Eismassen nach 50'000 Jahren
auch durch extreme Annahmen einer anthropogen bewirkten Erwärmung im Verlauf
der nächsten 200 Jahre nicht verhindert, sondern höchstens um einige Tausend Jahre
verzögert werden kann. Mit demselben Modell kann übrigens auch nachgewiesen
werden, dass die Variation der Treibhausgase allein keine Eiszeiten zu verursachen
vermag; die Veränderung der Sonneneinstrahlung, d.h. die Milankovitch-Zyklen schei-
nen demnach für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der zyklischen Klimaschwan-
kungen innerhalb des Quartärs tatsächlich unabdingbar zu sein (vgl. auch ZACHOS et
al. 2001).
Im Weiteren ist zu beachten, dass die Abgrenzung der Glazial- von den Interglazial-
zeiten je nach Parameter und Schwellenwerten recht verschieden sein kann. Betrach-
18
tet man z.B. die Abweichung der O-Werte von einem langfristigen Mittelwert als
Mass für diese Abgrenzung, so dauerten die "warmen" Zeiten insgesamt eher länger
als die kalten. Im Hinblick auf die Erosionsszenarien spielt die Dauer der jeweiligen
Vorlandvereisung während einer Kaltzeit eine entscheidende Rolle. Die gut belegten
Daten der jüngsten Vorlandvereisungen (Würm) nördlich der Alpen zeigen (z.B.
KELLER & KRAYSS 1998), dass der Rheingletscher zwar mindestens zwei- evtl. sogar
dreimal bis in den ganzen Bodenseeraum vorstiess, die Eisbedeckung in den weiter
vom Alpenkamm entfernten Gebieten, wie z.B. dem Zürcher Weinland, dauerte aber
insgesamt nur wenige Tausend Jahre, also nur einen Bruchteil des gesamten
100'000er Vereisungszyklus. Ob während der älteren Kaltzeiten die Vorlandvereisun-
gen wesentlich länger dauerten, ist wohl möglich, aber nicht im Detail nachweisbar.

Amplituden der Klimaschwankungen


Die Klimaschwankungen im älteren Abschnitt des Quartärs weisen nicht nur eine kür-
zere Periode, sondern auch generell kleinere Amplituden auf, die aber keinen klaren
18
Trend erkennen lassen. Die δ O-Kurve der letzten 700 ka zeigt dagegen zwischen
700 ka und 400 ka eine deutliche Entwicklung hin zu grösseren Amplituden (Fig. 5.3).
181 NAGRA NTB 99-08

Ein Vergleich der letzten vier Eiszeiten lässt aber keine grösseren Unterschiede, d.h.
eine Entwicklung zu noch intensiveren Vereisungen erkennen (Fig. 5.4). Die global
vorhandene Eismasse der jungpleistozänen Vereisungen scheint demnach jeweils
relativ ähnlich gewesen zu sein; es ist deshalb auch für die zukünftigen Eiszeiten nicht
mit einer dramatischen Zunahme der Eisausdehnung zu rechnen. Auch die Tempera-
turen waren während der jungpleistozänen Interglaziale offenbar vergleichbar, wobei
die letzten vier Interglaziale aber wahrscheinlich wenige Grad C wärmer waren als das
heutige (WINOGRAD et al. 1997, CROWLEY & KIM 1992, BURCKLE 1993). Die Tem-
peraturen dürften während der Glaziale rund 10 – 15° C tiefer gewesen sein als heute.
Für das Hochwürm, die Zeit der letzten Maximalvergletscherung, nehmen BURGA &
PERRET (1998) eine gegenüber heute um ca. 12° C verminderte Temperatur im
schweizerischen Mittelland an.

Klimaszenarien
Ausgehend von den kurzen Ausführungen in Kap. 2.5.2 und den oben gemachten
Bemerkungen zur Periodizität und Amplitude der Klimaschwankungen während des
Quartärs werden im Folgenden die wichtigsten Annahmen für langfristige Klimaszena-
rien formuliert und daraus die zu berücksichtigenden Rahmenszenarien abgeleitet.
a) Das Klima der nächsten ca. eine Million Jahre wird mit sehr grosser Wahrschein-
lichkeit weiterhin vom Wechsel zwischen Warm- und Kaltzeiten beherrscht. Ihre
Zyklizität wird sich am Rhythmus der orbitalen Parameter (Milankovitch) orientieren
(100'000 Jahre oder 41'000 Jahre). Es ist demnach mit mehreren Eiszeiten von der
Grössenordnung der jungpleistozänen Kaltzeiten zu rechnen, wobei die maximale
Ausdehnung der alpinen Gletscher zumindest einmal das Ausmass der grössten
bisherigen Vergletscherung erreichen dürfte (s. Möhlin unten in Fig. 2.7, Beil. 2.6).
b) Die Kalt-Warm-Zyklen nach Milankovitch werden überlagert von einem unregel-
mässigen Muster von kleineren Klimaschwankungen mit Perioden im Bereich von
Hunderten bis Tausenden von Jahren, die mehrheitlich den Charakter willkürlicher,
auch katastrophaler Ereignisse aufweisen und ganz verschiedene Ursachen haben
können (Interstadiale, "kleine Eiszeiten"). Sie gehören mehrheitlich zur Kategorie
der zufallsbedingten, nicht prognostizierbaren Veränderungen. Sie können zwar
kurz- bis mittelfristig ein bedeutendes Potenzial für geomorphologische Verände-
rungen haben, ordnen sich aber langfristig dem herrschenden globalen Trend
unter und sind deshalb für die Langzeitentwicklung insgesamt von untergeordneter
Bedeutung.
c) Während der Eisaufbau im Bereich der Pole relativ kontinuierlich erfolgt, d.h. sich
am Grosszyklus orientiert, zeigen die kontinentalen Gebirgsgletscher in den ge-
mässigten Breiten beträchtliche Fluktuationen und ein entsprechendes Erosions-
und Akkumulationspotenzial, das eher dem Rhythmus der in b) genannten, kurz-
zeitigen Schwankungen entspricht. So nehmen z.B. KELLER & KRAYSS (1993
und 1998) an, dass Aufbau und Abschmelzen des Rheingletschers im Hochwürm
einen Zeitraum von kaum 10'000 Jahren umfassten; einige Indizien deuten darauf
hin, dass im Frühwürm vor ca. 60'000 Jahren ein zweitjüngster Eisvorstoss von
noch geringerer Dauer ins Vorland gereicht hat. Dabei war das Gebiet des Zürcher
Weinlands nur sehr kurze Zeit überhaupt vom Eis bedeckt.
d) Das natürliche Szenarium a) bis c) wird überlagert von den anthropogenen Verän-
derungen. Diese sind vielschichtig und in ihrer Auswirkung auf das Land – Ozean –
Atmosphäre – Eis-System nicht genauer prognostizierbar, da sie wesentlich von
den Emissionsszenarien abhängen. Diese künstlichen Veränderungen haben be-
NAGRA NTB 99-08 182

reits ein Ausmass erreicht, das den Klimaverlauf massgeblich beeinflussen wird.
Dieser Einfluss wird sich aber nach heutiger Kenntnis auf den Bereich der Klein-
zyklen nach b) beschränken.
e) Der Wechsel von einem "Eishausklima" zu einem "Treibhausklima" wird durch die
Anordnung von Landmassen und Ozeanbecken, d.h. durch endogene Kräfte ge-
steuert. Bestimmende Faktoren für das Fortdauern des "Eishausklimas" sind dabei
einerseits die grosse Landmasse an der Antarktis, die seit dem Oligozän eine Eis-
kappe trägt, und andererseits der Unterbruch einer zirkumäquatorialen Meeresver-
bindung, wie sie z.B. in der Kreide noch bestand. Für den Wechsel zwischen Gla-
zialen und Interglazialen sorgt der v.a. im Atlantik mögliche Wärmeaustausch zwi-
schen polaren und äquatorialen Bereichen. Diese das heutige Klima bestimmende,
plattentektonische Konstellation wird sich im Laufe der nächsten eine Million Jahre
nicht entscheidend verändern. Es ist deshalb auch aus dieser Sicht nicht anzu-
nehmen, dass die anthropogenen Veränderungen den langfristigen Klimatrend
nachhaltig beeinflussen können.

Für die Erosionsszenarien sind alle mit den derzeitigen Kenntnissen noch denkbaren
Klimaentwicklungen zu berücksichtigen. Deshalb müssen neben dem naheliegenden
Andauern des Eishausklimas als realistischem Klimaszenarium auch die langfristigen
Alternativen in Betracht gezogen werden, die sozusagen die Bandbreite der möglichen
Entwicklungen abstecken. Solche Alternativen wurden bereits in den früheren Arbeiten
zum Thema formuliert und haben sich nicht geändert (s. DIEBOLD & MÜLLER 1985,
NAEF 1992, THURY et al. 1994, KLEMENZ 1993). Es werden dementsprechend ins-
gesamt vier mögliche Klimaszenarien mit jeweils stark unterschiedlichen Randbedin-
gungen in Betracht gezogen:

A Andauernder Wechsel von Kalt- und Warmzeiten im 100'000-Jahre-Zyklus (Eis-


haus)
B Ende der Vereisungen und Vorherrschen von gemässigt-wechselfeuchtem Klima
C Anthropogen bedingter Wechsel zu permanent feuchtwarmem Klima (Treibhaus)
D Vorherrschen arider Klimabedingungen ohne Vereisungen.
Anhand dieser Klimaszenarien, kombiniert mit den lokalen geologischen Verhältnissen
und den in Kap. 5.1 dargestellten Daten zur endogenen Entwicklung, lassen sich die
letztlich entscheidenden Erosionsszenarien ableiten.

Eintretenswahrscheinlichkeit der Szenarien A bis D


Gemäss vorhergehender Ausführungen über die Hintergründe der pleistozänen Klima-
schwankungen muss Szenarium A favorisiert werden. Ein Ende der Vereisungen noch
innerhalb der nächsten Million Jahre ist nur zu erwarten, falls die Dominanz der orbi-
talen Parameter durch einen wichtigen Klimaparameter verdrängt oder ersetzt wird.
Dafür käme in erster Linie ein anthropogen bewirkter Anstieg des atmosphärischen
CO2 auf Werte in Frage, die den Übergang zu einem Treibhausklima erzwingen könn-
ten. Eine nachhaltige Veränderung der plattentektonischen Verhältnisse und damit der
wirksamen Meeresströmungen ist innerhalb des betrachteten Zeithorizonts nicht zu
erwarten. Ein zukünftiges Treibhausklima wäre also im Raum Nordschweiz denselben
überregionalen Bedingungen unterworfen, wie sie heute herrschen:
• Die Alpen werden als hohes Gebirge und damit klimaaktive Zone das Wetter wei-
terhin bestimmen.
183 NAGRA NTB 99-08

• Die Niederschlagsverhältnisse im Bereich der gemässigten Breiten werden nach


wie vor von einem stabilen Westwindgürtel dominiert, der vorwiegend feuchte Luft
aus dem atlantischen Raum nach West- und Zentraleuropa bringt. Zwar können
sich Zeiten mit eher maritimem, feuchtwarmem Klima von solchen mit eher konti-
nental-trockenen Verhältnissen abwechseln, grundsätzlich wird sich aber an der
generellen Westwindsituation nichts ändern.
Die Szenarien B und C setzen beide ein Ende des Eishausklimas voraus, wobei der
Entscheid zwischen gemässigt und tropisch im Wesentlichen vom Ausmass der globa-
len Erwärmung abhängig sein würde. Die geographische Lage der Nordschweiz bei
knapp 48° nördlicher Breite bewirkt, dass bei langfristig anhaltenden natürlichen Ver-
hältnissen ein Szenarium mit feucht-gemässigten Bedingungen wesentlich realistischer
ist als ein warmes, subtropisches oder sogar tropisches Klima. Letzteres käme
deshalb nur als Folge massiver anthropogener Veränderungen in Frage, die auch die
Vegetation, d.h. die natürlichen Lebensbedingungen, und damit auch die Bedingungen
für die Verwitterung und Erosion sowie die Produktion von Treibhausgasen für lange
Zeit nachhaltig gestört hätten. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass sich solche
Bedingungen über Zehntausende oder gar Hunderttausende von Jahren konstant
etablieren werden.
Das Vorherrschen eines langfristig anhaltenden ariden Klimas (Szenarium D) im nördli-
chen Alpenvorland wäre denkbar, falls sich die Meeresströmungen im Nordatlantik ent-
scheidend veränderten. Würde der Golfstrom verschwinden und weitgehend kaltes
Polarwasser von Norden entlang der westeuropäischen Küste bis weit nach Süden
strömen, wäre das Verdunstungspotenzial und damit die Luftfeuchtigkeit über dem
Nordostatlantik stark reduziert. Entsprechend geringer wäre das Niederschlagspoten-
zial der Westwinde und es könnten sich in Westeuropa steppen- oder sogar wüsten-
artige Bedingungen entwickeln, ähnlich wie dies – allerdings vorübergehend – wäh-
rend der Phasen des Hochglazials erwartet wird (Kältewüste). Die Eintretenswahr-
scheinlichkeit für ein langfristig arides Klima muss jedoch generell als sehr klein
bezeichnet werden.
Bei Betrachtung der geologischen Klimaindikatoren des Mio-Pleistozäns fällt auf, dass
Hinweise auf phasenweise trocken-warme Verhältnisse in Zentraleuropa v.a. aus dem
Mio-Pliozän bekannt sind (Messinian, Austrocknung des Mittelmeers). Die Wander-
block-Formation des Nordwestschweizer Juras, die als Moränen und periglaziale Sedi-
mente ältester Vergletscherungen des Südwestschwarzwalds interpretiert werden (zu-
sammenfassender Überblick in HANTKE 1978) könnte auch als Ablagerung von
Schichtfluten eines ariden Klimas während des späten Pliozäns in Frage kommen.
Aber auch die altpleistozänen Deckenschotter der Nordschweiz enthalten Hinweise in
Form von Caliche-Böden auf zumindest zeitweise semi-aride Bedingungen (GRAF
1993). Solche sind aus den jüngeren pleistozänen Formationen nicht bekannt.

In erster Näherung entspricht die Reihenfolge der Aufzählung der vier Klimaszenarien
A bis D demnach auch einer Gewichtung ihrer Eintretenswahrscheinlichkeit.

Zusammenhänge zwischen globalem Klima und lokaler Gletscherentwicklung


In der Nordostschweiz konnten bisher zwei grosse Gletschervorstösse (Möhlin unten
und Waldshut, s. Fig. 2.7) nachgewiesen werden, welche die Schweiz fast vollständig
mit Eis bedeckten. Wegen späterer landschaftsformender Vorgänge, insbesondere der
intensiven Erosionsphasen am Übergang von Kalt- zu Warmzeiten, können die effek-
tiven Grenzen der Ausdehnung dieser Vorstösse aber nur sehr lückenhaft rekonstruiert
NAGRA NTB 99-08 184

werden. Das morphologisch am klarsten fassbare glaziale Ereignis ist die letzte Verei-
sung, deren Ausdehnung im Alpenvorland als durchschnittlich gilt. Sie bietet sich daher
als relativer Massstab für die Ausdehnung der übrigen Vergletscherungen an.
Schon innerhalb der Ablagerungen der Höheren Deckenschotter sind solche Eisvor-
stösse bis weit ins Alpenvorland nachgewiesen worden (GRAF 1993). Das Relief des
Mittellands dürfte während der Zeit der Deckenschotter noch deutlich weniger stark
gegliedert gewesen sein als heute. Dadurch konnten sich die Gletscher im frühen
Pleistozän wahrscheinlich mehr oder weniger ungehindert flächenhaft ausbreiten, wäh-
rend sie später an relativ enge Täler gebunden waren. Ob und in welchem Masse sich
die Eismenge der altpleistozänen Gletscher von derjenigen der mittel- und jungpleisto-
zänen Gletscher unterschied, ist bisher noch nicht untersucht worden. Die an sich
naheliegende Korrelation von kleineren Klimaschwankungen mit geringeren Eismas-
sen während des älteren Pleistozäns und entsprechend grösseren Eismassen mit den
grösseren Klimaamplituden der letzten ca. 800'000 Jahre, wie das Fig. 5.3 für die pola-
ren Eiskappen vorgibt, ist daher für die Nordostschweiz weder bestätigt noch wider-
legt.
18
Unstimmigkeiten bestehen auch zwischen den Amplituden der δ O-Kurve und den
maximalen Ausdehnungen der Gletscher der letzten 6 Vergletscherungen in der Nord-
ostschweiz. Während die erste und dritte Vereisung (Möhlin unten und Waldshut) des
Hochterrassenkomplexes deutlich über das letzteiszeitliche Maximum hinausgingen,
blieb die zweite weiter zurück (Remigen, Rüfenach in Fig. 2.7). Für die vorletzte Ver-
gletscherung (Sihlbrugg, Thalgut in Fig. 2.7) wird sogar davon ausgegangen, dass die
alpinen Gletscher den Alpenrand nur wenig überschritten (SCHLÜCHTER 1989). Eine
direkte Korrelation zwischen den Amplituden der globalen Klimakurven und der Aus-
dehnung und Tiefenerosion von Gletschern in der Nordschweiz ist nicht möglich.

