Der Strahlenunfall
Der Strahlenunfall
Der Strahlenunfall
Auflage 1998/99) 1
Strahlenunfall
A. ZIEGLER
1 Einleitung
Strahlenunfälle sind äußerst seltene Ereignisse. Gerade deswegen wird es beim Verdacht auf
eine Einwirkung ionisierender Strahlung zu großen Unsicherheiten kommen.
1.1 Definitionen
Ionisierende Strahlung besteht aus Teilchen- oder Wellenstrahlung, deren Energie hoch genug
ist, um beim Durchgang durch die Materie Moleküle zu ionisieren. Direkt ionisierende
Strahlung besteht aus geladenen Teilchen; ungeladene Teilchen und Wellenstrahlung sind
indirekt ionisierend. Die biologische Wirkung ist unterschiedlich und abhängig von der
Ionisationsdichte, dies wird durch den Strahlenwichtungsfaktor berücksichtigt.
Die im Strahlenschutz verwendete Messgröße der Dosis ist die Äquivalentdosis mit der
Einheit Sievert (Sv);. diese wird errechnet aus der auf das Gewebe übertragenen
Energiemenge (Energiedosis, Einheit Gray) und dem Strahlenwichtungsfaktor ( ωR), der die
biologische Wirkung der aufgenommenen Strahlung im Vergleich zu γ-Strahlen angibt:
1.1.2 Strahlenunfall
Der Strahlenunfall wird in einschlägigen Normen als „unvorhergesehenes Ereignis, bei
welchem Personen möglicherweise einer Strahlenexposition ausgesetzt wurden, wobei
höchstzulässige Dosen überschritten werden“ definiert, dieser Begriff beinhaltet also eine
Vielzahl von Geschehnissen vom kleinen betrieblichen Zwischenfall bis zum „Super-GAU“.
1.2.3 Teilchenbeschleuniger
In vielen Bereichen der Forschung, der Medizin und der Industrie werden
Teilchenbeschleuniger verwendet. In der Strahlentherapie kommen Elektronen und
Photonen, aber auch Protonen und Schwerionen zur Anwendung, wobei eine Belastung auch
durch die als Sekundärteilchen entstehenden Neutronen erfolgt. Es sind also zusätzlich zu den
Strahlenarten der natürlichen Radioaktivität auch andere Teilchenstrahlen zu erwarten.
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In der Industrie werden zur Messung der Feuchtigkeit Neutronenquellen verwendet, diese haben jedoch eine viel zu geringe
Neutronenflussdichte, um einen aktivierenden Effekt auszulösen.
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1.2.8 Kriminalität
Bereits mehrfach wurden v.a. aus dem Bereich der früheren Sowjetunion radioaktive Stoffe
und auch spaltbares Material in den Westen geschmuggelt. In den meisten Fällen lag keine
Gefahr für die Umgebung vor, da die Aktivität gering war und der Stoff in fester Form vorlag
(vergleiche 1.2.5).
Vereinzelt wurden die Stoffe aber auch in Staub-- oder Pulverform transportiert, wobei eine
Inkorporationsgefahr gegeben war. Einige Male wurden auch terroristische Handlungen durch
Kontamination öffentlicher Bereiche gesetzt.
2. Grundlagen
Bei Bestrahlung von außen werden vorwiegend γ-Strahlen wirksam, da α- und β- Strahlen
in der Luft nur eine beschränkte Reichweite haben, durch die Kleidung absorbiert werden
und außerdem nur einige Millimeter tief eindringen können. Es kommt zu einer
Ganzkörperbelastung.
Die Dosis durch externe Bestrahlung muss so klein wie möglich gehalten werden. α- und β-
Strahlen haben eine begrenzte Reichweite, γ- Strahlen und Neutronen nehmen mit dem
Quadrat der Entfernung ab; der beste Schutz ist daher die Einhaltung eines großen
Abstandes! Da bei gegebener Dosisleistung (Strahlungsintensität) die Dosis von der
Einwirkdauer abhängt, soll der Aufenthalt in der Gefahrenzone so kurz wie möglich sein.
