Disney hat sich für seine Animationsfilme in den letzten Jahren immer mehr von dem gelöst, was in seinen klassischen Jahren Brot und Butter des Konzerns war: behutsame Modernisierungen klassischer Märchen- und Sagenstoffe aus dem europäischen Kontext. Stattdessen gräbt der Konzern, mal mehr, mal weniger einfühlsam und gelungen, international nach Stoff und Handlungsorten für neue Geschichten. Von China (Mulan) über Bayou Country (Küss den Frosch) bis Polynesien (Vaiana) reicht die Bandbreite, unterbrochen von wieder auf die klassischen Märchen verweisenden Ausflügen wie Die Eiskönigin.
Parallel dazu spielt die klassische romantische (und stets brav heterosexuelle) Liebesgeschichte auch nicht mehr die gleiche zentrale Rolle wie früher: In Mulan ist sie nur Nebenthema für das Finale, in Die Eiskönigin wird sie offen als problematisch diskutiert, und in Vaiana gibt es schlicht einfach keinen „love interest“ für die weibliche Hauptfigur. Wie entspannend das ist!
Auch der jüngste Animationsfilm aus dem „Haus mit der Maus“ verzichtet glücklicherweise auf eine solche Storyline, stattdessen gibt es aber, ohne geht es scheinbar nicht, eine einflussreiche Vaterfigur, allerdings durch Versteinerung über weite Teile des Films abwesend.
Ja, versteinert: In der asiatisch anmutenden und von asiatischen Mythen beeinflussten Welt von Raya und der letzte Drache treibt eine dunkle Macht ihr Unwesen, die sich in wolkenartig schwarz-lila-leuchtenden Wesen manifestiert; wenn sie berühren, erstarrt zu Stein. Das war vor vielen hundert Jahren geschehen – damals schufen die Drachen gemeinsam einen Edelstein voll Magie, der die Dunkelheit zurückdrängte.
Versteinerte Menschen, verlorenes Vertrauen
Der Regen befreite damals die versteinerten Menschen, die Drachen aber blieben starr und leblos. Die vorher friedlich zusammenlebenden Stämme von des Landes Kumandra begannen, einander zu misstrauen. Rayas Familie, Herrscher über die „Herz“-Region des Landes (ja, sie ist gewissermaßen eine Prinzessin), hatte die Aufgabe, über den Drachenjuwel zu wachen – aber Misstrauen, Intrigen, Streit und vor allem Habsucht führen dann dazu, dass der Juwel in fünf Teile zerbirst und die böse Macht wider über Kumandra herfällt.
Soweit die Vorgeschichte – die Handlung von Raya und der letzte Drache setzt dann sechs Jahre später neu ein: Die mittlerweile erwachsene Raya ist auf der Suche nach Sisu, der letzten Drachendame, um ihren Vater zu erlösen. Sisu stellt sich allerdings nicht als die erhabene, mächtige Figur heraus, die Raya erwartet hatte, sondern ist eher… unbedarft. Und ein wenig seltsam.
Sisu ist nicht so, wie Raya erwartet hat
Schon da deutet sich an, dass der Film von Don Hall und Carlos López Estrada sich zwar reichlich in asiatischer Mythologie bedient und auch z.B. auf die Ästhetik des Wǔxiá-Schwertkampffilms rekurriert. Seine Figuren und Erzählstrukturen sind jedoch fast schon konventionell: Sisu ist „sidekick“ und „comic relief“, teilt sich diese Rollenzuschreibungen aber auch noch mit anderen Begleiter_innen, die Raya unterwegs aufsammelt, alle auf ihre Weise durch die böse Macht verwaist: ein Junge, der sich als Koch durchschlägt, ein professionell agierendes Diebes-Baby, ein einsamer Kämpfer. Und natürlich ihrem ganz und gar bezaubernden Reittier, einer Mischung zwischen niedlichem Kuscheltier und Riesenassel.
Sisu ist zugleich als Drache (ganz im Einklang mit einer asiatisch geprägten Vorstellung dieser Wesen) in all ihrer scheinbaren charakterlichen Einfachheit zusätzlich die weise Ratgeberin, die Raya nicht nur mit ihrer Wassermagie zur Seite steht.
(Das Wasser übrigens, das ist im computergetriebenen Animationskino ja noch nicht selbstverständlich, sieht grandios aus, wie der ganze Film von Anfang bis Ende eine Augenweide ist, nie fotorealistisch und doch stets so, dass man in der Welt versinken möchte und könnte.)
Stattdessen geht es am Ende vor allem darum, dass Raya aus dem Trauma ihres Verlustes, das eng mit einem Gefühl von Verrat und damit Misstrauen verbunden ist, wieder zurückfinden muss. Wie kann sie, wie können die Menschen von Kumandra wieder Vertrauen zu anderen, zueinander fassen?
Das wird am Ende fast etwas kursorisch abgehandelt, weniger als wirklicher Lernprozess denn als Effekt kleiner Momente, die immer wieder in die Handlung eingestreut waren. Raya und der letzte Drache sollte richtig solides, sehr flottes Actionabenteueranimationskino mit tollen, starken jungen Frauen in den Hauptrollen werden (und das hat geklappt), die eigentliche Geschichte dahinter bekommt jedoch leider nie den Raum, sich zu entfalten.
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Raya und der letzte Drache (Raya and the Last Dragon). USA 2021. Regie: Don Hall und Carlos López Estrada, 114 Min. FSK 0, empfohlen ab 9 Jahren. Kino- und Heimkino-Start: 5. März 2021.
Raya und der letzte Drache ist ab heute exklusiv auf Disney+ (hier meine Filmempfehlungen für die Plattform) im Rahmen eines VIP-Zugangs für zusätzliche 21,99 Euro erhältlich. Ab Mai wird der Film im Rahmen des „normalen“ Disney+-Abos ohne weitere Zusatzkosten verfügbar sein.
Kollegin Bianca von spinatmaedchen.com hat einen ausführlichen Podcast zum Film aufgenommen und unter anderem mit einigen der Frauen hinter den Kulissen Interviews geführt. Bitte hier entlang!
(Fotos: Disney)
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