Permafrost
Über die Temperaturen an der Gletscherbasis und im periglazialen Gebiet vor der
Gletscherstirn bestehen grössere Unsicherheiten. Es darf aber angenommen werden,
dass zumindest zeitweise Permafrost geherrscht hatte. Indizien für oberflächennahen
Permafrost in jungpleistozänen Schotterterrassen der Nordschweiz wurden z.B. von
BACHMANN-VÖGELIN (1966) beschrieben. Diese Beobachtungen aus oberflächen-
nahen Aufschlüssen genügen aber nicht, um einen über längere Zeit geschlossenen
Permafrost postulieren zu können. Der von SPECK (1994) modellierte Temperaturver-
lauf unter der Stirn des würmeiszeitlichen Aaregletschers, dessen Situation im Alpen-
vorland mit derjenigen des Zürcher Weinlands vergleichbar ist, zeigt zwar während
Zehntausenden von Jahren eine ausgedehnte Frostzone mit entsprechendem Perma-
frost bis in Tiefen von wenigen Hundert Metern und eine entsprechende Beeinflussung
der Tiefenwasserzirkulation. Diese Modellrechnungen sind aber nach heutigen Er-
kenntnissen nicht mehr haltbar (pers. Mitteilung Prof. W. Häberli). Solche immensen
Permafrostvorkommen stehen auch im Widerspruch zu Temperaturdaten aus Tiefboh-
rungen.
Auch in Skandinavien sind direkte Beweise für anhaltenden Permafrost im Bereich der
Front des Eisschilds bisher nicht beobachtet worden. Entsprechende Modellierungen
zeigen, dass dort geschlossener Permafrost im periglazialen Bereich mit einer Mäch-
tigkeit von bis zu 300 m möglich ist (BOULTON et al. 2001). Unter dem Gletscher
(subglazial) wird Permafrost im Kern des vereisten Gebiets und unter der Gletscher-
stirn vermutet; dazwischen dürfte ein grosses Gebiet ohne Permafrost liegen, in wel-
chem subglaziale Schmelzwässer zirkulieren, d.h. der Gletscher nicht angefroren ist.
185 NAGRA NTB 99-08

Ob diese für Schweden modellierten Verhältnisse auch direkt auf das nördliche Alpen-
vorland angewendet werden dürfen, ist möglich aber nicht gesichert.
Heute liegt die Südgrenze der arktischen Permafrostgebiete in Alaska und Sibirien
etwa bei einer Linie mit -2° C Jahresmitteltemperatur. Nach FRENCH (1996) sind mitt-
lere Jahrestemperaturen von < -5° C notwendig, um eine dauernd geschlossene Per-
mafrostdecke zu ermöglichen, deren Mächtigkeit dann in der Regel 100 m und mehr
beträgt. Auch BOULTON et al. (2001) nehmen für die Modellierung einer kommenden
Eiszeit in Skandinavien an, dass ab mittleren Bodentemperaturen von -5° C geschlos-
sener Permafrost vorherrscht. Geht man davon aus, dass die Jahresmitteltempera-
turen des Nordschweizer Mittellands, die heute etwa 10° C betragen, während des
Hochwürms ca. 12° C tiefer waren (BURGA & PERRET 1998), so kann daraus für das
Zürcher Weinland keine über längere Zeit geschlossene Permafrostzone abgeleitet
werden. Bedingt durch die kalten Gletscher-Abwinde können jedoch lokale Tempe-
raturunterschiede von mehreren Grad C und entsprechende Permafrostgebiete in
winddurchstrichenen Tallagen auftreten, wie das auch heute in gletschernahen Gebie-
ten der Alpen beobachtet wird.

Quantifizierung des Szenariums Eishausklima für die Region Zürcher Weinland


Das Eishausklima ist geprägt von einem Wechsel zwischen unterschiedlichen Umwelt-
bedingungen, die einen bedeutenden Einfluss auf die Vorgänge an der Erdoberfläche
aber auch auf die Zirkulation des Grundwassers haben können. Um das Ausmass und
die Dauer dieser unterschiedlichen Randbedingungen in Modelle der Sicherheitsana-
lyse einbauen zu können, müssen die wichtigsten Parameter quantifiziert werden. Für
die Interglaziale dienen die klimatischen Kennwerte des Holozäns als Richtwerte. Da-
rüberhinaus wird Folgendes angenommen:
• Im Rahmen des andauernden 100'000-Jahre-Zyklus sind bis zum Zeithorizont in
einer Million Jahren 10 Glaziale, davon 2 im Ausmass der bisherigen Maximalverei-
sung (Möhlin unten, MEG) zu erwarten.
• Die Dauer der Glaziale und Interglaziale wird im Verhältnis 1:1 angenommen, wie
das grob aus den Klimakurven abgeleitet werden kann. Allerdings bestehen gerade
bei den regionalen Verhältnissen grosse Unsicherheiten; ein direkter Zusammen-
hang zwischen den globalen Kurven und den Verhältnissen im nördlichen Alpen-
vorland ist zwar naheliegend, aber nicht erwiesen. Zudem wird das heutige Inter-
glazial gemäss LOUTRE & BERGER (2000) noch ca. 50'000 Jahre andauern. Dies
würde dann für die holozäne Zwischeneiszeit ca. 65'000 Jahre ergeben und unter
Berücksichtigung der anthropogenen Einflüsse vielleicht noch einige Tausend
Jahre mehr. Die Definition einer Glazialzeit misst sich dabei an der Grösse der glo-
balen Eismasse, sagt aber nichts über mögliche Vorlandvereisungen von Gebirgen
der gemässigten Breiten aus. Das Verhältnis von Glazial- zu Interglazialzeiten ist
deshalb relativ und bestimmt sich durch die Wahl der entsprechenden Rahmen-
bedingungen. Geht man davon aus, dass für die Definition eines Interglazials die
im Wesentlichen am Pollenspektrum gemessenen klimatischen Verhältnisse im
Schweizerischen Mittelland etwa denjenigen der historischen Zeit entsprechen
sollten, so erweisen sich die Glaziale, also die Zeiten mit arktischer Vegetation als
viel länger, wobei das Verhältnis von Glazial zu Interglazial etwa einem Wert von
1:5 entspricht. Wird aber angenommen, dass das Glazial einer Zeit mit Vorlandver-
eisung und entsprechendem Erosionspotenzial im Mittelland entsprechen muss, so
dürfte obiges Verhältnis, zumindest gemäss Klimaverlauf während des Würms,
eher umgekehrt lauten.
NAGRA NTB 99-08 186

• Die Amplituden der Klimaparameter werden sich nicht grundlegend verändern, d.h.
die durchschnittlichen Temperaturen und Temperaturdifferenzen und damit auch
die Ausdehnung der Vereisungen werden im selben Bereich liegen, wie bei den
letzten Zyklen des Jungpleistozäns.
• Für das Zürcher Weinland wird eine durchschnittliche Dauer der Eisbedeckung von
20'000 a angenommen (vgl. SPECK 1994). Die Eismächtigkeit beträgt dabei ca.
200 m im Durchschnitt und ca. 400 m bei den Maximalereignissen (s. Beil. 5.1; vgl.
ebenfalls SPECK 1994, KELLER & KRAYSS 1993).

5.2.2 Erosionsszenarien

Verwitterung, Oberflächendynamik und Denudation


Die Kreisläufe der Oberflächendynamik, Verwitterung – Erosion – Ablagerung, werden
bestimmt durch die lokalen, regionalen und globalen Wetterverhältnisse, das Klimage-
schehen sowie durch die Formen der Erdoberfläche (Reliefenergie) und die Material-
zusammensetzung des Gesteinsuntergrunds. Dabei finden vielfältige chemische und
mechanische Umwandlungen und Materialtransporte statt. Wichtigstes Transportmittel
dieser Prozesse ist das Wasser, das den Gesetzen der Hydraulik folgt, in Kaltgebieten
auch Eis, und in Steppen und Wüsten spielt der Wind eine wichtige Rolle. Vegetation
und biogene Aktivität im Bereich der belebten Bodenschichten vermitteln zwischen den
Wirkungen der Atmosphäre, d.h. dem Wetter und dem Gesteinsuntergrund. Generell
gilt, dass eine dichte Vegetation die Erosion deutlich, oft gar entscheidend hemmt, die
Verwitterung, insbesondere die chemischen Umwandlungen, aber durch die vielfälti-
gen Aktivitäten in der Biosphäre bei üppiger Vegetation gefördert werden. Als Denuda-
tion wird der gesamte Materialabtrag, sowohl die mechanische (Suspensions- und
Bodenfracht in Gewässern) als auch die chemische Erosion (gelöste Stoffe in Oberflä-
chengewässern und in Boden- resp. Grundwässern) bezeichnet. Die Bestimmung von
klima-, relief- und gesteinsspezifischen Denudationsraten ist für das langfristige Ero-
sionsszenarium eines Gebiets massgebend, weshalb im Folgenden einige Überlegun-
gen und Zahlen zu diesem Thema zusammengefasst werden.

Das Zusammenspiel der exogenen Prozesse, die den Materialtransport verursachen,


besteht langfristig aus zahlreichen Kreisläufen, deren Wirkung und Dynamik stark
unterschiedliche Dimensionen besitzen. In erster Näherung kann unterschieden wer-
den zwischen:
1. Plötzlichen, katastrophalen Ereignissen.
2. Kurzfristigen Prozessen und Materialkreisläufen.
3. Langfristigen Prozessen und Materialkreisläufen.

Für die Betrachtung geologischer Zeiträume, d.h. im Hinblick auf die Erosionsszena-
rien, sind v.a. die langfristigen Prozesse von Bedeutung. Diese können aber in der
Regel nicht direkt beobachtet werden, sondern sind eine Folge zahlreicher Ereignisse
(1.) und Kreisläufe (2.), deren langfristige Variabilität und Bedeutung im Einzelnen
kaum bekannt sind.

So sind z.B. Verwitterung und Bodenbildung oder der Transport von gelösten Stoffen
im Wasser unter der Voraussetzung gleich bleibender Klimabedingungen ziemlich kon-
tinuierliche Prozesse. Der Transport von detritischem Material erfolgt aber im Wesent-
187 NAGRA NTB 99-08

lichen durch kurzzeitige, oft katastrophale Ereignisse (Hochwasserereignisse), über


deren langfristige Sequenz meist nichts Genaueres bekannt ist. Zudem ist bei vielen
Materialkreisläufen nicht erforscht, ob für deren Materialbilanz die ± kontinuierlichen
Prozesse oder die episodischen Ereignisse wichtiger sind.

Es bestehen gerade über die Bedeutung episodischer Ereignisse für die langfristige
Umgestaltung der Erdoberfläche grosse Unsicherheiten. Dies v.a. deshalb, weil die
aktuell herrschenden Verhältnisse in zweifacher Hinsicht einer aussergewöhnlichen,
nicht ohne weiteres über längere Zeiträume extrapolierbaren Situation entsprechen.
Einerseits ist das exogene Geschehen seit Beginn des Quartärs geprägt von zahl-
reichen, oft sehr raschen Wechseln, deren kurzzeitige Dynamik (1. und 2.) wahr-
scheinlich wesentlich von den heutigen Verhältnissen innerhalb des relativ stabilen,
aber erst seit einigen Jahrtausenden andauernden Holozäns abwich. Zudem sind die
aktuellen Materialbilanzen und damit auch die entsprechenden Erosions- und Ablage-
rungsraten stark anthropogen beeinflusst. Diesen Argumenten muss gebührend Rech-
nung getragen werden, sofern mithilfe der heute oder auch über die vergangenen
Jahrzehnte hinweg ermittelten Parameter der Materialbilanz und des Klimas ein lang-
fristiges Szenarium der Oberflächendynamik entworfen werden soll.

Gegenüber den Zeiten des Klimawechsels, z.B. einer Abschmelzphase der alpinen
Vorlandgletscher, sind die rezenten Materialflüsse stark vermindert. Deshalb konnte
sich während des Holozäns ein gewisses labiles Gleichgewicht einstellen. Im Vergleich
zu präquartären Verhältnissen sind die Erosions- und Sedimentationsraten des Pleisto-
zäns aber auch weltweit immer noch ca. 50 % grösser, wie Untersuchungen an Tief-
see-Bohrkernen zeigen (HAY 1994a und b). Zudem führt praktisch jegliche mensch-
liche Aktivität im Bereich der Lithosphäre zu mechanischer Gesteinszerkleinerung und
vergrössert damit die Angriffsfläche für chemische Verwitterung und mechanische
Erosion.

So hat sich z.B. die Sedimentationsrate im Hüttwilersee/TG seit dem ausgehenden


Mittelalter verzehnfacht. Dies muss zuerst auf die Urbarmachung und dann auf die
intensive Landwirtschaft mit Ackerbau zurückgeführt werden (RÖSCH 1983). Der
natürliche, geogene Güterfluss beträgt im Kanton Zürich bei einer durchschnittlichen,
3
natürlichen Abtragsrate von 0.01 mm/a etwa 25'000 m /a; daneben werden aber
3 3
ca. 4 Millionen m /a Kies abgebaut und knapp 5 Millionen m /a Material in Deponien
und offenen Gruben auch wieder abgelagert, womit die natürliche Materialbilanz um
etwa das 400-fache übertroffen wird (GAMPER & SUTER 1995).

EINSELE & HINDERER (1997) sind anhand der Analyse von natürlichen und künst-
lichen Sedimentfallen in verschiedenen Klimaregionen der Erde und bei unterschiedli-
cher Grösse und Reliefenergie des Einzugsgebiets zu folgenden Ergebnissen gelangt:
• Die mechanische Abtragsrate ist direkt abhängig vom Relief. Je grösser die Relief-
energie desto grösser ist die mittlere Erosion. Zudem ist die Grösse des Einzugs-
gebiets umgekehrt proportional zur gemessenen Abtragsrate: Je kleiner das Ein-
zugsgebiet, desto grösser ist die ermittelte Erosionsrate (vgl. auch Fig. 5.5).
• Der Faktor Klima scheint keinen dominierenden Einfluss auf die mechanische Ero-
sion zu haben. Auch in ariden Klimaregionen (Kalifornien, Iran, Arizona) wurden für
2
mittelgrosse Einzugsgebiete (< 1000 km ) Abtragsraten von bis zu 1.2 mm/a ge-
messen. Das Klima ist aber wichtigster Parameter für die chemische Verwitterung
und Erosion.
NAGRA NTB 99-08 188

• Wichtigster Faktor des heutigen detritischen Abtrags ist klar der anthropogene Ein-
fluss. Auch in Regionen mit extensiver Landwirtschaft und mässiger Reliefenergie
beträgt der Abtrag gegenüber naturbelassenen Flächen derselben Region das 2-
bis 5-fache. In Gebieten mit intensiver Landwirtschaft oder Kahlschlag und hoher
Reliefenergie kann dieser Faktor Werte von 100 und mehr erreichen.

Diese Aussagen zeigen, dass die mithilfe rezenter Sedimentfrachten der Flüsse (z.B.
JÄCKLI 1957 und 1958, MILLIMAN & MEADE 1983) oder Verlandung von Stauräumen
(z.B. LAMBERT 1978 und 1983) ermittelten durchschnittlichen Denudationsraten ge-
rade in den intensiv besiedelten und genutzten Gebieten der gemässigten Breiten für
langfristige Prognosen oder die Beurteilung früherer Epochen entsprechend korrigiert
werden müssen.