Kontaminationen sind nicht immer ganz zu vermeiden, durch das Tragen von Handschuhen
und durch umsichtiges Verhalten (Kontakt mit verdächtigen Stoffen vermeiden) werden sie so
klein wie möglich gehalten. Die eigentliche Gefahr liegt darin, dass die Substanz leicht
verschleppt und durch den Verunfallten oder die Helfer inkorporiert werden kann, daher sind
Kontaminationen so rasch wie möglich zu entfernen.
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Die Inkorporation ist die gefährlichste Form der Strahlenbelastung, sie erfordert Behandlung
an einem spezialisierten Zentrum wie z. B. in internationalen Zentrum für Radiopathologie in
Paris. Die radioaktive Substanz verteilt sich ihren chemischen Eigenschaften entsprechend im
Körper. Es besteht meist eine bevorzugte Anreicherung in einem Organ („kritisches Organ“
z.B. Strontium-90 - Knochen, Jod-131 - Schilddrüse, Caesium-137 - Muskel), daher kommt
es zu Organbelastungen.
Inkorporationen können durch richtiges Verhalten sicher vermieden werden. Während der
Tätigkeit mit gesundheitsschädlichen Stoffen aller Art ist das Essen, Trinken und Rauchen
verboten, da dies sicher zur Inkorporation von den meist an den Händen befindlichen
Kontaminationen führt; Nahrungsaufnahme darf erst wieder nach erfolgter Reinigung
erfolgen!
MERKE: Jede Strahlenbelastung, die nicht unbedingt notwendig ist, ist zu vermeiden.
Die Strahlenwirkungen werden nach der Art ihres Auftretens in Gruppen eingeteilt (Tab.1).
KRITERIEN
deterministische ∗ akute Strahlenschäden • erst ab einer gewissen Dosis (Schwellendosis)
(nicht stochastische) ∗ Teratogenese • für den Einzelnen vorhersagbar
Schäden • die Schwere der Schäden ist dosisabhängig
Risikoabschätzungen dienen dazu, Grenzwerte festzulegen, bei deren Einhaltung das Risiko
der Kanzerogenese im Vergleich zum Spontanrisiko und zu anderen beruflich bedingten
Risiken vertretbar ist. Der Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen beträgt z.Z.
50 mSv/ Jahr Ganzkörperdosis.2
Das Risiko einer Erbgutveränderung ist viel geringer3, bei Einhaltung der o.a. Grenzwerte
spielt das mutagenetische Risiko daher keine Rolle.
2
Bei einer (Ganzkörper-) Dosis von 10 mSv ist mit 500 zusätzlichen Krebstodesfällen pro Million Menschen zu rechnen, die
Spontaninzidenz liegt jedoch bei über 12 % (über 120 000 je Million ). Das Krebstodesrisiko einer solchen Dosis ist also zu
vernachlässigen.
3
Die betroffene Ei- oder Samenzelle muß trotz erfolgter Mutation voll funktionsfähig bleiben, die Wahrscheinlichkeit dafür
ist sehr niedrig. Eine Auswirkung der im Tierversuch und im Labor nachweisbaren Mutationen ist für dem Menschen
letztlich nicht bewiesen; nicht einmal bei den Atombombenopfern von Hiroshima und Nagasaki konnte eine Steigerung der
Erbkrankheiten festgestellt werden.
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Die biologische Auswirkung der Strahlen ist abhängig von der Dosis, der einwirkenden
Strahlenart, von der zeitlichen4 und räumlichen5 Verteilung sowie von der
unterschiedlichen Strahlenempfindlichkeit der betroffenen Gewebe ab. Zellen sind
während der Zellteilung besonders strahlenempfindlich, daher sind vorwiegend Gewebe mit
einer hohen Zellteilungsrate von einer Strahlenwirkung betroffen. In Tab.2 sind neben den
betreffenden Organen die zu erwartenden Strahlenfolgen angeführt.