EINSELE & HINDERER (1997) geben Referenzwerte für Materialflüsse im natürlichen


2
Zustand an (t/km /a). Werden diese in Abtragsraten umgerechnet, so ergeben sich für
Regionen, die mit der zentralen Nordschweiz sowohl von der Grösse der Einzugsge-
biete wie auch der Reliefenergie vergleichbar sind, etwa folgende Werte:
• Süddeutschland, Naturwald, hügeliges Gelände: 0.005 mm/a
• Norwegen, Wald über Grundmoräne: 0.005 mm/a
• Arizona, Tafellandschaft am Little Colorado: 0.1 mm/a
• Alpine, teilweise periglaziale Regionen: 0.05 – 0.5 mm/a
• Naturnahe Regionen in Schottland und Wales: 0.002 – 0.02 mm/a

Eine vergleichbare Datensammlung zu Materialflüssen aus zentraleuropäischen Ge-


bieten mit unterschiedlichem Relief wurde von SCHRÖDER & THEUNE (1984) erar-
beitet und durch EINSELE & HINDERER (1997) mit Daten aus alpinen und verglet-
scherten Gebieten ergänzt (s. Fig. 5.5 und 5.6). Daraus ergeben sich in Regionen mit
moderatem bis voralpinem Relief, wie das die zentrale Nordschweiz darstellt, durch-
schnittliche Abtragswerte von 0.005 bis ca. 0.1 mm/a. Vergleichbare Zahlen zeigt eine
Zusammenstellung von teilweise über grössere Zeiträume gemittelten Denudations-
raten von LEEDER (1991).
Untersuchungen zur quartären Denudationsrate auf der Schwäbischen Alb ergeben
Werte zwischen < 10 m/Ma bis etwa 50 m/Ma. Als Mittelwert kann für eine langfristige
Bilanzierung etwa 25 m/Ma angenommen werden (Abel et al. 2000).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bei der Annahme gemittelter Denuda-
tionsraten (= tatsächlicher Materialabtrag, d.h. chemische und mechanische Erosion)
für längerfristige Erosionsszenarien offenbar noch grössere Unsicherheiten bestehen.
Aktuell gemessene Werte aus besiedelten Gebieten sind aber wegen der anthropogen
bedingten Umgestaltung der Erdoberfläche teilweise stark überhöht. Während das
Klima für die Verwitterung, Bodenbildung und chemische Erosion eine entscheidende
Rolle spielt, ist für die mechanische Erosionsleistung v.a. die Reliefenergie von Bedeu-
tung.
Aus diesen Überlegungen lassen sich für die Untersuchungsgebiete in der Nordost-
schweiz etwa die in Fig. 5.7 stark vereinfacht dargestellten Parameter ableiten. Die
Verwitterungsresistenz des Nordschweizer Schichtprofils wird dabei in drei Härtegrade
eingeteilt, die mit den Denudationsfaktoren 0.5 für harte, 1 für mässig harte und 2 für
weiche Gesteine ausgedrückt sind. Für die vier Klimaszenarien werden mittlere Werte
189 NAGRA NTB 99-08

für den flächenhaften Abtrag in mittelgrossen Einzugsgebieten mit mässiger bis hoher
Reliefenergie angegeben. Multipliziert mit dem Denudationsfaktor ergibt sich für jedes
Klimaszenarium je nach Gesteinshärte resp. Verwitterungsresistenz einer Gesteinsein-
heit eine mittlere langfristige Denudationsrate. Diese Vorgaben dienen der Konstruk-
tion der lokalen Szenarienprofile in Beil. 5.1 und 5.3.

Lineare Erosion und Talbildung im Untersuchungsgebiet (Entwicklung der


Erosionsbasis)
Im Gegensatz zur Denudation ist die fluviatile, lineare Erosion entlang der Haupttäler
weit weniger klimaabhängig. Die grossen Talläufe stellen die Transportwege für das
Erosionsmaterial der Seitenzuflüsse und des Hinterlands dar. Bestehen zwischen
regionaler Vorflutbasis und Talsystem keine vertikalen Differenzialbewegungen, so
etabliert sich relativ rasch ein Gleichgewichtsgefälle, und es herrscht im Haupttal Um-
lagerung vor. Falls sich die Vorflutbasis gegenüber ihrem Hinterland relativ hebt, d.h.
ein Staueffekt wirksam wird, tendiert das Haupttal zu Akkumulation, und es werden
fluviatile oder – bei geringer Sedimentationsrate – gar lakustrische Sedimente abgela-
gert. Hebt sich aber das Talsystem gegenüber seiner Vorflutbasis heraus, so wird im
Haupttal über einen längeren Zeitabschnitt eine Nettoerosion stattfinden. Die Verhält-
nisse am Hochrhein wurden in Kap. 5.1.1 und Fig. 5.1 dargestellt.

Die heutigen Gefällsverhältnisse des Reuss – Aare – Rhein-Profils zwischen Luzern


und Basel wurden von KLEMENZ (1993) dargestellt und diskutiert. Das Gefälle dieser
Entwässerungsrinne liegt über weite Strecken im Bereich von 1 – 2 ‰ und entspricht
etwa dem Ausgleichsprofil. Daneben kommen auch diverse Steilstufen vor, deren
Rückwärtserosion aber mangels Sedimentfracht und damit fehlendem Erosionspoten-
zial der Flüsse kaum stattfindet. Auch diese Steilstufen befinden sich sozusagen in
einem Gleichgewicht. Dies dürfte sich erst ändern, wenn der Vierwaldstättersee aufge-
füllt, d.h. verlandet ist, dann wieder Sedimentfracht über Luzern hinaus transportiert
und eine aktive Erosion im Flussbett und besonders den Steilstufen erlauben wird.
Vergleichbares gilt auch für das Zürcher Weinland, wobei für eine Rückerosion des
Rheinfalls die Verlandung des Bodensees massgebend ist.

Je grösser die Höhendifferenzen zwischen Haupttal und den umliegenden Höhenzü-


gen, d.h. je grösser das Relief, desto lagekonstanter entwickelt sich das Gewässer-
netz. Andererseits kann sich ein ausgeprägtes Relief auch nur entwickeln, falls ent-
weder das regionale Vorflutniveau, d.h. die Erosionsbasis, rasch und bedeutend abge-
senkt wird oder wenn anhaltende regionale Hebungen eines Gebiets gegenüber seiner
Erosionsbasis stattfinden. Dabei sind auch regionale Kippbewegungen und Verstel-
lungen an tektonischen Elementen innerhalb des zu betrachtenden Gebiets zu berück-
sichtigen. Anhaltende Kippbewegungen führen zu asymmetrischen Talquerschnitten,
wie dies für den Hochrhein bei Ellikon – Tössegg schon von SCHNEIDER (1976) vor-
geschlagen wurde (s. auch ausführlich in NAEF & HALDIMANN 1989).

Für die Nordostschweiz, wie auch für den gesamten Alpenraum, wird angenommen,
dass seit Ende der Molassezeit vor ca. 10 Millionen Jahren (s. Kap. 2.4.5 und 4.4.4)
generell eine regionale Hebung stattfand, wobei sich die aus den Alpen ins Vorland
führenden Haupttäler immer stärker eintieften und eine den geologischen Lokalbedin-
gungen angepasste Lagekonstanz aufweisen. Auch der Schwarzwald und das entste-
hende Juragebirge haben sich im Neogen stark herausgehoben und weisen heute
eine entsprechend tiefe Durchtalung auf.
NAGRA NTB 99-08 190

10000 4

5000
Spezifische Abtragsrate [t/km 2/a]

2000 Jangtse
Arid bis semiarid
1000 0.4

[mm/a]
Tropisch
bis
subtropisch
Generell zunehmend mit:
- Relief
100 0.04
- Abfluss
- Spärlicher Vegetation
- Anteil an weichen Gesteinen
und kohäsionslosen Böden
- Intensität der Landnutzung

10 0.004
100 1000 10000 100000
Einzugsgebiet [km 2 ]
2
Fig. 5.5: Sedimentabfluss (in t/km /a, links) resp. Denudationsraten (in mm/a,
rechts) verschiedener Klimagebiete ausserhalb Europas (nach EINSELE &
HINDERER 1997)

Vergletscherte Gebirge
1000 0.4
Spezifische Abtragsrate [t/km2/a]

Bergregionen, Gebirge
100 0.04
[mm/a]

NE-CH
Hügellandschaften
10 0.004
Flachlandschaften

1
10 100 1000 10000 100000
Einzugsgebiet [km 2 ]
Fig. 5.6: Zusammenhang zwischen Materialabfluss resp. Denudationsrate und
Grösse des Einzugsgebiets von Regionen mit verschiedener Reliefenergie
in Zentraleuropa (schraffiertes Gebiet: Nordostschweiz, aus EINSELE &
HINDERER 1997)
191 NAGRA NTB 99-08

Quartär Tabelle mit langjährig gemittelten


Denudationsraten für kleinere bis mittel-
grosse Einzugsgebiete mit mässiger bis
Känozoikum

hoher Reliefenergie in mm/a


(nach EINSELE & HINDERER 1997)
Molasse
Denudationsrate [mm/a]

Klima Natürlicher Stark gestörter


Zustand Zustand

oberer
Malm tropisch- 0.05 × 100 = 5.0
humid

Malm
gemässigt 0.05 × 20 = 1.0
unterer
Malm
arid 0.1 × 20 = 2.0
Mesozoikum

oberer glazial/
0.1 × 10 = 1.0
– mittlerer interglazial

Dogger unterer
ohne Berücksichtigung der glazialen Übertiefung
(Opalinuston-
Fazies)
Lias
Oberer – Mittlerer
Keuper
Gipskeuper
Trias

Oberer
Muschel-
Mittlerer
kalk
Buntsandstein Unterer
Paläozoikum

Permokarbon

Kristallines
Grundgebirge

Denudationsfaktor 2 1 0.5

Fig. 5.7: Schematische Darstellung der Gesteinshärte resp. Verwitterungsresistenz


des Nordschweizer Schichtprofils im Hinblick auf den flächenhaften Abtrag
(abgeschätzt aufgrund der lithologischen Verhältnisse in der Sondierboh-
rung Benken)
In Kombination mit der Tabelle ergibt sich daraus die effektive Denudation für die
einzelnen Lithologien unter den verschiedenen Klimabedingungen.
NAGRA NTB 99-08 192

Wie AHNERT (1984) in grundlegenden Arbeiten darlegte, gibt es global gültige Bezie-
hungen zwischen der Länge eines Hauptentwässerungstals, seinem Gefälle und dem
lokalen Relief. Bis zu einer kritischen Übersteilung des Reliefs schreitet die lineare
Erosion immer schneller voran als die flächenhafte Einebnung. Ist dieses kritische
Relief erreicht, so hält auch die Denudation mit einer allenfalls extremen Hebungsrate
Schritt, d.h. für jedes Gebirge gibt es ein kritisches Höhen/Breiten-Verhältnis, das auch
bei sehr raschen regionalen Hebungen nicht überschritten werden kann. Solche
Verhältnisse sind z.B. am Südrand der Zentralalpen annähernd erreicht (s. auch NAEF
1992). Das Gebiet der Nordostschweiz ist weit entfernt von dieser Situation. Zwar hat
sich auch hier ein ausgeprägtes Relief mit einigen lagekonstanten Haupttälern
entwickelt; wie die Kenntnisse zur postmolassischen Flussgeschichte zeigen (s.
Kap. 3.3.2), haben sich aber die Hauptentwässerungsrinnen mehrmals neu orientiert
und sind erst seit der jüngeren Deckenschotterzeit, d.h. seit ungefähr dem Mittel-
pleistozän einigermassen stabil. Die Höheren Deckenschotter scheinen noch eher
einer weiten Flusslandschaft zu entsprechen, während die Tieferen Deckenschotter
klare Talzüge erkennen lassen (vgl. Kap. 2.5.5 und 3.1). Wahrscheinlich waren die
Haupttäler des östlichen Mittellands erst mit der Bildung der glazialen Übertiefungen,
die allgemein der Hochterrassenzeit zugeschrieben werden, in ihrem heutigen Cha-
rakter ausgebildet. Dabei stand der Hauptrinne des Rheinsystems zwischen dem
oberen Bodensee und dem Zusammenfluss mit der Aare das weite Gebiet des Ost-
schweizer Molasseplateaus zur Verfügung, in welchem der Lauf des Rheins während
des jüngeren Quartärs pendelte. Zudem fand die Entwässerung des Alpenrheins wie-
derholt auch über das Walenseetal statt (vgl. Fig. 3.1).

Hebungsraten und Entwicklung der lokalen Erosionsbasis im Untersuchungs-


gebiet
Die anhand der geomorphologischen Entwicklung abgeleiteten lokalen Hebungsraten
entlang der konstruierten Profile sind in Beil. 3.1 dargestellt. Sie zeigen zumindest ten-
denziell eine gute Übereinstimmung mit den rezenten Vertikalbewegungen, wie sie
sich aus den Messungen des Landesnivellements ergeben (vgl. Kap. 3.4.1, Beil. 3.2
und 3.3); diese Werte der rezenten Hebungen sind allerdings generell höher als die-
jenigen der geologisch-geomorphologischen Rekonstruktion. Im selben Bereich liegen
auch Werte, die mithilfe von Maturitätsstudien aus Tiefbohrungen abgeleitet wurden
(vgl. Kap. 2 sowie LEU et al. 2001). Die Konsistenz dieser voneinander unabhängigen
regionalen Datensätze gibt eine ausreichende Sicherheit, um auch für das Gebiet des
Geologischen Modells Zürcher Weinland sowie der näheren Umgebung konkrete
Hebungsraten abzuleiten.

Im Szenarienprofil in Beil. 5.1, das weitgehend der Spur der 2D-Reflexionsseismik-


Linie 91-NO-68 folgt (s. NAEF et al. 1995) und das Messgebiet der 3D-Seismik etwa
im Fallen der Schichten durchquert, wird versucht, die Datenbasis für die geologisch
ermittelten Hebungsraten und die Entwicklung der lokalen Erosionsbasis im Detail zu
illustrieren. Die dargestellte Geologie des Felsuntergrunds entspricht den Verhältnis-
sen entlang der Seismiklinie (s. Beil. 2.2, Profil 3), die Basis der Quartärrinnen sowie
die eingezeichneten Deckenschottervorkommen wurden im Sinne einer regionalen
Interpolation aus einem Korridor von ca. 10 km Breite auf die Profillinie projiziert.

Das ca. 35 km lange Profil führt vom Tal des Merenbachs im NW, in welchem die
Grenze Schwarzwaldkristallin/Mesozoikum auf ca. 500 m ü.M. aufgeschlossen ist,
über den Tafeljura und den Molassenordrand bis ins untere Thurtal, dessen quartäre
Felsrinne mindestens 288 m tief (ca. 75 m ü.M.), evtl. sogar wesentlich tiefer (AZ 681
193 NAGRA NTB 99-08

bei Dättwil, HALDIMANN et al. 1992) in die dort ca. 700 m mächtige USM hinabreicht.
In grau mit schwarz gestrichelter Basis sind die quartären Lockergesteine entlang der
Profilspur dargestellt. Die Abgrenzung des Quartärs ist besonders zwischen Thur und
Rhein, in einem Gebiet mit zahlreich vorhandenen Bohrdaten, relativ genau rekonstru-
ierbar (FREIMOSER & FRANK 1993, FRANK 1994). Die tatsächliche Kote der Übertie-
fung im Thurtal bleibt allerdings ungewiss; gemäss Reflexionsseismik (Linie 91-NO-68)
könnte sie bis deutlich unter das Meeresniveau reichen.

Im Klettgau ist die Quartärbasis weniger gut bekannt, dürfte jedoch kaum wesentlich
tiefer als 350 m unter der Oberkante Terrain liegen (VON MOOS & NÄNNY 1970,
GILLIAND 1970, KÜHNLE-BAIKER 1992, GRAF & HOFFMANN 2000). Eine ausge-
prägte glaziale Übertiefung hat hier also nicht stattgefunden, darf aber für ein Extrem-
szenarium nicht ganz ausser Acht gelassen werden, denn ältere Moränen alpiner Her-
kunft sind bis an den Rand des Wutachtals bekannt (z.B. HOFMANN 1996, s. auch
Beil. 2.6). Die Basis der entlang des Profilkorridors anstehenden tiefsten Quartärrinnen
ist in Beil. 5.1 eingezeichnet; sie steigt vom Thurtal nach Nordwesten stetig an, scheint
im Bereich der Malmkalke (Rinne von Engi) eine kleine Kulmination zu haben und
senkt sich im Klettgau nochmals leicht ab. Nordwestlich des Klettgaus ist gegenüber
der heutigen gemittelten Erosionsbasis keine Übertiefung mehr festzustellen.