sehr strahlenempfindlich
Knochenmark - Hämatopoese Panzytopenie Hänorrh. Diathese, Immunsuppression
Gonaden Infertilität
Embryo (1. Trimenon) Teratogenese
Augenlinse Strahlenkatarakt
mäßig strahlenempfindlich
Darmschleimhaut Schädigung der Kryptenzellen Diarrhoe, Exsikkose
Haut und Hautanhangsgebilde Erythem, Strahlendermatitis
Haarfollikel Epilation
Talgdrüsen Hauttrockenheit
gering strahlenempfindlich
parenchymatöse Organe Leber, Niere , Nebenniere, nach sehr hohen Dosen evtl. chronisch verlaufende,
Magenwand, fibrosierende Entzündungen
Zentralnervensystem
Schilddrüse Hypothyreose
Lunge Strahlenpneumonitis, Fibrosierung
sehr gering strahlenempfindlich
Stütz und Bewegungsapparat a)
periphere Nerven
Tabelle 2 - Strahlenempfindlichkeit der Gewebe des Erwachsenen, Folgen bei Bestrahlung
a) Die Epiphysenfugen des Kindes sind hochsensibel, Bestrahlung führt zu Wachstumsstörungen.
4
Zeitliche Dosisverteilung: Eine Protrahierung oder eine Fraktionierung einer Dosis führen ( außer bei dicht ionisierender
Strahlung ) zu einer Verminderung der Wirkung. Eine Sofortdosis erfolgt in einem so kurzen Zeitraum, daß die
Reparaturprozesse der Zelle nicht wirksam werden können, also innerhalb von Stunden.
5
Räumliche Dosisverteilung:
7 Sv Ganzkörperbestrahlung Î irreversible Schädigung der Blutbildung Î letale Strahlenkrankheit
7 Sv Teilkörperbestrahlung Î leichter lokaler Gewebeschaden ohne Allgemeinerkrankung
Daraus folgt: bei Dosisangaben ist daher immer das Zielvolumen und der Verabreichungszeitraum anzugeben:
z.B.: 1 Sv Ganzkörperdosis Sofortdosis.
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Latenzzeit: Danach folgt eine einige Tage bis über 2 Wochen dauernde Latenzzeit ohne
wesentliche Symptomatik. Die Dauer der Latenzperiode nimmt mit Zunahme der Dosis ab.
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Bei Dosen unter 50 mSv (alle Dosisangaben beziehen sich auf eine Ganzkörper-Sofortdosis)
sind Strahlenwirkungen nicht nachweisbar. Ab ca. 100 mSv können Veränderungen in der
Lymphozytenchromosomenaberrationsanalyse (biologische Dosimetrie) erfasst werden, bei
mehreren hundert mSv sind Blutbildveränderungen gegeben.
Ab 1 Sv sind nach der Latenzzeit Symptome zu erwarten; die letale Dosis liegt bei 7 Sv.
Zur Diagnostik können die Veränderungen des Blutbildes herangezogen werden, wobei die
Lymphozyten nach relevanter Bestrahlung innerhalb von Stunden deutlich abnehmen; ein
Lymphozytensturz auf 1000 / mm3 innerhalb eines Tages hat eine ernste prognostische
Bedeutung.
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Als prognostischer Faktor kann die Granulozytenzahl herangezogen werden. Je früher und
ausgeprägter es nach der initialen Granulozytose zu einer Granulozytopenie kommt, desto
stärker die Strahlenschädigung des Knochenmarks.
Auch bei subjektivem Wohlbefinden muss nach bekannter oder auch nur vermuteter
Strahlenexposition eine Hospitalisierung erfolgen.
Akut kommt es nach 2 - 3 Tagen zu einer Rötung, welche nach 1 - 2 Tagen wieder abklingt:
Früherythem, flüchtiges Erythem. Nach einer Latenzzeit von 8 - 10 Tagen, die mit höheren
Dosen kürzer ist, tritt ein verbrennungsähnliches Bild (Späterythem, fixes Erythem) von ca.
1 Woche Dauer auf, welches in eine Hyperpigmentierung übergeht und bei höheren Dosen
von Blasen und Ulzera gefolgt sein kann. Bei sehr hohen Dosen um 50 Sv treten solche
Veräderungen innerhalb von Stunden auf: Frühulkus, feuchte Epitheliolyse, exsudative
Strahlendermatitis. Durch die Schädigung der Haarfollikel kommt es nach 2 - 3 Wochen zur
Epilation, die bei Dosen von 3 - 4 Gy temporär und bei Dosen über 5 Gy irreversibel ist.
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Lokale Strahlenschäden an der Haut treten ebenfalls erst nach einer Latenzzeit von Stunden
bis Tagen auf und können daher unmittelbar nach der Strahlenexposition nicht beurteilt
werden.
Strahlenwirkungen
O Strahlung kann verursachen:
» Übelkeit, Erbrechen 30 min - 2 d
» Blutbildveränderungen Stunden
» schwere Erkrankung und Tod Tage
» schwere Hautschäden Tage
O Strahlung verursacht NICHT:
» akute Todesfälle
» akute Verbrennungen Hautschäden
O Strahleneinwirkung allein ist KEIN
MEDIZINISCHER NOTFALL !
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Auch im Strahlenschutz ist dafür als taktische Grundregel die „GAMS-Regel“ anzuwenden:
Gefahr erkennen - Absperren - Menschenrettung - Spezialkräfte anfordern !
Für die Notfallmedizin sind lediglich die akuten Strahlenschäden (lokale Schäden, zerebrales,
gastrointestinales oder hämatopoetisches Strahlensyndrom) relevant.
Deren Latenzzeit beträgt auch bei hohen Dosen mindestens einige Stunden, meist jedoch
Tage oder sogar Wochen (siehe Abschnitt 2.4), am Notfallort sind daher keine
spezifischen Symptome zu erwarten. Die erste Hauptschwierigkeit besteht also darin, einen
Strahlenunfall überhaupt als solchen zu erkennen.
3.1 Diagnose
Radioaktive Stoffe müssen bei der betrieblichen Anwendung und beim Transport
gekennzeichnet werden. Kennzeichnungen sind u. a. zu erwarten:
- beim Transport und in Labors auf Versandstücken
- beim Transport am Fahrzeug
- in Betrieben in der Nähe von Geräten
- in Betrieben und Labors an Türen beim Zutritt von Arbeitsbereichen
Oft sind Hinweise vom Betroffenen oder von anderen ortskundigen Personen oder
Betriebsangehörigen der einzige Hinweis auf eine mögliche Gefährdung durch ionisierende
Strahlung. Bei Unfällen in Betrieben kann der Strahlenschutzbeauftragte gerufen und
befragt werden.
In den weitaus meisten Fällen wird der Notarzt jedoch von der Feuerwehr bereits unter dem
Stichwort „Strahlenunfall“ zu einem Einsatz hinzugezogen werden. Falls die Feuerwehr noch
nicht anwesend ist, muss sie sofort zur Durchführung der Erstmaßnahmen (Bergung,
Dekontamination) alarmiert werden.
Die Polizei bzw. Gendarmerie muss bei Strahlenunfällen verständigt werden, damit die
zuständigen Behörden informiert und weitere Kräfte (Sachverständige, Autobahnmeisterei,
Straßenmeisterei..) hinzugezogen werden können.
3.2 Maßnahmen
Die STRAHLENEINWIRKUNG VON AUSSEN (vgl. Abschnitt 2.1) kann dadurch
LIMITIERT werden, dass der Verunfallte aus dem Gefahrenbereich geborgen wird. Der
Gefahrenbereich ist vorerst in einem Umkreis von 30 m um den vermuteten Ort der
Strahlenquelle oder um das vermutlich kontaminierte Areal anzunehmen.
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Wenn sich der Verunfallte noch in diesem Bereich befindet, ist eine Bergung zu veranlassen;
diese wird in erster Linie - sofern anwesend - durch die Feuerwehr erfolgen; unter Einhaltung
der in Abschnitt 2.1 genannten Schutzmaßnahmen kann die Bergung jedoch auch durch das
Betriebs- oder Rettungspersonal erfolgen, da bei den in der Industrie in Österreich üblichen
Strahlenquellen bei einem kurzzeitigem Aufenthalt (einige Minuten) in der Nähe des
Strahlers eine relevante Dosis nicht auftreten kann.
Nach dem Einsatz muss dann aber eine Kontrollmessung zum Kontaminationsnachweis und
bei Bedarf eine Dekontamination durchgeführt werden.