Zur Zeit der grössten Vergletscherung(en) dürfte das gesamte Gebiet inklusive der
projizierten Deckenschotter-Plateaus bis in den Randen hinein unter Eis gelegen
haben (HOFMANN 1994 und 1996). Während des Würms lag die Eisoberfläche
ca. 100 m tiefer, weshalb der Irchel sicher, evtl. aber auch der Cholfirst als Nunataker
aus dem Eis ragten (Daten widersprüchlich, z.B. JÄCKLI 1970, KELLER & KRAYSS
1993; Aufzeitbohrung AZ 97-02 mit Löss über Moräne über Deckenschotter ↔ Riss-
Grundmoräne, FREY & GÜNTHER 1997). Die Basis der auf das Profil projizierten
Deckenschotter wurde als Referenzniveau für die Ermittlung von Hebungsraten be-
nutzt, wie dies in Kap. 3.3.3 erläutert wurde.

Im Wutachtal dient die Differenz zwischen interpoliertem Aare – Donau-Niveau (Geiss-


berg – Eichberg bei Blumberg) und der regionalen Vorflut bei Koblenz als Anhaltspunkt
für die lokale Hebungsrate, gemittelt über 5 Millionen Jahre. Es zeigt sich klar, dass
das Gebiet minimalster Hebung im Raum Klettgau – Randen zu suchen ist; sowohl in
Richtung Schwarzwald wie auch gegen das Mittelland nehmen die vertikalen Abstände
zwischen rezentem Talniveau (Erosionsbasis) und älteren Niveaus zu, d.h. die ge-
mittelten Hebungsraten steigen an (vgl. Beil. 3.1).

Aufgrund der Annahme, dass die lineare Erosion entlang der Haupttäler, durch deren
Niveau die regionale Erosionsbasis definiert ist, mit den regionalen Hebungen laufend
Schritt hält, muss die Erosionsbasis in einer Million Jahren um den Betrag der jeweils
ermittelten lokalen Hebung tiefer im Schichtprofil liegen (unter Annahme eines unver-
änderten Niveaus der regionalen Vorflutbasis sowie langfristig kontinuierlicher He-
bungsraten). Im Szenarienprofil (Beil. 5.1) wurde deshalb die heutige Erosionsbasis
um die ermittelte Hebung nach unten projiziert und so die (fluviatile) Erosionsbasis in
einer Million Jahren eingezeichnet. Die enge, rote Schrägschraffur zwischen den bei-
den Horizonten bezeichnet somit die gemittelte, fluviatile Eintiefung im Laufe der näch-
sten eine Million Jahre. Sie besitzt ein Minimum von ca. 60 m/Ma im Klettgau und
steigt nach Südosten über den Hochrhein mit ca. 100 m/Ma bis zum Thurtal – Irchel-
Gebiet mit etwa 125 m/Ma stetig an.
NAGRA NTB 99-08 194

Aus den in Kap. 5.1 aufgeführten Gründen muss für die Extremszenarien eine maximal
noch realistische Erosion angenommen werden. Für den vorliegenden Bericht ge-
schieht dies, indem zu den ermittelten Hebungsraten noch die maximal mögliche
Rückerosion des Rheins dazu gerechnet wird (s. Fig. 5.1). Die maximale Erosionsba-
sis dieses Extremszenariums liegt nochmals 100 m tiefer als die gemittelte Erosions-
basis. Dies bedeutet z.B., dass bei der Sondierbohrung Benken die fluviatile Erosion
bis zum Top Malm hinuntergreifen könnte oder das kristalline Grundgebirge nur wenig
nordwestlich der Sondierbohrung Siblingen bereits an der Oberfläche liegen würde.

In ähnlicher Weise wurde die Basis der heutigen Quartärrinnen, die tiefer als die regio-
nale Vorflut liegen und deshalb durch glaziale Tiefenerosion verursacht wurden, in die
Tiefe projiziert. Die im Profil in Beil. 5.1 eingezeichnete, oberste blaue, strichpunktierte
Linie entspricht nicht der Quartärbasis auf der Profilspur, sondern der Projektion der
tiefsten Rinne aus einem Korridor von ca. 5 km. Hier wird aber unterschieden zwischen
Glazialerosion im Bereich der Molasse, für die ebenfalls eine mit der Hebung Schritt
haltende Tiefenerosion angenommen wird (Denudationsfaktor 1.0, s. Fig. 5.7), und
einer solchen in den Karbonaten des Tafeljuras, in denen die glaziale Übertiefung nur
die Hälfte der laufenden Hebung ausmachen soll. Im Opalinuston des Klettgaus ist da-
gegen ebenfalls eine mit der Hebung Schritt haltende glaziale Tiefenerosion
anzunehmen. Um die relativ grossen Unsicherheiten im Sinne eines pessimistischen
Szenariums darzustellen, wird für die glaziale Übertiefung ebenfalls ein
Extremszenarium mit zusätzlich 100 m im Bereich der Molasse und 50 m im Tafeljura
angenommen.

Die zusätzlichen Unsicherheiten über die glaziale Tiefenerosion im Haupttal (Thurtal)


werden ausgeglichen durch die Andeutung einer zusätzlichen, über die Linie des
Extremszenariums nochmals ca. 100 m hinausgehenden Übertiefung. Damit wäre hier
in einer Million Jahren etwa die Basis der Molasse erreicht. Unter diesen Annahmen
reicht im Tafeljura die glaziale Übertiefung kaum unter die maximale fluviatile Ero-
sionsbasis, ist also im Hinblick auf das "worst case"-Szenarium nur von untergeord-
neter Bedeutung.

Glaziale Tiefenerosion (Mechanismus, Erosionspotenzial)


Ein wichtiges, in seinem Ausmass erst seit wenigen Jahrzehnten bekanntes Phäno-
men der glazialen Morphologie sind die übertieften Talrinnen, die im Mittelland und in
den Alpenhaupttälern weit verbreitet sind (z.B. FREIMOSER & LOCHER 1980, WILDI
1984, PUGIN 1988). Ihre Basis liegt oft weit über 100 m unter dem heutigen Talniveau,
im Bodensee sogar unter Meeresniveau, und belegt so eine ausgedehnte glaziale Tie-
fenerosion. Die tiefste Rinne dieser Becken steigt in der Regel sowohl talabwärts wie
auch talaufwärts an und schliesst somit eine Genese infolge fluviatiler Erosion aus.
Heute ist bekannt, dass an der Basis von Vorlandgletschern aktive Schmelzwasserge-
rinne Materialtransport und entsprechende Erosion des Untergrunds bewirken. Solche
Ausräumvorgänge wiederholten sich im Laufe der Zeit mehrfach (vgl. "Birrfeld" in
Fig. 2.15), wobei ältere Beckenfüllungen teilweise erhalten blieben, zum Teil aber wie-
der vollständig erodiert wurden. Letzteres dürfte v.a. in den alpennahen und inneralpi-
nen Bereichen der glazial übertieften Becken der Fall gewesen sein.

Die Erosion durch das Gletschereis selbst beschränkt sich im Wesentlichen auf ein
Losreissen von Gesteinspartien sowie auf das Abschleifen von Untergrundmaterial
durch im Eis mitgeführte Gesteinspartikel (Abrasion).
195 NAGRA NTB 99-08

Für die Morphogenese des nordalpinen Vorlands spielen diese Mechanismen nur lokal
eine Rolle (Rundhöcker, Gletscherschliffe). Von wesentlich grösserer Bedeutung für
die Ausbildung des Felsreliefs ist die Wirkung des im, am und unter dem Eis fliessen-
den Schmelzwassers. Dieses führt Gesteinspartikel mit sich, die erosiv auf den Unter-
grund einwirken. Eine besonders grosse Wirkung kann episodisch unter dem Eis flies-
sendes, unter hydrostatischem Druck stehendes Wasser haben. Seiner Einwirkung
wird die Entstehung der im Mittelland und den grossen Alpentälern verbreiteten, über-
tieften Becken (Kap. 2.5.5 und Fig. 2.13) zugeschrieben. Die dabei wirkenden Mecha-
nismen sind im Detail aber noch nicht abschliessend erforscht.

Sicherlich entstanden die tiefen Becken in der Nordostschweiz insgesamt nicht in einer
einzigen Phase; mehrere Gletschervorstösse dürften an ihrer Ausbildung beteiligt ge-
wesen sein. Über die Geometrie der tiefen Becken ist noch wenig bekannt. Allgemein
wird von einem breiten, trogförmigen Querschnitt ausgegangen (z.B. WILDI 1984,
PUGIN 1988). Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine stärkere mor-
phologische Gliederung der Felsoberfläche vorhanden und nur wegen der geringen
Aufschlussdichte bisher verborgen geblieben ist. Beispiele dafür sind aus dem unteren
Reusstal bei Mellingen bekannt (JÄCKLI 1961, HALDIMANN et al. 1984, GRAF in
Vorb.). Ob für die Entstehung solcher Felsmorphologien zwangsläufig mehrere ver-
schiedene Gletschervorstösse notwendig sind oder ob dies auch während eines einzi-
gen Vorstosses entstehen kann, ist bisher nicht geklärt.

Die Tiefe solcher Becken kann durchaus mehrere Hundert Meter betragen. So wird die
Tiefe des Bodenseebeckens anhand von seismischen Untersuchungen z.B. auf rund
500 m geschätzt (SCHOOP & WEGENER 1984). Seit der Entstehung der ältesten
Becken des Hochterrassenkomplexes sind die späteren Gletschervorstösse stets im
Bereich der entsprechenden Täler geblieben. Neue Talläufe und Becken sind nur dort
entstanden, wo eine niedrige Wasserscheide existierte. Es kann also davon ausge-
gangen werden, dass auch zukünftige Gletschervorstösse sich an das heute existie-
rende Talnetz halten und die bestehenden Höhenzüge weitgehend erhalten werden.

Die Verbreitung der glazialen Übertiefung ist weitgehend auf Gebiete mit Molasse-
untergrund beschränkt. Im Norden der Kantone Aargau und Zürich enden sie auffällig
oft an den harten Felsschichten (Malmkalke) des Falten- und Tafeljuras. Bisher sind
glaziale Übertiefungen in mesozoischen Schichten nur im Bereich des unteren Reuss-
und Aaretals bei den verschiedenen Durchbrüchen durch die Faltenstrukturen oder
Flexuren, z.T. im Bereich von tektonischen Schwächezonen bekannt geworden
(HALDIMANN et al. 1984); allenfalls könnte sich das Becken im Rheintal bei Schaff-
hausen noch ein Stück weit in die Malmschichten hinein erstrecken (GRAF & HOF-
MANN 2000). Diese weisen einen relativ engen, canyonartigen Querschnitt auf. In
Gebieten mit Molasseablagerungen scheint die glaziale Übertiefung demnach ein deut-
lich grösseres Erosionspotenzial aufzuweisen als in solchen mit überwiegend harten
Formationen des Mesozoikums. Der Beginn der Entstehung von tiefen Becken im
Mittelland wird im Allgemeinen mit der ersten Vereisung des Hochterrassenkomplexes
in Zusammenhang gebracht. Der Maximalstand dieser Vereisung liegt weit ausserhalb
der externen Begrenzung der tiefen Becken (s. Beil. 2.6). Es ist daher kaum anzu-
nehmen, dass diese entstanden, als die Gletscher ihre maximale Verbreitung einnah-
men. Dies würde nämlich bedingen, dass die Schmelzwässer einen freien Abfluss
unterhalb des Eises bis (mindestens) nach Möhlin gehabt hätten, angesichts des stark
gewundenen Verlaufs der damaligen Täler erscheint dies aber sehr unwahrscheinlich.
Vielmehr muss für die Entstehung der Becken von einem Gletscherstand im Bereich
der bekannten Übertiefungen ausgegangen werden (Zungenbecken hinter der Endmo-
NAGRA NTB 99-08 196

räne). Demzufolge sind für die Entstehung von glazial übertieften Becken internere
Gletscherstände kritischer als die Maximalstände der "grossen" Vereisungen. Für das
Gebiet des Zürcher Weinlands wäre also ein Gletscherstand mit Front am kleinen Ran-
den kritisch, insbesondere weil hier auch bezüglich der Geologie des Felsuntergrunds
noch Erosionspotenzial besteht (Untere Süsswassermolasse).

Weshalb entstanden die glazialen Übertiefungen erst vor relativ kurzer Zeit, wobei die
globalen Vereisungen doch schon seit mehr als 2 Millionen Jahren andauern? Ent-
spricht diese Vorstellung nur einer verzerrten, weil auf sehr lückenhaften Kenntnissen
beruhenden Optik oder sind die Übertiefungen wirklich vergleichsweise jung? Denkbar
wäre z.B. ein Zusammenhang mit dem Wechsel vom 41'000-Jahre- zum 100'000-
Jahre-Eiszeitzyklus vor ca. 750'000 Jahren (s. Fig. 5.3). Wie die entsprechenden
Untersuchungen zeigen, dauerten die Kaltzeiten des Jungpleistozäns nicht nur we-
sentlich länger an, sondern es werden auch grössere Fluktuationen in den Klimapara-
metern beobachtet. Dies könnte eine Intensivierung der Vereisungen und damit die
enormen Erosionsleistungen verursacht haben. Diese kurzen Überlegungen zeigen,
dass in Bezug auf Alter und Entstehung der glazialen Durchtalung der Nordostschweiz
noch vieles unklar ist.

Im Hinblick auf die Erosionsszenarien bleibt Folgendes festzuhalten:


• Die lineare, fluviatile Eintiefung entlang der Haupttäler hält tendenziell mit regiona-
len und lokalen Hebungen Schritt.
• Die heutigen Hauptentwässerungsrinnen dürften für absehbare Zeit relativ lage-
konstant bleiben.
• Die glazial übertieften Rinnen der Nordschweiz dürften im Jungpleistozän entstan-
den sein. Eine weitere Übertiefung ist wahrscheinlich, erfolgt aber nicht systema-
tisch, d.h. nicht bei jedem Gletschervorstoss.
• Für die glaziale Übertiefung gelten dieselben formationsspezifischen Faktoren wie
für die Denudation. Dies bedeutet, dass im Bereich der Molasse (Denudations-
faktor 1) die glaziale Übertiefung mit der Tieferlegung der fluviatilen Erosionsbasis
Schritt hält, im Malm (Denudationsfaktor 0.5) aber höchstens halb so rasch fort-
schreitet, d.h. wesentlich gehemmt ist (s. Beil. 5.3).

Die weitere glaziale Tiefenerosion dürfte mindestens der regionalen Hebung entspre-
chen und sich vornehmlich auf die heute vorhandenen Rinnen beschränken. Die Bil-
dung neuer Rinnen ist aber gerade im Gebiet zwischen dem unteren Thurtal und dem
Hegau mit einem relativ bescheidenen Relief nicht auszuschliessen.

Die von KLEMENZ (1993) formulierte These einer rückschreitenden Tiefenerosion der
alpinen Gletscher kann nach diesen Beobachtungen nicht bestätigt werden; über die
Zeit des gesamten Quartärs (d.h. seit ca. 2.6 Millionen Jahren) muss tendenziell eher
eine Intensivierung der glazialen Erosion und Talübertiefung im Alpenvorland ange-
nommen werden. Gewissheit kann erst durch die Datierung von Ablagerungen aus der
Basis übertiefter Talrinnen erlangt werden.

Entwicklung der lokalen Erosionsbasis


Die heutige Erosionsbasis ist durch das rezente Talnetz mit den Hauptentwässerungs-
rinnen definiert; dabei wird von der begründeten Annahme eines fortdauernden, dyna-
mischen Ausgleichsgefälles ausgegangen. Die Erosionsbasis liegt entlang der Haupt-
197 NAGRA NTB 99-08

entwässerungsrinne Hochrhein – Thurtal auf 300 bis 400 m ü.M. und steigt sowohl in
Richtung Nordwesten (Schwarzwald) als auch nach Südosten (Alpen) langsam an. Im
Eishausszenarium gilt diese fluviatile Erosionsbasis aber nur während der eisfreien
Zeiten. Ist das Gebiet von einem Vorlandgletscher bedeckt, so wird in erster Näherung
von der jeweiligen Felsoberfläche ausgegangen. Wie für die fluviatile Erosion gilt auch
für das glaziale Szenarium, dass die Erosionsleistung in den bestehenden Talzügen
resp. in den übertieften Felsrinnen am stärksten ist, d.h. auch das Felsrelief tendenziell
akzentuiert wird. Aufgrund der in diesem Kapitel gemachten Ausführungen ist es nicht
möglich, die Ausdehnung zukünftiger Vorlandgletscher und deren lokale Erosions-
leistung genauer vorauszusagen.