Beispiele: Strahlentherapie,
zerstörungsfreie Werkstoffprüfung
bei Einwirkung von großer mechanischer Kraft oder nach Unfall oder Brand GERING
starker Hitze bis
MÄSSIG
Röntgeneinrichtungen
KEINE
Tabelle 4 - Abschätzen der Kontaminationsgefahr
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Nach der Bergung aus der Gefahrenzone werden die Vitalfunktionen kontrolliert und alle
notwendigen Maßnahmen (insbesondere die Sicherung der Atemwege) durchgeführt.
Bei Verdacht auf Kontamination Selbstschutz nicht vergessen, d.h. Handschuhe, Maske,
Haube und Einmalschürze! Die normale Einsatzbekleidung bietet ausreichenden Schutz.
Grobdekontamination:
Die Grobdekontamination wird durch Feuerwehrkräfte unter Mithilfe des Rettungspersonals
durchgeführt. Besonders bei staubförmigen Substanzen sollte der Betroffene vor
Durchführung der Grobdekontamination eine Mundmaske (Staubschutzmaske) als
Inkorporationsschutz erhalten!
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Durchführung:
- (schalenweises) Ausziehen der Kleidung
- offensichtlich oder vermutlich kontaminierte Körperteile mit Wasser in großen Mengen
und -- wenn vorhanden -- mit Seife mehrere Minuten lang waschen, ohne die Haut zu
traumatisieren und ohne das Wasser auf noch nicht kontaminierte Körperteile
rinnen zu lassen
- Einhüllen des Verunfallten mit flüssigkeitsdichtem, nicht saugendem Material (z.B.
Vliestücher oder Alufolie), Patient auf abgedeckte Krankentrage (Kunststofffolie) legen
- abgelegte Kleidung sammeln und kennzeichnen
- Bei Verdacht auf Ätzwirkung die Haut nicht nur abwaschen, sondern 15 Minuten lang
mit großen Wassermengen spülen
Kontaminierte Wunden sind genauso wie die unverletzte Haut ohne mechanische
Reinigungsversuche zu spülen. Dichtschließende Verbände fördern die Resorption;
kontaminierte Wunden sollten daher wenn möglich offen belassen oder nur locker abgedeckt
werden, sofern nicht eine Blutstillung erforderlich ist. Wunden, die sicher außerhalb des
kontaminierten Bereiches liegen, sollten natürlich nicht durch abfließendes kontaminiertes
Spülwasser in Mitleidenschaft gezogen werden; sie sind vor der Reinigung abzudecken oder
mit einem Verband oder einer Inzisionsfolie (Wundränder vorher trocknen) zu versorgen.
3.2.4 Dokumentation
Wegen der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses „Strahlenunfall“ empfiehlt es sich, eine über
das Normalmaß hinausgehende Dokumentation des Notarzteinsatzes durchzuführen und z. B.
nach Einsatzende ein Gedächtnisprotokoll anzulegen. Gespräche und Auskünfte, die
Einfluss auf die durchgeführten Maßnahmen hatten, sollten unverzüglich als Aktennotiz mit
Zeitangabe festgehalten werden.
- Unfallhergang: Wo, wann, bei welcher Tätigkeit ? Offene radioaktive Stoffe vorhanden ?
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(In Wien haben sich das AKH und das SMZ-Ost bereit erklärt, Patienten nach Strahlenunfall
aufzunehmen).
Strahlenunfall („NOTFALLMEDIZIN“ - Leitfaden für Notärzte, 3. Auflage 1998/99) 23
Anhang Kaliumjodidprophylaxe
Die bei KKW-Unfällen freigesetzten radioaktive Jodisotope werden mit der radioaktiven
Wolke über große Strecken transportiert und bilden einen Hauptbeitrag zum „radioaktiven
Niederschlag“.