Lokalerosion Zürcher Weinland


Das Ausmass des flächenhaften Abtrags und der linearen Tiefenerosion, die unter den
beiden Klimaszenarien mit den grössten Erosionsleistungen ("Eishaus" und "Treib-
haus" mit stark gestörten Vegetationsverhältnissen) nach einer Million Jahren zu er-
warten ist, wird anhand von drei lokalen Szenarienprofilen (B, D und I aus Beil. 4.5 und
4.6) durch das Gebiet des Geologischen Modells Zürcher Weinland sowie einer sche-
matischen Karte der Felsoberfläche in einer Million Jahren dargestellt (Beil. 5.2 und
5.3a – c). Eine maximale lineare Tiefenerosion wird im andauernden Eishausklima
durch die glaziale Tiefenerosion erreicht, während die maximale Denudation gemäss
Fig. 5.7 unter feuchtwarmen Klimabedingungen und stark gestörten Vegetationsver-
hältnissen stattfindet, was praktisch zu einer totalen Einebnung des Reliefs führt. Die
entsprechenden Szenarienprofile in Beil. 5.3a – c sind graphisch wie das Übersichts-
profil in Beil. 5.1 organisiert (Profilspuren s. Beil. 5.2).

Es wurden drei Szenarienprofile dargestellt:


• Bei andauerndem Eishausklima und ermittelter Hebung
• Bei andauerndem Eishausklima, ermittelter Hebung und maximaler Rückerosion
des Rheins
• Totale Einebnung (Treibhausklima mit stark gestörten Vegetationsverhältnissen)
bei ermittelter Hebung und maximaler Rückerosion des Rheins

Profil D (Beil. 5.3a) verläuft etwa parallel zum Szenarienprofil durch die Sondier-
bohrung Benken (Profilspur s. Beil. 5.2) und sollte etwa den dort in überhöhtem Mass-
stab dargestellten Verhältnissen entsprechen. Bei den der Beil. 3.1 entnommenen
Hebungsbeträgen von gemittelt 90 m im Nordwesten und 115 m im Südosten ist offen-
sichtlich für die nächsten eine Million Jahre auch bei extremen Annahmen keine Frei-
legung des Mesozoikums im kritischen Ausmass zu erwarten. Beim Extremszenarium
mit maximaler Denudation wird die Quartärbasis beim Standort der Sondierbohrung
Benken immerhin bis einige Dekameter in den Malm hinuntergreifen und unter dem
Thurtal bei maximaler glazialer Übertiefung etwa die Oberkante des Malms erreichen.

Das 4 km weiter südwestlich parallel zu D verlaufende Profil B (Beil. 5.3b) reicht schon
wesentlich weiter in den Tafeljura hinein, weshalb dort, ca. 3 km WNW von Rheinau,
bei maximaler Denudation bereits bis auf den mittleren Dogger erodiert wird. Der flä-
chenhafte Abtrag erreicht aber unter Eishausbedingungen eine wesentlich geringere
Einebnung im Tafeljura, weil hier gemäss Konzept der erosionsresistente Malm nur
halb so rasch entfernt wird wie im südwestlich angrenzenden Gebiet die Molasse-
schichten. Deshalb würde hier mit zunehmender Hebungsrate ein Relief entstehen,
NAGRA NTB 99-08 198

d.h. der Jura würde dort langfristig, analog zum heutigen Randen, als Hochzone
herausmodelliert (vgl. auch HOFMANN 1996). Bei beiden Extremszenarien wäre mit
einer Freilegung des Malms bis ins zentrale Zürcher Weinland zu rechnen und im
Thurtal reichte die glaziale Übertiefung bis an die Basis der Molasse oder in den
obersten Malm. Die Einebnung unter Treibhausbedingungen würde aber bei weitem
keine vergleichbare Erosionstiefe in diesem Bereich bewirken (vgl. auch Beil. 5.2).

Unter der Annahme der beiden Extremszenarien kommt es im Nordwesten des


Modellgebiets Zürcher Weinland zur vollständigen Erosion der Molasseablagerungen
und damit zur Freilegung des Malms (s. Beil. 5.2 und 5.3a – c).

Beil. 5.2 zeigt Übersichtsskizzen der beiden Extremszenarien im Untersuchungsgebiet


Zürcher Weinland und Umgebung. Beim Extremszenarium Treibhaus mit stark gestör-
ten Vegetationsverhältnissen und maximaler Rückerosion des Rheins findet eine Ein-
ebnung des Reliefs statt. Die skizzierte Kartendarstellung entspricht grob einem
Schnitt durch die regionale Geologie 190 – 215 m unter dem Niveau der heutigen Ero-
sionsbasis. Der Molasserand verschiebt sich dabei vom Randensüdfuss resp. dem
Kamm des kleinen Randens um 3 bis knapp 10 km nach Südosten und verläuft mitten
durch das Modellgebiet Zürcher Weinland, knapp südlich der Sondierbohrung Benken.
Etwa 7 km nordwestlich davon ist der Ausbiss des Top Opalinuston zu erwarten.

Die Konstruktion der Felsoberfläche, die nach einer Million Jahren unter Eishausklima
und maximaler Rückerosion des Rheins zu erwarten wäre, ist wesentlich schwieriger
abzuschätzen. Es wird angenommen, dass in den heute schon glazial übertieften Tal-
rinnen eine weitere Übertiefung stattfände, also keine heute nicht bereits vorgezeich-
nete lineare Tiefenerosion stattfinden wird. Dies würde einen unregelmässigen Molas-
senordrand mit tiefen Einbuchtungen bis zu einem möglichen "Malmfenster" im über-
tieften Thurtal verursachen. Unter Eishausbedingungen wird die "Öffnung" des Malm-
aquifers durch Erosion also weiter nach Süden reichen als beim Extremszenarium
Treibhaus. Der Ausbiss des Top Opalinuston käme beim Extremszenarium "Eishaus"
dagegen wesentlich weiter im Nordwesten zu liegen, da hier eine Akzentuierung des
Reliefs wegen unterschiedlichen Abtragsraten für die einzelnen Felsformationen zu er-
warten wäre. Im Gegensatz zur Denudation hält die lineare Erosion gemäss Konzept in
etwa Schritt mit den Hebungen, weshalb sich im Gebiet des kleinen Randens die heute
schon angelegten Durchbruchstäler weiter akzentuieren müssten. Der Klettgau ver-
bliebe als Talzug, eventuell leicht glazial eingetieft.

Wie aus Beil. 5.2 und 5.3 ablesbar, wird ein heute in ca. 650 m Tiefe angelegtes Lager
auch unter Extrembedingungen nach einer Million Jahren noch eine Felsüberdeckung
von mindestens 450 m aufweisen.

5.2.3 Einschlag eines Meteoriten

Der Störfall "Einschlag eines Meteoriten in die Lagerregion" wurde in den "Szenarien
der geologischen Langzeitsicherheit: Risikoanalyse für ein Endlager für hochaktive Ab-
fälle" (DIEBOLD & MÜLLER 1985) eingehend diskutiert. Dabei zeigte sich, dass dieser
Störfall eine extrem kleine Eintretenswahrscheinlichkeit aufweist. Gemäss diesem Be-
2
richt ist die Aufprallhäufigkeit eines Meteoriten auf ein Gebiet von 10 km kleiner als
-9
10 pro Jahr. Demzufolge werden Meteoriteneinschläge als irrelevanter Störfall be-
trachtet und können bei Risikoabschätzungen vernachlässigt werden.
199 NAGRA NTB 99-08

6 SCHLUSSFOLGERUNGEN

6.1 Methodik, Konzepte und Prozessverständnis


Die Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers stützt sich im Wesentlichen
auf die Schutz- und Barrierenfunktion der Geosphäre. Die Herleitung von sog. Lang-
zeitszenarien soll deshalb zeigen, inwieweit das Wirtgestein und die umgebenden
Rahmengesteine bei einem Zeithorizont von einer Million Jahren ihre Schutzfunktion
für ein solches Lager im Zürcher Weinland gewährleisten können. Dafür wurden alle
nach heutigem Wissen relevanten Daten berücksichtigt, welche die zukünftige geolo-
gische Entwicklung des Zürcher Weinlands beeinflussen könnten. Neben einer
detaillierten Beschreibung der regionalen und lokalen Geologie und Tektonik (heutiger
Zustand, statischer Datensatz) waren v.a. auch Kenntnisse der geologischen Ge-
schichte (dynamischer Datensatz), insbesondere der jüngeren Vergangenheit und der
rezenten Prozesse und Ereignisse (Neotektonik) erforderlich. Die Analyse basiert auf
Daten aus der publizierten Fachliteratur, den Erkenntnissen aus den umfangreichen
erdwissenschaftlichen Felduntersuchungen, welche die Nagra seit 1982 in der Nord-
schweiz durchgeführt hatte (Reflexionsseismik, Tiefbohrungen, geologische Aufnah-
men etc.) sowie den Resultaten aus dem Untersuchungsprogramm der Neotektonik,
die sich auf Studien der Geomorphologie, Geodäsie, Seismologie, Felsmechanik und
Geothermie stützen.
Mit Überlegungen zur weiteren Entwicklung des geologischen Umfelds wurde evalu-
iert, welche Veränderungen langfristig möglich sind und wie sie die Schutz- und
Barrierenfunktion der lokalen und regionalen Geosphäre beeinflussen können. Dabei
geht es im Sinne einer Auslegeordnung zuerst um eine qualitative Abschätzung der
denkbaren und im Rahmen der aktuellen Daten und Konzepte auch möglichen Pro-
zesse und Ereignisse, die aus heutiger Sicht die zukünftige Entwicklung bestimmen
können.
Im Hinblick auf die Belastbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen musste unterschie-
den werden zwischen:
• Grundsätzlichen Modellen und Konzepten über die Dynamik und Kinematik von
geologischen Prozessen und Ereignissen. Dies betrifft v.a. auch methodische
Grundannahmen, wie z.B. kontinuierlich contra diskontinuierlich, regelmässig con-
tra unregelmässig, zyklische oder stochastische (unvorhersehbare) oder sehr sel-
tene Ereignisse. Dabei stellten sich folgende Fragen: Für welche Prozesse gilt wel-
ches Modell, und wie steht es mit der Zuverlässigkeit der Voraussagen? Bei diesen
Grundlagen wurde auf die verfügbare Literatur und Lehrmeinung zurückgegriffen.
• Etablierten geologischen und geodynamischen Konzepten, die von wissen-
schaftlichen Spezialisten publiziert wurden, vielfach zitiert und deshalb allgemein
akzeptiert sind (z.B. TRÜMPY 1980, LAUBSCHER 1997). Diese beziehen sich auf
ein konkretes Geothema, z.B. den alpinen Fernschub oder die Neotektonik. Solche
Konzepte wurden diskutiert und, falls vorhanden, mit neuesten Daten ergänzt oder
modifiziert.
• Alternativen Konzepten und Thesen, die mit neuen Argumenten (z.B. neue
Daten) begründbar sind und im Widerspruch zur etablierten Lehrmeinung stehen
oder diese wesentlich ergänzen. Solche Thesen mussten im Sinne einer erweiter-
ten Diskussion als mögliche Alternativen erwähnt werden (z.B. rezente Hebung als
postorogene Isostasie, Übergang zu Treibhausklima infolge anthropogener Erwär-
mung etc.).
NAGRA NTB 99-08 200

Aus dem Spektrum der Möglichkeiten sollten – soweit projektrelevant und sinnvoll –
die realistischen bis pessimistischen Szenarien ausgewählt und quantifiziert werden.
Wie schon in früheren Berichten zu diesem Thema (DIEBOLD & MÜLLER 1985,
THURY et al. 1994) beschrieben, wurde für die Quantifizierung ein Zeithorizont von bis
zu einer Million Jahren berücksichtigt.

Die projektrelevanten Aspekte beziehen sich einerseits auf das Wirtgestein und die
Rahmengesteine im Untersuchungsgebiet, andererseits aber auch auf die regionale
Entwicklung der Geosphäre. Aufgrund der Eigenschaften des Wirtgesteins konnte
angenommen werden, dass seine Langzeit-Schutzfunktion nur in sicherheitsrelevan-
tem Ausmass beeinflusst werden kann, falls:
• Sich seine Tiefenlage gegenüber der Bio- und Hydrosphäre namhaft verringert,
d.h. im Untersuchungsgebiet so viel Hebung und Erosion stattfindet, dass die
Eigenschaften des Wirtgesteins signifikant verändert werden. In Form von Ero-
sionsszenarien wurde die mögliche Entwicklung quantifiziert, indem die weitere
Entwicklung des Gewässernetzes und des Reliefs, d.h. der linearen bzw. flächen-
haften Erosion, und ihr Zusammenhang mit der Lithologie des Felsuntergrunds und
dem Klima abgeklärt wurden. Es sollte die minimal verbleibende Gesteinsüberde-
ckung eines Tiefenlagers (Modellstandort) und damit die Schutzfunktion der geolo-
gischen Barrieren abgeschätzt werden.
• Das Wirtgestein durch tektonische oder magmatische Ereignisse und Prozesse
nachhaltig verändert und beeinträchtigt wird. Dabei ging es einerseits um die Frage
nach der weiteren Entwicklung des bestehenden Störungsmusters und dessen Ein-
fluss auf das geologische Umfeld und andererseits um tektonische Bewegungen
bei Annahme einer fortdauernden Kompression. Es war auch der Stellenwert kaum
prognostizierbarer, zufallsabhängiger und seltener Ereignisse, wie die Reaktivie-
rung oder Neubildung von tektonischen Störungszonen, das Auftreten starker Erd-
beben oder Magmaintrusionen zu diskutieren.

Daraus ergaben sich folgende Hauptfragen:


• Werden im Untersuchungsgebiet Vertikalbewegungen erwartet? Handelt es sich
dabei um Hebungen oder um Senkungen? In welcher Bandbreite liegen die mögli-
chen Bewegungsraten?
• Welches sind die möglichen Klimaentwicklungen, und welches Ausmass kann die
lokale Erosion unter Berücksichtigung der Hebung annehmen?
• Wie wirken sich die im Eishausklima zu erwartenden glazialen Prozesse und Ereig-
nisse auf die Langzeitentwicklung der lokalen Hydro- und Geosphäre sowie das
lokale Relief aus?
• Wo und in welchem Ausmass könnten Bewegungen an bekannten Störungszonen
erfolgen?
• Ist mit der Bildung von neuen Strukturen zu rechnen, und welcher Art wären diese?
• Wie gross sind die maximal möglichen seismischen Ereignisse (Erdbeben), und
welchen Einfluss haben diese auf ein verfülltes geologisches Tiefenlager?
• Ist mit magmatischen Prozessen oder einer nachhaltigen Veränderung der heuti-
gen geothermischen Verhältnisse zu rechnen?
201 NAGRA NTB 99-08

Für die Beantwortung dieser Fragen musste die Langzeitentwicklung abgeschätzt und
– wo plausibel – quantifiziert werden. Dabei wurde grundsätzlich vorausgesetzt, dass
sich die Kenntnisse über die Vergangenheit und die Gegenwart in die Zukunft extrapo-
lieren oder auf diese übertragen lassen. Die konzeptionelle Basis für solche Langzeit-
szenarien besteht in der Annahme von Gleichgewichten zwischen Prozessen und Zu-
ständen sowie zyklischen Entwicklungen, wie sie heute für zahlreiche Systeme nach-
gewiesen oder zumindest empirisch belegt sind.

Zudem beruht ein gesamtheitliches Systemverständnis der geologischen und geomor-


phologischen Entwicklung auf der grundlegenden Dualität zwischen:
• den Aspekten der endogenen Entwicklung, die sich auf die Dynamik des Erdinne-
ren beziehen (Deformationen der Erdkruste durch tektonische Prozesse, Magma-
tismus, regionale Temperaturverteilung), und
• den Aspekten der exogenen Entwicklung, die von den Zyklen der Atmosphäre und
der Hydrosphäre (Klima) sowie der Biosphäre bestimmt werden: Chemie und
Dynamik der Grund- und Oberflächengewässer, Stoffumlagerungen an der Erd-
oberfläche durch Verwitterung, Erosion, Verfrachtung und Ablagerung sowie
anthropogene Einwirkungen (z.B. Flussverbauungen oder Verstärkung des Treib-
hauseffekts durch anthropogen produziertes CO2) sind die wesentlichen Aspekte;
untergeordnet sind der Vollständigkeit halber auch extraterrestrische Phänomene
(Meteorite) zu erwähnen.

Die einzelnen Prozesse und Ereignisse sind sowohl innerhalb als auch zwischen den
beiden Gruppen in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Die endogenen Prozesse,
wie Wärmefluss, Bewegungen an grösseren Störungszonen, Gebirgsbildung etc. sind
Ausdruck der grossräumigen Plattenbewegungen und weisen eine entsprechend lang-
fristige Kinematik auf, d.h. sie sind in der Regel Teil einer über viele Jahrmillionen ver-
laufenden Entwicklung. Es ist deshalb statthaft, aus der Analyse grosser Zeitabschnitte
der unmittelbaren Vergangenheit Parameter für die Langzeitentwicklung der endoge-
nen Prozesse abzuleiten, d.h. diese in die Zukunft zu extrapolieren. Diese endogenen
Prozesse bilden gewissermassen das Rückgrat der geologischen Langzeitentwicklung.

Zahlreiche Prozesse können auch als zyklische Entwicklungen beschrieben werden.


Dies gilt v.a. für die exogenen Prozesse, deren Frequenz und Dynamik im Wesent-
lichen von den orbitalen Parametern und der Sonnenaktivität bestimmt werden und im
Bereich von Hunderttausenden von Jahren bis zu täglich wiederkehrenden Prozessen
und Ereignissen liegen. Es lassen sich drei in ihrer räumlichen Wirkung unterschiedli-
che Aspekte der exogenen Entwicklung voneinander abgrenzen:
• Verwitterung und Denudation (Hang- und Reliefentwicklung)
• Gewässernetz und lineare Erosion (das fluviatile System)
• das glaziale System

Auch die vergleichsweise kurzzeitigen zyklischen Prozesse der exogenen Entwicklung


haben die Tendenz, sich einem dynamischen Gleichgewicht anzunähern, das als lang-
fristiger Trend definiert werden kann: Die kurzzeitige Dynamik wird dabei generell von
einer langzeitigen überlagert. Dies bedeutet letztlich, dass über lange Zeiträume
(> einige Hunderttausend Jahre) in der Regel die endogene Dynamik massgebend
sein wird.
NAGRA NTB 99-08 202

Wichtigste Schnittstelle zwischen der endogenen und der exogenen Entwicklung sind
die Vertikalbewegungen der Kruste, die durch langfristige endogene Prozesse verur-
sacht und durch die kurzzeitigeren Wirkungen des exogenen Regimes immer wieder
ausgeglichen werden. Dieses Zusammenspiel von Hebung und Erosion resp. Senkung
und Ablagerung wird als übergeordnetes System betrachtet, dessen einzelne Para-
meter quantifiziert werden können und das fortwährend nach einem stationären Zu-
stand, d.h. nach einem Gleichgewicht strebt (AHNERT 1999).

Verlässt man das Konzept des dynamischen Gleichgewichts im Rahmen einer lang-
fristig kontinuierlichen Entwicklung, d.h. versucht man zufallsabhängige Szenarien zu
entwickeln, so ist man auf geeignete geologische oder geomorphologische Entwick-
lungsmodelle und/oder plausible Analogbeispiele angewiesen. Dies ist dann notwen-
dig, wenn der verfügbare Datensatz zu lückenhaft ist oder sich nicht in das Konzept
der Kontinuität einordnen lässt. Konzeptionelle Probleme ergeben sich insbesondere
dann, wenn das Zeitfenster, aus dem die verfügbaren Daten stammen, nicht der
Dimension des zu betrachtenden Zeitraums entspricht oder wenn aus regionalen
Daten auf die Entwicklung eines lokal begrenzten Gebiets geschlossen werden soll
resp. umgekehrt.

6.2 Regionales geodynamisches Konzept: Datenlage und Diskussion

Der erdgeschichtliche Rahmen wurde in Kap. 2 zusammenfassend dargestellt. Als


wichtige Basis für die Analyse der geologischen Langzeitentwicklung wurden dann in
Kap. 3 unter dem Stichwort "Neotektonik" die jungen Erdkrustenbewegungen der
Nordschweiz behandelt. Daraus wiederum konnte ein regionales geodynamisches
Konzept abgeleitet werden, das die in der jüngeren Zeit aktiven, die rezenten und da-
mit gemäss Grundvoraussetzungen auch die in unmittelbarer geologischer Zukunft
möglichen und plausiblen Prozesse in qualitativer Weise darstellt (Fig. 3.14). Die ver-
schiedenen Ansätze der Neotektonik – Geodäsie, Spannungsmessungen, Seismo-
tektonik, geomorphologische Analyse, geologische Rekonstruktionen, Geothermie und
Maturitätsstudien – beruhen auf voneinander weitgehend unabhängigen Daten und
Methoden. Deren integrierte Auswertung über den Zeitraum der letzten zehn Millionen
Jahre vermittelt ein konsistentes Bild der aktuellen endogenen Dynamik der Nord-
schweiz und ihrer Umgebung. Die exogene Dynamik wird durch folgende Rahmenbe-
dingungen bestimmt:
• Sowohl im Grundgebirge wie auch im Deckgebirge herrscht ein Spannungsfeld,
dessen maximale horizontale Komponente annähernd senkrecht zur Alpenfront
verläuft. Es blieb offenbar seit dem Frühmiozän ziemlich stabil, hat die neotektoni-
sche Geschichte der Nordschweiz massgeblich geprägt und dürfte auch für die
zukünftige Entwicklung bestimmend sein.
• In der Nordschweiz herrscht allgemeine, lokal differenzierte Hebung mit einem
Minimum im Gebiet Tafeljura – Hegau. Im angrenzenden Schwarzwald und auch
im Alpenvorland (Faltenjura und Molassebecken) sowie besonders in den Alpen
erreichen die Hebungsraten grössere Werte. Dieses Regime der Hebung und einer
entsprechenden Erosion kann im Schwarzwald seit dem ausgehenden Oligozän
nachgewiesen werden, wobei es zu einer ausgeprägten Zergliederung des Sockels
in Horst- und Grabenzonen kam. Im Alpenvorland dürfte das Regime allgemeiner
Hebung etwa mit dem Ende der Molassesedimentation vor ca. 10 Millionen Jahren
eingesetzt haben. Es wird deshalb für die Langzeitentwicklung angenommen, dass
diese Prozesse in vergleichbarem Ausmass weiterlaufen werden.
203 NAGRA NTB 99-08

• Das regionale geodynamische Konzept (Fig. 3.14) geht davon aus, dass die rezen-
ten Hebungen in den Alpen und dem Alpenvorland einen anhaltenden Zusammen-
schub dokumentieren. Die Kruste des Alpenvorlands wird dabei kompressiv bean-
sprucht, was durch das herrschende Stressfeld nachgewiesen ist. Dies bewirkt
eine fortwährende Abscherung des Deckgebirges durch Fernschub (thin skinned
detachment, Faltenjura). Am Nordrand dieser Kompression entsteht eine Interfe-
renzzone zwischen dem alpinen Stressfeld und der Hebungszone im Schwarzwald
mit einem differenzierten tektonischen Regime und minimalen Hebungsraten. Im
Sockel herrschen Blattverschiebungen und Abschiebungen vor; Hinweise auf re-
zente Überschiebungen im Grundgebirge können in den neotektonischen Daten
nicht erkannt werden.

Die Nordschweiz liegt aufgrund dieser geodynamischen Rahmenbedingungen in der


Interferenzzone zwischen alpinem Stressfeld und einer Hebungszone im Schwarzwald.
Das Spannungsfeld des Schwarzwalds erscheint als eine Überlagerung von Hebung
infolge subkrustaler Prozesse und alpin induzierter horizontaler Einengung. Die resul-
tierende maximale Hauptspannungskomponente der Nordschweiz ist generell ca.
NNW-SSE ausgerichtet, dürfte aber teilweise sehr steil einfallen. Die Auf- und Über-
schiebungen an der Alpenfront wie auch im Faltenjura und der Vorfaltenzone liegen
gemäss strukturgeologischer Modellvorstellungen annähernd ideal, d.h. etwa senk-
recht zu diesem Spannungsfeld. In der Zentral- und Westschweiz sind die Auswirkun-
gen des Fernschubs auf das mesozoische Deckgebirge im Faltenjura aufgeschlossen
und auf zahlreichen Seismiklinien durch das Molassebecken nachgewiesen. In der
Nordostschweiz konnten aufgrund der 2D-seismischen Linien der Nagra und einer
detaillierten Neuinterpretation der verfügbaren Seismiklinien der Erdölindustrie analoge
Strukturen erkannt werden, die auf eine kompressive Überprägung und beginnende
Abscherung des Deckgebirges infolge Fernschubs auch weiter im Osten hinweisen. Im
3D-seismischen Datensatz des Zürcher Weinlands wurden – abgesehen von einem
möglichen Hinweis – keine kompressiven Strukturen beobachtet, die eindeutig als Wir-
kung des Fernschubs interpretiert werden müssten.
Die strukturgeologische Auswertung der Bohrkerne der Sondierbohrung Benken ergab
jedoch, dass die evaporitischen Serien der Anhydritgruppe und des Gipskeupers
Deformationsstrukturen aufweisen. Innerhalb der Anhydritgruppe konnte zwischen den
Oberen und den Unteren Sulfatschichten in einer Tiefe von 887.96 m u.T. eine duktile
Scherzone erkannt werden. Auch weisen die Spannungsmessungen im Bohrloch eine
horizontale Differenzialspannung auf, deren maximale Komponente etwa NNW-SSE
ausgerichtet ist. Entsprechend orientierte Horizontalstylolithen der mesozoischen Kar-
bonatserien bestätigen eine horizontale Kompression. Gemäss geodynamischem Kon-
zept ist deshalb anzunehmen, dass die alpine Kompressionsfront im Deckgebirge
nördlich der Bohrung Benken verläuft. Das Bild eines zunehmend vom Fernschub
überprägten Zürcher Weinlands deckt sich zudem mit den Hebungstendenzen, welche
die Nivellementmessungen südlich des Hochrheins andeuten.
Das vom Schwarzwald ausgehende neotektonisch aktive Strukturmuster ist geprägt
von Zerrungsstrukturen, wie sie typisch sind für domartige Hebungszonen (vgl. LAUB-
SCHER 1992). Die bedeutenden jungen Verwerfungen des Südschwarzwalds (z.B.
Vorwald-, Neuhauser und Randen-Störung) setzen sich in den benachbarten Tafeljura
und zumindest bis in den Bereich des Nordschweizer Permokarbontrogs s.l. fort, sind
aber südlich des Baden – Irchel – Herdern-Lineaments nicht mehr nachweisbar. Die
maximale Ausdehnung der Schwarzwald-Hebungszone dürfte also etwa bis zu dieser
Struktur gereicht haben.
NAGRA NTB 99-08 204

Die rezent aktiven Hebungszonen des Südschwarzwalds beschränken sich gemäss


Geodäsie auf einzelne Grundgebirgssegmente, die auch morphologisch deutlich als
Hochzonen erscheinen (Vorberg-Zone, Schauinsland – Feldberg-Horst, Horst von
Hochfirst). Die Bonndorfer Grabenzone und v.a. deren Fortsetzung nach Südosten,
der Hegau – Bodensee-Graben, zeigen dagegen eine deutliche aktuelle Senkungsten-
denz. Aufgrund der Nivellementdaten und der geomorphologischen Analyse verläuft
die Grenze der rezenten Hebungen des Schwarzwalds im Westen entlang dem Hoch-
rhein (Referenzpunkt des Nivellementnetzes bei Laufenburg) und über das Wutachtal
nach NNE. Inwieweit neotektonische, d.h. postmolassische bis rezente Bewegungen
an den herzynisch streichenden Randverwerfungen des Hegau – Bodensee-Grabens
direkt mit der Schwarzwald-Hebungszone zusammenhängen, ist nicht geklärt. Diese
könnten auch im Kontext mit dem alpinen Stressfeld erklärt werden. Auch aufgrund
der Nivellementdaten muss angenommen werden, dass die Hebungszone des Süd-
schwarzwalds heute wesentlich weniger weit nach Südosten reicht.

Jedenfalls sind im gesamten Hegau und im nördlich angrenzenden Donautal durch die
Nivellementdaten deutliche Senkungstendenzen nachweisbar, die mit einer andauern-
den Aktivität als Grabenzone gut vereinbar wären. Diese Senkungszone dehnt sich
aber nicht weiter nach Südosten in Richtung Bodensee aus. Auch nach Süden, über
den Hochrhein hinaus, gelangt man in das rezente Hebungsgebiet der Nordost-
schweiz. In Bezug auf die rezente Ausdehnung eines eigenständigen "Schwarzwald-
doms" und die damit verbundene neotektonische Aktivität an den herzynisch streichen-
den Grabenbrüchen herrscht deshalb keine abschliessende Klarheit. Denkbar ist etwa
auch eine Verlagerung der zentralen Aufdomung vom südlichen in den zentralen
Schwarzwald, womit das im Mio-Pliozän nachweislich aktive Hebungsgebiet Klettgau –
Randen – Hochrhein heute nicht mehr direkt davon betroffen wäre.

Diese Interpretation der Nivellementdaten ist eine wichtige Grundlage des geodynami-
schen Konzepts Nordschweiz. Es wurden nur als zuverlässig klassierte Messpunkte
verwendet. Die ermittelten Werte liegen grösstenteils deutlich über der Standardabwei-
chung. Dies gilt besonders für das Mittelland und den Faltenjura, wo eine differenzierte
Beziehung zu den tektonischen Begebenheiten möglich ist. Im Tafeljura zeigen die
Werte nur minimale Bewegungen an und liegen messtechnisch bedingt innerhalb der
Standardabweichung. Die süddeutschen Messlinien zeigen eine wesentlich grössere
Fehlergrenze und sind deshalb mehrheitlich nicht signifikant aber immerhin im Sinne
von Tendenzen interpretierbar.

Einen in Zukunft wichtigen Datensatz für das Verständnis der Geodynamik liefert das
"Automatische GPS Netz Schweiz, AGNES" (BROCKMANN et al. 2002a). Dank die-
sen permanenten Messungen erhält man nun erste Tendenzen über die Richtungen
und Geschwindigkeiten horizontaler Bewegungen. Aufgrund der dargelegten Vektor-
konstellation, den nordwestlich bis nordöstlich gerichteten Vektoren am Alpennordrand
und den weitgehend stationären Verhältnissen in der Nordschweiz muss das Mittelland
unter Kompression stehen. Dies steht wiederum in Übereinstimmung mit dem in
Kap. 3 dargelegten geodynamischen Konzept.

Es zeigt sich also, dass sowohl der geophysikalisch-geodätische Datensatz wie auch
die geologisch-tektonischen Kenntnisse das Konzept eines anhaltenden Fernschubs
bestätigen oder diesem zumindest nicht widersprechen. Deshalb ist es auch nahelie-
gend, für die Bearbeitung der geologischen Langzeitszenarien im Zürcher Weinland
ein entsprechendes tektonisches Rahmenszenarium zu definieren.
205 NAGRA NTB 99-08

In früheren Arbeiten zur Langzeitentwicklung der Nordschweiz (DIEBOLD & MÜLLER


1985, THURY et al. 1994) wurde auch ein alternatives geodynamisches Rahmensze-
narium diskutiert, für das der aktive alpine Zusammenschub beendet, die rezente
Hebung also lediglich isostatisch bedingt ist und die Orientierung des gemessenen
Spannungsfelds auf nachwirkende Ausgleichsbewegungen des Alpenkörpers zurück-
geführt wird. Dieses Szenarium galt bis zum Durchbruch des modernen, vom Konzept
der Plattentektonik dominierten Weltbilds als Lehrmeinung für die Alpengeologie. Da-
bei könnte mit generell abklingenden Bewegungen und Spannungen gerechnet wer-
den, was im Hinblick auf die Erosionsleistung ein eher optimistisches Szenarium ergibt
(vgl. JÄCKLI 1958).

Obwohl die heutige Datenlage in vielem für einen anhaltenden Zusammenschub


spricht, besteht in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über die weitere Ent-
wicklung der Alpen und des Alpenvorlands keine einheitliche Meinung. Das Spektrum
reicht von gänzlicher Ablehnung des Fernschubs durch thick-skinned-Tektonik über
Kombimodelle thin-skinned / thick-skinned bis zum Konzept einer weitgehend durch
Scherung im Sockel bewirkten Vorlanddeformation (PAVONI 1961).

So gibt es Autoren, die eine weitere Krustenverkürzung im Vorland als thick-skinned-


Tektonik postulieren, bei welcher die Kompression durch aktive Überschiebungen im
kristallinen Sockel auf das Vorland übertragen wird, wobei die Permokarbonzonen des
obersten Sockels eine wichtige Rolle spielen sollen (z.B. PFIFFNER et al. 1997). Nach
MOSAR (1999) findet die heutige Einengung in Form von zunehmender Zergliederung
an steil stehenden Aufschiebungen im Bereich des heutigen Alpennordrands statt, wo-
bei langfristig ein weiteres externes Kristallinmassiv entstehen könnte. Andere nehmen
im Sinne von LAUBSCHER (1992) an, dass die Abscherung des Deckgebirges durch
Fernschub bereits seit dem Pliozän beendet war und die aktiven Deformationen sich
heute vorwiegend auf Scherbewegungen an steil stehenden Störungen im Sockel
unter dem Alpenvorland konzentrieren (z.B. SCHMID & KISSLING 2000, SCHMID
2002). ZIEGLER & ROURE (1996) vergleichen die verschiedenen Modelle und kom-
men zum Schluss, dass der Zusammenschub am Nordrand der Alpen möglicherweise
einem Zusammenspiel verschiedener Mechanismen entspricht und wahrscheinlich
noch nicht beendet ist. Schon BURKHARD (1990) hat versucht, die neogene Kom-
pression am Alpennordrand als eine Kombination von thin-skinned im Westen (Falten-
jura) und thick-skinned im Osten (subalpine Molasse) begleitet von einem System von
ausgleichenden Scherbrüchen zu erklären.

Alle Alternativen implizieren aber durchwegs eine anhaltende, aktive Kompression im


Sockel des Alpenvorlands und sind somit grundsätzlich mit der Annahme einer lang-
fristigen, tektonisch bedingten regionalen Hebung kompatibel.

Es gibt auch Modelle, welche die heute beobachteten Hebungen (Geodäsie) vorwie-
gend als isostatisch bedingten Ausgleich der Belastung durch den Würmgletscher
(letzte Vorlandvereisung vor ca. 20'000 Jahren) interpretieren (GUDMUNDSSON
1994).

Insgesamt bestehen aber bei allen Modellen grössere Unsicherheiten und zahlreiche
offene Fragen, sodass derzeit keines dieser Modelle und Konzepte zwingende Argu-
mente für sich allein geltend machen kann.

Deshalb konzentrieren sich die weiteren Überlegungen zur geologischen Langzeitent-


wicklung der Nordschweiz und des Zürcher Weinlands auf die Annahme einer weiter-
NAGRA NTB 99-08 206

gehenden Kompression mit anhaltender Hebung bedingt durch interne Deformation in


der Kruste des Alpenvorlands und aktiven Fernschub im Deckgebirge. Dieses Refe-
renzmodell erlaubt eine projektorientiert eher pessimistische Analyse der Kinematik
und Dynamik der oberen Kruste im Untersuchungsgebiet und stellt eine ausreichend
belastbare Grundlage für die Abschätzung der geologischen Langzeitentwicklung dar.

6.3 Strukturinventar und Szenarien der endogenen Entwicklung

Für die Erstellung des Strukturinventars und des geologischen Modells "Zürcher Wein-
land" (Perimeter: 10 km × 10 km) sowie der näheren Umgebung dienten die Daten der
2D- und 3D-Seismik. Die Auswertung wurde mit Isohypsenkarten der vier seismischen
Markerhorizonte Basis Mesozoikum, Top Muschelkalk, Top Lias und Top Malm sowie
je sechs geologischen Profilen im Streichen und Fallen dargestellt. Dieses geologische
Modell bildet eine wichtige Grundlage für die geologischen Langzeitszenarien und für
das hydrodynamische Modell.

Das Strukturinventar des Deckgebirges zeigt, dass das Zürcher Weinland während
des Zeitabschnitts Trias – Lias, also noch vor Ablagerung des Opalinustons, einer
grösseren tektonischen Beanspruchung ausgesetzt war. Dies äussert sich in einem
auffallenden Kontrast zwischen der gebietsweise kleinräumigen Zergliederung der
Trias (Basis Mesozoikum bis Top Muschelkalk) und den im Wesentlichen nur noch von
sanften Flexuren dominierten Formationen im Hangenden des Opalinustons. Einzig die
von Nordwesten nach Südosten verlaufende Neuhauser Störung und die en échelon
angeordneten Brüche in der West – Ost streichenden Wildensbucher Flexur versetz-
ten das gesamte Mesozoikum bis zur Basis des Tertiärs, d.h. sie sind postmesozoisch
aktive, aus dem Sockel aufsteigende Verwerfungen innerhalb des Messgebiets der
3D-Seismik.

Zwei W-E streichende Flexuren, die Wildensbucher Flexur im Norden und die Flexur
von Rafz – Marthalen im Süden zeichnen v.a. an der Basis aber auch am Top des
Mesozoikums das Sockelhoch von Benken ab, wo das Mesozoikum vermutlich direkt
von kristallinem Grundgebirge unterlagert ist. Die Flexur von Rafz – Marthalen markiert
zudem den Nordrand des Weiach-Trogs s.l., und die Wildensbucher Flexur steht mög-
licherweise mit dem Südrand des vermuteten Klettgau-Trogs in Zusammenhang.

Die Analyse der Erdbeben in der Nordostschweiz und das daraus ermittelte Span-
nungsfeld (s. Kap. 3.6.2) zeigen, dass Bruchflächen mit der räumlichen Orientierung
der Neuhauser Störung zu den potenziell aktiven Störungszonen gehören. Die Epizen-
trenkarten der historischen Ereignisse (DEICHMANN et al. 2000) und der instrumentell
erfassten Erdbeben (Fig. 3.6) zeigen, dass das Untersuchungsgebiet im Zürcher
Weinland zu den seismisch ruhigen Gebieten der Schweiz gehört. In der weiteren Um-
gebung wurden von DEICHMANN et al. (2000) einige schwache seismische Ereignisse
registriert und ausgewertet. Davon stehen nur die seismischen Ereignisse von Eglisau,
möglicherweise in Zusammenhang mit Bewegungen im Deckgebirge; alle anderen
wurden teilweise viele Kilometer tiefer in der mittleren oder sogar unteren Kruste
(> 15 km) lokalisiert. Keines dieser seismischen Ereignisse aus dem Gebiet Nordost-
schweiz – Süddeutschland kann direkt mit Strukturen des Untersuchungsgebiets in
Verbindung gebracht werden. Bis heute gibt es also keine seismischen Hinweise auf
eine rezente neotektonische Aktivität an der Neuhauser Störung.
207 NAGRA NTB 99-08

Neotektonisch aktive Verwerfungen mit kleinen Bewegungsraten können aufgrund von


Luftbildanalysen oder im Feldaufschluss nicht oder nur schwierig erkannt werden, da
mögliche im Quartär gebildete Versätze der Erdoberfläche durch Erosion und Material-
umlagerung laufend wieder verwischt werden. Aufgrund dieser Tatsachen wurde das
Gebiet in einer entsprechenden Untersuchung als neotektonisch inaktiv bewertet
(PFIFFNER et al. 2001).

Auch die quartärgeologischen Befunde geben kaum Hinweise auf Bewegungen wäh-
rend des Plio-Pleistozäns. Trotzdem wird die Neuhauser Störung – im Sinne einer vor-
sichtigen Interpretation – als potenziell neotektonisch aktives Element angesehen, da
dies aufgrund der geodätischen Daten nicht auszuschliessen ist (Beil. 3.2).

Gemäss geodynamischem Konzept (Kap. 3.5.6) ist davon auszugehen, dass die
Kruste unter dem Zürcher Weinland und dessen Umgebung sich unter kompressiver
Spannung befindet, sich tendenziell verdichtet und tektonisch gehoben wird. Dies kann
an diskreten Auf- und Überschiebungsflächen unter Bildung von Rampenfalten und
Antiklinalen oder in Form penetrativer Deformation geschehen. Differenzialspannun-
gen werden an Blattverschiebungen ausgeglichen, die je nach Orientierung der Bruch-
fläche im Raum entweder kompressiver (transpressiv) oder distensiver (transtensiv)
Natur sein können. Senkrecht zur maximalen horizontalen Hauptspannung herrscht
Zerrungstendenz. Dabei wird vorausgesetzt, dass diese tektonische Konstellation wäh-
rend mindestens der vergangenen 10 Millionen Jahre aktiv war und es auch langfristig
bleiben wird und dass es sich um einen annähernd linearen Prozess handelt.

In Bezug auf mögliche rezente Blattverschiebungen bleiben grössere Unsicherheiten


sowohl im Sockel als auch im Deckgebirge. Aufgrund der seismotektonischen Auswer-
tungen wie auch des herrschenden Spannungsfelds wären solche Lateralverschiebun-
gen durchaus plausibel und wurden deshalb im geodynamischen Konzept Zürcher
Weinland auch berücksichtigt. Es ist allerdings schwierig, sie mithilfe der verfügbaren
Daten (Seismik und Oberflächengeologie) zu identifizieren. Vor allem im westlichen
Randbereich des Bodenseegrabens zwischen Neuhauser Störung und Randen-Stö-
rung gibt es deutliche Hinweise auf junge Inversionszonen, die ein transpressives
Regime an geeignet orientierten Verwerfungen in diesem Gebiet anzeigen. Wie für
aktive Verwerfungen gilt auch für solche mögliche Transversalverschiebungszonen,
dass sie bevorzugt als Reaktivierung bestehender und damit bekannter tektonischer
Strukturen auftreten müssten.

Die Entstehung neuer Brüche, wie sie in tiefgelegenen Minen in Südafrika in einem
Umfeld mit geringer Kluftdichte und ohne grössere Störungen beobachtet werden, las-
sen sich auf das dort herrschende Spannungsregime mit einer extrem hohen kompres-
siven Spannungskomponente zurückführen. Solche Brüche wurden induziert, da der
hohe Stress nicht an bestehenden Störungszonen abgebaut werden konnte. Im Zür-
cher Weinland sind keine derartigen Verhältnisse vorhanden, und die Spannungen
können an den bestehenden Störungen abgebaut werden.

Im Rahmen des tektonischen Szenariums müsste die Entstehung neuer Störungen


diskutiert werden. Weil dieses aber offenbar schon seit mehreren Jahrmillionen be-
steht, darf angenommen werden, dass ein neues Strukturmuster zumindest mecha-
nisch nicht notwendig ist. Dies ergibt sich auch aus einem Vergleich des Spannungs-
diagramms in Fig. 3.11 mit dem vorhandenen Strukturinventar im Zürcher Weinland
und Umgebung (Beil. 4.1 bis 4.4).
NAGRA NTB 99-08 208

Zudem lässt sich feststellen, dass die heute im Zürcher Weinland beobachteten Struk-
turen – abgesehen von Neuhauser Störung und Wildensbucher Flexur – auf Bewe-
gungen während des Mesozoikums zurückzuführen sind, also mit der aktuellen Geo-
dynamik nichts zu tun haben. Während der über 100 Millionen Jahre, die seither ver-
gangen sind, wurden die Schichten lediglich leicht schräggestellt.

Die in BIRKHÄUSER et al. (2001) erwähnten NNE-SSW streichenden Lineationen in


rheinischer Ausrichtung sind zwar mit dem neotektonischen Spannungsfeld kompatibel
und könnten bei zunehmender Kompression im Deckgebirge allenfalls ein Potenzial für
sinistrale Scherbeanspruchung erlangen. Grössere Vertikalversätze wären aber auch
langfristig nicht zu erwarten.

Weiter ist die Möglichkeit der Bildung von neuen Elementen bereits bestehender Struk-
turtrends oder von neueren Ästen grösserer Störungszonen zu bewerten. Eine solche
Entwicklung ist zwar theoretisch denkbar, aber sehr unwahrscheinlich und weder
zeitlich noch räumlich prognostizierbar. Am ehesten denkbar wäre noch die Ent-
stehung neuer Störungsäste im Bereich der Neuhauser Störung.

Die erarbeiteten Kenntnisse über den geologischen Bau der Nordschweiz vermitteln
ein nachvollziehbares Bild der erdgeschichtlichen Entwicklung über den Zeitraum der
letzten zehn Millionen Jahre. Die weitere Entwicklung in unmittelbarer geologischer
Zukunft, d.h. über einen Zeitraum von etwa einer Million Jahren, kann auf dieser Basis
mit begründeten Annahmen in denkbaren Szenarien aufgezeigt werden. Diese erge-
ben folgende Beurteilung:
• In weiten Bereichen der Nordschweiz und insbesondere im Zürcher Weinland ver-
harrt die Formation des Opalinustons seit ihrer Entstehung vor 180 Millionen Jah-
ren bis heute in weitgehend ungestörter Lage.
• Die einzige grössere Störungszone, die das gesamte Deckgebirge versetzt, ist die
entlang der Nordostbegrenzung des 3D-seismischen Messgebiets verlaufende
Neuhauser Störung.
• Sowohl historische Aufzeichnungen als auch instrumentell erhobene Daten über
Erdbeben dokumentieren, dass der nördliche Teil des Kantons Zürich zu den seis-
misch ruhigen Gebieten der Schweiz gehört. Mögliche Bewegungen der Erdkruste
würden bevorzugt entlang bestehender Schwächezonen erfolgen. Mit der Neubil-
dung von sicherheitsrelevanten Störungen wird nicht gerechnet.
• Das Störungsinventar des Sockels ist infolge mehrfacher tektonischer Beanspru-
chung seit dem Paläozoikum ausreichend differenziert; hier sind deshalb keine
grösseren neuen Verwerfungen zu erwarten.
• Die neotektonische Beanspruchung des Deckgebirges erfolgt im kompressiven
Regime, in welchem – abgesehen von kleinen Überschiebungen – Lateralverschie-
bungen vorherrschen und deshalb keine grösseren Vertikalversätze zu erwarten
sind.
• Es sind keine sicherheitsrelevanten Auswirkungen von Erdbeben auf ein geolo-
gisches Lager im Opalinuston zu erwarten.
• Die gesamten geologischen, geophysikalischen und neotektonischen Untersuchun-
gen haben zum Ziel, mögliche Störungszonen zu identifizieren, damit solche bei
der Platzierung eines geologischen Lagers gemieden werden können.
209 NAGRA NTB 99-08

• Empirische Untersuchungen an Untertagebauten in Erdbebengebieten haben ge-


zeigt, dass die Untertageschäden im Vergleich zu den Schäden an der Oberfläche
extrem klein sind. Seismologische Messungen in der Kamaishi Mine in Japan zeig-
ten zudem, dass die Bodenbeschleunigung mit der Tiefe abnimmt. In einer Tiefe
von 600 m war sie um 75 % vermindert. Diese weltweiten Untersuchungen führen
zur Annahme, dass die Integrität von Untertagebauten (Schächte, Stollen, Kaver-
nen) auch durch stärkste seismische Erschütterungen kaum gefährdet ist, insbe-
sondere wenn die Hohlräume – wie dies in einem Tiefenlager geplant ist – wieder
verfüllt werden.
• Eine Beeinträchtigung der geologischen Barrieren durch magmatische Intrusion
oder Vulkanismus ist aufgrund der tektonischen Situation und dem Fehlen von
geothermischen Anzeichen nicht zu erwarten.

6.4 Klimaszenarien, Hebung und Erosion (Erosionsszenarien)

Klimaszenarien
Ausgehend von den heutigen Kenntnissen über die Langzeitentwicklung des globalen
Klimas sowie der Periodizität und den Amplituden der Klimaschwankungen während
des Quartärs besteht eine sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass das Klima langfristig
weiterhin vom Wechsel zwischen Warm- und Kaltzeiten beherrscht wird. Das Eishaus-
klima wurde deshalb als Referenzszenarium betrachtet und dessen Aspekte ausführ-
lich dargestellt. Innerhalb der nächsten Million Jahre ist mit mehreren Kaltzeiten von
der Grössenordnung der jungpleistozänen Glaziale zu rechnen, wobei eine maximale
Ausdehnung der alpinen Gletscher im Ausmass der grössten bisherigen Vergletsche-
rung zumindest einmal erreicht werden dürfte.

Über die genaueren Umstände der Ausbreitung und des Rückzugs der Gebirgsglet-
scher in den gemässigten Breiten bestehen beträchtliche Unsicherheiten. Vieles deutet
darauf hin, dass sich nicht bei jeder Kaltzeit ausgedehnte Vorlandgletscher gebildet
haben, andererseits aber die grossen Vereisungen im Vorland diverse Rückzugs- und
Vorstossphasen während derselben Kaltzeit aufweisen können – mit einem entspre-
chenden Erosions- und Akkumulationspotenzial (Stadiale und Interstadiale).

Das Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland liegt im externen Randbereich, den die


alpinen Vorlandgletscher jeweils erreichten. Es ist deshalb anzunehmen, dass dieses
Gebiet nur jeweils relativ kurze Zeit eisbedeckt war. Eine Dauer von durchschnittlich
20'000 Jahren Eisbedeckung im Zürcher Weinland, wie sie im Sinne einer vorsichtigen
Interpretation pro Kaltzeit angenommen wird, ist deshalb als eher zu grosser (pessi-
mistischer) Wert zu betrachten. Die Eismächtigkeit dürfte in diesem externen Gebiet
im Durchschnitt etwa 200 m, maximal etwa 400 m erreicht haben.

Alternative Klimaentwicklungen sind zwar denkbar und im Sinne einer Auslegeordnung


auch kurz anzusprechen, um die Bandbreite der möglichen Entwicklungen abzu-
stecken; sie wurden aber im Rahmen der Erosionsszenarien (Kap. 5.2.2) nicht quantifi-
ziert. Drei weitere Klimaentwicklungen mit jeweils stark unterschiedlichen Randbedin-
gungen wurden als alternative Szenarien kurz diskutiert:
NAGRA NTB 99-08 210

A Ende der Vereisungen und Vorherrschen von gemässigt-wechselfeuchtem


Klima.
B Anthropogen bedingter Wechsel zu permanent feuchtwarmem Klima (Treib-
haus).
C Vorherrschen arider Klimabedingungen ohne Vereisungen.

Das Eintreten einer Alternativentwicklung scheint nur möglich, wenn die treibende Kraft
der orbitalen Parameter durch einen oder mehrere wichtige, andere Klimaparameter
verdrängt oder ersetzt wird. Dafür käme in erster Linie ein anthropogen bewirkter An-
stieg des atmosphärischen CO2 auf Werte in Frage, die den Übergang zu einem Treib-
hausklima erzwingen könnten.
Die Alternativszenarien A und B setzen beide ein Ende des Eishausklimas voraus,
wobei der Entscheid zwischen gemässigt und tropisch im Wesentlichen vom Ausmass
der globalen Erwärmung abhängig sein dürfte. Die geographische Lage der Nord-
schweiz bei knapp 48° nördlicher Breite bewirkt, dass bei langfristig anhaltenden natür-
lichen Verhältnissen ein Szenarium mit feucht-gemässigten Bedingungen (A) wesent-
lich realistischer ist als ein warmes, subtropisches oder sogar tropisches Klima (B).
Letzteres käme deshalb nur als Folge massiver anthropogener Veränderungen in Fra-
ge, die auch die Vegetation, d.h. die natürlichen Lebensbedingungen, und damit auch
die Bedingungen für die Verwitterung und Erosion sowie die Produktion von Treibhaus-
gasen für lange Zeit nachhaltig gestört hätten. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass
sich solche Bedingungen über Zehntausende oder gar Hunderttausende von Jahren
konstant etablieren werden.
Auch eine klimawirksame Veränderung der Anordnung der Kontinente und Gebirge
oder der global wirksamen Meeresströmungen ist innerhalb des betrachteten Zeithori-
zonts nicht zu erwarten. Ein zukünftiges Treibhausklima wäre also im Raum Nord-
schweiz denselben überregionalen Bedingungen unterworfen, wie sie heute herrschen:
• Die Niederschlagsverhältnisse im Bereich der gemässigten Breiten werden von
einem stabilen Westwindgürtel dominiert, der vorwiegend feuchte Luft aus dem
atlantischen Raum nach West- und Zentraleuropa bringt. Der Golfstrom spielt zwar
für die Menge und Temperatur dieser Feuchtigkeit eine grosse Rolle; grundsätzlich
dürfte dieses westeuropäische Klimaregime aber auch ohne Golfstrom funktionie-
ren.
• Die Alpen werden als hohes Gebirge und damit klimaaktive Zone das Wetter wei-
terhin bestimmen.
Das Vorherrschen eines langfristig anhaltenden ariden Klimas ohne Vorlandvereisun-
gen (Szenarium C) im nördlichen Alpenvorland wäre denkbar, falls sich die Meeres-
strömungen im Nordatlantik entscheidend veränderten. Falls der Golfstrom verschwin-
den und weitgehend kaltes Polarwasser von Norden entlang der westeuropäischen
Küste bis weit nach Süden strömen würde, wäre das Verdunstungspotenzial und damit
die Luftfeuchtigkeit über dem Nordostatlantik stark reduziert. Entsprechend geringer
wäre das Niederschlagspotenzial der Westwinde, und es könnten sich in Westeuropa
steppen- oder sogar wüstenartige Bedingungen entwickeln, ähnlich wie dies – aller-
dings vorübergehend – während der Hochglazial-Phasen erwartet wird (Kältewüste).

Aufgrund des weitgehend hypothetischen Charakters solcher alternativer Klimaent-


wicklungen wird auch auf eine differenzierte Diskussion entsprechender Verwitterungs-
und Erosionsleistungen verzichtet.
211 NAGRA NTB 99-08

Hebung und Erosion


Die Zusammenhänge zwischen Hebung, Erosion und Sedimentation im Umfeld alpino-
typer Gebirgsregionen ist heute ein ähnlich intensiv diskutiertes Thema der geowissen-
schaftlichen Forschung wie die Klimaentwicklung. Entsprechend vielfältig ist das Spek-
trum der Modelle und Konzepte.

Die Analyse von Hebung und Erosion beruht auf einer gesamtheitlichen Betrachtung,
welche die endogenen wie auch die exogenen Faktoren berücksichtigt und insgesamt
als dynamisches System mit Rückkoppelungsmechanismen zu verstehen ist. In allen
Fällen strebt das System nach einem Gleichgewichtszustand, der in der Natur zwar
kaum je ganz erreicht wird, der aber ein brauchbares Konzept für eine grobe quantita-
tive Analyse darstellt (AHNERT 1999).

Nach dem Modell des isostatischen Ausgleichs im Kruste-Mantel-System ist ein flä-
chenhafter Abtrag immer mit einer entsprechenden ausgleichenden Hebung verbun-
den. Gebiete, in welchen über längere Zeit Erosion vorherrscht, wie z.B. das nördliche
Alpenvorland, sind demnach zwangsläufig auch Gebiete mit Hebung. Ist diese Hebung
rein denudations- oder glazial-isostatischer Natur, so ist sie verzögert, d.h. sie nimmt
laufend ab; der Gleichgewichtszustand ist erreicht, wenn sich Erosion und Ablagerung
die Waage halten, was letztlich zur totalen Einebnung führt. Die Annahme einer über
lange Zeit konstanten Hebung bedingt einen zusätzlichen Motor, was für den Fall der
Nordschweiz mit dem geodynamischen Konzept des aktiven Zusammenschubs und
entsprechender Hebung begründet werden kann.

Bei regionalen Analysen ist darauf zu achten, dass der zeitliche und räumliche Mass-
stab korrespondieren: Je grösser der betrachtete Zeitraum, desto grösser muss auch
das betrachtete Gebiet sein. Dies impliziert, dass sich lokale Systeme rasch verän-
dernden Bedingungen anpassen können, während globale Systeme sehr träge reagie-
ren.

Daraus ergeben sich folgende Kernaussagen für die Beurteilung und Quantifizierung
der Erosionsszenarien:
• Für die Langzeitentwicklung sind Aussagen über die Entwicklung der Erosions-
basis der Hauptflusstäler sowie die Grossformen der Landschaft möglich; Details
verschwinden aber in der Bandbreite der verschiedenen Möglichkeiten. Differen-
zierte Vorhersagen über lokale Erosionsraten und Reliefformen sind deshalb im
Rahmen der Langzeitentwicklung nicht sinnvoll.
• Vorhersagen über Hunderttausende bis zu einer Million Jahren sind als Mittelwerte
innerhalb eines Systems zu betrachten und müssen das über diese Zeiträume vor-
handene dynamische Gleichgewicht einer kontinuierlichen Entwicklung berücksich-
tigen. Dies kann nur durch endogene Prozesse, d.h. im Wesentlichen durch die
regionale Hebung, kontrolliert werden.
• Die langzeitige regionale Hebung kann mit geomorphologischen Methoden und
aufgrund von Maturitätsstudien sowie Apatit-Spaltspuren-Analysen an Gesteinspro-
filen aus Tiefbohrungen (Beckenmodellierung) nachgewiesen und quantifiziert wer-
den. Geodätische Messungen weisen auf anhaltende Hebung in der Gegenwart
hin. Für das Untersuchungsgebiet Zürcher Weinland ist die Annahme einer fort-
dauernden Hebung mit einer Rate von ca. 0.1 mm/a bzw. 100 m/Ma begründet.
NAGRA NTB 99-08 212

• Es wird weiterhin ein Hauptentwässerungssystem geben, dessen Niveau der regio-


nalen Erosionsbasis entspricht. Für die Nordschweiz ist dies der Hochrhein zwi-
schen Bodensee und Basel.
• Die heutigen Grossformen der Landschaft am Hochrhein bestehen bereits seit
wenigen bis einigen Jahrmillionen und werden auch langfristig Bestand haben (z.B.
Randen, kleiner Randen, Seerücken, Hörnlibergland, auch Cholfirst, Irchel, Buch-
berg).
• Der Nachweis und die Quantifizierung von langfristigen Bewegungsraten innerhalb
eines Systems mit dynamischem Gleichgewicht gelingt nur, falls sich regional
verbreitet entsprechende Reliefgenerationen finden lassen; dies ist durch die
Deckenschotter zumindest grob gewährleistet.
• Die Rückerosion des Rheins von der Nordsee bis in die Alpen entspricht einer
theoretischen Annahme. Dieser (einmalige) Ausgleich kann jedoch nur erfolgen,
wenn keine wesentlichen Differenzialbewegungen zwischen den einzelnen Fluss-
abschnitten stattfinden.
• Aufgrund der regionalgeologischen Beobachtungen sowie konzeptueller Überle-
gungen wird angenommen, dass die lineare Erosion entlang der Haupttäler gene-
rell mit der Hebung Schritt hält, das Ausmass des flächenhaften Abtrags aber v.a.
von der Abrasivität des Untergrunds und den klimatischen Bedingungen bestimmt
wird.

Zwischen der Hebung und der linearen Erosion entlang von Hauptentwässerungsrin-
nen besteht also ein dynamisches Gleichgewicht, das relativ rasch auf Veränderungen
reagiert. Dies gilt besonders für den Hochrhein ausserhalb des von den Vorland-
vereisungen betroffenen Gebiets, wo die Talentwicklung der vergangenen 2 Millionen
Jahre seit Ablagerung der höheren Deckenschotter ohne grosse Vorbehalte in die Zu-
kunft extrapoliert werden darf. Innerhalb des immer wieder vergletscherten Gebiets
wurde die Entwicklung des hydrographischen Gleichgewichts auch immer wieder
durch die glaziale Erosion und Akkumulation beeinflusst, und es entstanden so See-
becken und Gefällsstufen, für deren Ausgleich die eisfreie Zeit zwischen den Glazialen
offenbar nicht ausreicht, resp. deren Dynamik grösser ist als das erosive Potenzial der
natürlichen Flusslaufentwicklung. Deshalb bestehen innerhalb dieses Gebiets grössere
Unsicherheiten über die Lage des ausgeglichenen hydrographischen Profils. Dennoch
kann mithilfe der Deckenschotterniveaus und dem Konzept einer präpleistozänen
Gipfelflur auch für die Glaziallandschaft zwischen Töss, Thur und Bodensee gezeigt
werden, dass die Tieferlegung der lokalen Erosionsbasis ein ziemlich uniformer
Prozess war und deshalb auch entsprechend in die Zukunft extrapoliert werden darf.

Eine Karte der glazial übertieften Felsrinnen im Gebiet zwischen dem westlichen
Bodensee und dem unteren Reusstal (Fig. 2.13) zeigt deutlich, dass sich die glaziale
Tiefenerosion praktisch durchwegs auf das Gebiet mit Molasseuntergrund beschränkt,
obwohl das Eis zumindest während der grössten Vergletscherung weit über den
Molassenordrand in den Falten- und Tafeljura hinausreichte. Es wird deshalb vermutet,
dass die Wirkung der glazialen Tiefenerosion im Bereich der wesentlich erosions-
resistenteren mesozoischen Gesteine, insbesondere der hangenden Malmkalke, viel
geringer ist als in der Molasse. Der gewählte Denudationsfaktor von 0.5 für den Malm
gegenüber 1 für die Molasse ist also möglicherweise zu gross, im Sinne einer konser-
vativen Annahme aber projektorientiert vertretbar.
213 NAGRA NTB 99-08

Bei der Abschätzung von Erosionsbeträgen für das Zürcher Weinland ist die lokale
Hebung von 100 m/Ma sowie eine theoretisch denkbare (einmalige) Rückerosion des
Hoch- und Alpenrheins von nochmals maximal 100 m/Ma massgebend. Daraus ergibt
sich eine Tieferlegung der Erosionsbasis und damit eine maximale lineare Erosion von
ca. 200 m. Im Bereich der Molasse dürfte die glaziale Tiefenerosion dabei ein mit
heute vergleichbares Ausmass annehmen. In Gebieten, in denen mesozoische Kalk-
formationen, insbesondere der Malm in Oberflächennähe liegen, wird die Tiefenero-
sion – ähnlich wie der flächenhafte Abtrag – stark vermindert sein.

Daraus ergibt sich die Annahme, dass auch unter vorsichtigen Rahmenbedingungen
ein in 650 m Tiefe erstelltes Lager nach einer Million Jahren noch eine Überdeckung
von mindestens 450 m aufweisen wird.

Bei der langfristigen Entwicklung der Hydro- und Biosphäre unter Eishausbedingungen
kommt es im Zyklus der Kalt- und Warmzeiten zu mehrfacher Umgestaltung und Neu-
orientierung der Talböden und deren Lockergesteinsfüllungen sowie der hydrogeolo-
gischen Verhältnisse. Die Umweltbedingungen der Bio- und Hydrosphäre werden sich
im Rhythmus der Kalt- und Warmzeiten immer wieder nachhaltig verändern.

Aufgrund klimageschichtlicher Studien und der Temperaturverhältnisse während der


letzten Eiszeit kann für das Zürcher Weinland keine über längere Zeit geschlossene,
tiefgründige (mehrere 100 m tiefe) Permafrostzone erwartet werden.
NAGRA NTB 99-08 214

7 VERDANKUNGEN

Zur Erstellung des vorliegenden Berichts haben zusätzlich zu den Autoren zahlreiche
Personen beigetragen. Die Redaktion des Berichts lag in den Händen von Petra
Blaser. Ihr gilt für die sorgfältige und kritische Durchsicht der Texte, Figuren und Bei-
lagen ein besonderer Dank. Für die verschiedenen fachlichen Anregungen und die
kritische Überprüfung des Manuskripts ist an dieser Stelle insbesondere Peter Diebold,
Andreas Gautschi, André Lambert, Marc Thury, Hanspeter Weber und Piet Zuidema
zu danken. Weitere wertvolle Diskussionsbeiträge erhielten wir auch von Philip Birk-
häuser, Peter Haldimann und Theo Küpfer. Ohne den grossen Einsatz von Bruno
Kunz und Claudia Frei wäre die Fertigstellung des Berichts kaum möglich gewesen. Es
gelang ihnen, aus den oft recht schwierigen Vorlagen ansprechende Figuren und Bei-
lagen zu erstellen. Auch ihnen gilt unser besonderer Dank.
215 NAGRA NTB 99-08

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