Radioaktive Jodisotope können durch Inhalation, Ingestion und über die Haut in den Körper
aufgenommen werden und zu einer Strahlenbelastung vor allem der Schilddrüse führen. Als
Folge der Strahlenbelastung wäre ab einer Latenzzeit von ca. 5 bis 10 Jahren in der
exponierten Bevölkerung eine erhöhte Rate an Schilddrüsentumoren zu befürchten. Die
Aufnahme inhalierter radioaktiver Jodisotope in die Schilddrüse lässt sich durch die
zeitgerechte Einnahme von Kaliumjodidtabletten blockieren. Aufgrund der altersabhängigen
Rate an Nebenwirkungen muss für jede Altersgruppe eine differenzierte Nutzen-Risiko-
Analyse vorgenommen werden. Abhängig von der zu erwartenden Schilddrüsendosis wird die
Einnahme der Tabletten für Kinder und Jugendliche, Schwangere und Stillende bzw. für
Erwachsene unter 45 Jahren empfohlen.
Über 45 Jahre wird die Einnahme von KJ-Tabletten generell nicht empfohlen, da ein
erhöhtes Risiko der Auslösung von Hyperthyreosen und sogar thyreotoxischen Krisen
besteht.
Als Kontraindikationen gelten: Jodallergie, Dermatitis herpetiformis, Pemphigus vulgaris,
Jododerma tuberosum, hypokomplementämische Vaskulitis, Myotonia congenita etc.
Mit den genannten Ausnahmen kann die Einnahme der Tabletten erforderlichenfalls auf
mehrere Tage ausgedehnt werden.
Kaliumjodidtabletten sind keine universell wirksamen "Strahlenschutztabletten".
Sie schützen bei zeitgerechter Einnahme nur die Schilddrüse vor inkorporiertem Radiojod.
Sie schützen nicht gegen andere radioaktive Substanzen und nicht gegen Strahlung, die von
außen auf den Körper einwirkt. Zusätzlich erforderliche Schutzmaßnahmen (z.B.
vorübergehender Aufenthalt in geschlossenen Räumen, Nahrungsmittelkontrolle werden
dadurch keineswegs überflüssig!
Literatur:
ICRP Nr 60: Recommendations of the Int. Commission on Radiological Protection, 1990, Oxford:
Pergamon Press
Ricks C, Berqer ME, O’Hara FM (2001) Medical Basis For Radiation Accident Preparedness - The
Clinical Care of Victims (Proceedings of the Fourth International REAC/TS Conference), Boca Raton:
Parthenon Publishing Group
Fliedner T. M., Weiss M., Hofer E. P., Tibken B. und Fan Y. (1993) „Blutzellveränderungen nach
Strahleneinwirkung als Indikatoren für die ärztliche Versorgung von Strahlenunfallpatienten“ in F.
Holeczke F., Reiners C., Messerschmidt O. (ed.) Strahlenexposition bei neuen diagnostischen
Verfahren – Biologische Dosimetrie 6 Jahre nach Tschernobyl, Strahlenschutz in Forschung und
Praxis Band 34, Stuttgart: Gustav Fischer Verlag, S 135ff
Holeczke F., Tschurlovits H., Tschurlovits M.: Strahlenunfälle, was der Arzt über medizinische
Maßnahmen bei strahlenexponierten Personen wissen sollte, 1987, Wien: Verlag der Öst.
Ärztekammer
Fachverband für Strahlenschutz (1989) Empfehlung zur Personendekontamination, Publikationsreihe
Fortschritte im Strahlenschutz, 11/89.
Cottier H., Feinendegen L.E. et.al.: Arzt und Strahlenunfälle, 1994, Bern: Verlag Hans Huber
Füger, G. (1987) „Die akute Strahlenkrankheit“, Arzt im Einsatz, 6/87, S 12.
Schönbauer, C. (1989) „Strahleneinwirkung auf den menschlichen Körper, Erste Hilfe und
Körperschutzmaßnahmen“, brand aus 6/89, S 224.
Schneider, G. (1987) „Der radioaktiv kontaminierte Patient“, Arzt im Einsatz, 6/87, S 10
Mörisch, O. (1987) „Transportprobleme von kontaminierten Patienten“, Arzt im Einsatz, 6/87, S 17.
Berufsfeuerwehr Wien(1989) Unterrichtsbehelf Strahlenschutztaktik UB A53.07
Strahlenschutz - Lehrgangsunterlagen der Landesfeuerwehrschulen NÖ, BGLD, OÖ.
Informationsquellen Kaliumjodidprophylaxe: