Chemie Für Einsteiger
Chemie Für Einsteiger
Chemie Für Einsteiger
Josef K. Felixberger
Springer Spektrum
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich
vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in
elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne
besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-
Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber
übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der
Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und
Institutionsadressen neutral.
Vorwort
Das Wachstum der Weltbevölkerung ist ungebrochen. Noch im 21. Jahrhundert wird die 10 Milliardengrenze
überschritten werden. Die Versorgung der Menschheit mit ausreichend Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Energie
und Wohnraum stellt eine immense Herausforderung dar. Des Weiteren gilt es die steigenden Ansprüche an
medizinische Versorgung, Mobilität, Bildung, Freizeitangebote und Lebensstil zu befriedigen. Bodenschätze
müssen nachhaltig genutzt, Natur und Klima dürfen nicht negativ beeinträchtigt werden.
Hocheffiziente Solarzellen aus Reinstsilicium für die direkte Umwandlung von Sonnenlicht in elektrischen Strom,
nebenwirkungsfreie Medikamente gegen Virenerkrankungen wie AIDS, hochselektive Katalysatoren für optima-
len Rohstoffeinsatz, farbbrillante Flüssigkristalle für Flachmonitore, umweltverträgliche Pflanzenschutzmittel
und Kunstdünger für hohe Ernteerträge, etc. sind nur mit der Querschnittswissenschaft Chemie realisierbar.
Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, werden exzellente Chemiker, gut ausgebildete Lehrer und
ein allgemeines Verständnis für Chemie in der breiten Bevölkerung benötigt. Das vorliegende Buch „Chemie
für Einsteiger“ soll dazu seinen Beitrag l eisten.
Zielgruppe dieses Buches sind zum einen interessierte Leser, die tiefer in die faszinierende Welt der Chemie ein-
tauchen wollen und zum anderen Chemiestudenten, denen der Einstieg in das Studium erleichtert werden soll.
In vier Teilen werden die Grundlagen der allgemeinen, anorganischen, organischen und Polymerchemie dar-
gelegt. Durch anschauliche Erläuterungen, klare Definitionen und zahlreiche Verweise auf den Alltag wurde der
Stoff so aufbereitet, dass das Lesen Spaß bereitet und zum Weiterlesen verleitet. Anregungen und anschauliche
Beispiele aus der Leserschaft, die zum besseren Verständnis der Materie beitragen, sind dem Autor übrigens
jederzeit herzlich willkommen.
Mein Dank gilt dem Verlag Springer Spektrum und insbesondere Frau Bartels und Herrn Dr. Münz, die den
Anstoß für das Projekt gaben und als routinierte „Coaches“ jederzeit katalytisch zur Seite standen.
Josef Felixberger
Juni 2017
IX
Geleitwort
Welchen Beitrag leistet die Chemie bei der Bewältigung der Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft
steht? Wie können wir Energie effizienter nutzen, uns besser ernähren oder ein ökologisches Zusammenleben
in Städten ermöglichen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich nicht nur die Politik, sondern auch die Chemie-
industrie intensiv. Chemische Produkte und Lösungen helfen, Ressourcen zu schonen, Ernährung zu sichern
und die Lebensqualität der Menschen weltweit zu verbessern.
Chemieunternehmen wie die BASF hatten hier schon immer eine Vorreiterrolle. Denken Sie an die Ammoniak-
synthese Anfang des 20. Jahrhunderts oder die Erfindung von Styropor in den 1950er Jahren. Noch stärker als
früher sind heute Nachhaltigkeit und Innovationen wesentliche Triebkräfte der Entwicklung. Aktuelle Bei-
spiele für nachhaltige Produkte sind u. a. der neue Vier-Wege-Katalysator für benzinbetriebene Fahrzeuge, der
kompostierbare Kunststoff auf Basis nachwachsender Rohstoffe oder Batteriematerialien für Elektromobilität.
Das sind Beiträge zur Gestaltung gesellschaftlicher Herausforderungen. Die Chemie wird dabei in Zukunft eine
noch größere Rolle spielen.
Neue Ideen können aber nur dann gedeihen, wenn es uns gelingt, dem Forscherdrang und den persönlichen
Talenten freien Lauf zu lassen. Neugier ist hier ein ganz wesentlicher Faktor. Die Fähigkeit und Bereitschaft zum
Lernen wird in einer sich rasch wandelnden Welt immer wichtiger.
Professor Dr. Josef Felixberger hat mit „Chemie für Einsteiger“ ein Buch geschrieben, das Interesse an der
Wissenschaft weckt. Während der Lektüre des Buches werden Sie viel über die faszinierende Welt der Chemie
lernen. Und wer weiß: Vielleicht arbeiten Sie als Chemiker bald an neuen Innovationen mit oder wecken als
Chemielehrer bei Schülern den Forschergeist.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Lernen. Bleiben Sie neugierig!
Katharina Möller-Zender
Head of Talent Development
Vita
Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Australian National University (ANU) hat er langjährige
Erfahrung im Entwicklungs- und Managementbereich in den Branchen Erdölexploration und
Bauchemie in Europa und USA gewonnen. Aktuell ist er Technischer Direktor einer Tochterge-
sellschaft der BASF.
Der Autor hält Vorträge und Seminare zu Themen der Chemie (Basiswissen, Katalyse, Polymere
und Kunststoffe, Naturstoffe, Analytik, Energie und Gesellschaft, Bauchemie), der Betriebswirt-
schaft (Basiswissen, Marketing, Investitionsrechnung, Qualitätsmanagement, Businesspläne
etc.) und Rhetorik sowohl für Studierende und Postgraduierte an der St. Petersburg National
Research University ITMO als auch in der beruflichen Weiterbildung. Dabei legt er großen Wert
auf didaktisch gut aufbereitete Unterlagen und hohen Praxisbezug.
Inhaltsverzeichnis
I Allgemeine Chemie
3.3.2 Valenzorbitale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4 Periodische Verläufe im PSE – Atomradius, Ionisierungsenergie, Elektronegativität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4.1 Atomradius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.4.2 Ionisierungsenergie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
3.4.3 Elektronegativität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
3.5 Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
6.1.2 Wasserstoffbrückenbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.1.3 Van-der-Waals-Kräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
6.2 Gasförmig, flüssig, fest – die drei klassischen Aggregatzustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
6.2.1 Gase – Stoffe von variabler Form und variablem Volumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
6.2.2 Flüssigkeiten – Stoffe mit definiertem Volumen, aber variabler Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
6.2.3 Feststoffe – Stoffe mit fester Form und festem Volumen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
6.3 Phasenübergänge – Wärme entscheidet über den Aggregatzustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
6.4 Reinstoffe und Stoffgemische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
6.4.1 Gehaltsangaben – Anteile und Konzentrationen einzelner Komponenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
6.4.2 Löslichkeit – wie viel Substanz löst sich in einem Lösemittel?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.5 Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
II Anorganische Chemie
IV Polymerchemie
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612
Lösungen ausgewählter Übungsaufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
XXIII
Abkürzungsverzeichnis
R Rydberg-Konstante, Alkylrest,
Kohlenwasserstoffrest, Radikal
REA Rauchgasentschwefelungsanlage
RO Reaktionsordnung
RT Raumtemperatur (20 °C)
RTV raumtemperaturvernetzend
S Styrol, Startermolekül
SADT self accelerating decomposition temperature
S E elektrophile aromatische Substitution
Sbl. Sublimationstemperatur
Sdp. Siedepunkt
SI Silicon
Smp. Schmelzpunkt
XXV
Symbolverzeichnis
ΔHR Reaktionsenthalpie J
ΔHR,m molare Reaktionsenthalpie J/mol
DHRo,m molare Standardreaktionsenthalpie J/mol
I elektrische Stromstärke A
ΔI Längenzunahme m
k Geschwindigkeitskonstante mol(1-RO)/(l(1-RO)·s)
ka Geschwindigkeitskonstante der Kettenabbruchreaktion
KB Basenkonstante
ki Geschwindigkeitskonstante des Initiatorzerfalls
kw Geschwindigkeitskonstante des Polymerkettenwachstums
K Gleichgewichtskonstante
KE Nernstscher Verteilungskoeffizient
KM Michaelis-Menten-Konstante mol/l
KS Säurekonstante
KW Ionenprodukt des Wassers bei Normalklima mol²/l²
l Nebenquantenzahl
I0 Ausgangslänge m
L Ligand
XXVI Symbolverzeichnis
n Stoffmenge mol
n Drehfrequenz 1/s
n Polymerisationsgrad
n Hauptquantenzahl
nD20 Brechungsindex bei 20 °C
Δn Stoffmengenänderung mol
nkin kinetische Kettenlänge, kinetischer Polymerisationsgrad
n0 Stoffmenge Monomere zu Beginn der Polymerisation mol
nP Stoffmenge Produkt mol
nK Stoffmenge Katalysator mol
nt Stoffmenge umgesetzte Monomere zum Zeitpunkt t mol
N Neutronenzahl
N Gesamtzahl Polymermoleküle
NA Avogadro-Konstante 1/mol
Ni Anzahl Polymermoleküle mit Polymerisationsgrad ni
[OH-] Hydroxidionenkonzentration mol/l
[Ox.] Konzentration Oxidationsmittel mol/l
p Druck, Gasdruck bar, Pa, N/mm²
pKB Baseexponent
pKS Säureexponent
P Protonenzahl
[P·] Stoffmenge Polymerradikal mol
Q elektrische Ladungsmenge A·s
Q Wärmemenge J
ΔQW Wärmemengenänderung Wasserbad J
r Radius m
r stöchiometrisches Verhältnis zweier Monomere
R allgemeine Gaskonstante, Naturkonstante J/(mol · K)
R Rydberg-Konstante 1/m
R kumulierter Siebrückstand, Rückstandskennlinie %
[R·] Stoffmenge Radikalstarter mol
[Red.] Konzentration Reduktionsmittel mol/l
Ri differentieller Siebrückstand auf Sieb i %
RZB relative Zentrifugalbeschleunigung
s Spinquantenzahl
[S] Substratmenge mol/l
S Entropie J/K
SRo,m molare Standardentropie J/(K·mol)
ΔS Entropieänderung J/K
t Zeit, Zeitpunkt s, h, d, a
tH Halbwertszeit s, h, d, a
Δt Zeitintervall s, h, d, a
T absolute Temperatur K
ΔT Temperaturänderung °C, K
Tq Glasübergangstemperatur °C, K
U Umsetzungsgrad, Umsatz
U Uneinheitlichkeit der Verteilung der molaren Masse
U innere Energie J
ΔU Änderung der inneren Energie J
ΔU Spannungsunterschied V
XXVII
Symbolverzeichnis
V Reaktionsgeschwindigkeit mol/(l·s)
V(S) Stoffwechselrate als Funktion der Substratmenge mol/(l·s)
ve Bahngeschwindigkeit Elektron m/s
ve,n Bahngeschwindigkeit des Elektrons auf der n-ten Schale m/s
vmax maximale Stoffwechselrate mol/(l·s)
va Geschwindigkeit Abbruchreaktion
vi Geschwindigkeit Initiatorzerfalls
vs Sinkgeschwindigkeit Feststoffteilchen m/s
vw Geschwindigkeit des Polymerkettenwachstums
v Volumen, Reaktionsvolumen l, m³
V(A) Volumen Komponente A ml
V0(A) Ausgangsvolumen Komponente A ml
V0(HCl) Ausgangsvolumen Salzsäure ml
VM molares Normvolumen l, m³
VS Lösemittelvolumen l
VT Trägergutvolumen l
ΔV Volumenänderung l, m³
W mechanische Arbeit, Volumenarbeit J
χ(A) Stoffmengenanteil der Komponente A mol/(·mol)
z Wertigkeit Säure, Base, Ion
[α]20
D
spezifischer Drehwert bei 20 °C °
Allgemeine Chemie
1.5 Lernkontrolle – 10
1.1 Elemente – Grundbausteine der Materie So postulierte der griechische Naturphilosoph Empedokles
1 bereits im 5. Jahrhundert vor Christus, dass sich jegliches Sein aus
den vier Urelementen Feuer, Wasser, Erde und Luft durch unter-
Die Vielfalt der Materie, die sich vom Mikrokosmos bis in die schiedliches Zusammenwirken formt. Dies ist umso bemerkens-
Tiefe des Weltalls erstreckt, hat von jeher zum Staunen und werter, da in der Antike bereits die Metalle Gold, Silber, Queck-
Nachdenken Anlass gegeben. Da strukturieren unsichtbare silber, Kupfer, Eisen, Zinn, Blei und die Nichtmetalle Kohlenstoff
Kräfte Zehntausende Galaxien zu Superhaufen mit unvorstell- und Schwefel bekannt waren, also Stoffe, die unter die moderne
baren 200 Mio. Lichtjahren Durchmesser (ca. 2000 Billionen Elementdefinition fallen.
km), während im molekularen Bereich winzige Strukturen in Heute weiß man, dass sich die ganze Vielfalt der Materie aus 92
der Größenordnung von wenigen Zehntel Nanometer vorherr- verschiedenen Elementen, wie z. B. Sauerstoff, Stickstoff, Kohlen-
schen. Dazwischen eingebettet ist das Wunder des Lebens – Flora, stoff, Natrium, Eisen, Kobalt, etc. zusammensetzt (7 Abschn. 1.3).
Fauna, Mensch. So verwundert es nicht, wenn nicht nur Goethes Die Elemente liegen dabei nur in den seltensten Fällen in elemen-
Faust sich wünscht „ … dass ich erkenne, was die Welt im Inner- tarer Form vor, sondern verknüpfen sich in einem festen Verhält-
sten zusammenhält“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vers nis zueinander zu chemischen Verbindungen.
382 f), sondern sich auch Philosophen seit Menschengedenken
Fragen stellen nach dem Woher und Wohin von Mensch und
kosmischer Ordnung. 1.2 Entstehung der Elemente – wir sind alle
Die ersten Antworten lieferten die Religionen. So beginnt das Sternenstaub
Buch Genesis im Alten Testament mit den Worten: „Am Anfang
schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Glaubt man den theoretischen Physikern und Astronomen, dann
es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem schlug die Geburtsstunde des Universums und somit auch der
Wasser“ (Buch Mose (Genesis) 1,1–2). Gott sei Dank nahm die Elemente vor ca. 13,7 Mrd. Jahren. Sämtliche Materie, Energie, ja
Schöpfungsgeschichte ein gutes Ende. Innerhalb von sieben Tagen sogar Raum und Zeit ballten sich damals in einem einzigen Punkt,
entstand aus dem Tohuwabohu (hebräisch für wüst und leer) eine der sogenannten Singularität. Unendlich hoher Druck heizte das
Welt, wo Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Land und Meer, System dermaßen auf, dass der Big Bang, der Urknall, unausweich-
Vögel und Seetiere, Mann und Frau einen heimeligen Platz in der lich war. Durch die Explosion breiteten sich Energiewellen in alle
göttlichen Ordnung fanden. Raumrichtungen aus und die Materie kühlte dadurch rasch ab,
Natürlich darf der biblische Schöpfungsbericht nicht als his- wodurch sich bereits in den ersten Minuten die Gänze an Was-
torische oder naturwissenschaftliche Abhandlung verstanden serstoff und Helium des Universums bilden konnte. Schwerere
werden. Ohnehin ist der Mensch von Natur aus ein neugieriges Elemente konnten sich zu diesem Zeitpunkt nicht formen, da das
Wesen, das sich auf Dauer nicht mit theologischen Schöpfungs- Gasgemisch zu schnell abkühlte.
mythen abfindet, sondern die Sehnsucht verspürt, unbekannte Die Helium- und Wasserstoffatome kollidierten im expan-
Welten zu ergründen und zu verstehen. Dieser Drang des Men- dierenden Universum, sodass Wasserstoff-Helium-Nebel mit
schen nach neuen Erkenntnissen wurde 1888 anschaulich von schwankender Dichte entstanden. Die Schwerkraft formte dann
Camille Flammarion in einem Holzstich umgesetzt (. Abb. 1.1). aus diesen riesigen Gasnebeln Galaxien mit kompakten Sternen.
In den Sternen wirken enorme Gravitationskräfte, sodass deren
Dichte und Temperatur mehr und mehr ansteigen und die Was-
serstoffatome immer häufiger kollidieren und schließlich unter
gigantischer Energieabgabe zu Heliumatomen verschmelzen
(Kernfusion, Wasserstoffbrennen). Da die ins Sterneninnere
gerichtete Gravitationskraft und der nach außen wirkende Strah-
lungsdruck des Wasserstoffbrennens sich die Waage halten, ver-
ändert z. B. unsere Sonne derzeit ihre Größe nicht.
Mit der Zeit nimmt die Wasserstoffkonzentration eines Sterns
immer weiter ab, sodass dieser auskühlt und schrumpft. Mit
zunehmender Kontraktion des Sterns steigen wiederum Druck
und Temperatur an, bis bei 200 Mio. °C das sogenannte „Helium-
brennen“ einsetzt. Drei Heliumatome fusionieren zu einem Koh-
lenstoffatom unter Energiefreisetzung.
Bei Sternen mit mehr als vier Sonnenmassen treten jedoch
so hohe Gravitationskräfte auf, dass ab 600 Mio. °C zusätzlich
Kohlenstoff-, Neon-, Sauerstoff- und Siliciumbrennen einsetzen,
wodurch Elemente wie Sauerstoff, Silicium, Nickel bis hin zum
Eisen entstehen.
. Abb. 1.1 Neugieriger Missionar erkundet neue Welten (aus: Camille Noch schwerere Elemente wie Uran bilden sich in „ster-
Flammarion, L’Atmosphère. Météorologie populaire, Paris, 1888, S. 163, benden“ Sternen. Der Eisenkern kollabiert unter der Schwer-
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flammarion.jpg) kraft extrem schnell, sodass eine durch den Rückprall ausgelöste
1.2 · Entstehung der Elemente – wir sind alle Sternenstaub
5 1
Durch Zerfall des Urans und anderer radioaktiver Elemente
(7 Abschn. 2.9) hat sich dann die Elementverteilung so ausgeformt,
wie wir sie heute vorfinden. Der Sternentod produziert nicht nur
Elemente schwerer als Eisen, sondern verteilt außerdem die Ele-
mente im Universum, wo sie Teil anderer Himmelkörper wie
z. B. unserer Erde, der Planeten, Meteoriten, etc. werden. Spekt-
raluntersuchungen des Sternenlichts belegen, dass die Elemente
schwerer als Helium vor ca. 10 Mrd. Jahren gebildet wurden.
Vergleicht man die Elementverteilung des Sonnensystems,
der Erdkruste, der Erdatmosphäre und des Menschen, stellt man
erhebliche Unterschiede fest (. Abb. 1.3). Das Sonnensystem mit
der alles dominierenden Sonnenmasse besteht zu 98 % aus Was-
serstoff und Helium. Dagegen verfügt die Erde über nur noch
geringe Wasserstoff- und Heliumvorkommen. Die verhältnis-
mäßig geringen Gravitationskräfte unseres Planeten konnten
diese leichten, gasförmigen Elemente auf Dauer nicht festhalten,
sodass sie mit der Zeit in den Weltraum verloren gingen. Die Erd-
kruste weist alle Elemente auf, die sich auch im menschlichen
. Abb. 1.2 Supernova – die Wiege schwerer Elemente (© NASA/CXC/SAO)
Körper wiederfinden. Die Elemente Kohlenstoff und Stickstoff
„bezieht“ der Mensch über den Verzehr von Pflanzen und Tieren
letztendlich aus der Atmosphäre. Eine Auffälligkeit ist noch die
Schockwelle den Stern explodieren lässt. Ergebnis ist eine Super- hohe Silicium- und Aluminiumkonzentration in der Erdkruste.
nova (. Abb. 1.2), wobei die Leuchtkraft des Sterns für kurze Zeit Diese gesteinsbildenden Elemente sind der Baustoff für die tek-
um das Milliardenfache zunimmt. Die Eisenatome werden mit tonischen Kontinentalplatten, welche auf dem duktilen oberen
extremer Geschwindigkeit nach außen geschleudert, wobei sie Erdmantel driften.
mit der dem Eisenkern noch umgebenden Heliumatome kolli- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach dem Urknall
dieren und durch Neutroneneinfang schwerere Elemente bis hin zuerst die leichten Elemente Wasserstoff und Helium im Ver-
zum Uran entstehen (7 Abschn. 1.4). hältnis 75 zu 25 entstanden. Die Bildung schwererer Elemente
. Abb. 1.3 Sonnensystem, Erdkruste, Atmosphäre und Mensch weisen stark variierende Elementverteilungen auf
6 Kapitel 1 · Elemente – sämtliche Materie besteht aus 92 verschiedenen Elementen
durchläuft einen kosmischen Zyklus mit Wasserstoff und Helium und somit der breiten Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Für
1 als Rohstoffe. Der Kreislauf besteht aus folgenden Phasen: eine schnelle, einfache und präzise Kommunikation war aber
44Sternenbildung durch kollabierende, interstellare die schwer verständliche, mystische Schrift der Alchemisten
Nebelwolken, ungeeignet.
44Fusionsreaktionen, „Brennvorgänge“ in Sternen aufgrund Jöns Jakob Freiherr von Berzelius (schwedischer Chemiker,
der hohen Gravitationskräfte (Elemente Helium bis Eisen), 1779–1848) gelang 1814 der Befreiungsschlag. Er kam auf die
44„Gravitationstod“ schwerer Sterne mit Bildung schwerer geniale Idee, die Anfangsbuchstaben der lateinischen Element-
Atome (Kobalt bis Uran), die per Supernova ins All namen zu verwenden. Ein Elementsymbol besteht seit dieser Zeit
geschleudert werden, aus einem einzigen Großbuchstaben, z. B. H für Wasserstoff (lat.
44„Asche“ der Supernova wird wieder Bestandteil der inter- hydrogenium) oder einer Kombination aus einem Großbuchsta-
stellaren Masse, der Kreislauf schließt sich. ben und einem Kleinbuchstaben, z. B. Au für Gold (lat. aurum).
Dieses einfache und transparente System hat sich global durchge-
Da unser Sonnensystem „erst“ vor ca. 4,6 Mrd. Jahren entstand, setzt und hat nahezu unverändert bis heute Gültigkeit.
wird davon ausgegangen, dass die Atome unserer Erde bereits Die aktuellen Regeln für die Festlegung der Elementsymbole
mehrere solcher Zyklen durchlaufen haben. Letztendlich besteht sind wie folgt:
auch der Mensch nur aus Elementen; wir alle sind nur Sternen- 1. Die verbreitetsten Elemente werden mit dem ersten
staub. „Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zu Staub Buchstaben der englischen Elementbezeichnung abgekürzt,
zurückkehren wirst“ (1. Buch Mose (Genesis) 3, 19). 44H für Wasserstoff (engl. hydrogen),
44C für Kohlenstoff (engl. carbon),
44N für Stickstoff (engl. nitrogen),
1.3 Herkunft der Elementnamen und der 44O für Sauerstoff (engl. oxygen), etc.
Elementsymbole 2. Hat ein weiteres Element den gleichen Anfangsbuchstaben,
dann wird noch der zweite Buchstabe der Elementbe-
Das Mittelalter war die erste Blütezeit der Chemie in Europa. zeichnung berücksichtigt, z. B.
Alchemisten versuchten mithilfe von theologischen, astrono- 44He für Helium (engl. helium),
mischen, philosophischen und chemischen Erkenntnissen den 44Li für Lithium (engl. lithium),
ganz großen Wurf. Unedle Metalle sollten mithilfe des Steins des 44Be für Beryllium (engl. beryllium), etc.
Weisen, heute würde man von einem Katalysator (7 Abschn. 9.9) 3. Sollten für ein Element die ersten beiden Buchstaben des
sprechen, zu Gold transmutiert (lat. für umwandeln) werden. Da englischen Elementnamens identisch sein, dann wird der
die Alchemisten ihr Know-how vor Außenständigen und Kolle- erste Konsonant verwendet, z. B.
gen schützen wollten, entwickelten sie eine Geheimsymbolik für 44Mg für Magnesium (engl. magnesium),
chemische Substanzen. In starker Anlehnung an die Astrologie 44Mn für Mangan (engl. manganese)
wurden Elementsymbole definiert (. Abb. 1.4).
Da es nur wenige allgemeingültige Symbole gab und im Laufe Elemente, die bereits in der Antike bekannt waren, weisen lateini-
der Jahrhunderte zahlreiche Substanzen isoliert und charakteri- sche Elementbezeichnungen auf. Die Elementsymbole beziehen
siert wurden, stieß die Symbolik der Alchemisten mit der Zeit an sich dann auf die antiken Wurzeln, z. B. Fe für Eisen (lat. ferrum),
ihre Grenzen. Ag für Silber (lat. argentum), Au für Gold (lat. aurum), etc.
Spätestens seit Lavoisier (frz. Chemiker, 1743–1794), ver- Das Elementsymbol steht für:
stand sich die Chemie als messende, exakte Naturwissenschaft. 44ein bestimmtes Element, z. B. Fe für Eisen,
Die Forschungsergebnisse wurden in Fachzeitschriften publiziert 44ein einzelnes Atom des Elements,
44ein Mol Stoffmenge des Elements (7 Abschn. 5.2).
Elementbezeichnung Element Dichte Schmelz Siedepunkt Leitfähigkeit Entdeckung Herkunft des Elementnamens
symbol [g/ml] punkt [°C] [Mio. S/m] [Jahr]
[°C]
Actinium* Ac* 10,07 1050 3200 k. D. v. 1899 Aktinoeis, gr. für strahlend
Aluminium Al 2,7 660 2467 36,6 1825 Alumen, lat. für Alaun
Antimon Sb 6,68 630 1750 2,3 Antike Anti + monos, gr. für nicht allein
Argon Ar 1,78 g/l −189 −186 Gas 1894 Argos, gr. für träge
Arsen As 5,72 81 613 2,7 ~1300 Arsenikon gr. für Auripigment
Astat* At* k. D. v. 302 337 k. D. v. 1940 Astat, gr. für unbeständig
Barium Ba 3,59 725 1140 1,6 1808 Barys, gr. für schwer
Beryllium Be 1,85 1278 2970 29 1797 Beryll, gr. für Mineral
Bismut Bi 9,75 271 1560 0,84 1546 Bismutum, lat. für Bismut
Blei Pb 11,35 327 1740 4,8 Antike Plumbum, lat. für Blei
Bor B 2,34 2300 2550 10−10 1808 Mineral Borax
Brom Br 3,12 −7 59 10−16 1826 Bromos, gr. für Gestank
Cadmium Cd 8,65 321 765 13 1817 Vokadmeia, gr. für Cd-Mineral
Caesium Cs 1,87 29 678 4,7 1860 Caesius, lat. für himmelblau
Calcium Ca 1,55 839 1484 26 1808 Calx, lat. für Kalkstein
Cer Ce 6,77 795 3257 1,3 1803 Planetoid Ceres
Chlor Cl 3,21 g/l −101 −35 Gas 1774 Chloros, gr. für gelbgrün
Chrom Cr 7,19 1857 2672 7,4 1797 Chroma, gr. für Farbe
Cobalt Co 8,9 1495 2870 15 1735 Kobold, Berggeist
Dysprosium Dy 8,55 1412 2562 1,1 1886 Dispros, gr. für schwierig
Eisen Fe 7,87 1535 2750 9,6 Antike Ferrum, lat. für Eisen
Erbium Er 9,07 1522 2510 1,1 1842 Ort Ytterby
Europium Eu 5,24 822 1597 1,1 1901 Europa
Fluor F 1,7 g/l −220 −188 Gas 1886 Fluor, lat. für Fluss
Francium* Fr* 1,87 27 677 k. D. v. 1939 France, franz. für Frankreich
Gadolinium Gd 7,9 1311 3233 0,7 1880 Lanthanoidenforscher Gadolin
Gallium Ga 5,91 30 2403 6,9 1875 Frankreich
Germanium Ge 5,32 937 2830 0,001 1886 Deutschland
Gold Au 19,32 1064 2807 45 Antike Aurum, lat. für Gold
Hafnium Hf 13,31 2150 5400 3,1 1923 Hafniae, lat. für Kopenhagen
Helium He 0,18 g/l −272 −269 Gas 1895 Helios, gr. für Sonne
Holmium Ho 8,8 1470 2720 1,2 1867 Stockholm
Indium In 7,31 157 2000 11,1 1863 Indigoblaue Flammenfärbung
Iod I 4,93 114 184 10−13 1811 Ioeides, gr. für veilchenfarbig
Iridium Ir 22,4 2410 4527 19 1803 Iridios, gr. für regenbogenfarbig
Kalium K 0,86 64 774 14 1807 Al kalja, arab. für Asche
Kohlenstoff C 2,26 3500 4827 0,07 Antike Carboneum, lat. für Holzkohle
Krypton Kr 3,75 g/l −157 −153 Gas 1898 Kryptos, gr. für verborgen
Kupfer Cu 8,96 1083 2567 57,9 Antike Cyprium, lat. für Zypern
Lanthan La 6,15 920 3469 1,8 1839 Lanthanein, gr. für verborgen
Lithium Li 0,53 180 1347 10,5 1817 Lithos, gr. für Stein
Lutetium Lu 9,84 1656 3315 1,7 1907 Lutetia, lat. für Paris
8 Kapitel 1 · Elemente – sämtliche Materie besteht aus 92 verschiedenen Elementen
1 . Tab. 1.1 Fortsetzung
Elementbezeichnung Element Dichte Schmelz Siedepunkt Leitfähigkeit Entdeckung Herkunft des Elementnamens
symbol [g/ml] punkt [°C] [Mio. S/m] [Jahr]
[°C]
. Tab. 1.1 Fortsetzung
Elementbezeichnung Element Dichte Schmelz Siedepunkt Leitfähigkeit Entdeckung Herkunft des Elementnamens
symbol [g/ml] punkt [°C] [Mio. S/m] [Jahr]
[°C]
Wasserstoff H 0,09 g/l −259 −253 Gas 1776 Hydrogenium, lat. für Wassererzeuger
Wolfram W 19,35 3410 5660 19 1783 Lupi spume, lat. für Wolfschaum
Xenon Xe 5,9 g/l −112 −108 Gas 1898 Xenos, gr. für fremd
Ytterbium Yb 6,9 824 1466 3,6 1878 Ort Ytterby
Yttrium Y 4,47 1523 3337 1,1 1794 Ort Ytterby
Zink Zn 7,13 420 907 16 Antike Zinken
Zinn Sn 7,31 232 2270 8,5 Antike Stannum, lat. für Zinn
Zirconium Zr 6,51 1852 4377 2,2 1789 Mineral Zirkon
(7 Abschn. 2.5.3) oder Atomkerne ist es jedoch den Physikern werden. Anhand des radioaktiven Zerfalls, wobei bohriumspezi-
gelungen, noch schwerere Elemente als Uran (Z > 92), sogenannte fische Gammastrahlung freigesetzt wird, können die neu erzeug-
Transurane, herzustellen. Dabei verschmelzen die Projektilneu- ten Elementatome nachgewiesen werden. Mit der Methode der
tronen mit dem Ziel-Atomkern. Mithilfe solcher Neutronen- kalten Fusion konnten in Darmstadt die Elemente 108 bis 112
einfangreaktionen gelang es der Forschungsgruppe Seaborg an generiert werden. Der Energieinhalt des fusionierten Curium-
der University of California in Berkeley bis 1950 die Transurane Zielkerns ist bei der sanften Fusion um den Faktor 5 geringer als
Neptunium (Z = 93), Plutonium (Z = 94), Americium (Z = 95), bei der heißen Fusion. Trotzdem ergeben 1000 Kollisionen nur
Curium (Z = 96), Berkelium (Z = 97) und Californium (Z = 98) ein „stabiles“ Bohriumatom (. Abb. 1.5).
herzustellen. Die Elemente Einsteinium (Z = 99) und Fermium Mittlerweile wurden in Dubna und Berkeley auch die super-
(Z = 100) konnten im radioaktiven Fallout (engl. für radioaktiven schweren Elemente (Z = 114, 116, 118) hergestellt. Inzwischen
Niederschlag) von atmosphärischen Wasserstoffbombendetona- wurden diese Ergebnisse von einem weiteren unabhängigen Labor
tionen nachgewiesen werden. Mit der Neutroneneinfangmethode bestätigt. Ende 2016 erhielten diese Elemente Namen (. Tab. 1.2).
können lediglich Elemente bis zu einer maximalen Protonenzahl Chemisch gesehen sind die Elemente ab Z > 100 bedeutungslos
von 100 hergestellt werden. da sie zu kurzlebig sind. Gestützt auf theoretischen Berechnun-
Noch schwerere Elemente entstehen beim Beschuss von gen prognostizieren Kernphysiker für eine bestimmte Anzahl von
schweren Ziel-Atomkernen wie Curium (Z = 96) mit leichten Pro- Protonen (Z) und Neutronen (N) im Kern sogenannte „Inseln
jektil-Kernen, wie z. B. Magnesium (Z = 12). Allerdings müssen die der Stabilität“. Solche Stabilitätsinseln werden für die „magische“
Magnesium-Projektilatome hohe Energie – gleichbedeutend mit Neutronenzahl N = 184 in Kombination mit den „magischen“
hoher Geschwindigkeit – aufweisen, damit die elektrischen Absto- Protonenzahlen Z = 114, 120, 126 erwartet. Bis heute ist es nicht
ßungskräfte des Ziel-Atomkerns überwunden werden können. Es gelungen, solche doppelt magischen Atomkerne zu fusionieren.
entstehen äußerst energiereiche, heiße Hassium-Verbundkerne Sollten diese Kerne tatsächlich über sehr hohe Halbwertszeiten
(Z = 108), die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sofort wieder verfügen, könnte es schwierig werden, diese überhaupt zu detek-
zerfallen (Spontanzerfall). Nur wenige fusionierte Kerne stabili- tieren, da sie ja nicht zerfallen und somit keine „verräterische“
sieren sich zu einem „langlebigen“ superschweren Hassiumkern. Gammastrahlung emittieren.
„Heiße Fusionsreaktionen“ werden insbesondere in den USA am
Lawrence Livermore National Laboratory und in Dubna, Russland
am Vereinigten Institut für Kernforschung durchgeführt.
Am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in
Darmstadt wird der Weg der „sanften Fusion“ beschritten. Es
werden mittelschwere Zielatome, z. B. Bismut (Z = 83), mit mit-
telschweren Projektilatomen wie Chrom (Z = 24) beschossen
(. Abb. 1.5). Die Chromprojektile werden in einem Linearbe-
schleuniger auf moderate Energie beschleunigt. Anschließend
lenkt man den fokussierten Projektilstrahl auf eine ca. 1 µm dicke
Bismutfolie von 30 cm Durchmesser. Da letztendlich nur sehr
wenige Kollisionen zur Verschmelzung führen, dauert es Wochen . Abb. 1.5 Sanfte Fusion von Chrom und Bismut zu Bohrium – von 1000
und Monate, bis einige wenige Bohriumkerne (Z = 107) detektiert Verbundkernen zerfallen 999
10 Kapitel 1 · Elemente – sämtliche Materie besteht aus 92 verschiedenen Elementen
Protonen zahl [Z] Elementbezeichnung Elementsymbol Halbwertszeit des Erstentdeckungsjahr Herkunft des
stabilsten Isotops Entdeckungsort Elementnamens
Übung 9
Erklären Sie, wie künstliche Elemente im Labor hergestellt
werden. Welche grundsätzlichen Schwierigkeiten treten
dabei auf?
Übung 10
Kernphysiker behaupten, dass es sogenannte
Stabilitätsinseln gibt. Was versteht man darunter und
warum spricht man von Inseln? Nehmen wir an, es gelänge
tatsächlich, ein künstliches Element aus der Stabilitätsinsel
zu fusionieren. Warum wäre es schwer, ein solches Ereignis
überhaupt zu erkennen und nachzuweisen?
13 2
2.10 Lernkontrolle – 30
2.3 · Rutherfordscher Streuversuch – Atome bestehen aus Kern und Elektronenhülle
15 2
2.1 Historische Atommodelle – John Dalton
als Vater der modernen Atomtheorie
a b
. Abb. 2.2 Rutherford-Streuversuch – Nachweis für massereiche Atomkerne. (a) Versuchsaufbau, (b) Streuung der α-Strahlen an Goldatomen (© magnetix/
Shutterstock)
α-Teilchen auf schwere, positive Kerne, werden sie aus ihrer Flug- 2.4 Bohrsches Atommodell – die
bahn abgelenkt (. Abb. 2.2b). Andererseits müssen diese Gold- Elektronenhülle besteht aus mehreren
kerne winzig sein und einen relativ großen Abstand voneinan- Schalen
der aufweisen, ansonsten würde nicht das überwiegende Gros der
α-Teilchen die Goldfolie geradlinig passieren. So anschaulich das Rutherfordsche Atommodell auch war, wies es
doch gravierende Mängel auf. Es liefert keine Erklärungen, warum
Elemente chemische Bindungen eingehen und warum Wasserstoff
Rutherford fasste die Ergebnisse wie folgt zusammen: im Grundzustand Licht definierter Wellenlänge absorbiert bzw.
55Ein Atom besteht aus einem positiven Kern und einer im angeregten Zustand ein Linienspektrum emittiert (. Abb. 2.4).
negativen Elektronenhülle. Darüber hinaus dürften Atome gemäß der Rutherfordschen Theorie
55Nahezu sämtliche Masse des Atoms befindet sich im überhaupt nicht beständig sein. James Clerk Maxwell (schottischer
Atomkern. Physiker, 1831–1879) hatte bereits in den 1860er Jahren in seinen
55Die Elektronen kreisen in einer Schale, die keine fundamentalen Studien zur Elektrodynamik gezeigt, dass elekt-
Unterstruktur aufweist, um den Atomkern. rische Ladungen, wie die um den Atomkern kreisenden Elektro-
55Der Atomkerndurchmesser ist winzig im Vergleich zum nen, kontinuierlich Energie verlieren und auf einer Spiralbahn in
mittleren Abstand der Atomkerne. den positiven Atomkern stürzen müssten. Welch ein Dilemma, real
existierende Wasserstoffatome von definierter Größe und hoher
Stabilität, die im krassen Widerspruch zur allseits anerkannten
Im Laufe der Zeit wurden die Messwerte des Streuversuchs immer Theorie der klassischen Elektrodynamik stehen.
präziser, sodass der absolute Durchmesser eines Goldatomkerns Niels Bohr (dänischer Physiker, 1885–1962, 7 Exkurs 2.1),
zu 10−14 m bestimmt wurde. Der Durchmesser der Elektronen- führender Kernphysiker Anfang des 20. Jahrhunderts, erkannte,
hülle ist etwa 10.000 mal größer und beträgt somit 10−10 m, äqui- dass die klassische Physik dieses Problem nicht lösen konnte. Als
valent mit einem zehntel Nanometer. Setzt man den Atomkern mit
einer Kirsche von ca. 1 cm Durchmesser gleich, dann würden die
Elektronen in einem Abstand von 50 m um die Kirsche kreisen
(. Abb. 2.3).
91.14 nm
l= mit n 2 > n1
1 1
−
n12 n 22
λ: Wellenlänge Spektrallinie, nm
n: Schalenzahl
. Abb. 2.5 Bohrsches Atommodell des Wasserstoffs, bei Das Elektron kann nur Licht einer Wellenlänge absorbieren oder
Energieabsorption wird das Elektron (grün) mit Lichtenergie auf die Bahn emittieren, die exakt der Energiedifferenz zweier erlaubter Ener-
n = 2 gehievt. Diese Energie wird beim Übergang des angeregten Elektrons giezustände, Elektronenschalen entspricht (. Abb. 2.5 und 2.6).
(n = 2) in den Grundzustand (n = 1) als Lichtquant (rote Wellenlinie) emittiert
Damit führte Bohr als erster den Quantengedanken in ein Atom-
modell ein.
ihm 1913 ein Studienfreund mitteilte, dass energetisch angeregte Bohr stellte zwei revolutionäre Postulate auf:
Wasserstoffatome diskrete Spektrallinien emittieren (. Abb. 2.4, 441. Postulat: Stabilitätsbedingung,
unten) und ein Schweizer Gymnasiallehrer namens Johann Jakob Elektronen können nur auf „erlaubten“ Kreisbahnen mit
Balmer einen einfachen mathematischen Zusammenhang für die definierten Radien um den Atomkern kreisen. Für diese
Wellenlänge der Spektrallinien gefunden hatte, kam Bohr die zün- stabilen Bahnen gelten die Gesetze der Elektrodynamik
dende Idee. Die Elektronen kreisen nicht auf einer einzelnen Bahn nicht, also das Elektron verliert keine Energie. Da die
um den Atomkern, wie Rutherford angenommen hatte, sondern Zentrifugalkraft des Elektrons und die elektrostatische
bewegen sich auf „erlaubten“ Bahnen mit unterschiedlichen Anziehung von Kern und Elektron sich die Waage halten, ist
Radien. Wird ein Atom energetisch angeregt, dann springt das die Kreisbahn des Elektrons stabil
Elektron in eine höhere, äußere Bahn mit größerem Energiein- 442. Postulat: Frequenzbedingung,
halt. Fällt das Elektron von einer höheren Bahn in eine niedrigere Das Elektron kann ausschließlich zwischen
Bahn, dann wird Energie in Form eines Lichtquants definierter erlaubten Bahnen wechseln. Zustände bzw. Übergänge
Wellenlänge freigesetzt (. Abb. 2.5). Die Elektronenhülle eines zwischen den Bahnen sind verboten. Für einen
Atoms untergliedert sich somit in einzelne Bahnen (Schalen) mit Quantensprung eines Elektrons z. B. von der 1. Schale
diskreten Radien. Eine Analogie zum Sonnensystem mit den krei- (Energieniveau E1) in die 2. Schale (Energieniveau E2)
senden Planeten ist unverkennbar. muss die Energiedifferenz ΔE = E2 − E1 aufgebracht
Balmer gelang es, für die Wellenlänge der Spektrallinien werden. Fällt das so angeregte Elektron wieder auf die 1.
im Emissions- und Absorptionsspektrum von Wasserstoff Schale zurück, wird der Energiebetrag ΔE in Form elektro-
(. Abb. 2.4) folgenden einfachen mathematischen Zusammen- magnetischer Strahlung (Lichtquant, Photon) wieder
hang herzustellen: emittiert.
. Abb. 2.6 Elektronenübergangsserien angeregter Wasserstoffatome (© w:de:user:Kiko2000 – Termschema des Wasserstoffatoms, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Wasserstoff-Termschema.svg)
18 Kapitel 2 · Atome – massiver Kern umgeben von einer mehrschaligen Elektronenhülle
. Abbildung 2.6 zeigt anschaulich die Spektrallinienserien, die spalten die Spektrallinien von Atomen in eine Feinstruktur auf.
angeregte Wasserstoffatome emittieren. Die einzelnen Serien sind Dieses Phänomen kann mit dem Bohrschen Modell ebenfalls
nach ihren Entdeckern benannt worden. Nur die Balmer-Serie nicht verstanden werden. Es blieb der Orbitaltheorie vorbehalten,
2 (n>2 → n 2 ) emittiert Licht im optischen Bereich (7 Abschn. A.1). die Unzulänglichkeiten des Bohrschen Atommodells zu heilen
Die Spektrallinien der Lyman-Serie (n>1 → n1 ) sind am energie- (7 Abschn. 2.6).
reichsten, aber als Ultraviolett-Strahlung (UV-Strahlung) für das
menschliche Auge nicht erkennbar. Bei den Spektrallinien der
Paschen-, Brackett- und Pfund-Serie handelt es sich um langwel- Atomvorstellung zu Zeiten Bohrs
lige Wärmestrahlung, sogenannte Infrarot-Strahlung (IR-Strah- 55Jedes Element ist eine eigene Atomsorte.
lung), die ebenfalls mit dem bloßen Auge nicht beobachtet werden 55Es gibt so viele unterschiedliche Atomsorten, wie es
kann. Elemente gibt.
Der große Erfolg des Bohrschen Atommodells bestand darin, 55Die einzelnen Atomsorten unterscheiden sich
dass mit wenigen einfachen Annahmen die Elektronenübergänge hinsichtlich Masse und Größe.
des Wasserstoffatoms (. Abb. 2.4) berechnet werden können 55Atome können nicht gespalten werden.
(7 Abschn. A.1). 5599,9 % der Masse befindet sich im Atomkern.
Das Bohrsche Atommodell inspirierte von Anfang an Physik- 55Der Atomkern besteht aus positiv geladenen
Koryphäen aus aller Welt zum Philosophieren über den inneren Protonen.
Zusammenhalt der Materie. Durch seine Anschaulichkeit wurde 55Negativ geladene Elektronen kreisen auf
es aber auch Bestandteil von Schullehrplänen und bestimmt noch erlaubten Bahnen mit unterschiedlichen,
heute die Vorstellung der breiten Bevölkerung über die Struktur aber streng definierten Radien um den
des Mikrokosmos. Atomkern.
Trotz der unbestrittenen Verdienste des Modells musste man 55Die Bewegung der Elektronen auf den erlaubten
früh erkennen, dass damit nicht nur Gesetzmäßigkeiten der Kreisbahnen erfolgt entgegen den Gesetzen der
klassischen Physik verletzt, sondern auch fundamentale Phäno- Elektrodynamik strahlungsfrei.
mene nicht erklärt werden können. So widersprechen die Postu- 55Quantensprünge von Elektronen sind nur zwischen den
late Bohrs der klassischen Elektrodynamik und konnten erst im Elektronenbahnen unter Energieaufnahme (Absorptions-
Nachhinein durch quantenmechanische Betrachtungen gerecht- spektrum) bzw. Energieabgabe (Emissionsspektrum)
fertigt werden. Zwar kann das Modell präzise Energie und Wel- möglich.
lenlängen der Spektrallinien eines Einelektronensystems wie 55Die Anzahl der Protonen und Elektronen in einem
Wasserstoff voraussagen; jedoch nicht deren Intensitäten. Spek- Atom ist gleich, da Atome nach außen elektrisch neutral
tren schwererer Atome (Mehrelektronensysteme) können damit sind.
nicht erklärt werden. Unter dem Einfluss von Magnetfeldern
Exkurs 2.1
. Abb. 2.7 Niels Bohr (mittlere Reihe, ganz rechts) 1927 auf der Solvay Conference „Elektron und Photon“ in Brüssel. Solvay-Konferenzen finden bis
heute im 3-Jahres-Rhythmus statt. Diese „Gipfelkonferenzen“ der weltweit führenden Physiker behandeln fundamentale Fragestellungen der Physik.
2014 tagte die letzte Tagung zum Thema „Astrophysik und Kosmologie“ (© Benjamin Couprie – Solvay Conference 1927, https://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Solvay_conference_1927.jpg)
2.5 Protonen, Neutronen, Elektronen – dann werden Elektronen quasi thermisch „ausgedampft“ und
elementare Bestandteile der Atome in Richtung der Anode (positiver Pol) abgesaugt und beschleu-
nigt (. Abb. 2.9).
Nach dem Bohrschen Modell und der Orbitaltheorie (7 Abschn. 2.6) Elektronen sind elektrisch negativ geladen und werden in der
bestehen Atome aus einer Elektronenhülle und einem Atomkern Literatur mit dem Symbol e bzw. e– abgekürzt. Elektronen sind
(. Abb. 2.8, . Tab. 2.1). Die Elektronenhülle strukturiert sich in Elementarteilchen und weisen keine Unterstruktur auf. Sie gelten
Schalen bzw. Orbitale, in denen sich Elektronen aufhalten. Der als absolut stabil.
Atomkern beherbergt Protonen und Neutronen, die unter dem Die negative Ladung eines Elektrons hat den Betrag der Ele-
Oberbegriff Nucleonen zusammengefasst werden. mentarladung e, der kleinstmöglichen elektrischen Ladung,
die in der Natur anzutreffen ist. Der Wert dieser Naturkons-
tante beträgt e = 1, 602 ⋅10−19A ⋅ s, die Ladung des Elektrons
2.5.1 Elektron −1, 602 ⋅10−19 A ⋅ s. Die elektrische Ladung des Elektrons wurde
1911 von Robert Millikan (amerikanischer Physiker, 1868–1953,
Das Elektron wurde erstmals 1897 von Thomson (Nobelpreis der dafür 1923 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde) expe-
1906) als Glühkathoden-Strahlung erkannt. Heizt man eine rimentell bestimmt. Durch Beschleunigung von Elektronen im
Kathode (negativer Pol) aus Wolframdraht durch Stromdurch- elektrischen Feld in Richtung positiver Anode und anschließender
fluss auf ca. 2000 °C auf und legt eine elektrische Spannung an, Ablenkung im Magnetfeld kann deren Masse bestimmt werden.
Die Ruhemasse des Elektrons ist sehr klein und beträgt lediglich
9,109 ⋅10−31 kg.
Elektronen weisen eine Drehbewegung um die eigne Achse,
einen Spin auf. Elektronen drehen sich im oder gegen den
Uhrzeigersinn.
Elektronen haben zweifelsohne Teilchencharakter (Masse,
Ladung, Größe). Andererseits hat Louis de Broglie (französischer
Physiker, 1892–1987, Nobelpreis 1929), als Erster auch die Wel-
lennatur von Elektronen erkannt. Erst dieser Welle-Teilchen-Du-
alismus ermöglicht die Erklärung aller empirischen Phänomene
von Elektronen.
Freie, also vom Atomkern losgelöste Elektronen können in
. Abb. 2.8 Atomaufbau und Elementarteilchen Lösemittel stabilisiert werden. Löst man beispielsweise das Metall
20 Kapitel 2 · Atome – massiver Kern umgeben von einer mehrschaligen Elektronenhülle
. Tab. 2.1 Die wesentlichen Eigenschaften der elementaren Bausteine von Atomen
. Abb. 2.9 Fluss „ausgeheizter“ Elektronen von der negativen Kathode in . Abb. 2.10 Der Kern des Kohlenstoffatoms 126C besteht aus 6 Protonen
und 6 Neutronen
Richtung positiver Anode
Natrium in Ammoniak auf, dann entsteht eine tiefblaue Lösung, Um die Protonenzahl eines Atomkerns zu verändern, müssen
hervorgerufen durch frei bewegliche Elektronen. Energiebeträge aufgebracht werden, die durch chemische Reak-
Elektronen sind für viele Eigenschaften der Materie verant- tionen nicht erreicht werden. Das ist der tiefere Grund, warum
wortlich. Sie absorbieren und emittieren elektromagnetische Alchemisten selbst mit noch so ausgeklügelten Versuchsdesigns
Strahlung (. Abb. 2.5). In Metallen sind sie frei beweglich und Quecksilber (Z = 80) nicht in Gold (Z = 79) umwandeln konnten.
wirken dadurch als Ladungsträger des elektrischen Stroms. Che- Freie Protonen entstehen, wenn Säuren in Wasser gelöst
mische Reaktionen erfolgen in der Elektronenhülle. werden. Je höher die freie Protonenkonzentration, desto stärker
die Säure.
2.5.2 Proton
2.5.3 Neutron
Protonen wurden zuerst von Rutherford als Bestandteil des Atom-
kerns erkannt. Das Proton ist elektrisch positiv geladen und wird Nomen est Omen! Neutronen sind elektrisch neutral, verfügen
in der Literatur mit dem Symbol p oder p+ abgekürzt. Das Proton also über keine elektrische Ladung. Werner Heisenberg, deutscher
ist stabil, zerfällt also nicht in kleinere Teilchen. Physiker (Nobelpreis 1932) sagte sie 1932 theoretisch vorher und
Die positive Ladung entspricht der Elementarladung e. Die noch im selben Jahr konnten sie durch den Rutherford-Schüler
Ladungsgröße beträgt somit e = +1,602 · 10 −19 A · s. Durch James Chadwick (Nobelpreis 1935) als Bestandteil des Atom-
Beschleunigung von Protonen im elektrischen Feld mit anschlie- kerns experimentell nachgewiesen werden. Neutronen werden
ßender Ablenkung im Magnetfeld kann deren Masse bestimmt mit dem Symbol n abgekürzt. Freie Neutronen sind instabil und
werden. Die Ruhemasse des Protons ist um den Faktor 1836 größer weisen eine Halbwertszeit von 882 s auf. Im Atomkern sind sie
als die des Elektrons und beträgt 1,673 · 10−27 kg. allerdings stabil.
Die Anzahl der Protonen im Atomkern (Z) ist für jedes Element Die Ruhemasse des Neutrons ist um den Faktor 1839 größer
verschieden (. Abb. 2.10). Alle Atomkerne des Elements Sauer- als die des Elektrons (me) und beträgt absolut 1,675 · 10−27 kg. Das
stoff (O) enthalten z. B. 8 Protonen. Somit ist die Protonenzahl für Neutron hat somit eine geringfügig höhere Masse als das Proton
Sauerstoff Z = 8. Wasserstoff als einfachstes Atom weist lediglich (1836 · me). Summa summarum beinhaltet der Atomkern (Pro-
ein Proton im Atomkern auf (Z = 1). tonen und Neutronen) mehr als 99,97 % der Masse eines Atoms.
2.6 · Orbitalmodell – Elektronen bewegen sich in Aufenthaltsbereichen
21 2
Neutronen spielen bei der Kernspaltung (Atomreaktor, Atom- 2.6 Orbitalmodell – Elektronen bewegen sich
bombe, 7 Abschn. 15.4) eine entscheidende Rolle. in Aufenthaltsbereichen
2.5.4 Atomkerne Das Bohrsche Atommodell verlangt ein Kreisen von Elektronen
um den Atomkern ohne Energieverlust, was mit den Gesetzen der
Eigentlich dürften Atomkerne gar nicht stabil sein, da sich die Maxwellschen Elektrodynamik nicht vereinbar ist. Außerdem ist
positiv geladenen Protonen gegenseitig abstoßen. Im Atomkern es nach der Heisenbergschen Unschärferelation nicht möglich,
herrscht aber noch eine weitere Kraft, die sogenannte starke Wech- Masse, Geschwindigkeit und Radius eines Elektrons punktgenau
selwirkung zwischen den Neutronen und Protonen. Diese starke anzugeben.
Kernkraft hat nur eine sehr geringe Reichweite und ist stärker als De Broglie (franz. Physiker, 1892–1987) war der Erste, der
die elektrostatische Abstoßung der Protonen untereinander. Pla- dem Elektron nicht nur Teilchen-, sondern auch Wellencharakter
kativ gesprochen sind die Neutronen eine Art Protonenkleister, zuschrieb. Die Wellenlänge des Elektrons (λe) ergibt sich nach de
der Atomkerne zusammenhält. Das ist der Grund, warum alle Broglie gemäß der Gleichung:
Elemente Neutronen im Kern aufweisen. Lediglich Wasserstoff
benötigt keinen „Neutronenkleister“, da es ja nur über ein einzi- h
le =
ges Proton im Kern verfügt. me ⋅ ve
Wichtige Zusammenhänge Die Wellenlänge der Materiewelle des Elektrons entspricht genau
55 Masse von 126C = 1, 993 ⋅10−26 kg = 12 u → dem Elektronenbahnumfang (Ue) der 1. Bahn (n =1) des Was-
1 u = 1, 661⋅10−27 kg serstoffatoms. Der Wert des Elektronenbahnradius (re) kann der
55Die Summe von Neutronen (N) und Protonen (Z) Literatur oder dem 7 Abschn. A.1 entnommen werden.
ergibt die Massenzahl (A), Nukleonenzahl eines
Atoms: A = Z + N → N = A − Z U e = 2 ⋅ p ⋅ re = 2 ⋅ p ⋅ 0, 0529 nm = 0, 33 nm
–– Z: Anzahl Protonen im Kern, Protonenzahl,
Kernladungszahl, Ordnungszahl des Elements Da die Wellenlänge des Elektrons und der Elektronenbahnum-
–– N: Anzahl Neutronen im Kern, Neutronenzahl, fang für n = 1 identisch sind, hat die Welle nach einem Umlauf des
–– A: Anzahl Nucleonen im Kern, Massenzahl, Elektronenbahnumfangs genau einen Zyklus beendet. Dadurch
Nucleonenzahl. entsteht eine stehende Welle, sodass weder Energie noch Masse
55Atome sind elektrisch neutral, d. h., die Anzahl an bewegt werden. Das Elektron verliert in diesem Zustand keine
Protonen im Kern (Z) entspricht der Anzahl an Elektronen Energie. Berechnungen z. B. für den angeregten Zustand mit der
in der Elektronenhülle. Quantenzahl n = 3 ergeben, dass der Umfang der 3. Elektronen-
55Ein Nuclid, d. h. eine bestimmte „Sorte“ eines Atomkerns, bahn (re,3) dreimal so lang ist wie die Wellenlänge des Elektrons
wird durch das Symbol AZE spezifiziert. der 3. Bahn (. Abb. 2.11). Auch für n = 3 bildet sich somit eine
35Cl , dieses Chloratom (Cl), hat:
Beispiel: 17 stehende Welle aus.
–– 17 Protonen im Kern, da Z = 17, Werner Heisenberg (deutscher Physiker, 1901–1976, Nobel-
–– 35 Nucleonen im Kern, da A = 35, preis 1932) folgerte aus dem Materiewellencharakter des Elekt-
–– 18 Neutronen im Kern, da N = 35 − 17 = 18, rons, dass Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons gleichzeitig
–– 17 Elektronen in der Elektronenschale, da das nicht exakt bestimmt werden können. Er stellte einen mathema-
Chloratom elektrisch neutral ist und somit die Anzahl tischen Zusammenhang zwischen der Unschärfe des Elektronen-
der negativ geladenen Elektronen der Anzahl an ortes (Dxe ), der Unschärfe der Elektronengeschwindigkeit (Dve )
positiv geladenen Protonen (Z=17) entsprechen muss. und dem Planckschen Wirkungsquantum (h) auf, was als Heisen-
bergsche Unschärferelation in die Literatur einging.
22 Kapitel 2 · Atome – massiver Kern umgeben von einer mehrschaligen Elektronenhülle
6, 626 ⋅10−34 J ⋅ s
∆xe =
m
4 ⋅ p ⋅ 9,109 ⋅10−31 kg ⋅ 0, 01⋅ 2,187 ⋅106
s
2 = 2, 66 ⋅10−9 m = 2, 66 nm
. Abb. 2.12 Dreidimensionale Gestalt der s-, p-, d-, f-Unterschalen. Elektronen halten sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % in diesen Orbitalen auf
(© general-fmv/Fotolia)
2.6 · Orbitalmodell – Elektronen bewegen sich in Aufenthaltsbereichen
23 2
. Tab. 2.3 Orbitale und deren Spezifikation durch die drei Quantenzahlen n, l, m
1 0 1s 0 1 1 2
2 0 2s 0 1 4 8
1 2p −1,0,+1 3
3 0 3s 0 1 9 18
1 3p −1,0,+1 3
2 3d −2,−1,0,+1,+2 5
4 0 4s 0 1 16 32
1 4p −1,0,+1 3
2 4d −2,−1,0,+1,+2 5
3 4f −3,−2,−1,0,+1,+2,+3 7
werden als Orbitale bezeichnet. Kam Bohr mit einer einzigen ganzzahlige Werte von 0 bis n − 1 annehmen. Geläufiger ist jedoch
Quantenzahl n für die Elektronenbahnen aus, fordert das Schrö- die Bezeichnung s-Orbital (s = sharp , für l = 0 ), p-Orbital
dinger-Modell drei Quantenzahlen (Hauptquantenzahl n, Neben- (p = principal , für l =1), d-Orbital (d = diffuse, für l = 2), f-Or-
quantenzahl l, magnetische Quantenzahl m), um die einzelnen bital ( f = fundamental, für l = 3). Die Bezeichnungen s, p, d, f
Orbitale beschreiben zu können (. Tab. 2.2 und 2.3). gehen auf Eigenschaften von Spektrallinien in Emissionsspektren
zurück. Eine Schale mit der Hauptquantenzahl n verfügt über n
Unterschalen: 0, 1, 2, … n − 1.
2.6.1 Hauptquantenzahl n
2.6.2.2 l = 1, p-Orbitale
2.6.2 Nebenquantenzahl l p-Orbitale haben eine hantelförmige Form. Sie weisen einen Knoten
im Atomkern auf, d. h., dort ist die Elektronendichte null. Jede
Die Nebenquantenzahl l definiert die geometrische Form Schale mit n ³ 2 verfügt über drei p-Orbitale. Mit zunehmender
( . Abb. 2.12 ) der Orbitale. Die Nebenquantenzahl l kann Hauptquantenzahl n nimmt die Größe der p-Orbitale zu. Die drei
24 Kapitel 2 · Atome – massiver Kern umgeben von einer mehrschaligen Elektronenhülle
2 2.6.2.3 l = 2, d-Orbitale
Es gibt in jeder Schale mit n ³ 3 fünf d-Orbitale, die zusammen
mit maximal 10 Elektronen besetzt werden können. Die geomet-
rische Struktur der Orbitale (Kleeblattstruktur) ist komplexer als
die der p-Orbitale.
2.6.2.4 l = 3, f-Orbitale
In den 7 f-Orbitalen jeder Schale mit n ³ 4 können maximal 14
Elektronen Platz finden.
2.6.4 Spinquantenzahl s Mit der Schrödinger-Gleichung lassen sich quantitativ nur die
Orbitale des Wasserstoffatoms berechnen. Die Lösungen ergeben,
Ein Orbital kann höchstens zwei Elektronen aufnehmen. Aller- dass der Energieinhalt der Wasserstofforbitale einzig und allein
dings müssen diese sich im Spin unterscheiden. von der Hauptquantenzahl n abhängt. Das bedeutet z. B., dass das
Es blieb den Physikern Stern und Gerlach vorbehalten, die s-Orbital und die drei p-Orbitale der 2. Elektronenschale (n = 2 )
Quantelung des Elektronenspins 1921 experimentell nachzu- auf dem gleichen Energieniveau angesiedelt sind.
weisen. Ein Strahl von Wasserstoffatomen (tatsächlich verwen- Qualitativ lassen sich die Lösungen der Schrödinger-Glei-
deten Stern und Gerlach aus praktischen Gründen Silberatome) chung auch auf Mehrelektronensysteme, d. h. auf schwerere
wird durch ein stark inhomogenes Magnetfeld geleitet. Bei aus- Atome als Wasserstoff übertragen. Jedoch führt die elektronische
geschaltetem Magnetfeld wird nur eine Bande auf einem Detek- Abstoßung der Elektronen dazu, dass im Gegensatz zum Wasser-
tionsschirm beobachtet. Schaltet man das Magnetfeld ein, spaltet stoff die Unterschalen unterschiedliche Energieniveaus aufwei-
der Strahl in zwei Banden gleicher Intensität auf. sen (. Abb. 2.13).
Es muss eine Wechselwirkung zwischen dem Magnet- Generell gilt für eine Hauptschale n, dass die Energie der Unter-
feld und den Wasserstoffatomen geben. Was ist die Erklärung schalen mit zunehmender Nebenquantenzahl l zunimmt. d-Orbi-
dafür? Das einzige Elektron des Wasserstoffatoms dreht sich tale weisen einen größeren Energieinhalt auf als p-Orbitale, und
um seine eigene Achse und erzeugt dadurch ein magnetisches diese wiederum einen höheren als s-Orbitale (En,d > En, p > En,s ).
Feld, wodurch sich die einzelnen Wasserstoffatome wie schwa- Die Aufspaltung der Energieniveaus von Orbitalen unter-
che Magnete verhalten. Da im Stern-Gerlach-Versuch zwei schiedlicher Nebenquantenzahlen führt sogar dazu, dass das
Banden gleicher Intensität beobachtet werden, muss es zwei 3d-Orbital ein höheres Energieniveau aufweist als das 4s-Orbi-
Spinzustände des Elektrons geben. Plakativ gesprochen weisen tal, obwohl dieses von Haus aus einer höheren Elektronenschale
50 % der Elektronen eine Rotation im Uhrzeigersinn (s = +½ ) (n = 4 ) angehört (E3,d > E4,s , . Abb. 2.13, . Abb. 3.6).
und die anderen 50 % gegen den Uhrzeigersinn (s = −½) auf.
Somit resultieren zwei Arten von Wasserstoffatomen, deren Mag-
netfelder zwar gleiche Stärke, aber entgegengesetzte Richtung auf- 2.7 Atome – Größe und Masse variieren
weisen. Aufgrund der entgegengesetzten Magnetfelder werden elementabhängig
die beiden Wasserstofftypen im magnetischen Feld aufgespalten.
Insgesamt beträgt für die Elektronenschale n die Gesamtzahl Obwohl in den vorherigen Abschnitten bereits Angaben zur Größe
an Orbitalen n2. Da in einem Orbital prinzipiell zwei Elektronen und Masse von Elementarteilchen und Atomen gemacht wurden,
platziert werden können, kann eine Hauptschale n maximal 2 × n 2 ist es nach all den theoretischen Betrachtungen und Modellen hilf-
Elektronen aufnehmen (letzte Spalte in . Tab. 2.3). reich, diese nochmals kompakt zusammenzufassen.
2.7 · Atome – Größe und Masse variieren elementabhängig
25 2
. Tab. 2.4 Absolute Größen und Massen von Elementarteilchen, Atomen und Molekülen
2.7.1 Größe Element Uran hat 238 Nucleonen im Kern und eine Absolutmasse
von 238 ⋅1, 67 ⋅10−27 kg ≈ 4 ⋅10−25 kg . Siehe auch 7 Exkurs 2.2.
Mit den Annahmen des Bohr-Modells haben wir für das Wasser- Atome gleicher aber auch unterschiedlicher Elemente können
stoffatom einen Radius von 52,9 pm (1 pm = 10−12m) errechnet sich durch chemische Bindung zu Molekülen, den kleinsten Ein-
(7 Abschn. A.1). Noch kleiner ist nur das Heliumatom ( 42He, Z = 2) heiten chemischer Verbindungen, verknüpfen (7 Kap. 4). Eines
mit einem Radius von lediglich 31 pm. Die zwei Protonen (Z = 2) der schwersten und größten Moleküle, das Chemiker je gezielt
im Kern des Heliumatoms haben eine stärkere Anziehungskraft synthetisiert haben, ist das sogenannte Polymer der 5. Generation
auf die Elektronen in der 1. Schale (n =1) als das alleinige Proton (PG5). Das Polymer besteht aus über 10.000 Monomereinheiten
im Kern des Wasserstoffatoms. Somit kreisen die Elektronen des (7 Abschn. 21.2), die durch Polymerisation zu dem Riesenmole-
Heliumatoms in geringerer Distanz um den Atomkern als im kül verknüpft wurden. Der Durchmesser des hochverzweigten
Wasserstoffatom. Moleküls beträgt 10 nm bei einer Masse äquivalent zu 200 Mio.
Nach dem Schrödinger-Modell lassen sich Elektronen nicht Wasserstoffatomen.
exakt lokalisieren, sondern müssen als „verschmierte“ Elektronen-
wolke verstanden werden. Die Orbitale (. Abb. 2.12) geben den
Aufenthalt von Elektronen nur mit 90 %iger Wahrscheinlichkeit 2.7.3 Form von Atomen
wieder. Folglich haben Atome keine klar abgegrenzte Form. Die
Größe von Atomen wird deshalb durch Abstandsmessung zweier Im freien Zustand weisen Atome kugelförmige Gestalt auf. Wirkt
gleicher miteinander verbundener Atome ermittelt. Die Hälfte des dagegen ein elektrisches Feld ein, kann es zu Abweichungen von
Abstands entspricht dann dem Atomradius. Eines der größten der Kugelgestalt kommen. So hat man festgestellt, dass das stark
Atome ist Cäsium mit einem Radius von 298 pm. unsymmetrische elektrische Feld der Eisenatome in Pyritkristallen
Da Licht ein Wellenlängenspektrum von 400–700 nm (. Abb. 2.14) zur ellipsoiden Verzerrung der Schwefelatome führt.
(. Abb. 2.4) aufweist, also um den Faktor 1000 größer ist als Atome,
können Atome nicht mit einem Lichtmikroskop beobachtet werden.
Um ein Gefühl für die Größe von Atomen zu bekommen, dient der
Vergleich mit dem menschlichen Haar. Es hat eine Dicke von ca.
0,1 mm, was dem Durchmesser von 1 Mio. Atomen entspricht.
2.7.2 Masse
Exkurs 2.2
Der König und der Schachspieler – Goldatome als Ausweg aus dem Dilemma
König Sheram wollte Dahor für die Erfindung Welch eine Blamage. Wie hätte sich König Anzahl = 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + 128 +
2 des Schachspiels fürstlich belohnen und Sheram aus dem Dilemma befreien können? Er 256 + … = 264 – 1 = 18.446.744.073.709.551.615
gestattete ihm einen Wunsch. Dahor äußerte hätte z. B. Dahor anbieten können, dass er statt Goldatome
ein scheinbar bescheidenes Ansinnen. Er Weizenkörner Goldatome auf das Schachbrett Welcher Masse würde diese immense Anzahl
wünschte sich auf dem ersten Feld des legt. Auf das erste Feld ein Goldatom, auf das an Goldatomen entsprechen? Gold hat 197
Schachbretts ein Weizenkorn, auf dem zweiten zweite Feld zwei Goldatome, auf das dritte Nucleonen (Neutronen und Protonen) im Kern
Feld zwei Körner, auf dem dritten Feld vier Feld vier Goldatome und bei jedem weiteren und somit eine absolute Masse von. 197·1,67
Körner, auf dem vierten Feld acht Körner, usw. Feld die jeweils doppelte Anzahl an Atomen · 10−27 kg ≈3,29 · 10−25 kg. Somit haben die
König Sheram lachte und glaubte, diesen im Vergleich zum vorherigen Feld. Gold ist ja Goldatome auf dem Schachbrett eine Masse
Wunsch leicht erfüllen zu können. Aber bereits schließlich wertvoller als Weizen, vielleicht von 18.446.744.073.709.551.615 · 3,29 · 10−25 kg
am nächsten Tag erklärte ihm sein Buchhalter, hätte sich Dahor darauf eingelassen. Aber wie = 0,000.006.07 kg ≡ 6,07 mg
dass es im ganzen indischen Reich nicht so viel viel Gold hätte Dahor dann wirklich erhalten? 6,07 mg Gold hätte König Sheram problemlos
Weizen gäbe, um den Wunsch Dahors erfüllen Wir müssen zuerst ausrechnen, wie viel aufbringen können, die Weizenmenge von ca.
zu können. Goldatome auf dem Schachbrett abzulegen sind: 900 Mrd. Tonnen dagegen nie.
2.8 Isotope – Atome eines Elements mit Die relative Atommasse von Chlor ist die Summe der verschie-
unterschiedlicher Neutronenzahl denen Isotopenmassen, unter Berücksichtigung ihrer relativen
Anteile. Somit ergibt sich für Chlor eine relative Atommasse von:
Wir haben in 7 Abschn. 2.5.5 die Schreibweise A Z E für einen defi-
nierten Atomkern, ein Nuclid kennengelernt. Dabei steht Z für 0, 7577 ⋅ 35 + 0, 2423 ⋅ 37 = 35, 485
die Anzahl der Protonen im Atomkern. Die Massenzahl (A) ent-
spricht der Summe an Neutronen (N) und Protonen (Z) im Kern was sehr nahe an die exakte relative Atommasse von 35,453 heran-
(A = Z + N ). reicht. Die Abweichung um 0,03 nach oben rührt von der Nicht-
A, Z und N sind ganze Zahlen, schließlich können ja nur ganze berücksichtigung des Massendefektes her, der entsteht, wenn sich
Protonen und Neutronen im Kern vorhanden sein. Nucleonen zu einem Atomkern verschmelzen (7 Abschn. 15.4).
Ein Blick ins Periodensystem der Elemente zeigt, dass Selbst vom leichtesten Element Wasserstoff gibt es drei natür-
im Unterschied zu Massenzahlen relative Atommassen lich vorkommende Isotope. Das häufigste Isotop hat ein Proton
(. Abschn. 5.1.3), also das Verhältnis der Masse eines Atoms zur (Z =1) aber kein Neutron (N = 0 ) im Kern, sodass die Massen-
atomaren Masseneinheit (u), nie ganzzahlig, sondern stets gebro- zahl (A) 1 beträgt. Es wird auch als Protium (griech.: das Erste)
chenzahlig sind. Beispielsweise hat Wasserstoff eine relative Atom- bezeichnet. Ungefähr jedes 10.000ste Wasserstoffatom – auch Deu-
masse von 1,008, Kohlenstoff von 12,011 und Stickstoff von 14,067. terium (griech.: das Zweite) genannt – hat zusätzlich ein Neutron
Dies hat zahlreiche Gründe. Ein Grund dafür ist, dass Neu- im Kern (N =1), sodass sich eine Massenzahl von 2 ergibt. Das
tronen (1,009 u) und Protonen (1,007 u) nicht gleich schwer dritte Isotop des Wasserstoffs, Tritium 13H, kommt in der Natur
(. Tab. 2.1) und zudem etwas schwerer sind als eine atomare Mas- nur in winzigsten Spuren vor. Tritium hat zwei Neutronen (N = 2)
seneinheit (u). Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund. Atome und ein Proton (Z =1) im Kern (. Abb. 2.15).
desselben Elements haben zwar stets die gleiche Protonenzahl (Z), Die einzelnen Isotope verhalten sich chemisch gesehen
können aber unterschiedliche Neutronenzahlen (N) und somit praktisch gleich, da sie ja die gleiche Ordnungszahl aufweisen,
auch unterschiedliche Massenzahlen (A) aufweisen. Die verschie- können sich aber in physikalischen Parametern wie Dichte, Sie-
denen Varianten von Atomen eines Elements mit unterschiedli- depunkt, Molekülspektren, etc. erheblich unterscheiden. Früher
cher Neutronenzahl nennt man Isotope (. Abb. 2.15). wurde davon ausgegangen, dass Isotopenverteilungen weltweit
Der Begriff Isotop (iso, griech. für gleich und topos, griech. identisch sind. Mittlerweile hat man durch moderne Analytik
für Stelle, Platz, Ort) wurde erstmalig von Frederick Soddy (eng-
lischer Chemiker, 1877–1956, Nobelpreis 1921) gebraucht und
besagt, dass Isotope eines Elements die gleiche Protonenzahl (Z)
aufweisen und deshalb am gleichen Platz im Periodensystem zu
finden sind.
Betrachten wir das Element Chlor. In der Natur kommt Chlor
in zwei Isotopen vor:
Exkurs 2.3
2.9 Radioaktivität – Atomkerne zerfallen resultierenden Atomkerne meist selbst wieder radioaktiv sind,
spontan setzt sich der radioaktive Zerfall solange fort, bis sich ein stabi-
ler Atomkern gebildet hat. Dieses Phänomen bezeichnet man als
1896 machte der französische Physiker Antoine Henri Becquerel radioaktive Zerfallsreihe.
(1852–1908) eine merkwürdige Entdeckung. Uranerz schwärzte in Pierre Curie wies mit Ablenkungsversuchen im Magnetfeld
einer geschlossenen, dunklen Schublade darin ebenfalls gelagerte nach, dass radioaktive Strahlung aus mehreren Komponenten
Fotoplatten. Diese unsichtbare und energiereiche Strahlung war besteht, die später dann als α, β- und γ-Strahlung identifiziert
ein direkter Beleg für die Instabilität von Atomkernen. Marie Curie wurden (. Abb. 2.16). Der Energieinhalt der freigesetzten Strah-
(polnische Physikerin, 1867–1934, Nobelpreis 1903 und 1911) und lung ist um den Faktor 1000 größer als die bei einer chemischen
Pierre Curie (französischer Physiker, 1859–1906, Nobelpreis 1903) Reaktion freigesetzte Reaktionsenergie.
gelang es schließlich, aus dem Uranerz die stark radioaktiven Ele-
mente Polonium und Radium zu isolieren. Marie Curie prägte
auch den Begriff Radioaktivität (radiare, lat. für strahlen). 2.9.2 α-Strahlung
238U α −Zerfall . Tab. 2.5 Abnahme der Aktivität der radioaktiven Strahlung mit
→ 234 90 Th + 2α
4
92
der Zeit
2.9.3 β-Strahlung
zerfällt bzw. in der die Aktivität der Strahlung um die Hälfte
β-Strahlung besteht wie α-Strahlung aus Teilchen. Bei der abnimmt. Die Halbwertszeit ist elementspezifisch und kann von
Umwandlung eines Neutrons in ein Proton werden aus dem Kern – einigen Mikrosekunden bis zu 1014 Jahren betragen. Beispiels-
nicht aus der Elektronenhülle – Elektronen mit einer Geschwin- weise beträgt die Halbwertszeit für den Zerfall des in der Natur
digkeit von 90 % der Lichtgeschwindigkeit (ca. 270.000 km/s) her- vorkommenden C-14 Nuclids 5730 Jahre.
ausgeschleudert. In Luft verfügen diese Elektronen eine Reich- Die Einheit Becquerel (Bq) entspricht dem Zerfall eines Atom-
weite von einem Meter. β-Strahlung lässt sich mit einem 4 mm kerns pro Sekunde. D. h. eine Aktivität von 100 Bq besagt, dass
dicken Aluminiumblech abschirmen (. Abb. 2.18). pro Sekunde 100 Atomkerne zerfallen. Übrigens weist der Mensch
eine Eigenradioaktivität von ca. 9000 Bq auf.
β−Zerfall
14C
6 → 147 N + −01e Misst man die Aktivität (A) der radioaktiven Strahlung in
Abhängigkeit der Zeit A(t), und normiert die Strahlung zum Zeit-
β-Zerfall erfolgt, wenn Kerne wie C-14 über einen relativen Neu- punkt null (t = 0) auf 100 %, so ergibt sich die Abklingkurve in
tronenüberschuss verfügen. So weist das Isotop C-14 zwei Neut- . Tab. 2.5 und . Abb. 2.17.
ronen mehr auf als das in der Natur zu 99 % vorkommende stabile Das bedeutet, am Ende jeder Halbwertszeit beträgt die Aktivi-
Kohlenstoffnuclid C-12. Durch β-Zerfall stabilisiert sich das labile tät nur noch die Hälfte wie zu Beginn der Halbwertszeit.
C-14 zu stabilem N-14. Für den Kurvenverlauf der . Abb. 2.17 gilt (hier ohne Herlei-
tung) folgender mathematischer Zusammenhang:
2.9.4 γ-Strahlung t
1 t
A(t) = A0 ⋅ H
2
γ-Strahlung ist im Unterschied zu α- und β-Strahlung keine Kor-
puskularstrahlung, sondern eine energiereiche elektromagneti- Mit:
sche Strahlung von hoher Durchdringungskraft. Eine Abschir- A(t): Aktivität zum Zeitpunkt t, Bq
mung ist nur mit meterdicken Betonwänden oder dicken Blei- A0: Aktivität zum Zeitpunkt t = 0, Bq
platten möglich. γ-Strahlung ist meist eine Begleiterscheinung t: verstrichene Zeit, a
des α- und β-Zerfalls von Atomkernen und breitet sich mit Licht- tH: Halbwertszeit des Radionuclids, a
geschwindigkeit aus. Im Unterschied zur α- und β-Strahlung
wird γ-Strahlung nicht von magnetischen Feldern abgelenkt Diese Gleichung ermöglicht beispielsweise die Altersbestim-
(. Abb. 2.16). mung organischer Substanzen mit der Radiokarbonmethode
(7 Exkurs 2.4).
Übung 11
? Verständnisfragen Das Plutoniumisotop Pu-229 hat eine Halbwertszeit von
Übung 1 90 s. Mit welcher Wahrscheinlichkeit zerfällt ein Pu-229 Kern
Erklären Sie die Begriffe Element, Atom, Isotop, Nuclid. in 90 s? Falls der Kern in diesem Zeitraum nicht zerfällt, mit
welcher Wahrscheinlichkeit zerfällt er in den nächsten 90 s.
Übung 2 Was entsteht als erstes Zerfallsprodukt, wenn Pu-229 einen
Ein Mann wiegt 100 kg. Welchen Radius hätte eine Kugel, α-Zerfall erleidet?
wenn man alle in ihm enthaltenen Atomkerne dicht packen
könnte? Annahmen: Dichte Mensch ca. 1 kg/l, Atomkern-
durchmesser = 10−14 m, Atomdurchmesser = 10−10 m.
Übung 3
Beschreiben Sie das Bohrsche Atommodell.
Erläutern Sie die Bohrschen Postulate.
Übung 4
Vervollständigen Sie die Tabelle, benutzen Sie dazu ein
Periodensystem der Elemente.
Übung 5
In der Natur gibt es drei stabile Magnesiumisotope: Mg-24
mit 79 %, Mg-25 mit 10 % und Mg-26 mit 11 % Häufigkeit.
Berechnen Sie die relative Atommasse für Magnesium.
Übung 6
Es gibt zwei stabile Thalliumisotope, Tl-203 und Tl-205. Die
relative Atommasse von Thallium beträgt 204,4. Berechnen
Sie die Häufigkeiten der Isotope Tl-203 und Tl-205.
Übung 7
Was versteht man unter einem Orbital? Durch welche drei
Quantenzahlen ist ein Orbital definiert und was sagen die
einzelnen Quantenzahlen aus?
Übung 8
Was ist Radioaktivität?
31 3
3.5 Lernkontrolle – 40
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es zwar die Theorie von Atomen als
kleinste unteilbare Einheiten der Elemente, aber keine konkreten
3 Vorstellungen über die Struktur dieser Teilchen. Von den 92 natür-
lich vorkommenden Elementen kannte man lediglich 60; sämtli-
che Edelgase waren noch unentdeckt. Es war bereits damals klar,
dass die Atome unterschiedlicher Elemente verschiedene Massen
aufweisen. Erst die Festlegung der relativen Atommassen auf dem
Karlsruher Kongress 1860, dem ersten internationalen Sympo-
sium für moderne Chemie, brachte den Durchbruch in den Bemü-
hungen, Ordnung und Regelmäßigkeiten zwischen den Elemen-
ten herzustellen.
Dmitrij Mendelejew (1834–1907, . Abb. 3.1), führender rus-
sischer Chemiker seiner Zeit aus St. Petersburg, veröffentlichte
1869 als Erster eine Elemententafel (. Abb. 3.2), dessen Grund-
struktur sich noch im modernen Periodensystem der Elemente
(PSE) wiederfindet. Er teilte die damals bekannten 63 Elemente
nach aufsteigender Atommasse und gemäß ihren periodischen
chemischen Eigenschaften in acht vertikale Gruppen ein. Dabei
verglich er die Kristallform analoger Verbindungen und das che-
mische Reaktionsverhalten der Elemente mit Wasserstoff und . Abb. 3.1 Dmitrij Mendelejew, russischer Chemiker, fotografiert 1897 (©
Sauerstoff. Mendelejew war so von seinem System überzeugt, Serge Lachinov – Dimitrij Mendelejeev, https://commons.wikimedia.org/wiki/
dass er Lücken für die noch zu entdeckenden Elemente Ger- File:DIMendeleevCab.jpg)
manium, Gallium und Scandium offen ließ. Er prognostizierte
sogar die Eigenschaften der fehlenden Elemente mit überra- der Prognose von Mendelejew. Spätestens zu diesem Zeitpunkt
schender Genauigkeit. Beispielsweise sagte er für Germanium hatten es Mendelejew und sein Periodensystem der Elemente
– er nannte es Eka-Silicium – eine relative Atommasse von 72 zu internationalem Ruhm und Anerkennung geschafft. Men-
und eine Dichte von 5,5 g/cm³ voraus. Dem deutschen Chemi- delejews PSE wies aber noch Schwächen auf. So wurden bei-
ker Clemens Winkler war es 1884 vorbehalten, Germanium zu spielsweise in der 1. Gruppe Kupfer, Silber und Gold trotz stark
isolieren. Die experimentellen Kenndaten relative Atommasse unterschiedlicher Eigenschaften den Elementen Lithium und
72,3 und Dichte 5,3 g/cm³ waren nahezu deckungsgleich mit Natrium zugeordnet. Für die Edelgase, die man 1869 noch nicht
. Abb. 3.2 Periodensystem von Dmitrij Mendelejew 1871 (aus: Annalen der Chemie und Pharmacie, VIII. Supplementband 1871, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Periodensystem_Mendelejews.jpg)
3.2 · Ordnungszahl, Periodenzahl, Gruppenzahl – die Ordnungskriterien des PSE
33 3
kannte, gab es überhaupt keine sinnvolle Zuordnung. Außerdem über das Element bzw. alle Atome eines Elementes verfügen über
konnte die strenge Anordnung in Achterreihen mit der Entde- die gleiche Protonenzahl.
ckung neuer Elemente nicht aufrechterhalten werden.
Den Brückenschlag von Mendelejews PSE zum modernen
Periodensystem schaffte der geniale englische Physiker Henry 3.2.2 Periodenzahl
Moseley (1887–1915). Er konnte durch Röntgenspektroskopie
an den einzelnen Elementen zeigen, dass das oberste Ordnungs- Das Bohrsche Atommodell (7 Abschn. 2.4) fordert, dass sich Elek-
kriterium für die Elemente im PSE nicht wie Mendelejew annahm tronen auf unterschiedlichen diskreten Bahnen, den sog. Schalen,
die relative Atommasse, sondern die Anzahl der Protonen im Kern die durch die Hauptquantenzahl n spezifiziert werden, um den
(Z) ist. Deshalb wird die Protonenzahl (Z) auch als Ordnungszahl Atomkern bewegen.
bezeichnet. Moseleys Forschungsresultate deckten noch einige Die horizontale Anordnung von Elementen im PSE wird als
weiße Flecken im PSE (z. B. Z = 72, Hafnium) auf und zeigten, Periode bezeichnet. Die erste Periode enthält lediglich die zwei
dass die von Mendelejew benachbart eingereihten Atome Ni und Elemente Wasserstoff und Helium. Die zweite Periode besteht
Co ihre Plätze tauschen mussten. Die richtige Reihenfolge ist somit bereits aus acht Elementen (Lithium bis Neon) und die sechste
Co (Z = 27) vor Ni (Z = 28) . Periode aus 32 Elementen (Cäsium bis Radon). Warum die einzel-
nen Perioden unterschiedliche Anzahl von Elementen aufweisen,
werden wir im 7 Abschn. 3.3 verstehen.
3.2 Ordnungszahl, Periodenzahl, Die Periodenzahl des PSE entspricht der Hauptquantenzahl
Gruppenzahl – die Ordnungskriterien n des Bohrschen Atommodells. Die Periodenzahl gibt Auskunft
des PSE darüber, wie viele Schalen mit Elektronen besetzt sind, und welche
Schale die Außenelektronen (Valenzelektronen) trägt. Beispiels-
Um die Systematik des modernen Periodensystems (. Abb. 3.3) weise befindet sich Iod (Z = 53) in der 5. Periode, somit befinden
verstehen zu können, sind die drei Ordnungskriterien Ordnungs- sich auf fünf Hauptschalen Elektronen, mit den Valenzelektronen
zahl, Periodenzahl und Gruppenzahl wesentlich. auf der 5. Schale.
Wie leicht zu erkennen ist, sind im PSE (. Abb. 3.3) die einzel- Die vertikalen Anordnungen von Elementen im PSE werden als
nen Elemente nach aufsteigender Protonenzahl (Z, tiefgestell- Gruppen bezeichnet. Während Mendelejew nur acht Gruppen
ter Index links vom Elementsymbol) geordnet. Die Protonen- vorschlug, weist das moderne Periodensystem neben den acht
zahl Z wird deshalb auch Ordnungszahl genannt. Von Element Hauptgruppen (. Abb. 3.3 grau hinterlegt) noch 10 Nebengrup-
zu Element nimmt die Anzahl der Protonen im Kern jeweils um pen (. Abb. 3.3, braun hinterlegt) und die Lanthanoiden und Acti-
eine Einheit zu. Die Anzahl der Protonen im Kern entscheidet noiden (. Abb. 3.3, hellblau hinterlegt) auf.
+ +H
/L %H % & 1 2 ) 1H
1D 0J $O 6L 3 6 &O $U
5E 6U < =U 1E 0R 7F 5X 5K 3G $J &G ,Q 6Q 6E 7H , ;H
&V %D /D +I 7D : 5H 2V ,U 3W $X +J 7O 3E %L
3R
$W
5Q
)U
5D
$F
5I
'E
6J
%K
+V
0W
'V
5J
&Q
1K
)O
0F
/Y
7V
2J
/DQWKDQRLGH &H 3V 1G 3P
6P (X *G 7E '\ +R (U 7P <E /X
$FWLQRLGH 7K
3D
8
1S
3X
$P
&P
%N
&I
(V
)P
0G
1R
/U
Die letzte Ziffer der Hauptgruppenzahl ( . Abb. 3.3, grau 3.2.6 Metalle, Halbmetalle, Nichtmetalle
hinterlegte Elemente) gibt an, wie viele Elektronen sich auf der
äußersten Schale des Hauptgruppenelements befinden. Diese
Außenelektronen werden auch als Valenzelektronen bezeichnet. Von den 92 natürlichen Elementen sind 69 Metalle (. Abb. 3.4,
Beispielsweise befindet sich Calcium (Z = 20) in der 2. Haupt- hellblau hinterlegt), 9 Halbmetalle (gelb hinterlegt) und 16 Nicht-
gruppe und hat somit zwei Elektronen auf der äußersten Schale. metalle (grün hinterlegt). Metalle und Nichtmetalle unterschei-
3 Dagegen weist Chlor (Z =17, 17. Hauptgruppe) sieben Elektro- den sich in Merkmalen wie Glanz, Duktilität, Dichte etc., die aber
nen auf der äußersten Schale auf. alle nicht eindeutig sind. So schwimmen Alkalimetalle auf Wasser,
Die Anzahl der Valenzelektronen ist eine wichtige Informa- haben also eine Dichte kleiner als 1 g/cm³, und Iod, ein Nichtme-
tion für den Chemiker, da er damit Aussagen über das chemische tall, weist glänzende Oberflächen auf.
Bindungsverhalten von Elementen treffen kann (7 Kap. 4). Ele- Das beste Unterscheidungsmerkmal zwischen Metall und
mente der gleichen Gruppe weisen ähnliche chemische Eigen- Nichtmetall ist die elektrische Leitfähigkeit (. Tab. 1.1). Typische
schaften auf. Metalle wie Eisen (Fe) oder Aluminium (Al) haben eine elektri-
Einige Hauptgruppen haben geläufige Familienbezeichnungen: sche Leitfähigkeit in der Größenordnung von 10 Mio. Siemens
44Elemente der Hauptgruppe 1: Alkalimetalle, pro Meter, Nichtmetalle wie Schwefel (S) und Phosphor (P) von
44Elemente der Hauptgruppe 2: Erdalkalimetalle, weniger als 10−15 S/m. Die Leitfähigkeit der Übergangs- oder
44Elemente der Hauptgruppe 16: Chalkogene, Halbmetalle Germanium und Tellur liegt mit 0,001 mS/m im mitt-
44Elemente der Hauptgruppe 17: Halogene, leren Bereich. Halbmetalle können je nach Umgebungsbedingun-
44Elemente der Hauptgruppe 18: Edelgase. gen metallischen und nichtmetallischen Charakter aufweisen. Die
elektrische Leitfähigkeit von Halbmetallen nimmt im Unterschied
zu Metallen mit steigender Temperatur zu (7 Abschn. 4.4).
3.2.4 Nebengruppenzahl Der metallische Charakter nimmt in einer Gruppe von oben
nach unten und in einer Periode von rechts nach links zu. Dadurch
Die Nebengruppen haben auf der äußersten Schale zwei Elektro- befinden sich die Metalle (hellblau hinterlegt) in . Abb. 3.4 links von
nen. Im Unterschied zu den Hauptgruppenelementen füllen sie der Diagonale der „gelben“ Halbmetalle und die grün hinterlegten
von Element zu Element nicht die äußerste, sondern die zweit- Nichtmetalle rechts davon.
äußerste Schale mit Elektronen auf. Die Nebengruppenzahl gibt
an, wie viele Elektronen sich auf den beiden äußersten Schalen
befinden. 3.3 Elektronenhülle – Orbitale werden
sukzessive mit Elektronen aufgefüllt?
3.2.5 Lanthanoide, Actinoide Die Reihenfolge der Elemente im Periodensystems folgt dem
Aufbau der Elektronenhülle. Die Verteilung der Elektronen in
Diese Elemente weisen ebenfalls zwei Elektronen auf der äußersten den Orbitalen wird als Elektronenkonfiguration bezeichnet. Die
Schale auf. Sie füllen die drittäußerste Schale mit Elektronen auf. Elektronenkonfiguration entscheidet letztendlich über das che-
Pro Periode gibt es 14 Lanthanoiden- resp. Actinoidenelemente. mische Reaktionsverhalten der einzelnen Elemente. Ordnet man
+ +H
/L %H % & 1 2 ) 1H
1D 0J $O 6L 3 6 &O $U
5E 6U < =U 1E 0R 7F 5X 5K 3G $J &G ,Q 6Q 6E 7H , ;H
&V %D /D +I 7D : 5H 2V ,U 3W $X +J 7O 3E %L
3R
$W
5Q
)U
5D
$F
5I
'E
6J
%K
+V
0W
'V
5J
&Q
1K
)O
0F
/Y
7V
2J
/DQWKDQRLGH &H 3V 1G 3P
6P (X *G 7E '\ +R (U 7P <E /X
$FWLQRLGH 7K
3D
8
1S
3X
$P
&P
%N
&I
(V
)P
0G
1R
/U
. Abb. 3.4 Metalle (blau), Halbmetalle (gelb) und Nichtmetalle (grün) im PSE
3.3 · Elektronenhülle – Orbitale werden sukzessive mit Elektronen aufgefüllt?
35 3
Regel 1
In der Elektronenhülle müssen Z Elektronen untergebracht
werden.
Im Kern eines Elements befinden sich Z Protonen, also Z posi- . Abb. 3.6 Madelung-Schema zur Bestimmung der Orbitalenergieniveaus
tive Elementarladungen. Ein Elektron trägt genau eine negative
Elementarladung. Da Atome nach außen elektrisch neutral sind,
müssen sich in der Elektronenhülle Z Elektronen befinden, um
die Z Protonen des Kerns zu neutralisieren. 1s, 2s, 2p, 3s, 3p, 4s, 3d, 4p, 5s, 4d, 5p, 6s, 4f , 5d, 6p, 7s, 5f , 6d, 7p.
Regel 2
Regel 3
Die einzelnen Orbitale werden in der Reihenfolge ihrer
Energieniveaus mit Elektronen besetzt. Ein Orbital kann maximal zwei Elektronen aufnehmen
(Pauli-Prinzip).
Wie wir aus 7 Abschn. 2.6 wissen, gliedert sich die Elektronen-
hülle nicht nur in Orbitale unterschiedlicher Hauptquantenzahl Dieser grundlegende Zusammenhang wurde von dem deutschen
(n), sondern die Hauptschalen noch zusätzlich in Unterschalen Physiker Wolfgang Pauli (1900–1958, Nobelpreis 1945) erkannt.
(s-, p-, d-, f-Orbitale), spezifiziert durch die Nebenquantenzahl l. In der Literatur ist dieser Zusammenhang als Pauli-Prinzip resp.
Zur Festlegung der energetischen Reihenfolge der Orbitale eignet Pauli-Verbot eingegangen. Gemäß Pauli unterscheiden sich Elek-
sich das Madelung-Schema (. Abb. 3.6). tronen mindestens in einer Quantenzahl. Elektronen im gleichen
Durch Folgen des roten Pfeilverlaufs können die Orbitale mit Orbital (Kästchen in . Abb. 3.7) müssen deshalb unterschiedli-
aufsteigendem Energieniveau direkt abgelesen werden. Somit chen Spin aufweisen. In der Kästchenschreibweise wird dies mit
sind die Orbitale in folgender Reihenfolge mit Elektronen zu Pfeil nach oben (Spinquantenzahl s = +½) und Pfeil nach unten
besetzen: (s = −½) , symbolisiert.
36 Kapitel 3 · Das Periodensystem – Anordnung der Elemente nach drei Ordnungskriterien
Laut Schrödinger ist die Bestimmung der Atomgröße problema- vorgeschaltet. Aufgrund der zunehmenden Protonenzahl ver-
tisch, da sich Elektronen in Orbitalen ohne scharfe Abgrenzung kleinert sich von Lanthanoid zu Lanthanoid stets ein wenig der
aufhalten. Deshalb wird meist der sogenannte kovalente Radius Atomradius des einzelnen Lanthanoids, sodass sich letztendlich
eines Atoms durch Abstandsmessung zweier Atome desselben Ele- nicht nur die Radien, sondern auch das chemische Verhalten von
ments mittels Röntgenbeugung bestimmt. Atomradien werden Hafnium und Zirkonium ähneln. Dieses Phänomen ist als Lantha-
typischerweise in Picometer (1 pm = 10−12 m , . Tab. 3.2) angege- noidenkontraktion in die Literatur eingegangen (7 Abschn. 15.3).
ben. Mittlerweile liegen für alle Elemente entsprechende kovalente Die Lanthanoidenkontraktion erklärt auch, warum sich die Ele-
Atomradien vor, sodass Trendverläufe in Gruppen und Perioden mente ab der 4. Nebengruppe zwischen 5. und 6. Periode wesent-
erkennbar sind (. Abb. 3.9c, d). lich ähnlicher sind als die Elemente zwischen 5. und 4. Periode.
Aus den Kurvenverläufen in . Abb. 3.9c ist eindeutig erkenn- Deshalb sind die rote (5. Periode) und hellblaue (6. Periode) Kurve
bar, dass der Atomradius und somit die Atomgröße mit zuneh- für den Atomradius ab Zr, Hf fast deckungsgleich, während der
mender Periodenzahl, das heißt in einer Gruppe von oben nach Abstand zum gelben (4. Periode) Kurvenverlauf erheblich ist
unten zunimmt. Das liegt daran, dass Elektronen mit zunehmen- (. Abb. 3.9c).
der Periode Hauptschalen besetzen, die weiter entfernt sind vom
Atomkern. Die 4s-Elektronendichte des Kaliums ist maximal bei
einem Radius von 203 pm, während die 3s-Elektronendichte des 3.4.2 Ionisierungsenergie
Natriums bei 166 pm das Maximum hat.
Innerhalb einer Periode nimmt der Atomradius von links nach Die 1. Ionisierungsenergie ist die Energie, die mindestens auf-
rechts ab. Der Hauptgrund hierfür ist die Zunahme der positi- gebracht werden muss, um einem Atom ein Elektron aus dem
ven Protonen im Kern, wodurch eine verstärkte Anziehung der äußersten Orbital zu entreißen. Dabei geht beispielsweise ein
Valenzelektronenschale erfolgt. Dieser Effekt führt auch zu dem Natriumatom in ein einfach positiv geladenes Ion, ein sogenann-
Phänomen, dass Hafnium (6. Periode, 4. Nebengruppe) und Zir- tes Natriumkation über. Ionen sind elektrisch geladene Atome
konium (5. Periode, 4. Nebengruppe) quasi den gleichen Atom- (7 Abschn. 4.2).
radius aufweisen, obwohl Hafnium eine Hauptschale mehr mit
Elektronen belegt als Zirkonium. Wie das? Im Unterschied zu 1. Ionisierungsenergie
Zirkonium sind dem Hafnium noch 14 Lanthanoiden-Metalle Na → Na + + e−
3.4 · Periodische Verläufe im PSE – Atomradius, Ionisierungsenergie, Elektronegativität
39 3
. Abb. 3.9 Periodischer Verlauf der 1. Ionisierungsenergie (a), der Elektronegativität (b) und der Atomradien (c, d) von Hauptgruppenelementen
Während Atomradien nur schwer zu bestimmen sind, lassen (n) ist das Valenzelektron (Außenelektron) weiter vom Kern
sich Ionisierungsenergien einfach und exakt ermitteln. Die entfernt, wird deshalb nicht mehr so stark von den positiven
1. Ionisierungsenergie für die Hauptgruppenelemente ist in Ladungen der Protonen angezogen und kann dadurch mit
. Abb. 3.9a graphisch aufbereitet. Auf den ersten Blick stellt weniger Energie „abgesaugt“ werden. Außerdem schirmen die
man fest, dass die 1. Ionisierungsenergie innerhalb einer Gruppe inneren s-Elektronenschalen den positiven Kern zunehmend
von oben nach unten abnimmt. Mit zunehmender Hauptschale stärker ab.
40 Kapitel 3 · Das Periodensystem – Anordnung der Elemente nach drei Ordnungskriterien
Übung 4
3.4.3 Elektronegativität Wo befinden sich im Periodensystem die Metalle und
wo die Nichtmetalle? Was versteht man unter Halb- bzw.
Elemente gehen mit anderen Elementen chemische Bindungen Übergangsmetallen?
unter Ausbildung gemeinsamer Elektronenpaare ein (7 Abschn. 4.3).
Die Elektronegativität ist ein relatives Maß für das Vermögen eines Übung 5
Atoms, gemeinsame Bindungselektronen an sich zu binden. Wie ist die 1. Ionisierungsenergie definiert? Wie verhält sich
Als Erster führte der amerikanische Chemiker Linus Pauling diese in einer Gruppe und in einer Periode?
(1901–1994, Nobelpreise 1954 und 1962, einzige Person, die bisher
zwei ungeteilte Nobelpreise erhalten hat) eine Skala für die Elekt- Übung 6
ronegativität ein. Pauling zog dafür die Bindungsenergie der Ver- Was beschreibt die Elektronegativität eines Elements und
bindung (AB) relativ zu den Ausgangselementen (A2, B2) heran. wie sind die Tendenzen innerhalb Perioden und Gruppen?
Da Edelgase keine Verbindungen – Ausnahmen bestätigen die
Regel – mit anderen Elementen eingehen, haben sie per Definition Übung 7
eine Elektronegativität (EN) von null. Beschreiben Sie den Unterschied zwischen Hauptgruppen-,
Im Allgemeinen gilt, dass die Elektronegativität umso kleiner Nebengruppenelementen und den Lanthanoiden resp.
ist, je weiter die Valenzelektronen vom Kern entfernt sind. Somit Actinoiden. Gehen Sie dabei insbesondere auf die
haben Francium (1. Hauptgruppe, 7. Periode) und Cäsium (1. Valenzorbitale und -elektronen ein.
Hauptgruppe, 6. Periode) die geringste Elektronegativität,
EN = 0, 7 resp. 0, 8 . Innerhalb einer Periode nimmt die Elekt- Übung 8
ronegativität von links nach rechts mit steigender Protonenzahl Was versteht man unter dem Pauli-Verbot? Welche Rolle
zu. So steigt die EN von Lithium (Li, EN =1, 0) über Kohlenstoff spielt dabei die Spinquantenzahl?
(C, EN = 2, 5) zum Fluor (F, EN = 4, 0) stetig an.
Beim Element Fluor kumulieren sowohl hohe Protonenzahl Übung 9
als auch geringer Kernradius (n = 2) , sodass es das Element mit Erläutern Sie den Begriff der Hundschen Regel! Ziehen Sie
der höchsten Elektronegativität (EN = 4, 0) ist (. Abb. 3.9b). einen Vergleich zu 25 Buspassagieren, die sich alle fremd
sind und für die 50 Sitzplätze zur Verfügung stehen.
Welche Orbitale stehen den Nebengruppenelementen für
3.5 Lernkontrolle die Bildung chemischer Bindungen zur Verfügung?
Übung 10
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: Erläutern Sie, in welcher Reihenfolge Orbitale mit Elektronen
Periodensystem, Ordnungszahl, Periodenzahl, Hauptgrup- besetzt werden!
penzahl, Nebengruppenzahl, Pauli-Verbot, Valenzelektro-
nen, Hundsche Regel, Atomradius, 1. Ionisierungsenergie,
Elektronegativität.
41 4
4.7 Lernkontrolle – 55
der Valenzelektronen erfolgen, lohnt es sich, die Elektronenkonfi- . Abb. 4.2 Elektronenkonfiguration von Natrium (a) und Chlor (b)
guration der Edelgase genauer zu betrachten. Alle Edelgase weisen
nur voll besetzte Elektronenschalen auf. Helium (Z = 2) hat zwei
Elektronen im 1s-Orbital der 1. Hauptschale, die zugleich die
Außenschale ist. Damit ist die 1. Schale voll besetzt. Das nächste 4.2 Ionenbindung – Elektronenübergang von
Edelgas Neon (Z =10) hat acht Elektronen in der Valenzschale Metallatom auf Nichtmetallatom
(n = 2) , wodurch diese ebenfalls voll besetzt ist.
. Abbildung 4.1 zeigt drei gebräuchliche Schreibweisen für Die Lösung des Problems im Fall von Natrium und Chlor ist offen-
das Argonatom. Die linke Schreibweise gibt die komplette Elek- sichtlich (. Abb. 4.3). Der Vergleich der Elektronegativitäten von
tronenhülle des Argons wieder. Da diese Schreibweise auf Dauer Natrium (EN = 0, 9) und Chlor (EN = 3, 0) ergibt außerdem, dass
zu mühsam ist und für chemische Reaktionen letztendlich nur Chlor Elektronen sehr viel stärker anzieht als Natrium. Das Chlor-
die Valenzelektronen von Interesse sind, beschränkt man sich atom „saugt“ deshalb das Außenelektron des Natriumatoms kom-
meist auf die äußerste Elektronenschale. Noch schneller ist die plett ab. Dadurch erreichen beide Atome die Edelgaskonfiguration.
„Elektronenpaar-Schreibweise“ (rechts), dabei steht ein Strich Nach erfolgtem Elektronenübergang hat das Natriumatom
für zwei Elektronen, ein Elektronenpaar. Die Schreibweisen ver- (Na, Z =11) noch 10 statt 11 Elektronen in der Elektronenhülle,
deutlichen sehr gut das Elektronenoktett, die Achterschale des aber 11 Protonen im Kern. Dadurch wurde aus dem neutralen Nat-
Argons. Alle weiteren Edelgase haben ebenfalls voll besetzte riumatom ein einfach positiv geladenes Natriumkation.
Hauptschalen und die Valenzorbitale weisen eine Achterschale Das Chloratom (Cl, Z =17) weist nach dem Elektronenüber-
(ns2np6) auf. gang 18 statt 17 Elektronen in der Elektronenhülle, aber nur 17
Summa summarum sind Edelgase deshalb so reaktionsträge, Protonen im Kern auf. Dadurch ist Chlor einfach negativ geladen
weil sie voll besetzte Elektronenschalen und eine Außenschale mit und wird zum Chloridanion.
acht Elektronen besitzen. Eine Achterschale als äußerste Elektro- Generell bezeichnet man elektrisch geladene Atome als Ionen.
nenschale stellt für ein Atom einen sehr energiearmen Zustand Ionen mit positiver Ladung werden als Kationen und Ionen mit
dar, deshalb ist die 1. Ionisierungsenergie für Edelgase auch so negativer Ladung als Anionen bezeichnet.
hoch. Statt Achterschale wird äquivalent der Ausdruck Elektro- Der Chemiker schreibt für diese Reaktion wie folgt, je
nenoktett benutzt. nachdem, ob die Valenzelektronen bzw. Ionen betont werden
Alle anderen Elemente verfügen über keine äußere Achter- sollen:
schale und sind somit wesentlich energiereicher und reaktiver als –
Na + Cl Na+ + Cl
Edelgase.
Beispielsweise fehlt Chlor (. Abb. 4.2b), einem Element der 7.
Hauptgruppe, nur ein Elektron für ein Elektronenoktett. Natrium
(. Abb. 4.2a) dagegen verfügt lediglich über ein einziges Elektron
auf der äußersten Schale.
Die Oktettregel (oder Acht-Elektronen-Regel) besagt, dass
alle Hauptgruppenelemente bestrebt sind, durch chemische Reak-
tionen die stabile Edelgaskonfiguration zu erreichen. Es stehen den
Elementen – wie wir in den nächsten Kapiteln detailliert sehen
werden – mit der Ionenbindung, der kovalenten Bindung und der
metallischen Bindung drei Ansätze zur Verfügung, um ein Elek-
tronenoktett zu erzielen.
Na + Cl → NaCl
. Tabelle 4.2 zeigt die Energiebilanz der Reaktion. Somit wird bei
der Bildung von Natriumchlorid aus metallischem Natrium und
molekularem Chlor 401 kJ/mol Energie freigesetzt. Den wesentlichen
Beitrag liefert die Bildung des Kristallgitters, weil durch die
Anziehung der entgegengesetzt geladenen Ionen Coulomb-Energie
(Gitterenergie) freigesetzt wird.
. Tab. 4.4 Strukturen von ausgewählten Kovalenzverbindungen ABn gemäß des VSEPR-Modells
Gesamt Bindend Frei Grundstruktur, ideale Bindungswinkel Realstruktur Molekül, reale Bindungswinkel
3 3 0 Trigonal BCl3
planar ClBCl = 120°
120°
3 2 1 Gewinkelt SO2
OSO = 119°
OSO<120°
4 4 0 Tetraedrisch CH4
HCH = 109,5°
109,5°
4 3 1 Trigonal NH3
pyramidal HNH = 107,8°
HNH<109,5°
4 2 2 Gewinkelt H2O
HOH = 104,5°
HOH<109,5°
. Tab. 4.4 Fortsetzung
Gesamt Bindend Frei Grundstruktur, ideale Bindungswinkel Realstruktur Molekül, reale Bindungswinkel
4 1 3 Linear HF
180°
4 5 5 0 Trigonal PCl5
bipyramidal ClPCläq = 120°
ClPClax = 180°
120°
axial 180°
5 4 1 Wippe SF4
FSFäq = 110,6°
FSFax = 173,1°
äquat. FSF<120°
axial FSF<180°
5 3 2 T-förmig ClF3
FCIF = 175°
axial<180°
5 2 3 Linear XeF2
180°
6 6 0 Oktaedrisch SF6
FSF = 90°
90°
6 5 1 Quadratisch BrF5
pyramidal EBrF = 93, 2°
E: freies Elektronenpaar
EBrF>90°
E: Elektronenpaar
6 4 2 Quadratisch XeF4
planar
90°
4.4 · Metallbindung – Freies Elektronengas stabilisiert Gitter von „Metallatomrümpfen“
49 4
positiven Teilladungen der Wasserstoffatome räumlich nicht
. Tab. 4.5 Überblick Metallbindung
zusammenfallen.
In der Reihe CH4, NH3, H2O nimmt der Bindungswinkel von Parameter Metallbindung
109,5° über 107,8° auf 104,5° ab. HF ist ein lineares Molekül, für
das die Angabe eines Bindungswinkels nicht zielführend ist. Reaktionspartner Metall und Metall
. Tabelle 4.4 fasst für unterschiedliche ABn-Verbindungen ΔEN 0 für elementare Metalle
(n = 3, 4, 5, 6), die nach dem VSEPR-Modell zu erwartenden <0,8 für Legierungen
Grundstrukturen, Realstrukturen und Molekülbeispiele mit expe- Bindungsmechanismus Abgabe der Valenzelektronen in den
rimentell bestimmten Bindungswinkeln zusammen. freien Raum des Metallgitters,
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass kovalente Bindungen bewegliches Elektronengas, Atomrümpfe
zwischen Elementen hoher Elektronegativität, also Nichtmetallen, (ähnlich Metallkationen) formen
ausgebildet werden. Eine ideale kovalente Bindung erfolgt zwi- Metallgitter aus
schen Nichtmetallatomen des gleichen Elements (z. B. H2, N2, O2, Bindungskräfte Elektrostatische Coulomb-
Hal2). Dabei teilen sich zwei Nichtmetallatome ein oder mehrere Wechselwirkung zwischen Elektronengas
und kationischem Metallgitter
Elektronenpaare, wodurch sie Edelgaskonfiguration erreichen. Im
Gegensatz zu Ionenverbindungen (riesige Kristallgitter) handelt es Resultat Metallgitter wird durch das delokalisierte
Elektronengas stabilisiert
sich bei Substanzen mit kovalenten Bindungen um diskrete, meist
sehr kleine Verbindungen. Zwar sind die kovalenten Bindungen Eigenschaften Duktil, verformbar, leiten den
innerhalb der Moleküle sehr stark, aber die Wechselwirkungen elektrischen Strom und Wärme sehr gut,
zwischen den Molekülen aufgrund der fehlenden Polarität meist fest außer Quecksilber
sehr gering. Dies ist der Grund für die relativ niedrigen Siede- und
Schmelzpunkte dieser Verbindungen. Falls es die Größenverhält-
nisse der Atome zulassen, bilden sich „unendlich große“ Atomgit- ab. Die entstehenden „Natriumkationen“ bzw. genauer Atom-
ter mit kovalenten Bindungen aus. Beispiele hierfür sind Diamant rümpfe bilden ein dichtest gepacktes Metallgitter aus (siehe unten),
(C¥ , 7 Abschn. 12.4.1), Bornitrid (BN¥ , 7 Abschn. 12.3.5) oder das von den freien Elektronen zusammengehalten wird. Das sog.
Quarz ((SiO 2)¥ , 7 Abschn. 13.4.3) Elektronengas ist im Metallgitter frei beweglich (. Abb. 4.12), also
Verbinden sich zwei verschiedene Nichtmetalle, wird die kova- nicht mehr einzelnen Natriumatomen zuordenbar und für die gute
lente Bindung polar. Die Polarität und die zwischenmolekulare thermische und elektrische Leitfähigkeit und den metallischen
Wechselwirkung der Moleküle nehmen mit steigendem Elektro- Glanz von Metallen verantwortlich.
negativitätsunterschied der Atome zu. Wird elektrische Spannung an ein Werkstück aus Metall ange-
legt, dann wandern die negativen Elektronen in Richtung posi-
tiver Elektrode (Anode). Diese elektrische Leitfähigkeit nimmt
4.4 Metallbindung – Freies mit steigender Temperatur ab, da die Metallrumpfkationen mit
Elektronengas stabilisiert Gitter von zunehmender Temperatur stärkere Schwingungen um ihre Ruhe-
„Metallatomrümpfen“ lage ausführen, was den freien Elektronenfluss stört.
Im Elektronegativitätdiagramm (. Abb. 4.11) sind Metalle auf
Nachdem wir die chemische Bindung von Metallen mit Nicht- der Diagonale lokalisiert, von wenigen Ausnahmen abgesehen auf
metallen (Ionenbindung) und Nichtmetallen mit Nichtmetallen
(kovalente Bindung) kennengelernt haben, verbleibt noch die
Möglichkeit, dass Metalle untereinander Verbindungen einge-
hen (. Tab. 4.5).
Beispiel Natrium: Ein Natriumatom könnte naturgemäß
maximal ein Elektron mit einem anderen Natriumatom teilen
und somit niemals zu einem Elektronenoktett gelangen. Es gibt
auch nicht die Möglichkeit, dass ein Natriumatom Elektronen
von sieben anderen Natriumatomen aufnimmt, da sich dann
sieben negative elektrische Ladungen anhäufen würden. Abgese-
hen davon, dass es mit zunehmender negativer Ladung für jedes
weitere Elektron immer schwieriger würde, in die äußere Schale
zu gelangen, würden sie dort nicht lange verbleiben, da sich gleich-
artige Ladungen abstoßen.
4.4.1 Elektronengasmodell
Was ist dann die Lösung? Natriumatome geben die nur schwach
gebundenen Außenelektronen in das Leitungsband (siehe unten) . Abb. 4.11 Elektronegativitätsdiagramm für Metalle und Legierungen
50 Kapitel 4 · Chemische Bindung – Elemente streben Edelgaskonfiguration an
4.5.1 Hexammincobalt(III)-trichlorid
[Co(NH3)6]Cl3
4.5.2 Chelate
. Abb. 4.17 Elektronendichteverteilung von Ammoniak (H grauweiß, N . Abb. 4.18 Bis(dimethylglyoximato)nickel(II) – Zwei Moleküle
violett) zweizähniger Liganden komplexieren das Nickelatom
4.6 · Chemische Bindung in der Zusammenschau
53 4
menschlichen Körpers von essenzieller Wichtigkeit ist. Der Mag-
. Tab. 4.6 Typische EN-Parameter der Bindungstypen
nesiumkomplex Chlorophyll (Blattgrün) färbt Pflanzen grün
und fängt aus dem Sonnenlicht die für die Fotosynthese benö- Bindungstyp EN Element 1, ΔEN Beispiele
tigte Energie ein. EN Element 2
Platinkomplexe wie cis-Diammindichloridoplatin(II), cis-[Pt-
Unpolare Atombindung >2, >2 0 Cl2, Br2, H2
(NH3)2Cl2], greifen in die Zellteilung ein. In der Chemotherapie
werden Zytostatika deshalb zur Hemmung und Zerstörung von Polare Atombindung >2, >2 <1,7 NH3, H2O, HF
schnell wachsenden Krebszellen eingesetzt. Ethylendiamintetra- Ionenbindung <1,5, >2,5 >1,7 NaCl, K2O, CaF2
acetat (EDTA), ein sechszähniger Ligand, wird bei akuten Blei- Metallbindung <2,4, <2,4 0 Na, Mg, Al, Fe
oder Quecksilbervergiftungen zum Ausschleusen der toxischen Legierungen <2,4, <2,4 <0,8 Bronze, Stahl
Schwermetalle verwendet.
4.6 Chemische Bindung in der fasst wichtige Parameter für die einzelnen Bindungstypen
Zusammenschau zusammen.
. Abbildung 4.19 und 4.20 illustrieren, dass kovalente Bindung,
Prinzipiell streben Atome die energiearme Elektronenkonfi- Ionenbindung und Metallbindung lediglich idealisierte Beschrei-
guration eines Edelgases an. Alle Elektronenschalen sind dann bungen von Grenzfällen darstellen. Die Übergänge zwischen den
komplett mit Elektronen besetzt und die Außenschale weist acht einzelnen Bindungstypen sind fließend, erkennbar an den über-
Valenzelektronen auf. Um diese Edelgaskonfiguration zu errei- lappenden Clustern in . Abb. 4.19.
chen, gehen mit Ausnahme der Edelgase die Elemente chemische
Bindungen ein. Chemische Bindungen entstehen durch Wech-
selwirkung von Valenzelektronen zwischen den Atomen. Es gibt 4.6.1 Ionenbindung
drei klassische Wechselwirkungsarten: Ionenbindung, kovalente (Metall + Nichtmetall, ΔEN > 1,7)
Bindung und Metallbindung, deren Bindungstäfken weit über
100 kJ/mol betragen. Daneben gibt es noch schwache Wech- Elektronen gehen komplett vom Metallatom auf das elektrone-
selwirkungen zwischen Atomen, Ionen und Molekülen wie die gativere Nichtmetallatom über, wodurch beide Atome eine Ach-
Dipol-Dipol-Wechselwirkungen, Van-der-Waalskräfte und Was- terschale erzielen. Die elektrostatische Wechselwirkung zwischen
serstoffbrückenbindungen, die wir im 7 Abschn. 6.1 kennenlernen Metallkationen und Nichtmetallanionen ergibt „riesige“ Ionen-
werden. Hierbei handelt es sich um temporäre Bindungen, die gitter, deren Struktur von den Ladungen und Größen der Ionen
bereits durch geringe Energiezufuhr und die temperaturabhän- bestimmt wird. Typische Ionenverbindungen sind Kochsalz (NaCl),
gige ungeordnete Wärmebewegung (Brownsche Bewegung) der Fluorit bzw. Flussspat (CaF2) oder Tonerde (Al2O3). Die Verbin-
Teilchen aufgebrochen werden. dungen sind hart und spröde, weisen hohe Schmelz- und Siede-
Wie . Abb. 4.19 zeigt, entscheiden sowohl der Absolutwert punkte auf und leiten in wässriger Lösung den elektrischen Strom.
der Elektronegativität (EN) als auch der Elektronegativitäts-
unterschied (DEN) zwischen den Bindungspartnern darüber,
ob die Edelgaskonfiguration per kovalenter Bindung, Metall- 4.6.2 Kovalente Bindung
bindung oder Ionenbindung realisiert wird. . Tabelle 4.6 (Nichtmetall + Nichtmetall, ΔEN = 0)
Übung 2
Erklären Sie den Begriff Elektronegativität.
Übung 3
Was ist eine Ionenbindung? Welche Elemente gehen eine
Ionenbindung ein. Beschreiben Sie das Ionengitter von
Natriumchlorid.
Übung 4
Was sind Ionen? Was versteht man unter Kationen bzw.
Anionen? Woher stammen die Wortbezeichnungen? Führen
Sie eine Internetrecherche durch.
Übung 5
Welche Elemente bilden eine kovalente Bindung aus und
was ist das Wesen einer kovalenten Bindung? Was ist eine
polare Bindung?
Übung 6
Welche der folgenden Verbindungen sind ionisch, polar
kovalent bzw. ideal kovalent?
Übung 7
Welche Eigenschaften sind typisch für Metalle? Beschreiben
Sie ein einfaches Modell für die metallische Bindung.
Erklären Sie, warum Metalle mit zunehmender Temperatur
den elektrischen Strom schlechter leiten, während
Halbmetalle mit zunehmender Temperatur den Strom
besser leiten.
57 5
5.9 Lernkontrolle – 66
12
Ein Blick ins Periodensystem zeigt, dass die relativen Atommas- Beispiel Schwefel
sen der Elemente gebrochene Zahlen sind. Die Abweichung von Schwefel besteht aus den vier Isotopen: S-32 mit 95,02 %, S-33 mit
ganzen Zahlen ist für Elemente wie Wasserstoff (1,008) oder Koh- 0,75 %, S-34 mit 4,21 % und S-36 mit 0,02 % relativer Häufigkeit.
lenstoff (12,01) gering, dagegen für Chlor (35,45) erheblich. Für Die relative Atommasse des Mischelements Schwefels errechnet
die Abweichung der relativen Atommassen von ganzen Zahlen sich in erster Näherung zu:
gibt es im Wesentlichen drei Gründe:
mS,r = ( 32 · 0,9502) + (33 · 0,0075) + (34 · 0,0421)
44Neutronen und Protonen haben leicht unterschiedliche
+ (36 · 0,0002) = 32,09
Massen, die dazu nicht exakt 1u entsprechen.
44Wenn sich aus Neutronen und Protonen ein Atomkern Die „offizielle“ relative Atommasse von Schwefel beträgt 32,06.
bildet, dann wird ein Teil der Masse als Energie freigesetzt. Die „offiziellen“ relativen Atommassen werden von der IUPAC
5.2 · Stoffmenge n in Mol – die Anzahl der Teilchen ist entscheidend
59 5
(International Union of Pure and Applied Chemistry) festgelegt und
verwaltet. Die IUPAC ist eine Vereinigung von Chemikern und
wurde 1919 mit der Absicht gegründet, die weltweite Kommuni-
kation in der Chemie zu fördern und zu standardisieren.
4, 03 g ⋅100 t tigt.
mWasserstoff = = 13, 4 t Wasserstoff beno
30, 07 g
Beispiel 1 V V M
V .M V
M
n= VM = VM = VM = ρ
VM n m
Wie viel Gramm entspricht die Stoffmenge 1,50 mol Calciumchlo-
rid (CaCl2)?
n: Stoffmenge, mol
nCaCl = 1, 5 mol, MCaCl = (40, 08 + 2 ⋅ 35, 45) g/mol = 110,98 g/mol
2 2 V: Gasvolumen, l, m³
m g VM: molares Volumen, l/mol, m³/mol
n= → m = n ⋅ M = 1, 50 mol ⋅110, 98 = 166, 47 g
M mol ρ: Gasdichte, g/l, kg/m³
Beispiel 2 Beispiel
Wie viel Mol entsprechen 3,646 g Chlorwasserstoff (HCl)? Für die Hydrierung von Ethin (siehe oben Beispiel 3) müssen so-
mit die Edukte Ethin (n =1 mol) und Wasserstoff (n = 2 mol) im
mHCl = 3, 646 g, M HCl = (1, 008 + 35, 45) g/mol = 36, 46 g/mol
Volumenverhältnis eins (22,413 l) zu zwei (2 × 22, 413 l) eingesetzt
werden, um vollständigen Umsatz zu erreichen.
m 3, 646 g
n= → n= = 0, 100 mol Wir stellen die Formel um zu:
M g
36, 46
mol
VM ⋅ m
V=
Beispiel 3 M
Die Hydrierung (d. h. Anlagerung von Wasserstoff, H2) von Ethin
(C2H2, auch Acetylen genannt) zu Ethan (C2H6) verläuft nach fol- l
22, 414 ⋅ 86, 6 ⋅106 g
gender Reaktionsgleichung: VEthin = mol
g
26, 04
C2H2 + 2 H2 → C2H6 mol
= 7, 45 ⋅107 l ≡ 74, 5 Tausend Kubikmeter Ethin und
Wie viel Ethin und Wasserstoff werden benötigt, um 100 t Ethan
herzustellen?
Es werden 2 Moleküle (entsprechend: 2 mol) Wasserstoff und 1 Mole- l
22, 414 ⋅13, 4 ⋅106 g
VWasserstoff = mol
kül (1 mol) Ethin benötigt, um 1 Molekül (1 mol) Ethan herzustellen. g
Die molare Masse von Ethin beträgt 26,04 g/mol, die von Wasser- 2, 016
mol
stoff 2,016 g/mol. = 1, 49 ⋅108 l ≡ 149 Tausend Kubikmeter Wasserstoff
Somit müssen Ethin und Wasserstoff im Verhältnis 26,04 g
(n = 1mol) zu 4,03 g (n = 2 mol) eingesetzt werden, um 30,07 g
(n = 1mol) Ethan zu erhalten. Um 100 t Ethan zu produzieren, müssen bei Normbedingungen
Wenn 26,04 g Ethin für 30,07 g Ethan benötigt werden, dann wer- 7, 45 ×107 l Ethin und 1, 49 ×108 l Wasserstoff eingesetzt werden.
den für 100 t Ethan
62 Kapitel 5 · Stöchiometrie – das Zahlengerüst der Chemie
Je nach Informationstiefe wird zwischen Verhältnis-, Summen-, Die Konstitutionsformel gibt an, welche Atome direkt miteinan-
Konstitutions- und Strukturformel unterschieden (. Tab. 5.1). der verknüpft sind, sagt aber nichts über die räumliche Anord-
nung der Atome zueinander aus. Die Konstitutionsformel ist der
Übergang von der Summenformel zur Strukturformel. Ein Bei-
5.5.1 Verhältnisformel, Empirische Formel spiel für eine Konstitutionsformel ist CH3- CH 2- CH 2-CH3 für
Butan (Summenformel C4H10, Verhältnisformel CH2,5).
Die Verhältnisformel oder empirische Formel gibt an, in welchem
kleinsten ganzzahligen Verhältnis die Atome der einzelnen Ele-
mente in einer Verbindung bzw. einem Molekül vorhanden 5.5.5 Valenzstrichformel, Lewis-Formel
sind. Zum Beispiel ist die Verhältnisformel von Benzol (C6H6)
C1H1 º CH , und von Natriumchlorid (NaCl) Na1Cl1 º NaCl . Die Kovalente Bindungen (Atombindungen) werden häufig durch
tiefgestellte 1 wird nicht geschrieben. Die empirische Formel von Valenzstrichformeln dargestellt. Nach dem Erfinder werden diese
Ethan (C2H6) ist CH3 und von Glucose (C6H12O6) CH2O. auch als Lewis-Formeln bezeichnet. Dabei werden nur die Elek-
tronen der äußersten Schale – die Valenzelektronen – berück-
sichtigt. Ein Punkt symbolisiert ein einzelnes Elektron; ein Strich
5.5.2 Summenformel ein Elektronenpaar. Gebundene Elektronenpaare verbinden zwei
Atome, freie Elektronenpaare sind dagegen einem einzelnen Atom
Die Summenformel gibt die tatsächliche Anzahl der Atome der zugeordnet. Hauptgruppenelemente weisen im Einklang mit der
einzelnen Elemente in einem Molekül an. Die Summenformel Oktettregel vier Valenzstriche auf (7 Abschn. 4.3). Wasserstoff, als
von Glucose lautet C6H12O6. Das bedeutet, dass in einem Molekül Element der 1. Periode, benötigt lediglich zwei Elektronen, also
Glucose 6 Kohlenstoffatome, 12 Wasserstoffatome und 6 Sauer- einen Valenzstrich.
stoffatome zu einem Molekül verkettet sind. Um die Summenfor-
mel bestimmen zu können, müssen die Verhältnisformel und die
molare Masse der Verbindung bekannt sein. Die Summenformeln 5.5.6 Strukturformel
von Salzen sind identisch mit ihren Verhältnisformeln, da sich im
Salzkristall diese Einheit regelmäßig wiederholt. Die Strukturformel gibt an, welche Atome zu einem Molekül ver-
kettet und wie diese räumlich zueinander angeordnet sind. So zeigt
die Strukturformel von Ethan (. Abb. 5.6), dass 2 Kohlenstoff-
5.5.3 Hill-Summenformel atome über eine Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindung mitei-
nander verknüpft und zusätzlich mit je 3 Wasserstoffatomen ver-
Hill systematisierte die Schreibweise von Summenformeln, was bunden sind. Gefüllte Keilstrichverbindungen symbolisieren, dass
die Tabellierung und Wiederauffindbarkeit von Verbindungen die Wasserstoffatome vor der Papierebene, gestrichelte Keilstriche,
wesentlich erleichtert. Nach Hill werden bei organischen Ver- dass die Wasserstoffatome hinter der Papierebene liegen. Einfache
bindungen (7 Kap. 16) die Elemente in der Reihenfolge Kohlen- Striche repräsentieren Bindungen und Atome in der Papierebene.
stoff (C), Wasserstoff (H) und alle weitern Elemente in alphabe- Jeder Strich und jeder Keil entspricht einem Elektronenpaar, also
tischer Reihenfolge aufgeschrieben. So wird die Summenformel einer kovalenten Bindung.
für Methan als CH4, für Glucose als C6H12O6 und für Natrium- Aus der Strukturformel kann eindeutig die Summen- und
methanolat als CH3NaO geschrieben. Verhältnisformel abgeleitet werden. Eine Summenformel kann
dagegen mit mehreren Strukturformeln und damit verschiedenen
Substanzen übereinstimmen.
. Tab. 5.1 Verschiedene Formeldarstellungen von Ethan
CH3 C 2H 6 H3C-CH3
Qualitative Quantitative Bezogen auf 100 g Umrechnung der Division durch die Runden auf Abgleich mit
Elementar- Elementaranalyse Verbindung Stoffmenge kleinste Stoffmenge ganze Zahlen molarer Masse
analyse cE mE = cE nE = mE/ME nE/nE,min MV
C 74,1 74,1 6,17 10,1 10 20
H 7,4 7,4 7,33 12,0 12 24
N 8,6 8,6 0,61 1,00 1 2
O 9,9 9,9 0,62 1,01 1 2
5.8 · Reaktionsgleichungen – Art und Anzahl der Atome ändern sich nicht
65 5
des jeweiligen Elements (ME). Da die Werte der Elementaranalyse
auf ±0,3 % genau sind, reicht es aus, die molaren Massen der Ele- Chemische Gleichungen im Überblick
mente mit drei Stellen Genauigkeit einzugeben. 55Lavosier erkannte 1785, dass die Gesamtmasse der
Ausgangsstoffe mit der Gesamtmasse der Reaktions-
mE 74, 1 g
nE = ⇒ nC = = 6,17 mol analog nH = 7, 33 mol, produkte identisch ist. Bei einer chemischen Reaktion
ME g
12, 0 geht weder Masse verloren noch wird welche erzeugt
mol
nN = 0, 610 mol, nO = 0, 619 mol (. Abb. 5.7).
551797 stellte Joseph-Louis Proust das Gesetz der
Schritt 4 – Ermittlung der Verhältnisformel (Empirische Formel) konstanten Proportionen auf. Es besagt, dass in einem
von Chinin Reinstoff das Verhältnis der einzelnen Elemente stets
Im vierten Schritt werden die einzelnen Stoffmengen (nE) mit der gleich ist. Zum Beispiel ist das Atomverhältnis der
kleinsten Stoffmenge eines Elements (nE,min) normiert. Im Falle Elemente C, H, N, O in Chinin stets 20 zu 24 zu 2 zu 2
von Chinin weist das Element Stickstoff mit nN = 0, 610 mol die (siehe 7 Abschn. 5.7).
kleinste Stoffmenge auf, d. h. alle Elementstoffmengen werden 55Alle Atome bleiben erhalten, d. h., durch
durch 0,610 mol dividiert. chemische Reaktionen können weder neue Atome
geschaffen werden, noch im Nichts verschwinden.
6, 17 mol 7, 33 mol 0, 61 mol
C: = 10, 1 H : = 12, 0 N : = 1, 00 Art und Anzahl der Atome links und rechts des
0, 61 mol 0, 61 mol 0, 61 mol
Reaktionspfeiles bleiben konstant, lediglich die
0, 62 mol
O: = 1, 01 Verknüpfung der Atome untereinander ändert
0, 61 mol
sich.
Die Verhältniszahlen geben an, wie viel Mal häufiger die einzelnen
Elemente C, H, O als das Element Stickstoff in Chinin enthalten sind
(. Tab. 5.2, Schritt 4a). Da eine Verbindung nur aus ganzen Atomen
besteht, lautet die Verhältnisformel: C10H12NO (. Tab. 5.2, Schritt 4b). Zum Aufstellen chemischer Gleichungen müssen die Sum-
Schritt 5 – die Summenformel von Chinin ergibt sich durch Ver- menformeln der Edukte (Ausgangsstoffe) und Reaktionspro-
gleich mit dessen molarer Masse dukte bekannt sein. Chemische Gleichungen beschreiben,
Die molare Masse von Chinin wurde mit der Methode der Gefrier- welche und wie viele Eduktmoleküle miteinander reagieren
punktserniedrigung zu 324,4 g/mol bestimmt. Die molare Masse und welche Produktmoleküle gebildet werden. Eine chemische
der Verhältnisformel C10H12NO beträgt 162,2 g/mol, also lediglich Reaktionsgleichung liefert keine Aussagen hinsichtlich idealer
die Hälfte der molaren Masse von Chinin. Somit müssen alle Indizes Reaktionsparameter wie Druck, Temperatur, Katalysator, Ver-
der Verhältnisformel mit dem Faktor 2 multipliziert werden, um die weilzeit etc.
tatsächliche Summenformel von Chinin C20H24N2O2 zu erhalten. Am Beispiel der Knallgasreaktion – Wasserstoff reagiert mit
Sauerstoff zu Wasser – sei das Aufstellen einfacher chemischer
Gleichungen erklärt.
5.8 Reaktionsgleichungen – Art und Anzahl
der Atome ändern sich nicht Chemische Gleichungen: Das Beispiel der Knallgasreaktion
Summenformeln der Edukte und Produkte festlegen
44 Wasserstoff: H2
Chemische Gleichungen dienen zur Beschreibung chemischer 44 Sauerstoff: O2
Reaktionen. Dabei gelten folgende Randbedingungen: 44 Wasser: H2O
. Abb. 5.7 Die Masse der Stoffe vor (linke Waage) und nach (rechte Waage) einer chemischen Reaktion ist konstant (© Josef Felixberger, Grafik erstellt mit
dem Labor- und Formelmaker, Ernst Klett Verlag, Stuttgart)
66 Kapitel 5 · Stöchiometrie – das Zahlengerüst der Chemie
? Verständnisfragen
Übung 1
Erklären Sie den Begriff atomare Masseneinheit.
67 6
Stoffe – zwischenmolekulare
Wechselwirkungen erklären die
Aggregatzustände
6.5 Lernkontrolle – 87
Der Begriff Stoff im chemischen Sinne ist jedermann geläufig. So 6.1.1 Dipol-Dipol-Wechselwirkungen
sind die Elemente Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff etc. elemen-
tare Bausteine der Materie. Kunststoffe, Treibstoffe, Arzneistoffe, Wie bereits in 7 Abschn. 4.3 beschrieben, sind Moleküle mit
Rohstoffe, Farbstoffe etc. erleichtern und verbessern unser all- polarer Atombindung permanente Dipole. So ist beispielsweise
tägliches Leben. Die chemischen Abläufe in lebendigen Organis- die Ladungsverteilung in Chlorwasserstoff (HCl) aufgrund der
men werden in ihrer Gesamtheit als Stoffwechsel bezeichnet. Stoffe hohen Elektronegativität des Chlors unsymmetrisch. Die Elek-
weisen Masse auf und nehmen Raum in Anspruch. Die Chemie als tronendichte am Chloratom ist höher als am Wasserstoffatom.
Naturwissenschaft befasst sich mit dem Aufbau, der Herstellung Nähern sich Chlorwasserstoffmoleküle, dann wendet sich die
und den Eigenschaften von Stoffen. negative Seite eines Moleküls (Cl) der positiven Teilladung des
Wasserstoffatoms des Nachbarmoleküls (H) zu und vice versa.
Dipole üben somit wechselseitig elektrostatische Kräfte aus.
6.1 Zwischenmolekulare Wechselwirkungen Je stärker der Dipolcharakter von Molekülen, desto stärker
sorgen für inneren Zusammenhalt die Dipol-Dipol-Wechselwirkungen (rot gepunktete Linie,
. Abb. 6.1).
Moleküle, die sich nahekommen, üben wechselseitig Kräfte auf- In Chlorwasserstoff weist die intramolekulare kovalente
einander aus, sodass sie zu Flüssigkeiten oder Feststoffen konden- Chlor-Wasserstoff-Bindung eine Bindungsstärke von 431 kJ/mol
sieren. Zwischenmolekulare Wechselwirkungen erfolgen zwischen auf, während die intermolekulare Dipol-Dipol-Wechselwirkung
Teilchen (Molekülen, Atomen, Ionen), im Gegensatz zu Atombin- 20 kJ/mol beträgt.
dungen, die intramolekular wirken. Zwischenmolekulare Kräfte
sind z. B. verantwortlich für die Oberflächenspannung von Wasser,
für die Viskosität von Flüssigkeiten und erlauben dem Gecko (eine
Echsenart, 7 Exkurs 6.1) an Glaswänden senkrecht emporzuklet-
tern. Beim Schmelzen eines Feststoffes wird durch Wärmeeintrag
ein Teil der zwischenmolekularen Kräfte gelockert; beim Sieden
werden alle gelöst. Sind kovalente Bindungen schwächer als inter-
molekulare Wechselwirkungen, dann zersetzen sich Moleküle,
bevor sie schmelzen resp. sieden.
In der Literatur wird meist zwischen Dipol-Dipol-Wechsel-
wirkungen, Wasserstoffbrückenbindungen und Van-der-Waals- . Abb. 6.1 Permanente Dipole wie Chlorwasserstoff (HCl, Cl grün) üben
Wechselwirkungen unterschieden (. Tab. 6.1). wechselseitig Kräfte aus
6.1 · Zwischenmolekulare Wechselwirkungen sorgen für inneren Zusammenhalt
69 6
Tellurwasserstoff (H2Te) und Poloniumwasserstoff (H2Po), betra-
gen die Siedepunkte −60 °C, −41 °C, −2 °C, +35 °C. Die Elektro-
negativität fällt von 3,5 (O) auf 2,0 (Po) ab, wodurch die Polarität
der Bindung zu Wasserstoff und somit auch die intermolekularen
Wechselwirkungskräfte stetig kleiner werden. Die Extrapolation
der Siedepunkte (blaue Linie) zeigt, dass Wasser ohne den Effekt
der Wasserstoffbrückenbindung in etwa bei −120 °C sieden würde,
somit bei Normalbedingungen ein Gas wäre (. Abb. 6.3b).
a b
. Abb. 6.3 Aufgrund der Wasserstoffbrückenbindungen (a) hat Wasser einen 220 °C höheren Siedepunkt (b) als erwartet
70 Kapitel 6 · Stoffe – zwischenmolekulare Wechselwirkungen erklären die Aggregatzustände
Je größer eine Moleküloberfläche ist, je mehr Elektronen Wasser gefriert z. B. bei 1 bar unter 0 °C zu Eis und geht bei 100 °C
fluktuieren, umso mehr Van-der-Waals-Kontaktstellen sind vor- in den dampfförmigen Zustand über.
handen und desto größer sind die auftretenden intermolekula-
ren Kräfte. Das kann dazu führen, dass große Moleküle sich beim
Erwärmen nicht verflüssigen, sondern vorher zersetzen. Da die 6.2.1 Gase – Stoffe von variabler Form und
Van-der-Waalskräfte mit zunehmendem Abstand (d) stark abneh- variablem Volumen
men (1/d7), müssen sich Atome bzw. Moleküle mindestens auf
fünf Nanometer annähern, damit diese wirksam werden. Siehe Gase weisen weder feste Form noch festes Volumen auf. Sie passen
auch 7 Exkurs 6.1. sich jeder Behälterform an. Die Dichte von Gasen ist gering, sodass
die Abstände zwischen den einzelnen Gasmolekülen bzw. -atomen
relativ groß sind. Die Bewegungsgeschwindigkeit von Gasteilchen
bei Raumtemperatur beträgt ca. 350 m/s (~1200 km/h, . Abb. 9.8)
Exkurs 6.1 und ist völlig zufällig und ungeordnet. Die kinetische Energie
6 Gecko nutzt Van-der-Waals-Kräfte (Bewegungsenergie) von Gasteilchen ist wesentlich größer als die
Geckos – kleine Echsen – sind ausgesprochen gute Kletterer Wechselwirkungskräfte zwischen den Gasteilchen. Gase lassen
(. Abb. 6.5). So flitzen sie nicht nur mühelos senkrechte Mauerwände sich durch Druck komprimieren, wodurch der Abstand zwischen
hoch, sondern auch Glaswände, und wenn es sein muss auch den Gasteilchen abnimmt.
kopfüber unter Raumdecken. Wie ist das möglich? Dazu haben
Das Konstrukt des idealen Gases besteht aus drei Annahmen:
Wissenschaftler die Geckofüße buchstäblich unter die Lupe
genommen. Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigen, dass 44dass die Größe der Gasmoleküle vernachlässigbar klein ist,
die Unterseite der Zehen mit winzigen Härchen übersät ist. Wie 44die einzelnen Gasmoleküle nicht miteinander wechsel-
die Äste eines Baumes spleißen diese immer feiner bis zu kleinsten wirken und
napfartigen Enden (Spatulae) von 200 nm (0,2 μm) Durchmesser 44Kollisionen der Gasmoleküle untereinander und mit der
auf. Diese winzigen Spatulae ermöglichen einen so innigen Kontakt
Gefäßwand völlig elastisch erfolgen.
zum Untergrund, dass sich Van-der-Waals-Kräfte zwischen Spatulae
und Untergrund aufbauen. Wenn alle Spatulae platziert sind, werden
100 N Zugkraft benötigt, um den Gecko vom Untergrund zu lösen. Für die meisten realen Gase sind diese Voraussetzungen insbeson-
Wenn dieser so fest mit dem Untergrund verankert ist, wie kann dere bei kleinen Drucken weitestgehend erfüllt.
sich der arme Kerl überhaupt bewegen? Er rollt dazu die Zehen auf,
sodass die Spatulae durch eine leichte Kippbewegung, ähnlich wie ein
Klebeband, abgeschält werden. Tätigt er den nächsten Schritt, dann
Gasgesetz nach Boyle-Mariotte
6.2.1.1
schiebt er die Spatulae im idealen Winkel in den Untergrund hinein,
sodass wieder innigster Kontakt eintritt. (n, T = const., V ~ 1/p)
Boyle und Mariotte erkannten, dass bei isothermen Verhältnis-
sen (T = const.), für ein Mol (n = const.) eines idealen Gases das
Produkt aus Druck und Volumen konstant ist. Mit anderen Worten,
das Gasvolumen nimmt mit zunehmendem Druck stetig ab (siehe
auch 7 Exkurs 6.2). Im V-p-Diagramm ergibt sich dadurch eine Kurve
mit hyperbolischem Verlauf (. Abb. 6.6). Bei 1 bar ist das Volumen
doppelt so groß wie bei 2 bar und viermal so groß wie bei 4 bar.
const1
Es gilt somit p ⋅ V = const.1 bzw. V ~ .
p
. Abb. 6.7 Beim Auftauchen aus 20 m Tiefe und angehaltenem lassen sich zur allgemeinen Gasgleichung
Atem würde das Lungenvolumen von 5 l auf 15 l zunehmen (Foto ©
Richard Carey/Fotolia) V = const ⋅ n ⋅ T / p
72 Kapitel 6 · Stoffe – zwischenmolekulare Wechselwirkungen erklären die Aggregatzustände
6
. Abb. 6.10 Allgemeines Gasgesetz in Aktion (© bluesky6867/Fotolia)
. Abb. 6.9 Gasgesetz von Avogadro – das Gasvolumen verhält sich
proportional zur Stoffmenge
zusammenfassen. Einsetzen des molaren Gasvolumens ( n =1 mol, Damit der Ballon von der Erde abheben kann, muss die Ballon-
V = 22, 414 l = 0, 022414 m3 ) u nte r Nor mb e d i ng u nge n innenluft so stark erwärmt werden, dass diese lediglich eine Mas-
(T = 273,15 K, p = 1, 013 bar = 1, 013 ⋅105 N/m 2) ergibt den Wert se von 5929 kg − 700 kg − 500 kg = 4729 kg aufweist. Wie stark
8, 314 J/(mol × K) für die Proportionalitätskonstante const, die in muss die Balloninnenluft erwärmt werden? Wir lösen obige Glei-
der Literatur als allgemeine Gaskonstante (R) bezeichnet wird. chung nach der Temperatur (T) auf und setzen für die Masse (m)
Die allgemeine Gasgleichung lautet somit: 4729 kg ein.
m ⋅ R ⋅T p ⋅V ⋅ M p ⋅V ⋅ M
p ⋅V = n ⋅ R ⋅ T mit n = m /M p ⋅V = m= →T =
R ⋅T R⋅m
M
N kg
1⋅10 2 ⋅ 5000 m3 ⋅ 0, 0289
5
p: Gasdruck, N/m2, Pa = m mol = 367 K ≈ 94 °C
N⋅ m
V: Gasvolumen, m3 8, 314 ⋅ 4729 kg
K ⋅ mol
n: Stoffmenge, mol
R: allgemeine Gaskonstante, J/(mol · K) Beispiel Gasflasche
T: absolute Temperatur, K Eine typische Industriegasflasche (. Abb. 6.11) weist einen Fla-
m: Masse Gas, g scheninhalt von 50 l auf. Mit welcher maximalen Masse an Stick-
M: molare Masse, g/mol stoff (N2) darf die Stahlflasche gefüllt werden, damit bei einer
maximalen Transporttemperatur von 50 °C der Gasflascheninnen-
Heißluftballone und das allgemeine Gasgesetz druck 200 bar nicht übersteigt?
Ein Heißluftballon (. Abb. 6.10) weist mit Nylonhülle, Korb, Bren-
n= m / M m p ⋅V ⋅ M
ner, Gasflaschen, Funkgerät sowie Radarerfassungsgerät eine p ⋅ V = n ⋅ R ⋅ T
→ p ⋅V = ⋅ R ⋅T → m =
M R ⋅T
Masse von 500 kg auf. Maximal können Passagiere (inkl. Ballon- N kg
fahrer) mit einer Masse von 700 kg zusteigen, sodass die maximale 200 ⋅105 2 ⋅ 0, 05 m3 ⋅ 0, 028
= m mol = 10, 4 kg
Masse des bemannten Ballons 1200 kg beträgt. Mittels eines Bren- N⋅ m
8, 314 ⋅ 323 K
ners wird die Füllluft des Ballons erwärmt. Gemäß dem Gesetz K ⋅ mol
von Gay-Lussac dehnt sich dadurch die Luft aus und weist somit
eine geringere Dichte auf als die Außenluft, was dem Ballon Auf- Beispiel Tauchen
trieb verleiht. Ein typischer Heißluftballon hat ein Volumen von Beim Ausatmen eines Tauchers in 20 m Tiefe entstehen Luftblasen
5000 m³. Wie stark muss die Luft erwärmt werden, damit der Bal- von 1 cm Durchmesser. Welchen Durchmesser hat die Luftbla-
lon samt Passagieren von der Erde abhebt? se, wenn sie die Oberfläche erreicht? Temperatureinflüsse sind
Luft hat eine molare Masse (M) von 0,0289 kg/mol. Dadurch er- vernachlässigbar.
rechnet sich bei 20 °C und 1 bar (105 N/m2) Druck für die 5000 m3 Da die Stoffmenge und die Temperatur der Luftblase konstant
Balloninhalt eine Gasmasse von: bleiben, genügt es, die Boyle-Mariotte-Funktion p ⋅ V = const.
anzuwenden. Da 10 m Wassersäule einem Druck von 1 bar ent-
n= m / M m p ⋅V ⋅ M
p ⋅ V = n ⋅ R ⋅ T
→ p ⋅V = ⋅ R ⋅T → m = sprechen, herrscht in 20 m Wassertiefe ein Druck (p1) von 3 bar
M R ⋅T
N kg (2 bar Wasserdruck + 1 bar Luftdruck). Luftblasen sind kugelför-
1⋅105 2 ⋅ 5000 m3 ⋅ 0, 0289 4
m mol = 5929 kg mig, sodass diese das Volumen V = ⋅ π ⋅ r 3 (r = Luftblasenradius)
= 3
N⋅ m aufweisen.
8, 314 ⋅ 293, 15 K
K ⋅ mol
6.2 · Gasförmig, flüssig, fest – die drei klassischen Aggregatzustände
73 6
Ideale Gase 0 0
Wasserstoff (H2) 0,0246 2, 67 ⋅10−5
Helium (He) 0,00347 2, 38 ⋅10−5
Stickstoff (N2) 0,137 3, 86 ⋅10−5
Acetylen (C2H2) 0,452 5, 22 ⋅10−5
Kohlenstoffdioxid (CO2) 0,366 4, 28 ⋅10−5
. Abb. 6.11 Industriegase abgefüllt in praktischen Stahlflaschen Wasserdampf (H2O) 0,554 3, 05⋅10−5
(© montebelli/Fotolia)
Methan (CH4) 0,230 4, 31⋅10−5
4 4
p ⋅ V = const. → p1⋅ ⋅ π ⋅ r13 = p2 ⋅ ⋅ π ⋅ r23 → p1⋅ r13 = p2 ⋅ r23
3 3
p: realer Gasdruck, N/m2, Pa
3 bar ⋅ 0, 53cm3
3 bar ⋅ 0, 53 ⋅ cm3 = 1 bar ⋅ r23 → r2 = 3 = 0, 72 cm a: Kohäsionsdruck Moleküle, N/m2, Pa
1 bar
V: Gasvolumen, m3
n: Stoffmenge, mol
Der Durchmesser der Luftblase vergrößert sich von 1,00 auf b: Eigenvolumen Moleküle, m3/mol
1,44 cm, da statt 3 nur noch 1 bar Umgebungsdruck auf die Luft- R: allgemeine Gaskonstante, J/(mol · K)
blase einwirken. T: absolute Temperatur, K
Ersetzt man das ideale Volumen und den idealen Druck in der all- N⋅ m
1 kg ⋅ 8, 314 ⋅ 300 K
gemeinen Gasgleichung durch die realen Größen, wird die Van- = K ⋅ mol → p = 316 bar
kg
der-Waals-Gleichung für reale Gase erhalten. 0, 002
mol
2
p + a ⋅ n ⋅ (V − n ⋅ b) = n ⋅ R ⋅ T Auflösen der Gleichung nach p ergibt einen Gasdruck von 316 bar,
V 2 also um 67 bar mehr als nach dem idealen Gasgesetz.
74 Kapitel 6 · Stoffe – zwischenmolekulare Wechselwirkungen erklären die Aggregatzustände
6.2.2 Flüssigkeiten – Stoffe mit definiertem Wechselwirkungen der Moleküle unterschiedlicher Flüssigkei-
Volumen, aber variabler Form ten variieren, ist die Oberflächenspannung eine flüssigkeitsspe-
zifische Größe.
Wasser weist z. B. eine Oberflächenspannung von 0,0728 N/m,
Flüssigkeiten weisen zwar ein definiertes Volumen, aber keine Quecksilber von 0,476 N/m und Benzin von 0,018 N/m auf.
feste Form auf. Sie passen sich der Behälterform an, füllen aber Anschaulich ausgedrückt bedeutet dies, dass man 0,0728 J Arbeit
im Unterschied zu Gasen nicht den ganzen Behälter aus. Die aufbringen muss, um die Oberfläche von Wasser um einen Qua-
Dichte von Flüssigkeiten ist um den Faktor 1000 größer als die dratmeter zu vergrößern.
von Gasen. Dadurch sind die Moleküle enger zusammengepackt
und können Wechselwirkungskräfte in der Größenordnung der
kinetischen Energie der Moleküle eingehen. Trotzdem sind Flüs- 6.2.2.2 Dampfdruck
sigkeitsmoleküle in ständiger Bewegung, nehmen keine festen Flüssigkeitsmoleküle sind mehr oder weniger frei beweglich,
Plätze ein und sind relativ leicht zueinander beweglich. Aufgrund sodass diese miteinander kollidieren und dadurch eine Geschwin-
6 der dichten Molekülpackung sind Flüssigkeiten so gut wie nicht digkeitsverteilung aufweisen. Die mittlere Geschwindigkeit bleibt
komprimierbar. Die Fließeigenschaften einer Flüssigkeit (Visko- für eine gegebene Temperatur für eine spezifische Flüssigkeit
sität) werden von der Stärke der zwischenmolekularen Wechsel- jedoch konstant (7 Abschn. 9.6).
wirkungen bestimmt. Ein Teil der Moleküle wird durch die Kolliosionsvorgänge so
schnell, dass sie die Wechselwirkungskräfte mit anderen Mole-
külen überwinden und in den Gasraum übergehen. Je höher die
6.2.2.1 Oberflächenspannung Temperatur, umso schneller sind die einzelnen Flüssigkeitsmole-
Legt man eine Rasierklinge vorsichtig auf eine Wasseroberfläche, küle und umso größer ist die Anzahl der Moleküle, die verdunsten.
dann schwimmt diese oben auf, obwohl deren Dichte (7,8 g/ml) Im Gasraum gibt es wiederum Moleküle mit so geringer Bewe-
wesentlich höher ist als die des Wassers (1 g/ml). Wasserläufer gungsenergie, dass diese wieder von der Flüssigkeit eingefangen
(Insekten) sind im Sommer zu beobachten, wie sie mühelos über und „re-kondensiert“ werden. Am Sättigungspunkt ist die Kon-
die Oberfläche von Gewässern laufen und dabei die Wasserober- zentration der Moleküle im Gasraum so hoch, dass genau so
fläche eindellen (. Abb. 6.12). Die Oberflächenspannung des viele Moleküle von der Flüssigkeit in den Gasraum wie aus dem
Wassers ermöglicht solche Phänomene. Gasraum in die Flüssigkeit übergehen. Es herrscht ein tempera-
Während Moleküle im Innern einer Flüssigkeit nach allen turabhängiges dynamisches Gleichgewicht. Die Konzentration
Richtungen Wechselwirkungen zu anderen Molekülen einge- der Moleküle im Gasraum erhöht sich dann nicht mehr, der Sät-
hen, sind Moleküle an der Flüssigkeitsoberfläche nur Anzie- tigungsdampfdruck ist erreicht. Der Dampfdruck ist eine mate-
hungskräften ins Innere ausgesetzt. Deshalb haben Flüssigkeiten rialspezifische Größe und nimmt mit steigender Temperatur zu
die Tendenz, ihre Oberfläche zu verkleinern und Tropfenform (. Abb. 6.13).
anzunehmen. Soll die Oberfläche einer Flüssigkeit vergrößert
werden, müssen quasi Moleküle aus dem Flüssigkeitsinneren an
die Oberfläche gezogen werden. Die dafür erforderliche Energie 6.2.2.3 Siedepunkt
(J º Nm ) dividiert durch die geschaffene Fläche (m²) wird als Solange der Dampfdruck kleiner ist als der Sättigungsdampfdruck,
Oberflächenspannung (σ mit der Einheit N/m) definiert. Da die verdunstet Flüssigkeit. Wenn die Temperatur so hoch ist, dass der
m: Masse der Flüssigkeitssäule, kg Stoffeigenschaft, sodass er auch ein Maß für die Reinheit eines
V: Volumen der Flüssigkeitssäule, m3 Stoffes ist. Reines Ethanol schmilzt beispielsweise bei −114 °C,
ρ: Dichte der Flüssigkeit, kg/m3 Quecksilber bei −38,4 °C und Wasser bei 0 °C. In der Literatur
g: Gravitationsbeschleunigung, Naturkonstante, m/s2 wird für den Schmelzpunkt des öfteren auch die Abkürzung Mp.,
engl. für melting point, verwendet.
Das Volumen der zylindrischen Flüssigkeitssäule errechnet sich
aus der Fläche (A) multipliziert mit der Höhe (h): z Siedepunkt (Sdp.)
Am Siedepunkt (Sdp.) entspricht der Dampfdruck (7 Abschn.
V = A⋅ h → F = A⋅ h ⋅ ρ⋅ g 6.2.2.2) einer Flüssigkeit dem Atmosphärendruck. Es bilden sich
Gasblasen in der Flüssigkeit, die nach oben steigen und in die Gas-
Somit ergibt sich für den hydrostatischen Druck: phase übergehen. Am Siedepunkt verändert sich trotz Wärmezu-
fuhr die Temperatur nicht, solange noch Flüssigkeit vorhanden
F A⋅ h ⋅ ρ⋅ g ist. Da der Siedepunkt vom Atmosphärendruck abhängt, muss
6 p=
A
=
A
→ p = h⋅ρ⋅ g
die Angabe des Siedepunktes mit einer Druckangabe einherge-
hen. Bei 1 bar Atmosphärendruck beträgt der Siedepunkt von
Bemerkenswert ist, dass sich die Fläche (A) herauskürzt, also über- Ethanol 78 °C, von Quecksilber 357 °C und von Wasser 100 °C. In
haupt keine Rolle spielt. Einzig und allein entscheidend sind somit der Literatur ist auch die Abkürzung Bp., engl. für boiling point,
die Höhe und die Dichte der Flüssigkeit. Egal, ob ein Gefäß schmal gebräuchlich.
oder breit ist oder konisch zuläuft, der hydrostatische Druck ist bei
gleicher Flüssigkeitshöhe gleich groß (. Abb. 6.16). z Dichte (ρ)
Die Dichte (ρ) ist eine stoffspezifische Größe und definitionsge-
Beispiel mäß das Verhältnis von Masse (m) zu Volumen (V). Form und
Welcher maximale hydrostatische Druck wirkt, wenn ein Natron- Größe eines Reinstoffes beeinflussen die Dichte nicht.
laugebehälter 12 m hoch gefüllt ist? Die Konzentration der Nat- m
ronlauge beträgt 50 % und weist eine Dichte von 1,524 kg/l auf. ρ=
V
kg m N ρ: Dichte, g/ml, kg/l, kg/m3
p = h ⋅ ρ ⋅ g = 12 m ⋅1524 ⋅ 9, 81 2 = 179.405 2
m3 s m m: Masse, g, kg
= 179.405 Pa = 1, 79 bar
V: Volumen, ml, l, m3
6.2.2.5 Charakterisierung von Flüssigkeiten Übliche physikalische Einheiten für die Dichte sind Gramm pro
Milliliter (g/ml) oder Kilogramm pro Kubikmeter (kg/m³). Da das
Zur Charakterisierung flüssiger Reinstoffe werden physikalische Volumen von Flüssigkeiten stark temperaturabhängig ist, bezie-
Eigenschaften wie Schmelzpunkt, Siedepunkt, Dichte, Viskosität, hen sich Dichteangaben stets auf die Messtemperatur (meist 20
Brechungsindex etc. herangezogen. Diese Werte können in ein- °C). Die Dichte von Flüssigkeiten kann in erster Näherung mit-
schlägigen Tabellenwerken nachgeschlagen werden, sodass z. B. hilfe eines Messzylinders bestimmt werden. Der leere Messzylin-
eine schnelle Qualitätsprüfung möglich ist. der wird auf eine Waage gestellt und mit Flüssigkeit befüllt. Masse
(m) und Volumen (V) der Flüssigkeit werden ermittelt und damit
z Schmelzpunkt (Smp.) die Dichte (m/V) berechnet.
Beim Erwärmen eines Feststoffes schwingen die Moleküle immer Wird die Dichte mit höherer Genauigkeit benötigt, dann
schneller um die Ruhelage, bis am Schmelzpunkt die kinetische kommen sogenannte Pyknometer (. Abb. 6.17) zum Einsatz. Das
Energie (Bewegungsenergie) der Moleküle so groß wird, dass sie leere, saubere und trockene Pyknometer wird auf einer analyti-
sich frei bewegen können. Der Schmelzpunkt ist die Temperatur, schen Waage gewogen. Anschließend wird das Pyknometer bla-
bei der ein Reinstoff vom festen in den flüssigen Aggregatzustand senfrei mit Flüssigkeit gefüllt und im Wasserbad bei 20 °C tempe-
übergeht und umgekehrt. Beispielsweise schmilzt Eis bei 0 °C und riert. Beim Aufsetzen des Schliffstopfens muss Flüssigkeit aus der
ergibt Wasser von 0 °C. Der Schmelzpunkt ist eine spezifische Kapillare des Schliffstopfens austreten, die sorgfältig mit einem
Filterpapier entfernt wird. Fehlende Flüssigkeit wird nachgefüllt.
Nach erfolgter Temperierung bei 20 °C wird das vollgefüllte Pyk-
nometer aus dem Wasserbad entnommen, sorgfältig abgetrock-
net und gewogen. Die Massendifferenz zwischen gefülltem und
leerem Pyknometer dividiert durch das Volumen des Pyknometers
ergibt die Dichte der Flüssigkeit mit hoher Genauigkeit.
z Viskosität (η)
Aufgrund intermolekularer Wechselwirkungen (7 Abschn. 6.1)
setzen Flüssigkeiten einer Formänderung (z. B. Rühren) einen mehr
. Abb. 6.16 Der hydrostatische Druck hängt nur von der Höhe, aber nicht oder weniger großen Widerstand entgegen. Ein Maß für die Zähig-
von Form und Querschnitt der Flüssigkeitssäule ab keit, für den Widerstand, den inneren Zusammenhalt (Kohäsion)
6.2 · Gasförmig, flüssig, fest – die drei klassischen Aggregatzustände
77 6
Englischen wird dieses Verhalten als shear-thickening 6.2.3 Feststoffe – Stoffe mit fester Form und
bezeichnet. Stärkebrei zeigt dilatante Eigenschaften. festem Volumen
44Bingham-Flüssigkeiten
Diese Flüssigkeiten weisen eine Fließgrenze auf und
verhalten sich ab der Fließgrenze wie eine newtonsche Werden Flüssigkeiten abgekühlt, nehmen die intermolekularen
Flüssigkeit, unter der Fließgrenze wie ein elastischer Anziehungskräfte (Kohäsionskräfte) der Teilchen zu und deren
Feststoff. Bekannte Beispiele sind Ketchup und kinetische Energie ab, bis die Teilchen schließlich feste Plätze ein-
Zahnpasta, die erst durch Schütteln oder Drücken fließfähig nehmen und nur noch um ihre Ruheposition schwingen. Fest-
werden. stoffe sind aufgrund der hohen Kohäsionskräfte nur mit großem
Kraftaufwand verform- und zerteilbar. Da die einzelnen Teilchen
Wenn die Viskosität bei konstanter Umdrehungszahl der Spindel dicht an dicht liegen, lassen sich Feststoffe nicht komprimieren.
mit der Zeit abnimmt, dann spricht man von thixotropem Verhal- Wenn der Abkühlvorgang einer Flüssigkeit langsam vonstatten
ten. Solches rheologisches Verhalten zeigen beispielsweise Beto- geht, formen sich kristalline Feststoffe aus. Kristalline Feststoffe
6 nitsuspensionen und Erdreich. weisen auf Teilchenebene eine sich wiederholende Ordnung auf.
Je nachdem, ob die Teilchen Ionen, Atome, Metallatome oder
z Brechungsindex (n) Moleküle sind, sprechen wir von Ionen-, Atom-, Metall- oder
Tritt ein Lichtstrahl in eine Flüssigkeit ein, dann ändern sich Molekülkristallen.
dessen Ausbreitungswinkel und Ausbreitungsgeschwindig-
keit (. Abb. 6.20). Der Brechungsindex (n) ist ein Maß für die
Ablenkung des Lichtstrahls beim Übergang von Vakuum in Kristalltypen
eine Flüssigkeit und für die Verlangsamung der Ausbreitungs- 55Ionenkristalle: Salze (. Abb. 6.21) bilden Ionenkristalle,
geschwindigkeit. Der Brechungsindex für Vakuum ist defini- bestehend aus positiven Kationen und negativen
tionsgemäß 1,000, für Luft 1,0003. Für optisch dichtere Medien Anionen, die durch elektrostatische Anziehungskräfte
als Vakuum ist der Brechungsindex > 1. So ist der Brechungs- ein dreidimensionales Kristallgitter mit Ionenbindung
index für Wasser 1,33 und für Ethanol 1,364. Die Messung des (7 Abschn. 4.2) aufbauen. Da Ionenwechselwirkungen
Brechungsindexes ermöglicht eine schnelle Qualitätsprüfung (Coulomb-Kraft) sehr stark sind, haben Salze hohe
von Flüssigkeiten. Schmelz- und Siedepunkte. Ionenverbindungen sind
hart, spröde und wasserlöslich, sie leiten im gelösten
sin(α)
nFl = nL ⋅ Zustand den elektrischen Strom.
sin(β)
55Atomkristalle: Kohlenstoffatome bilden mit vier
nFl: Brechungsindex Flüssigkeit, ° weiteren Kohlenstoffatomen kovalente Bindungen
nL: Brechungsindex Luft, nL = 1,003 aus. Die resultierende tetraedrische Struktur wird als
α: Einfallswinkel Luft, ° Diamantstruktur (7 Abschn. 12.4.1.1, . Abb. 12.46)
β: Ausfallswinkel Flüssigkeit, ° bezeichnet. Aufgrund der hohen Bindungsstärke
kovalenter C-C-Bindungen, ist Diamant extrem hart und
hochschmelzend. Sehr ähnliche Bindungsverhältnisse
weisen die Kristalle von Quarz und Zinblende auf, die als
kovalente Kristalle bezeichnet werden.
55Metallkristalle: Metalle (. Abb. 6.22) bilden
Metallkristalle, bestehend aus Metallrumpfkationen, die
feste Plätze einnehmen, und einem freien Elektronengas.
Das Elektronengas hält das Gitter der „Metallkationen“
durch elektrostatische Kräfte zusammen (Metallbindung,
7 Abschn. 4.4). Die Elektronen sind frei beweglich,
weshalb Metalle Wärme und Strom gut leiten. Da alle
„Metallrumpfkationen“ identisch sind, sind Metalle relativ
leicht verformbar.
55Molekülkristalle: Der Zusammenhalt zwischen
Molekülen (. Abb. 6.23) erfolgt nur über Van-der-Waals-
und Dipol-Dipol-Kräfte, die im Vergleich zu
elektrostatischen Wechselwirkungen klein sind. Deshalb
. Abb. 6.20 Der Brechungsindex hängt von der Dichte des weisen Molekülkristalle verhältnismäßig niedrige
Ausbreitungsmediums ab
6.3 · Phasenübergänge – Wärme entscheidet über den Aggregatzustand
79 6
Form und Volumen Kein festes Volumen, füllen zur Festes Volumen, passen sich einer Festes Volumen und definierte
Verfügung stehenden Raum homogen Form an, füllen diese aber nicht aus Form, passen sich einer äußeren
aus Form nicht an
Teilchenabstand Groß Sehr viel kleiner als bei Gasen, jedoch Teilchen weisen oft eine dichte
größer als bei Feststoffen Kugelpackung auf
Beweglichkeit der Frei beweglich Nicht ortsgebunden, tauschen Ortsgebunden, schwingen um
Moleküle Positionen aus ihren Ruhepunkt
Kinetische Energie Hoch Mittel Gering
(350 m/s)
6 Zwischenmolekulare Gering Mittel Stark
Anziehungskräfte
Dichte 0,001–0,01 kg/l 0,5–3 kg/l 0,5–22 kg/l
Pumpbar Ja Ja Nein
Komprimierbar Volumen nimmt mit zunehmendem Wenig und nur mit großem Praktisch nicht komprimierbar
Druck ab Kraftaufwand
Verformbarkeit Sehr leicht verformbar und teilbar Leicht verformbar und teilbar Nur mit hohem Kraftaufwand form-
und teilbar
V (A)
ϕ(A) =
V (G)
Beispiel
Weißwein mit einem Alkoholgehalt ϕ(A) von 14 Vol.-% (. Abb. 6.30).
Wie viel reinen Alkohol enthält eine Flasche (V = 0, 75 l)?
V (Alkohol)
ϕ (Alkohol) = ⇒ V (Alkohol) = ϕ (Alkohol) ⋅ V (Wein)
V (Wein)
= 0, 14 ⋅ 0, 75 l = 0, 105 l ≡ 105 ml
6
Prozent (%), Promille (‰), Parts per Million (ppm),
Parts per Billion (ppb)
. Abb. 6.29 Mozarella mit 45 % Fett i. Tr. (© MinusL/OMIRA GmbH)
Durch Multiplikation des Anteils mit dem Faktor 100, 1000,
1.000.000 oder 1.000.000.000 können Anteile auch in %, ‰,
m(A) ppm, oder ppb ausgedrückt werden. Insbesondere in der
ω(A) =
m(G) Spurenanalytik werden sehr kleine Anteile von Stoffen wie
Umweltgifte, Dotierungsmaterialien, Verunreinigungen
Beispiel etc. in einer Matrix bestimmt. Oft liegt das Verhältnis
Ein Camembert (. Abb. 6.29) besteht aus 44 % Trockenmasse und des Spurenmaterials zur Matrix im Bereich von Eins zu
56 % Wasser. Der Fettgehalt der Trockenmasse ist 45 %. Wie hoch einer Million (ppm – parts per million) oder eins zu einer
ist der absolute Fettgehalt, Fettanteil des Camemberts? Milliarde (ppb – parts per billion, engl. billion für Milliarde).
ppm und ppb können je nach Anwendung volumen- oder
0, 45 ⋅ 44 g massebezogen sein.
ω(Fett) = ⋅100 % = 19, 8 %.
44 g + 56 g
Beispiele:
44 Masse Kreuzfahrtschiff: 100.000 t, entspricht
6.4.1.2 Volumenanteil 100.000.000 kg,
Masse Passagier: 100 kg, entspricht 1 ppm des Schiffes
Volumenanteile (Volumenkonzentration, Volumenprozente) Masse einer Tafel Schokolade: 100 g, entspricht 1 ppb
ϕ(A) geben den prozentualen Volumenanteil V(A) einer Kom- des Schiffes.
ponente am Gesamtvolumen V(G) einer Lösung an.
. Abb. 6.30 Weinettikett mit 14,0 Vol.-% Alkohol (© Weingut Karl Lingenfelder)
6.4 · Reinstoffe und Stoffgemische
85 6
6.4.1.3 Stoffmengenanteil
. Abb. 6.31 Blutzuckergehalt von 95 mg auf 0,11 (dL) (© Beurer GmbH,
Der Stoffmengenanteil (Molenbruch, Molprozent) χ(A) gibt das
2016)
Verhältnis der gelösten Stoffmenge einer Komponente n(A) zur
Gesamtstoffmenge aller Komponenten n(G) an. Die Summe der
Stoffmengenanteile aller Komponenten ergibt 1 (100 Mol-%) .
m (A) g
β(A) =
n(A) V (G) l
χ(A) =
n(G)
Werden die Stoffmengenanteile mit 100 % multipliziert, dann n (A) m (A) mol
b (A) = =
werden die Stoffmengenprozente oder Molprozente der jeweili- m (LM) M A ⋅ m (LM) kg
gen Komponente erhalten. In unserem Beispiel beträgt der pro-
zentuale Stoffmengenanteil für Benzol 60 Mol-%, Toluol 30 Mol-%
und Xylol 10 Mol-%. Beispiele
Werden 10 g NaOH in Wasser gelöst und auf ein Liter Lösung auf-
gefüllt, dann wird eine 0,25-molare Lösung erhalten.
6.4.1.4 Massenkonzentration
Die Massenkonzentration (Massenvolumen) β(A) bezieht die 10 g mol
c(NaOH) = = 0, 25 = 0, 25-molar
Masse einer Komponente m(A) auf das Volumen V(G) einer 40
g
⋅1, 0 l l
Lösung (. Abb. 6.31). mol
86 Kapitel 6 · Stoffe – zwischenmolekulare Wechselwirkungen erklären die Aggregatzustände
Werden 10 g NaOH in 0,1 kg Wasser gelöst, dann wird eine 2,5-mo- gesättigten Lösung konstant. Der Lösevorgang ist ein dynami-
lale Natronlaugelösung erhalten. sches Gleichgewicht und kann deshalb über das Massenwir-
kungsgesetz (MWG) beschrieben werden ( 7 Abschn. 8.4). Die
10 g mol
b(NaOH) = = 2, 5 = 2, 5-molal Gleichgewichtskonstante K des Löslichkeitsgleichgewichts und
g kg
40 ⋅ 0, 1 kg das Löslichkeitsprodukt (L) z. B. für Natriumchlorid errechnen
mol
sich somit zu:
6.4.2 Löslichkeit – wie viel Substanz löst sich in NaCl (f) Na + + Cl−
einem Lösemittel?
PbCl2(f ) Pb 2+ + 2 Cl−
Beispiel
Wie viel Bleichlorid (PbCl2) löst sich bei 20 °C in einem Liter Wasser?
Das Löslichkeitsprodukt von Bleichlorid in Wasser beträgt
−
L(PbCl2)20 = 2 ⋅10 5 mol3/l32 .
L = c (Pb2+) ⋅ [c (Cl−)]2
. Abb. 6.32 Die Löslichkeit der meisten Stoffe ist temperaturabhängig Mit c (Pb2+) = x und c(Cl−) = 2 ⋅ x folgt:
6.5 · Lernkontrolle
87 6
L Übung 8
L = x ⋅ (2 ⋅ x)2 = 4 ⋅ x 3 = 2 ⋅10−5 mol3/l3 → x = 3
4 In einer gesättigten Flussspatlösung befinden sich
2 ⋅10−5 mol3 8,6 mg Calcium pro Liter Lösung. Berechnen Sie das
=3 = 0, 017 mol/l Löslichkeitsprodukt von Flussspat (CaF2).
4 l3
Die molare Masse von Bleichlorid beträgt 278,1 g/mol. Somit lö- Übung 9
sen sich bei 20 °C: 0, 017 mol/l ⋅ 278, 1 g/mol = 4, 76 g Bleichlorid in Das Löslichkeitsprodukt von Silberchlorid (AgCl)
einem Liter Wasser. beträgt 2 ⋅10−10 mol2 /l2. Durch Kochsalzzugabe wird die
Chloridionenkonzentration auf 0,2 mol/l erhöht. Wie viel
Silber kann eine solche Lösung pro Liter aufnehmen?
6.5 Lernkontrolle
Übung 10
Wie hoch wäre der Promillegehalt eines Autofahrers, wenn
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: sämtlicher Alkohol einer Flasche Bier (0,5 l, 5 Vol.-%) in den
Stoff, Aggregatzustand, Phase, Teilchenmodell für Gase, Blutkreislauf (5 l) übergehen würde?
Flüssigkeiten und Feststoffe, ideales Gas, reales Gas, uni-
verselles Gasgesetz, Phasenübergänge, Phasendiagramm,
Tripelpunkt, Reinstoff, Stoffgemisch, Löslichkeitsprodukt,
hydrostatischer Druck, Dampfdruck, Dichte, Viskosität,
Brechungsindex.
? Verständnisfragen
Übung 1
Erklären Sie die wesentlichen Wesensmerkmale von Gasen,
Flüssigkeiten und Feststoffen mithilfe des Teilchenmodells.
Übung 2
Wie unterscheiden sich ideale Gase von realen Gasen?
Welches Volumen nimmt ein Mol eines idealen
Gases bei Normalbedingungen ein? Was sind
Standardbedingungen?
Übung 3
Berechnen Sie die molare Masse eines idealen Gases, wenn
7,0 kg davon bei 30 °C in einer 50-Liter-Stahlflasche einen
Druck von 111 bar aufbauen.
Übung 4
Für eine Operation werden 6 l (1,013 bar, 37 °C) des
Narkosemittels Xenon benötigt. 1 g Xenon kostet 10 Euro.
Was kostet eine Narkose mit Xenon?
Übung 5
Warum hängt der hydrostatische Druck nur von der Höhe,
aber nicht von der Querschnittsfläche einer Wassersäule ab?
Übung 6
Perlentaucher tauchen bis 35 m Wassertiefe. Welche Kraft
wirkt auf das 1 cm² große Trommelfell des Tauchers in dieser
Tiefe?
Übung 7
Erklären Sie den Unterschied zwischen Reinstoff und
Stoffgemisch. Was wird als Suspension, Dispersion und
Emulsion bezeichnet? Geben Sie je ein Beispiel an.
89 7
Bei chemischen Reaktionen entstehen oft Stoffgemische. So fällt 7.1.1 Destillieren – Auftrennen von Stoffen
beispielsweise bei der Herstellung eines pharmazeutischen Wirk- unterschiedlicher Siedepunkte
stoffs auch noch ein Salz als Nebenprodukt an. Da dieses phy-
siologische Nebenwirkungen aufweisen kann, muss es entfernt Die Destillation erlaubt das Auftrennen von Flüssigkeitsgemi-
werden. Die Abtrennung eines Nebenproduktes bzw. die Reini- schen oder die Abtrennung einer Flüssigkeit von einem gelös-
gung des Hauptproduktes kann sehr zeitaufwendig und kostenin- ten Feststoff. Je größer der Unterschied zwischen den Siedepunk-
tensiv sein. Für die ökonomische Entfernung von Nebenproduk- ten der einzelnen Komponenten, umso leichter deren destillative
ten bei industriellen Großverfahren bedarf es Experten-Know- Trennung.
how und Erfahrung. Darüber hinaus muss für das „Abfallpro- Beim Erwärmen eines Gemisches zweier Flüssigkeiten ent-
dukt“ eine Verwendung gefunden werden, da dessen Entsorgung weicht zuerst bevorzugt die tiefer siedende Komponente, sodass
unwirtschaftlich wäre. sich diese in der Gasphase anreichert. D. h., die Gasphase weist
Dem Chemiker stehen zahlreiche Verfahren zur Trennung eine andere Zusammensetzung auf als das Flüssigkeitsgemisch im
homogener (z. B. Pflanzenextrakte) und heterogener Stoffgemi- Destillationskolben (. Abb. 7.1).
sche (z. B. Minerale in Erzen) in ihre Einzelkomponenten zur Ver- Das McCabe-Thiele-Diagramm korreliert die Zusammen-
fügung. Die einzelnen Trennmethoden machen sich dafür unter- setzung der Flüssigkeitsphase mit derjenigen im Gasraum. Wird
7 schiedliche physikalisch-chemische Eigenschaften der zu tren- z. B. ein Flüssigkeitsgemisch aus 40 Mol-% Hexan und 60 Mol-%
nenden Stoffe, wie Siedepunkt, Löslichkeit, Korngröße, Dichte, Octan zum Sieden erhitzt, dann enthält der resultierende Dampf
Magnetisierbarkeit etc., zunutze. . Tabelle 7.1 fasst alle Trennver- 79 % Hexan und 21 % Octan. Hexan (Sdp. 69 °C) ist flüchtiger als
fahren zusammen. Octan (Sdp. 125 °C) und reichert sich deshalb im Dampfraum
um 39 % an.
Destillation Thermisch – Siedepunkt Fraktionierung von Erdöl in Benzin, Diesel, Kerosin, Schweröl etc.
– Dampfdruck in Raffinerien
Sublimation Thermisch – Sublimationstemperatur Schonende Trocknung von Lebensmitteln wie Milch und
– Dampfdruck Instantkaffee
Extraktion Thermisch – Löslichkeit Zur Gewinnung pflanzlicher Extrakte z. B. aus Kamille, Hopfen,
– Verteilungsgleichgewicht Ölfrüchten etc.
Sedimentation Mechanisch – Dichteunterschied Zur Klärung von Wasser in Absetzbecken oder Ölen nach der
– Schwerkraft Pressung
Zentrifugation Mechanisch – Dichteunterschied Abtrennung von Milchfett oder von Waschflüssigkeit
– Zentrifugalkraft
Filtration Mechanisch – Porengröße Zur Trennung von Feststoffen und Flüssigkeiten, z. B. Kaffee
– Partikelgröße
Sieben Mechanisch – Korngröße Zum Klassieren von Feststoffgemischen oder zur Entfernung von
– Maschenweite Überkorn
Windsichten Mechanisch – Dichte Trennen von Spreu und Weizen oder von Mahlgut und Grobkorn
– Partikelgröße
Umkehrosmose Mechanisch – Molekülgröße Herstellung von Trinkwasser aus Meerwasser
– osmotischer Druck
Flotation Mechanisch – Oberflächenbenetzbarkeit mit Aufkonzentration von Blei-, Zink- und Kupfererzen, Deinking von
Wasser bzw. Luftblasen Papierfasern
Ionenaustausch Chemisch – elektrostatische Wechselwirkung Herstellung von vollentsalztem Wasser, Entkalkung von
Spülmaschinenwasser
7.1 · Thermische Trennverfahren
91 7
differieren. Zwar verdampft beim Erwärmen der Ethanol-Wasser- des Siedepunktes zersetzen. Durch Anlegen von Unterdruck wird
Lösung bevorzugt Alkohol (Sdp. 78 °C), jedoch weist Wasser (Sdp. der Luftdruck über der Flüssigkeitsphase kleiner, wodurch sich der
100 °C) ebenfalls einen erheblichen Dampfdruck (7 Abschn. 6.2.2) Siedepunkt der einzelnen Flüssigkeitskomponenten erniedrigt.
auf. Das heiße Alkohol-Wasserdampf-Gemisch steigt vom Destil- Stoffe, die bei Normaldruck zum Zersetzen neigen, können mittels
lierkolben nach oben und kriecht in Richtung des wassergekühl- Vakuumdestillation isoliert und purifiziert werden.
ten Kühlers. Dort kondensiert das Dampfgemisch aus und tropft Im Labor wird mit Hilfe von Wasserstrahlpumpen (. Abb. 7.3)
als Destillat in den Vorlagebehälter. Die Zusammensetzung des Vakuum von etwa 15 mbar, mit Ölpumpen von 0,01 mbar und
Destillats beträgt ca. 40 % Alkohol und 60 % Wasser. mit Quecksilberdampfstrahlpumpen von 0,001 mbar erzeugt. Als
Die Destillationsapparatur muss stets offen sein, da sonst Faustregel gilt, dass sich bei Wasserstahlpumpenvakuum der Sie-
durch die Erwärmung und Verdampfung von Flüssigkeit Über- depunkt eines Stoffes um ca. 100 °C erniedrigt.
druck aufgebaut würde, der die Apparatur zerstören würde. Bei der Vakuumdestillation wird der Destillationskolben mit
dem zu trennenden Gemisch gefüllt und anschließend die Des-
tillationsanlage evakuiert. Erst wenn das Endvakuum erreicht ist,
7.1.1.2 Vakuumdestillation wird die Destillationsblase vorsichtig erwärmt, damit kein schlag-
Flüssigkeiten sieden, wenn der Dampfdruck dem Umgebungs- artiges Verdampfen des gesamten Kolbeninhalts (Siedeverzug)
druck entspricht (7 Abschn. 6.2.2). Manche Flüssigkeiten weisen auftritt. Da unter Vakuum der Vorlagekolben nicht so einfach
jedoch einen so hohen Siedepunkt auf, dass sie sich vor Erreichen gewechselt werden kann, erlaubt ein Drehen des Spinnenvorsto-
ßes ein problemloses Fraktionieren unter Vakuum.
Nach Beendigung des Destillationsvorgangs wird die Heiz-
quelle entfernt, gewartet, bis die Apparatur abgekühlt ist und erst
dann die Destillationsapparatur vorsichtig belüftet. Generell sollen
für die Vakuumdestillation möglichst runde, etwas dickwandi-
gere Vorlage- und Destillationskolben verwendet werden, da
ansonsten ein Zerbersten der Kolben durch den Luftdruck erfol-
gen könnte. Zwischen Vorlagekolben und Vakuumpumpe wird
eine sog. Woulffsche Flasche (Sicherheitsflasche) geschaltet, um
die Pumpe vor Destillat und das Destillat vor evtl. zurückschla-
gendem Pumpenöl oder -wasser zu schützen.
7.1.1.3 Wasserdampfdestillation
Ätherische Öle, Duftstoffe etc. sind temperaturempfindlich,
sodass diese eine Destillation bei Normaldruck nicht überste-
hen würden. Für das Austreiben von ätherischen Ölen (Laven-
del, Orange, Kamille etc.) aus Pflanzenteilen eignet sich Wasser-
dampf als Schleppmittel.
. Abb. 7.2 Einfache Destillationsanlage (© Josef Felixberger, Grafik erstellt Bei der Wasserdampfdestillation wird heißer Wasser-
mit dem Labor- und Formelmaker, Ernst Klett Verlag, Stuttgart) dampf in das mit Wasser vermengte Substanzgemisch (z. B.
92 Kapitel 7 · Trennen von Stoffgemischen
zerkleinerte Mandarinenschalen) in der Destillationsblase ein- an ätherischem Öl kann eine Wasserdampfdestillation mehrere
geleitet (. Abb. 7.4). Der Dampfdruck des Wassers und der der Stunden dauern. Zum Ende der Wasserdampfdestillation, d. h.,
ätherischen Öle addieren sich, sodass der Wasserdampf diese wenn kein ätherisches Öl mehr vorhanden ist, wird das Destillat
gemäß ihrem Dampfdruck mitschleppt. Das Mandarinen- klar, da es nur noch aus Wasser besteht. Anschließend wird die
öl-Wasserdampf-Gemisch kondensiert dann im Kühler und ölige Phase im Scheidetrichter vom Wasser getrennt.
sammelt sich als Kondensat im Vorlagekolben. Je nach Dichte Ein Vorteil der Wasserdampfdestillation ist, dass die ausge-
des Pflanzenextrakts (Mandarinenöl ca. 0,85 g/ml) separiert schleppten Substanzen einer maximalen Temperatur von 100 °C
es sich über oder unter der Wasserphase. Da bei 100 °C der ausgesetzt sind und der apparative Aufwand im Vergleich zu einer
Dampfdruck ätherischer Öle nur wenige Millibar beträgt und Vakuumdestillation gering ist. Da der Wasserdampf die Luft in
im Vergleich zum Dampfdruck des Wassers klein ist, wird sehr der Apparatur verdrängt, ist das organische Material außerdem
viel Wasserdampf benötigt, um eine gewünschte Menge an Öl keinem oxidativen Stress ausgesetzt.
zu erhalten.
Die durch Wasserdampfdestillation überführte Menge an
ätherischem Öl kann mit folgender Formel abgeschätzt werden. 7.1.1.4 Rektifikation (Gegenstromdestillation)
Während eine einfache Destillation nur eine teilweise Anreiche-
7 mOl
≈
mWasserdampf ⋅ pOl
⋅
M Ol
rung der leichter flüchtigen Komponente gemäß des McCabe-
100.000 Pa 18 g/mol Thiele-Diagramms (. Abb. 7.1) ermöglicht, erlaubt eine Rekti-
fikation oder Gegenstromdestillation eine wesentlich höhere
mOI
: Menge Öl, g Anreicherung.
mWasserdampf : Menge Wasserdampf, g Bei der Rektifikation gelangt der überwiegende Teil der auf-
pOl
: Dampfdruck Öl, Pa steigenden Dampfphase als Kondensat in den Kolonnenrückfluss.
M Ol
: molare Masse Öl, g/mol Dadurch erfolgt in der Kolonne ein inniger Stoff- und Wärmeaus-
tausch. . Abbildung 7.5 zeigt die Auftrennung eines Flüssigkeitsge-
Beispiel misches mithilfe einer Glockenbodenkolonne in fünf Fraktionen.
Es soll mittels Wasserdampfdestillation Campher (Sdp. 209 °C) Der aufsteigende Dampf wird apparativ durch das am jeweiligen
ausgeschleppt werden. Die molare Masse von Campher beträgt Boden angesammelte Kondensat geführt (7 Abschn. 16.6.5). Das
152,2 g/mol der Dampfdruck 27 Pa bei 100 °C. Campher ist un- Ergebnis ist eine wesentlich größere Trennleistung im Vergleich
löslich in Wasser. Wie viel Campher kann mit 5 kg Wasserdampf zur einfachen Destillation. Der Siedepunkt nimmt von Fraktion
ausgetrieben werden? 1 zu Fraktion 5 zu.
Im Prinzip ist die Rektifikation eine mehrfach hintereinander
5000 g ⋅ 27 Pa 152, 2 g/mol
mCampher ≈ ⋅ = 11, 4 g durchgeführte einfache Destillation, wobei jeder Boden einer ein-
100.000 Pa 18 g/mol
fachen Destillation entspricht.
. Abb. 7.4 Wasserdampfdestillation für das Ausschleppen ätherischer . Abb. 7.5 Glockenbodenkolonne, jeder Boden entspricht einer
Pflanzenöle (© Josef Felixberger, Grafik erstellt mit dem Labor- und einfachen Destillation (© Josef Felixberger, Grafik erstellt mit dem Labor- und
Formelmaker, Ernst Klett Verlag, Stuttgart) Formelmaker, Ernst Klett Verlag, Stuttgart)
7.1 · Thermische Trennverfahren
93 7
cE, S c /V
KE = = E, S S
cE,T cE,T /VT
Mit:
KE: Nernstscher Verteilungskoeffizient für ein Extrakt
cE,S: Konzentration Extrakt im Lösemittel, mol/l
cE,T: Konzentration Extrakt im Trägergut, mol/l
nE,S: Stoffmenge Extrakt im Lösemittel, mol
nE,T: Stoffmenge Extrakt im Trägergut, mol
VS: Lösemittelvolumen, l
VT: Trägergutvolumen, l
. Abb. 7.8 Reinigung von Iod durch Sublimation (© David Lingner)
Exkurs 7.1
. Abb. 7.9 Gefriergetrocknetes Kaffeegranulat braucht nur noch in heißem Wasser gelöst werden (© Africa Studio/Fotolia)
7.1 · Thermische Trennverfahren
95 7
Der Nernstsche Verteilungskoeffizient ist für eine gegebene
Temperatur eine Konstante und ausschließlich von den betei-
ligten Stoffen (Extrakt, Lösemittel, Trägergut) abhängig. Der
Verteilungskoeffizient wird nicht von den Mengen der beteilig-
ten Stoffe beeinflusst. Er kann nicht berechnet, sondern muss
empirisch ermittelt werden. Generell gilt für K >1, dass sich
das Extrakt im Lösemittel anreichert, während für K <1 das
Extrakt sich besser im Trägergut löst.
Beispiel
In einem Liter Wasser (W) befinden sich 0,02 mol Phenol (P). Die
wässrige Phenollösung wird einem Liter Benzol (B) ausgeschüt-
telt. Wie hoch ist danach die Phenolmenge in der Wasser- und in
der Benzolphase? Der Nernstsche Verteilungskoeffizient für das
Verteilungsverhältnis von Phenol in Benzol und Wasser beträgt
K Phenol = 2.
nP,B
nP,B / VB 1l
K Phenol = = =2
nP, W / VW ( 0, 02 mol/l − nP,B )
1l
→ nP,B = 2 ⋅1 l ⋅
(0, 02 mol/l − nP,B) = 0, 04 mol − 0, 2 ⋅ n
P,B
1l
→ 3 ⋅ nP,B = 0, 04 mol → nP,B = 0, 0133 mol/l ≈1, 25 g/ l . Abb. 7.10 Trennen von organischer Phase (gelb) und Wasserphase im
Scheidetrichter (© Logos2012/Fotolia)
g ⋅ d 2 ⋅ (ρF − ρFl)
vS =
aus dem Extraktionsgut in der Extraktionshülse. Mit zunehmen- 18 ⋅ η
der Zeit steigt das Niveau der Extraktionslösung, bis die obere
Höhe des Heberohres erreicht wird. In diesem Moment fließt die vs : Sinkgeschwindigkeit Feststoffteilchen, m/s
gesamte Extraktlösung über das Heberohr in den Rundkolben g: Erdbeschleunigung, Naturkonstante, m/s2
ab. Da frisches Lösemittel nachdestilliert, wird das Extraktions- d : Durchmesser Feststoffteilchen, m
gut ständig mit frischem Lösemittel extrahiert. Das Extrakt rei- rF: Dichte Feststoff, kg/m3
chert sich im Rundkolben an. Wenn das Gros des Extraktes sich rFl : Dichte Flüssigkeit, kg/m3
im Rundkolben befindet, wird das Lösemittel vom Rundkolben η: Viskosität Flüssigkeit, kg/(m × s)
abdestilliert und es bleibt reines Extrakt zurück.
Der Sedimentationsprozess verläuft umso schneller, je größer die
Feststoffpartikel sind, je größer die Dichtedifferenz zwischen Fest-
7.1.3.3 Mazerieren und Digerieren stoffteilchen und Flüssigkeit und je geringviskoser die Flüssig-
Mazerieren ist das Auslaugen von Aromen, Duftstoffen, Farb- phase ist.
stoffen, Drogen etc. durch Ziehenlassen von Pflanzenteilen in Sedimentation und Dekantieren sind sehr effiziente Trennme-
Wasser oder Alkohol bei Normaltemperatur oder tiefen Tempe- thoden. Ein technisches Anwendungsbeispiel ist das Klären von
raturen. In der Pharmazie wird die resultierende Extraktlösung Abwässern in Absetzbecken von Kläranlagen.
als kalter Aufguss bezeichnet. Auf das Mazerieren von Parfümes- Sedimentationsvorgänge können aber auch von Nachteil sein.
senzen wird beispielsweise im Roman Parfum von Patrick Süskind So sondert ein fertig gemischter und eingebrachter Beton bis zum
(7 Kap. 37, „Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblüte, Beginn der Erhärtung Wasser ab, weil Zement und Zuschläge
im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt für einen ganzen eine etwa dreimal größere Dichte aufweisen als Wasser. Als Folge
Monat in einen cremigsüßen unsichtbaren Nebel tauchte.“) an meh- bildet sich an der Betonoberfläche eine überwässerte, feinteilige
reren Stellen eingegangen. Schicht geringer Härte, die leicht absandet. Zusatz von Wasser-
Wird während des Ziehenlassens erwärmt, dann bezeich- rückhaltemittel kann bei sonst gleichem Betondesign das „Bluten“
net man den Prozess als digerieren. Nach dem Mazerieren oder des Betons verhindert werden.
7.2 · Mechanische Trennverfahren
97 7
Exkurs 7.2
4 ⋅ π2 ⋅ r ⋅ n 2
RZB = ≈ 4 ⋅ r ⋅ n2
g
Auftrennung erfolgt über ein poröses Filtermedium, das umgangs- Labyrinths des Filtermittels ab. Es baut sich kein Filterkuchen auf
sprachlich als Filter bezeichnet wird. Die zahlreichen Filtrations- dem Filtermittel auf. Mit der Zeit lagert sich immer mehr Fest-
methoden werden nach stoff ab und es kommt zu einer Verengung der Zwischenräume des
44den Filtrationsmechanismen in Oberflächenfiltration und Filtermittels, sodass der Filtratstrom stark abnimmt. Tiefenfiltra-
Tiefenfiltration, tion funktioniert nur, wenn der Durchmesser der Feststoffpartikel
44der Flüssigkeitsführung in Dead-End-Filtration und kleiner ist als der Porendurchmesser des Filtermediumlabyrinths,
Cross-Flow-Filtration, ansonsten findet Oberflächenfiltration statt.
44und nach der Porengröße des Filtermediums Die Regeneration des Filtermediums erfolgt durch Rückspü-
differenziert. lung oder chemisches Auflösen oder thermisches Zersetzen des
abgefilterten Feststoffes. Anwendungsgebiete der Tiefenfiltration
sind in der pharmazeutischen Industrie z. B. die Abtrennung von
Oberflächenfiltration (Porendurchmesser
7.2.3.1 Zellen von der Fermentationsbrühe, die Filtration kosmetischer
kleiner als Partikeldurchmesser) Öle und Kräuterextrakte, das Abfiltern von Schwebeteilchen aus
Die Oberflächenfiltration ist letztendlich ein Siebeffekt. Bei der Schwimmbadwasser, die Klärung von Bier, Wein, Fruchtsäften und
Oberflächenfiltration, auch Kuchen- oder Siebfiltration genannt, Olivenölen oder von Kraftstoffen, Motoren- und Hydraulikölen.
7 bildet sich ein sogenannter Filterkuchen auf dem Filtermedium
(. Abb. 7.14a). Die Flüssigkeitsmoleküle dagegen passieren die
Poren des Filtermediums und formen das Filtrat. Die Feststoffteil- 7.2.3.3 Dead-End-Filtration (statisch)
chen dringen nicht in die Poren des Filtermediums ein. Anfäng- Bei der Dead-End-Filtration (. Abb. 7.15a) wird die komplette
lich werden die Feststoffteilchen durch das Filtermittel zurückge- Suspension diskontinuierlich (Batchbetrieb) senkrecht durch das
halten bzw. abgesiebt. Der Filterkuchen wirkt mit zunehmender poröse Filtermedium gedrückt oder gesaugt. Da mit der Zeit die
Höhe schließlich selbst als Filtermedium und filtert auch Teilchen Höhe des Filterkuchens anwächst, nimmt der Filterwiderstand zu
aus der Suspension, die kleiner sind als der Porendurchmesser und der Filtratfluss ab. Um eine hohe Filterleistung aufrechtzu-
des eigentlichen Filtermediums. Da mit zunehmender Filterku- erhalten, muss entweder für Überdruck auf der Aufgabeseite oder
chenhöhe der Widerstand zunimmt, wird dieser in regelmäßigen Unterdruck auf der Filtratseite gesorgt werden.
Abständen entfernt.
Die Oberflächenfiltration ist wirtschaftlich für Suspensionen
mit hohem Feststoffgehalt, da nur wenig Filtrat abgetrennt werden 7.2.3.4 Cross-Flow-Filtration (dynamisch)
muss. Für Suspensionen mit niedrigem Feststoffgehalt ist die Tie- Bei der Cross-Flow-Filtration (. Abb. 7.15) strömt kontinuier-
fenfiltration ökonomischer. lich die Suspension parallel am Filtermedium vorbei. Da die Strö-
mungsgeschwindigkeit der Suspension mit ca. 10 km/h relativ zum
Filtermedium sehr hoch ist, wird der Filterkuchen ständig wegge-
Tiefenfiltration (Porendurchmesser
7.2.3.2 spült, sodass sich so gut wie kein Filterkuchen ausbildet. Da Filtrat
größer als Partikeldurchmesser) das Filtermedium passiert, konzentriert sich die tangential strö-
Bei der Tiefenfiltration passiert die Suspension eine dickere mende Suspension stetig auf. Der Filtrationsvorgang wird abge-
Schicht Filtermittel, z. B. ein Sandbett, eine Kiesschüttung oder brochen, wenn die Suspension so hoch angereichert ist, dass sie
Kieselgur (. Abb. 7.14b). Die abzufiltrierenden Feststoffteilchen nicht mehr pumpbar ist. Im Vergleich zur Dead-End-Filtration ist
der Suspension durchlaufen ein dreidimensionales gewundenes die Cross-Flow-Filtration aufgrund der kontinuierlichen Zirkula-
Zwischenraumlabyrinth und lagern sich an den Wänden dieses tion der Suspension wesentlich energieintensiver.
a b a b
. Abb. 7.14 Oberflächenfiltration (a) versus Tiefenfiltration (b) . Abb. 7.15 Dead-End-Filtration (a) versus Cross-Flow-Filtration (b)
7.2 · Mechanische Trennverfahren
99 7
a b
. Abb. 7.18 Siebturm (links) und graphische Darstellung einer Siebanalyse (Foto: © Endecotts Ltd)
7.2 · Mechanische Trennverfahren
101 7
. Abb. 7.19 Schematische Darstellung der Funktionsweise eines . Abb. 7.20 Frischwassergewinnung aus Meersalz durch Umkehrosmose
Windsichters
Mühlen werden oft in Kombination mit einem Windsichter R : allg. Gaskonstante, Nm/K × mol
betrieben. Das Mahlgut wird in den Windsichter gefahren, der T : absolute Temperatur, K
dann das ausreichend feingemahlene Mahlgut als Produkt aus- f: Anzahl Ionen, in die ein Salz zerfällt
trägt und das Grobgut wieder der Mühle zuführt.
Bei der Granulation von Feststoffen wie Kunstdünger, Phar- Beispiel
mazeutika oder Lebensmittel dient das Windsichten zum Säubern Meersalz enthält ca. 3.5 % Natriumchlorid (NaCl). Welchen osmo-
des Granulats von Feinstaub. Bei der Abfallaufbereitung werden tischen Druck baut Meersalzlösung überschlagmäßig auf? Die
Papier- Textil- und Kunststoffabfälle durch Windsichten vom rest- Dichte des Meerwassers kann mit 1 kg/l angenommen werden.
lichen, schwereren Müll abgetrennt. Der Gehalt an Salz beträgt 35 kg pro 1000 Liter Meerwasser. Die
Stoffmenge von mS = 35 kg entspricht einer Stoffmenge Salz
von nS = mS /MS = 35.000g/58, 44g/mol = 599 mol. Somit ist die
7.2.6 Umkehrosmose – Semipermeable Salzkonzentration cS = 599 mol/m3.
Membran filtert Ionen aus Wasser Der osmotische Druck errechnet sich somit zu:
Mit: Flotation (. Abb. 7.21) ist ein häufig bei der Aufbereitung von
p: osmotischer Druck, N/m², Pa Erzen verwendetes Trennverfahren, dass die unterschiedliche
cS: Salzkonzentration, mol/m³ Oberflächenbenetzbarkeit von Mineralen und Gangart mit Luft
102 Kapitel 7 · Trennen von Stoffgemischen
7.2.7.3 Drücker
Das Aufschwimmen nicht erwünschter Feststoffteilchen kann
durch Zugabe von Drückerchemikalien verhindert werden. Ani-
onische Chemikalien heften sich an diese Feststoffe, wodurch diese
hydrophil werden, sodass Luftblasen diese nicht benetzen können
und die Feststoffteilchen zu Boden sinken. Beispielsweise verhin-
dern Phosphate und Chromate das Aufschwimmen von Galenit
(Bleiglanz, PbS).
7 . Abb. 7.21 Flotation – Luftblasen tragen Feststoffteilchen an die
Oberfläche
7.2.7.4 Schäumer
Um ein Platzen der Luftblasen an der Schaumoberfläche zu verhin-
resp. Wasser ausnutzt. Mit Schnellrührern und Druckluft werden dern, müssen die Luftblasen sehr klein und stabil sein. Schäumer
in einer wässrigen Suspension kleine Luftblasen generiert, die unterstützen die feine Verteilung der Luftblasen in der Trübe
sich an hydrophobe (wasserabweisende) Feststoffteilchen anhef- und erzeugen einen stabilen Oberflächenschaum. Als Schäumer
ten, die dadurch an der Oberfläche aufschwimmen. Mit der Zeit kommen insbesondere Fettalkohole zum Einsatz.
entsteht an der Wasseroberfläche eine Schaumschicht (Flotat)
mit dem angereicherten Feststoff. Das Flotat wird mit einer Räu-
mereinrichtung abgezogen und dann in einer Filterpresse vom 7.2.7.5 Anwendung
Wasser befreit. Minerale, die eine hydrophile (wasserfreundliche) Flotationsverfahren werden beispielsweise zur Anreicherung von
Oberfläche aufweisen, werden von einem Wasserfilm umgeben, Blei-, Zink- und Kupfererzen eingesetzt. So werden beispiels-
sodass sie in der Trübe verbleiben und nicht aufschwimmen. weise Kupfererze mit einem Kupfergehalt von 2 % (Mineral
Damit die gewünschten Mineralerzteilchen effizient mit Luft Chalkopyrit, Kupferkies, CuFeS2) fein zermahlen (<0,3 mm),
benetzen und die Gangart in der Trübe verbleibt, werden Flo- in Wasser suspendiert und durch Flotation von der silicati-
tationshilfstoffe zugegeben, die in den folgenden Abschnitten schen Gangart getrennt. Das aufschwimmende Kupferkonzen-
erläutert werden. trat weist dann einen Kupfergehalt von 20–30 % auf. Nach wei-
teren Reinigungsschritten einschließlich elektrolytischer Raf-
fination wird elementares Kupfer in 99,99 % Reinheit erhalten
7.2.7.1 Sammler (7 Abschn. 14.10.1).
Da Roherze (z. B. Kupfersulfid mit sog. Gangart, d. h. unbrauch- Mithilfe der Flotation wird beim Papierrecycling die Druck-
baren Mineralen) für die Flotation auf eine Teilchengröße kleiner farbe von der Cellulosefaser abgetrennt (Deinking), sodass sich
0,3 mm nassvermahlen werden, sind die Feststoffteilchen hydro- der Weißgrad des Papiers erhöht. Druckfarben sind hydrophob,
phil. Um das anzureichende Mineral (Kupfersulfid) der Flotation werden von Wasser nicht benetzt und können somit mit Luft flo-
zugänglich zu machen, werden sogenannte Sammler eingesetzt. tiert werden. Der Farbstoffschaum wird abgezogen und der Dein-
Sammlermoleküle heften sich an die zu flotierenden Kupfererzteil- kingprozess solange wiederholt, bis der Weißgrad der hydrophilen
chen und verleihen diesen hydrophobe Oberflächeneigenschaften, Papierfaser den Erwartungen entspricht.
sodass sich Luftblasen anlagern können. Die hydrophilen Gang-
artteilchen, die nicht aufschwimmen sollen, gehen keine Wechsel-
wirkung mit Sammlern ein. Typische Sammler sind Alkylsulfo- 7.2.8 Magnettrennung – eisenhaltige
nate, Carboxylate und Xanthogenate. Die Einsatzmengen betra- Werkstoffe werden separiert
gen pro Tonne Erz lediglich 100 g, somit 0,1 ‰ bezogen auf die
Erzmenge. Die Magnettrennung (. Abb. 7.22 und 7.23) beruht auf den ferro-
magnetischen Eigenschaften (7 Abschn. 14.1.4) von Eisen, Cobalt
und Nickel und deren Legierungen wie V2A-Stahl und Gusseisen.
7.2.7.2 Aktivatoren Auf diese Werkstoffe üben Magnete Kräfte aus, sodass diese von
Manche Minerale resp. Gangarten müssen aktiviert werden, damit nicht-ferromagnetischen Bestandteilen wie Kunststoffen, Glas,
sie Sammlermoleküle adsorbieren können. Zusatz von zweifach Papier, Textilien, Aluminium, Kupfer etc. einfach separiert werden
positiven Eisensalzen aktiviert beispielsweise Quarzteilchen. Die können.
7.3 · Chemische Austauschreaktion – Ionenaustauscher sorgen für entkalktes Wasser
103 7
7.3 Chemische Austauschreaktion –
Ionenaustauscher sorgen für entkalktes
Wasser
Die Ladung der Ankerionen (. Abb. 7.25, grau hinterlegt) von den Ankerstellen verdrängt werden. Soll der Kationenaustau-
wird von beweglichen Gegenionen (. Abb. 7.25, rote Element- scher mit Natriumionen aufgeladen werden, verwendet man eine
symbole) elektrisch neutralisiert. Die Gegenionen, z. B. Natrium- 10 %ige Kochsalzlösung. Falls eine Aufladung mit Protonen (H+)
ionen, werden durch im Wasser gelöste, positiv geladene Ionen wie erfolgen soll, wird der Kationenaustauscher mit Salzsäure (HCl)
z. B. Calciumionen (Ca2+) freigesetzt. Die auszutauschenden Cal- regeneriert. Anionenaustauscher werden entsprechend mit Koch-
ciumionen gehen aufgrund ihrer zweifach positiven Ladung eine salzlösung (NaCl) regeneriert. Für eine Beladung mit Hydroxidio-
stärkere Bindung zu den Ankerionen (SO- 3 ) ein als die einfach nen (OH−) erfolgt die Regeneration mit Natronlauge.
positiv geladenen Natriumionen und setzen pro Calciumion zwei
Natriumionen frei (. Abb. 7.26).
Abhängig von der Ladung der ausgetauschten Ionen liegt ein 7.3.3 Verwendung – Deionisiertes Wasser für
Kationenaustauscher bzw. Anionenaustauscher vor. Im Falle eines Industrie und Haushalt
Kationenaustauschers werden z. B. Calciumionen (Ca2+) gegen
Natriumionen (Na+), im Falle eines Anionenaustauscher werden Ionenaustauscher arbeiten ökonomisch bei Wässern mit niedri-
z. B. Sulfationen (SO 2- −
4 ) gegen Chloridionen (Cl ) ausgetauscht. gen Salzgehalten, da nur dann aufgrund der begrenzten Ionen-
Generell gilt, dass Ionen umso leichter ausgetauscht werden, je austauschkapazität deren Standzeit lang genug ist. Bei Wässern
7 höher ihre Ladung und je kleiner ihr Ionenradius ist. Al3+ ver- mit einem Salzgehalt über 0,5 % wird die Standzeit zu kurz, sodass
drängt Ca2+ und dieses wiederum Na+, da das Ladungs-Ionenra- Umkehrosmose und Destillation meist wirtschaftlicher sind.
dius-Verhältnis und damit die Bindungsstärke der Kationen zum Ionentauscher finden nicht nur zur Entkalkung von Wasser
Ankeranion in dieser Reihenfolge abnimmt. wie z. B. in Geschirrspülmaschinen Anwendung, sondern auch
Ein gleichzeitiger Austausch von Kationen und Anionen durch zum kompletten Entsalzen von Wasser. Dazu wird das Wasser
eine Ionenaustauschersäule ist nicht möglich, da sich Kationen zuerst über einen mit Protonen (H+) beladenen Kationenaustau-
und Anionen gegenseitig neutralisieren würden. scher geleitet, wodurch alle Kationen gegen Protonen ausgetauscht
Im Labor kommen mit Ionenaustauschharz gefüllte Säulen aus werden. Im anschließenden Anionenaustauscher werden sämtli-
Glas oder Kunststoff zur Anwendung, in kommerziellen Anlagen che Anionen gegen Hydroxid-Ionen (OH−) ausgetauscht, die sich
bevorzugt gummierte Stahlbehälter. Für eine kontinuierliche Ent- mit den Protonen zu Wasser verbinden.
kalkung werden mindestens zwei komplette Ionenaustauscherein-
heiten benötigt, da während des Betriebes des einen Systems das
andere regeneriert wird. 7.4 Lernkontrolle
7.3.2 Regeneration – Umkehrung des Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
Ionenaustauschvorgangs Destillation, McCabe-Thiele-Diagramm, Vakuumdestilla-
tion, Wasserdampfdestillation, Rektifikation, Azeotrop,
Mit der Zeit verbrauchen sich Ionenaustauscher, da sämtli- Sublimieren, Gefriertrocknung, Extrahieren, Nernstscher
che Ankerstellen mit den auszutauschenden Ionen belegt sind Verteilungskoeffizient, Soxhlet-Apparatur, Sedimentieren,
(. Abb. 7.26b). Deshalb ist von Zeit zu Zeit eine Regeneration der Dekantieren, Zentrifugieren, Filtrieren, Filterkuchen, Filtrat,
Ionenaustauschereinheiten notwendig. Da die Ionenbindung an Oberflächenfiltration, Tiefenfiltration, Dead-End-Filtration,
die Ankerionen eine Gleichgewichtsreaktion ist, können durch Cross-Flow-Filtration, Sieben, Siebrückstand, Siebdurch-
einen großen Überschuss an z. B. Natriumionen die Calciumionen gang, Windsichten, Umkehrosmose, Flotieren, Magnettren-
nung, Ionenaustauscher, Ankerionen.
? Verständnisfragen
Übung 1
Erläutern Sie das McCabe-Thiele-Diagramm. Warum ist
dieser Zusammenhang für die Destillation von so großer
Bedeutung?
Warum sieden Stoffe unter Vakuum bei niedrigeren
Temperaturen als bei Normaldruck?
Übung 2
Für die Auftrennung eines Flüssigkeitsgemisches mit
eng zusammenliegenden Siedepunkten werden
Füllkörperkolonnen (Gegenstromkolonnen) verwendet.
Erklären Sie den Rektifikationsprozess mithilfe eines
McCabe-Thiele-Diagramms. Welche Aufgabe haben
. Abb. 7.26 Wasserenthärtung durch Calcium- und Sulfataustausch, Füllkörper und Glockenböden? Nutzen Sie das Internet
Austauscher im regenerierten Zustand (a) und im erschöpften Zustand (b) zur Recherche.
7.4 · Lernkontrolle
105 7
Übung 3
Instantkaffee wird durch Gefriertrocknung hergestellt.
Beschreiben Sie den Vorgang des Gefriertrocknens. Was ist
der große Vorteil des Gefriertrocknens?
Übung 4
0,004 mol Iod sind in 0,2 l Wasser gelöst. Durch Ausschütteln
mit Pentan soll das Iod aus dem Wasser entfernt werden.
Was ist effektiver? Ausschütteln mit 0,2 l Pentan oder
fünfmaliges Ausschütteln mit jeweils 40 ml Pentan? Der
Nernstsche Koeffizient für die Verteilung von Iod in Pentan
und Wasser beträgt K = 5.
Übung 5
Beschreiben Sie qualitativ, welche Faktoren die
Sinkgeschwindigkeit von Feststoffteilchen in einer ruhenden
Suspension beeinflussen. Warum verläuft die Sedimentation
in einer Zentrifuge schneller?
Übung 6
Erklären Sie die Begriffe Filtermedium, Filtrat und
Filterkuchen. Worin unterscheidet sich eine Oberflächen-
von einer Tiefenfiltration?
Übung 7
Was ist eine Siebanalyse? Was versteht man unter
kumuliertem und differentiellem Siebdurchgang? Wie wird
die Korngrößenverteilung grafisch dargestellt?
Übung 8
Ihre Waschmaschine schleudert die Wäsche bei 1400 UpM.
Der Durchmesser der Wäschetrommel beträgt 50 cm. Wie
viel Mal höher sind die Zentrifugalkräfte im Vergleich zur
Erdanziehungskraft?
Übung 9
Flotation ist ein günstiges Verfahren zur Anreicherung
von Erzen wie Blei- (PbS), Zink- (ZnS) und Kupfersufid
(Cu2S). Auf welchem physikalischen Prinzip basiert diese
Trennmethode?
Übung 10
Für chemische und physiologische Experimente wird
vollentsalztes Wasser benötigt. Mithilfe eines Ionenaus-
tauschers kann ultrareines Wasser hergestellt werden. Wie
funktionieren Ionenaustauscher? Wie müssen Ionenaus-
tauscher regeneriert werden, damit eine Vollentsalzung des
Wassers erfolgt? Nutzen Sie für die Beantwortung dieser
Frage auch das Internet.
107 8
Thermodynamik – chemische
Reaktionen gehen mit
Energieumwandlung einher
8.2 Entropie S – ein Teil der Wärme geht irreversibel verloren – 110
Isolierte, geschlossene und offene Systeme Jede chemische Reaktion korreliert mit einem inneren Energie-
Isoliertes System: Bei einem isolierten System erfolgt zustand. Die innere Energie (U) steckt in den Teilchen als Rota-
kein Stoff- und kein Energieaustausch zwischen System tions-, Schwingungsenergie und als chemische Bindungsenergie
und Umgebung. Ein solcher Zustand liegt vor, wenn z. B. zwischen den Atomen. Der innere Energiezustand (U) eines che-
Calciumchlorid (CaCl2) in einem Dewargefäß (verspiegeltes, mischen Systems ändert sich, wenn es Wärme (Q) oder mechani-
doppelwandiges, evakuiertes Glas- oder Edelstahlgefäß, sche Arbeit (W) mit der Umgebung austauscht. Zuführung von
vergleichbar mit einer Thermosflasche, . Abb. 8.1) in Wasser Wärme und/oder Volumenarbeit (Abnahme des Reaktionsvo-
gelöst wird. lumens) führt zur Erhöhung, Wärmeabfuhr oder Verrichtung
Geschlossenes System: Ein geschlossenes System tauscht von Volumenarbeit (Zunahme des Reaktionsvolumens) führt
mit der Umgebung Energie in Form von Wärme oder zur Abnahme der inneren Energie. Absolutbeträge der inneren
mechanischer Arbeit (Volumenänderung), aber keine Masse Energie lassen sich nicht messen oder berechnen. Da zu- oder
(Stoff ) aus. Das Aushärten von Reaktionsharzen im Autoklav abgeführte Wärme (Q) und Volumenarbeit (W) gemessen werden
(gasdicht verschließbarer Druckbehälter) entspricht einem können, lässt sich jedoch die Änderung der inneren Energie (ΔU)
geschlossenen System. bestimmen.
Offenes System: Ein offenes System tauscht sowohl Stoffe Chemische Reaktionen verlaufen unter Wärmeänderung
und Energie mit der Umgebung aus. Das Abbrennen (Q) und/oder Volumenarbeit (W) ab, sodass die Änderung der
von Koks (C) mit Luftsauerstoff (O2) zu gasförmigen inneren Energie chemischer Reaktionen mit folgender Formel
Kohlenstoffdioxid (CO2) oder die „Entgiftung“ von erfasst wird:
Motorabgasen beim Durchströmen des Autokatalysators
sind Beispiele für offene Systeme. Selbst der Mensch ist aus ∆U = Q + W
thermodynamischer Sicht ein offenes System, da er täglich
Nahrung zuführen und Stoffwechselprodukte ausscheiden Chemische Reaktionen laufen häufig in einem offenen Reak-
muss, um seine Funktionalität aufrechtzuerhalten. tionsgefäß, also bei konstantem Druck (p = const., Δp = 0), d. h.
isobar ab. Die benötigte oder freigesetzte Reaktionswärme einer
8.1 · Enthalpie – Maß für Reaktionswärme
109 8
a b
. Abb. 8.2 Exotherme Reaktionen geben Reaktionswärme an die Umgebung ab (a), bei endothermen Reaktionen muss aus der Umgebung Energie
zugeführt werden (b)
isobaren Reaktion wird in der Literatur als Reaktionsenthal- angegeben. Um eine noch bessere Vergleichbarkeit zu erzielen,
pie (ΔHR) bezeichnet. Mechanische Arbeit (W) fällt bei che- werden molare Reaktionsenthalpien bei Standardbedingung (0 °C,
mischen Reaktionen gewöhnlich als Volumenarbeit (Änderung 1,000 bar) als molare Standardreaktionsenthalpien (DH R0 , m)
des Reaktionsvolumens) gegen den konstanten Umgebungs- tabelliert.
druck an. Volumenarbeit entspricht bei isobaren Reaktions-
bedingungen (Δp = 0) dem Produkt aus Umgebungsdruck (p)
und der Änderung des Reaktionsvolumens (W = p · ΔV). Volu- 8.1.1 Kalorimeter – Messung von
menarbeit wird entweder von der Umgebung am System geleis- Reaktionsenthalpien
tet (W > 0, positives Vorzeichen), wodurch sich das Reaktions-
volumen verkleinert (ΔV < 0, z. B. gasförmiges Ethen wird zu Die Bestimmung von Reaktionsenthalpien erfolgt mit einem Kalo-
festem Polyethylen polymerisiert) oder das System leistet sie an rimeter (calor, lat. für Wärme). Der Reaktionsbehälter, in dem die
der Umgebung (W < 0, negatives Vorzeichen), wenn z. B. durch chemische Reaktion abläuft, befindet sich in einem Wasserbad, das
Gasentwicklung das Reaktionsvolumen zunimmt (ΔV > 0, z. B. die freigesetzte Reaktionswärme (ΔHR = QW) aufnimmt bzw. dem
Brennen von Kalkstein: CaCO3(f) → CaO(f) + CO2(g)). Da in die benötigte Reaktionswärme entzogen wird (. Abb. 8.3). Durch
der Thermodynamik Energieumsätze aus Sicht des chemischen Messung der Temperaturänderung (ΔT) des Wasserbades kann die
Systems und nicht umgebungsbezogen betrachtet werden, geht Reaktionsenthalpie (ΔHR) berechnet werden. Gute Kalorimeter
die Volumenarbeit mit einem negativen Vorzeichen in die Glei- weisen einen guten Wärmeübergang zwischen Reaktionsgefäß
chung ein. Für eine isobare Reaktion (p = const) ergibt sich:
∆QP = ∆HR
∆U = ∆QP − p . ∆V ∆HR = ∆U + p . ∆V
Mit:
ΔHR: Reaktionsenthalpie, kJ
ΔQW: Wärme des Wasserbads, kJ
mW: Masse Wasserbad, kg
CW: spezifische Wärmekapazität Wasser, kJ/(K · kg)
MP: molare Masse Probe, g/mol
mP: Probenmasse, g . Abb. 8.4 Ermittlung der molaren Standardreaktionsenthalpie für die
Reaktion von Kohlenstoff und Sauerstoff zu Kohlenstoffmonoxid mithilfe des
8 ΔTW: Temperaturänderung Wasserbad, °C Hess’schen Wärmesatzes
Beispiel
In einem Kalorimeter werden 1,2 g Graphit mit 3,2 g Sauerstoff zu Berechnung der Reaktionsenthalpie für die Bildung von
Kohlenstoffdioxid oxidiert. Das Wärmebad (1,0 l Wasser) erwärmt Kohlenstoffmonoxid aus Graphit
sich dabei um 9,43 °C. Gesucht wird die molare Reaktionsenthal- Graphit wird mit Sauerstoff (O2) komplett zu Kohlenstoffdioxid
pie der Reaktion. verbrannt und die resultierende Reaktionsenthalpie für diese Re-
aktion im Kalorimeter gemessen:
∆HR = QW = −mW ⋅ c W ⋅ ∆TW
kJ
= −1, 0 kg ⋅ 4, 18 ⋅ 9, 43 K = −39, 4 kJ
K ⋅ kg C + O2 → CO2 ∆HRo,m = −394 kJ/mol
. Abb. 8.5 Entropiezunahme durch Spontandiffusion von Wasserstoff Die Formel ist plausibel, da die Entropieänderung zur übertrage-
und Sauerstoff nen Wärme (Zunahme der Beliebigkeit des Systems) proportio-
nal ist und andererseits sich zur Temperatur invers verhält. Größt-
mögliche Ordnung ist im perfekten Kristall am absoluten Null-
unter Abkühlung (endotherme Reaktion, ΔHR = +15 kJ/mol) punkt (T = ‒273, 15 °C = 0 K) gegeben. Jedes Atom nimmt seinen
auf. Weitere Beispiele für freiwillig ablaufende endotherme Pro- ihm zugedachten Platz ein, sodass die molare Entropie (Sm) aller
zesse sind: Stoffe am absoluten Nullpunkt 0 J/(mol · K) beträgt. Mit zuneh-
44das Lösen eines Stück Würfelzuckers in Kaffee. mender Temperatur nimmt die Entropie durch Erwärmung zu.
44Vermischen zweier getrennter Gase miteinander, sobald Die Entropie nimmt insbesondere bei den Phasenübergängen
die einzelnen Gasbehälter miteinander verbunden werden von fest zu flüssig und von flüssig zu gasförmig sprunghaft zu, da
(. Abb. 8.5). die Teilchen dabei wesentlich mobiler werden und sich mehr und
mehr Möglichkeiten von wechselseitigen Molekülanordnungen
Neben der Reaktionsenthalpie muss es noch eine weitere Trieb- ergeben. Das spiegelt sich im Vergleich der molaren Entropien von
kraft geben, die chemische bzw. physikalische Vorgänge in eine Eis, Wasser und Wasserdampf (. Abb. 8.6) wieder. So erhöht sich
Richtung treibt. Bei genauer Betrachtung der freiwillig ablaufen- die molare Entropie beim Übergang von Eis zu Wasser bei 0°C um
den Phänomene fällt auf, dass auf Teilchenebene der Abstand, die 22 J/(mol · K) und beim Verdunsten flüssigen Wassers von 100°C
„Unordnung“ zunimmt. So lag vor dem Auflösen Ammonium- zu Wasserdampf von 100°C um 109 J/(mol · K). Zu Vergleichs-
chlorid im hochgeordneten, kristallinen Zustand vor, während zwecken wird die molare Entropie meist stoffmengenbezogen bei
danach freibewegliche Ammonium- und Chloridionen in wäss- Standardbedingungen (Sm 0 ) tabelliert.
riger Lösung vorhanden sind. Bei jeder chemischen Reaktion ändern sich die Zustandsmög-
In der Thermodynamik wird das molekulare Unordnungs- lichkeiten (Ordnung) des Reaktionssystems (Ausgangstoffe, Pro-
potential, d. h. die Anzahl an Möglichkeiten eines Systems sich dukte, Lösemittel) und damit die Entropie. So wächst die Entropie
anordnen zu können (Beliebigkeit), durch die sogenannte Entro- mit Zunahme der Temperatur, des Reaktionsvolumens und der
pie (S) ausgedrückt. Wenn größtmögliche Ordnung vorherrscht, Teilchenzahl an (ΔSR > 0). Letzteres ist der Fall, wenn Feststoffe in
dann ist die Entropie null. Die Entropie (S) ist wie die Enthal- einem Lösemittel gelöst werden oder wenn die Anzahl der Mole-
pie (H) und die innere Energie (U) eine Zustandsgröße und ihre küle durch die chemische Reaktion selbst zunimmt. Die molare
Änderung somit nur vom Anfangs- und Endzustand des chemi- Standardreaktionsentropie (DSR0 , m ) einer chemischen Reaktion
schen Systems abhängig. Absolutwerte für die Entropie (S) können entspricht der Differenz der Summe der molaren Standardentro-
nicht bestimmt werden, lediglich Entropiedifferenzen (ΔS). pien der Produkte minus der Summe der molaren Standardentro-
Entropie und Wärme sind untrennbar miteinander verknüpft. pien der Ausgangsstoffe bei Standardbedingungen unter Berück-
Im geschlossenen System lässt sich Entropie weder vernichten sichtigung der stöchiometrischen Faktoren.
a b c
. Abb. 8.6 Eis, Wasser, Wasserdampf – die Entropie nimmt mit der Beweglichkeit der Wassermoleküle zu (© Tim UR/Fotolia, EpicStockMedia/Shutterstock,
lgor Mojzes/Fotolia)
112 Kapitel 8 · Thermodynamik – chemische Reaktionen gehen mit Energieumwandlung einher
. Tab. 8.3 Reaktionsenthalpie, Temperatur und Reaktionsentropie entscheiden, ob chemische Reaktionen freiwillig ablaufen
<0, exotherm >0, Zunahme Egal <0, exergonisch Freiwillig H2 + SO3 ⇄ H2O + SO2
<0, exotherm <0, Abnahme Niedrig <0, exergonisch Freiwillig n C2H4 ⇄ -[C2H4]n-
<0, exotherm <0, Abnahme Hoch >0, endergonisch Nicht freiwillig O2 + 2 SO2 ⇄ 2 SO3
>0, endotherm <0, Abnahme Egal >0, endergonisch Nicht freiwillig 6 CO2 + 6 H2O ⇄ C6H12O6 + 6 O2
>0, endotherm >0, Zunahme Niedrig >0, endergonisch Nicht freiwillig
>0, endotherm >0, Zunahme Hoch <0, exergonisch Freiwillig C + CO2 ⇄ 2 CO
durch einen Doppelpfeil symbolisiert. Ein Beispiel ist die Bildung und zu den Ausgangsstoffen Essigsäure und Ethanol „versei-
des Lösemittels Essigsäureethylester aus den Edukten Essigsäure fen“ (Rückreaktion). Zu einem bestimmten Zeitpunkt tritt der
und Ethanol in Gegenwart einer katalytischen Menge Säure. Zustand ein, dass die Anzahl der sich bildenden Estermoleküle
O O
CH3 C OH + HO C2H5 CH3 C O C2 H5 + H2O + 3,2 kJ/mol
+ Ethanol
Essigsaure
Essigsaureethylester + Wasser
z Rückreaktion
Wird 1 mol reiner Essigsäureethylester mit 1 mol Wasser und
einer katalytischen Menge Säure vermischt, so zerfällt der Ester
allmählich in seine Ausgangsstoffe Essigsäure und Ethanol. Diese
sogenannte Verseifungsreaktion schreitet so lange voran, bis sich
wieder das Gleichgewicht von 0,666 mol Essigsäureethylester/
Wasser und 0,333 mol Essigsäure/Ethanol (. Abb. 8.8b) einge-
stellt hat.
Exkurs 8.2
a b
. Abb. 8.10 Apfelkrieg, (a) Anfang, (b) Gleichgewicht, die Anzahl der Äpfel ist im Gleichgewichtszustand im Garten des Sportlers (rechts) kleiner als
im Garten des Seniors (links)
8.4 · Massenwirkungsgesetz – reversible Reaktionen im Gleichgewichtszustand
115 8
x mol ⋅ 0, 01 mol
Die Lage chemischer Gleichgewichte lässt sich durch das Massen- K= = 4 → 0, 01⋅ x = 4 ⋅ (1− 2 ⋅ x + x 2)
(1− x) mol ⋅ (1− x) mol
wirkungsgesetz (MWG) beschreiben. Dabei werden die Konzen-
trationen der Reaktionsprodukte unter Berücksichtigung der stö-
8, 01
chiometrischen Faktoren (υ) als Produkt in den Zähler und die Auflösen nach x² ergibt: 4 ⋅ x 2 − 8, 01⋅ x + 4 = 0 → x 2 − ⋅ x + 1= 0
4
Konzentrationen der Ausgangsstoffe als Produkt in den Nenner
geschrieben (siehe 7 Exkurs 8.2 für ein anschauliches Beispiel). 8, 01 8, 012
x12
, = ± − −1 = 1, 00125 ± 0, 0500 mol
Die Konzentrationen flüssiger Ausgangsstoffe und Reaktionspro- 4⋅2 4 ⋅ 2
dukte werden in mol/l und für gasförmige Stoffe in bar angege-
ben. Für eine definierte Temperatur ist das MWG eine konstante ⇒ x1 = 1, 051 mol x 2 = 0, 951 mol
Größe. Dieses konstante Verhältnis wird mit der Gleichgewichts-
konstante K bezeichnet. Nur die zweite Lösung ist chemisch sinnvoll. D. h. wenn es ge-
Somit ergibt sich für eine allgemeine chemische Gleichung lingt, den Wassergehalt im Gleichgewicht niedrig zu halten, wer-
mit den Ausgangsstoffen A und B und den Reaktionsprodukten den statt 0,67 mol (Beispiel 1) 0,95 mol Ester gebildet (siehe auch
C und D die Gleichgewichtskonstante K wie folgt: 7 Abschn. 8.5.2).
[C]c ⋅ [ D]d Sowohl die Veresterungs- als auch die Verseifungsreaktion im Bei-
a A+b B c C+d D ⇒ K =
[ A ]a ⋅ [ B]b spiel verlaufen spontan, d. h. unter Freisetzung von Gibbs-Energie
(ΔGR < 0, . Abb. 8.11). Die Gibbs-Energie erreicht für die Hin- und
Für K ≫ 1 überwiegen die Reaktionsprodukte C und D, während Rückreaktion im Gleichgewichtszustand ein Minimum (ΔGR = 0).
für K ≪ 1 das Gleichgewicht weit auf Seite der Ausgangsstoffe A Da bei der Esterreaktion mehr Energie freigesetzt wird als bei der
und B liegt, also kaum Umsatz zu Reaktionsprodukten stattge- Verseifungsreaktion, liegt das Gleichgewicht auf Seite des Esters
funden hat. (67 %, . Abb. 8.11).
Insgesamt wird im Gleichgewicht die molare Standard-Gibbs-
Beispiel 1 Energie von
Für die Reaktion von Ethanol und Essigsäure zu Essigsäureethyl-
ester und Wasser ergibt sich folgende Gleichung (a = b = c = d = 1): ∆GR,
0
m = ∆GEster, m − ∆GVerseifung, m = −3, 2 kJ/mol
0 0
[Ester] ⋅ [Wasser]
K= freigesetzt. Zwischen der molaren Standard-Gibbs-Energie und
] ⋅ [Ethanol]
[Essigsaure
der Gleichgewichtskonstante gilt folgender Zusammenhang:
Setzen wir die Stoffmengen im Gleichgewicht der Essigsäu-
reethylesterreaktion (. Abb. 8.8b) ein, dann erhalten wir als ∆GR, m = −R ⋅ T ⋅ ln(K )
0
Gleichgewichtskonstante:
DGR0 : molare Standard-Gibbs-Energie, J/mol
0, 666 mol ⋅ 0, 666 mol R: allgemeine Gaskonstante, Naturkonstante, J/(mol · K)
K= =4
0, 333 mol ⋅ 0, 333 mol T: absolute Temperatur, K
K: Gleichgewichtskonstante einer chemischen Reaktion
Beispiel 2
Bei äquimolarem Einsatz von Ethanol und Essigsäure werden Wird die Gleichgewichtskonstante für die Essigsäureethylester-
66,6 % Ester gebildet. Wieviel Ester wird gebildet, wenn durch reaktion verwendet, dann errechnet sich die molare Standard-
wasserentziehende Maßnahmen der Wassergehalt auf 0,01 mol Gibbs-Energie zu:
einreguliert werden kann.
J
∆GR0 = −8, 314 ⋅ 273,15 K ⋅ ln(4)
K ⋅ mol
= −3.148 J/(Kmol) = −3, 2 kJ/mol
p p 2
x12
, =− ±
− q
2 2
8 Übung 4
Erklären Sie für die Knallgasreaktion H2 + O2 → 2 H2O + E die
Begriffe exotherme und endotherme Reaktion mithilfe einer
Graphik.
Die Reaktion verläuft exergonisch mit ∆GR,0 m = −228, 6 kJ/mol
für Wasserdampf. Berechnen Sie die Gleichgewichtskonstante
und interpretieren Sie das Ergebnis.
Übung 5
Erklären Sie anhand eines Beispiels den Nutzen des
Hess’schen Wärmesatzes. Führen sie hierfür eine Internet-
recherche durch.
Übung 6
Absolute Temperatur und absoluter Nullpunkt der
Temperaturskala sind innig miteinander verbunden.
Drücken sie den absoluten Nullpunkt in °C aus.
Übung 7
Was versteht man unter Entropie? Wie verändert sich
die Entropie beim Auflösen eines Salzes in Wasser, bei
Temperaturerhöhung, bei der Ammoniaksynthese und bei
der Sublimation eines Feststoffes?
Übung 8
Wie ist die Gibbs-Energie definiert und welche
grundsätzliche Aussage über eine chemische Reaktion lässt
sie zu? Wie sind Gibbs-Energie und Gleichgewichtskonstante
(K) miteinander verknüpft? Erklären Sie den Begriff
Gleichgewichtskonstante. Ist die Gleichgewichtskonstante
von Stoffmengen und Druck abhängig? Verändert sich die
Gleichgewichtskonstante bei Temperaturänderung?
Übung 9
Stickstoff und Wasserstoff stehen mit Ammoniak im
Gleichgewicht.
N2 + 3 H2 2 NH3
119 9
Kinetik –
Reaktionsgeschwindigkeit
hängt von Temperatur und
Konzentration ab
∆n ∆c
v= =
V ⋅ ∆t ∆t
v: Reaktionsgeschwindigkeit, mol/l × s
Dn: Stoffmengenänderung, mol
V : Reaktionsvolumen, l
Dt: Zeitintervall, s
Dc: Änderung Stoffmengenkonzentration, mol/l
Beispiel
Kalkstein (Calciumcarbonat, CaCO3) reagiert mit Salzsäure unter
. Abb. 9.3 Konzentrationsverläufe bei der Neutralisation von Kalkstein
Freisetzung von gasförmigem Kohlenstoffdioxid (CO2) und ge-
mit Salzsäure
löstem Calciumchlorid (CaCl2).
Geschwindigkeitsgesetze geben die exakte mathematische Be- . Abb. 9.4 Die Reaktionsgeschwindigkeit nimmt mit zunehmendem
schreibung der Reaktionsgeschwindigkeit als Funktion der zeit- Umsatz ab
abhängigen Konzentrationen c(t) wieder. Für die Reaktion von
Kalkstein mit Salzsäure definieren sich die zeitabhängigen Ge-
schwindigkeiten wie folgt: molare Verbrauch an Salzsäure (grüne Linie, . Abb. 9.3) ist somit
in einem definierten Zeitintervall doppelt so hoch wie für Kalk-
Produkte stein (rote Linie). Für die Neutralisation von Kalkstein mit Salzsäu-
re können fünf Geschwindigkeitsgesetze, zwei für die Edukte und
∆c(CaCl2) ∆c(CO2) ∆c(H2O)
v (CaCl2) = + = v (CO2) = + = v (H2O) = + drei für die Produkte formuliert werden. Deshalb ist es wichtig
∆t ∆t ∆t
anzugeben, auf welchen Stoff sich eine Geschwindigkeitsglei-
Die Reaktionsgeschwindigkeit der Produktbildung weist positive chung bezieht.
Vorzeichen auf, da diese entstehen.
Da die Konzentrationen von Kalkstein und Salzsäure abnehmen, Die Reaktionsgeschwindigkeit chemischer Reaktionen hängt
sind die Vorzeichen der Geschwindigkeitsgleichungen negativ. von den Konzentrationen der Edukte ab. Mit zunehmender Kon-
Die Geschwindigkeit des Salzsäureverbrauchs ist doppelt so zentration nimmt die Wahrscheinlichkeit an wirksamen Kolli-
groß wie für den Kalksteinverbrauch, da gemäß der Reaktions- sionen der Ausgangsmoleküle und somit der Bildung von Pro-
gleichung 1 mol Kalkstein 2 mol Salzsäure neutralisiert. Der dukten zu.
122 Kapitel 9 · Kinetik – Reaktionsgeschwindigkeit hängt von Temperatur und Konzentration ab
9.3.1 Geschwindigkeitsgesetz
. Abb. 9.8 Geschwindigkeitsverteilung von Sauerstoffmolekülen bei . Abb. 9.9 Je kleiner zerteilt Magnesium vorliegt, desto heftiger die
0 °C, 100 °C und 300 °C Reaktion mit Salzsäure
Ethanol (. Abb. 9.2 und 8.1.1). D. h., für die Rückreaktion ist die Katalysator
Aktivierungsenergie um 3,2 kJ/mol höher als für die Hinreak- Wilhelm Ostwald (1853–1932), der für seine Arbeiten
tion. Deshalb ist die Rückreaktion (k¬ ) langsamer als die Hinre- zur Katalyse 1909 den Nobelpreis erhielt, definierte
aktion (k® ), sodass im Gleichgewichtszustand die Konzentration Katalysatoren als Stoffe, die die Geschwindigkeit einer
an Ester und Wasser in der Reaktionslösung überwiegt. Für obige chemischen Reaktion erhöhen, ohne selbst dabei
Veresterungsreaktion ist die Hinreaktion vier Mal so schnell wie verbraucht zu werden.
die Rückreaktion (k→ = 4 ⋅ k← ) somit ist der Wert der Gleichge- Katalysatoren haben keinen Einfluss auf die thermody-
wichtskonstante gleich 4. namische Gleichgewichtslage und die Gleichgewichts-
parameter (K , DHR ) einer chemischen Reaktion. Das
bedeutet, die energetischen Zustände der Edukte und
9.9 Katalysatoren erhöhen die Produkte bleiben durch den Katalysator unangetastet.
Reaktionsgeschwindigkeit Katalysatoren erschließen lediglich einen neuen
Reaktionspfad mit niedrigerer Aktivierungsenergie
Wird ein Stück Würfelzucker in eine Flamme gehalten, so ent- (. Abb. 9.11, rote Linie) im Vergleich zur unkatalysierten
zündet sich dieser nicht. Wird der Würfelzucker jedoch vorher in Reaktion (blaue Linie), sodass sich das thermodynamische
Zigarettenasche gewälzt, brennt dieser. Chemisch betrachtet wirkt Gleichgewicht, d. h. der energetische Endzustand der
Zigarettenasche katalytisch. Produkte schneller einstellt.
Ein weiteres Beispiel einer Katalyse ist die Zersetzung von
Wasserstoffperoxid (H2O2) in Wasser und Sauerstoff. 30 %ige
Wasserstoffperoxidlösung kann in lichtundurchlässigen Gefäßen
9 bei Raumtemperatur über Monate und Jahre gelagert werden. 9.9.1 Prinzip der Katalyse
Durch Zugabe einer geringen Menge Braunstein (MnO2) erfolgt
jedoch Spontanzersetzung des Wasserstoffperoxids bereits bei Bei chemischen Reaktionen muss den Ausgangsstoffen zunächst
Raumtemperatur. die Aktivierungsenergie (EA) zugeführt werden, damit ein hoch-
Die weltweite Wertschöpfung durch katalytische Prozesse wird reaktiver Übergangszustand entsteht, der letztendlich in die Pro-
auf 6 Billionen Euro geschätzt. Katalysatoren werden nicht nur dukte zerfällt (. Abb. 9.11, s. a. . Abb. 9.2). Je höher der Aktivie-
in der chemischen Industrie zur Herstellung von großvolumigen rungsberg desto mehr Energie muss aufgebracht werden. Chemi-
Grundchemikalien wie Ammoniak, Schwefelsäure, Ethenetc. ein- sche Reaktionen sind kinetisch gehemmt, d. h., sie laufen nicht
gesetzt, sondern auch als Umweltkatalysatoren, wie z. B. der Drei- ab, wenn der Aktivierungsberg zu hoch ist, um durch Wärme-
wegekatalyator, um Autoabgase zu entgiften. Im menschlichen zufuhr überwunden werden zu können. Ein Katalysator geht
Körper sorgen Enzyme als Biokatalysatoren dafür, dass Stoffwech- mit den Edukten labile Zwischenverbindungen (. Abb. 9.12, rote
selvorgänge im wässerigen Milieu bei Normaldruck und milden Linie, Übergangszustand) ein, sodass sich ein Reaktionspfad mit
37 °C ablaufen. Enzyme werden aber auch kommerziell genutzt, geringerer Aktivierungsenergie, vergleichbar einem Pass durchs
um z. B. Milch zu Joghurt und Käse zu fermentieren und um aus Gebirge, eröffnet (rote Linie).
Trauben Wein zu gewinnen (. Abb. 9.10).
Gesamtmenge von ca. 2 g belegen als kleine Partikel die Ober-
fläche der Kanäle.
Der Katalysator ist integraler Bestandteil des Auspuffsystems,
sodass die Motorabgase zwangsweise durch die Kanäle strömen
müssen und dort entgiftet werden. . Abb. 9.16 Variation der Produktselektivität durch Verwendung
unterschiedlicher Katalysatoren
Für teure Edelmetallkatalysatoren muss die TON größer 1000 9.10 Lernkontrolle
sein, ansonsten ist das Verfahren unwirtschaftlich. D. h., mit
einem Mol Katalysator können mindestens 1000 Mol Produkt
hergestellt werden, anschließend muss der Katalysator erneuert Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
werden. Für Polymerisationskatalysatoren werden Umsatzzahlen Reaktionskinetik, Aktivierungsenergie, Übergangszustand,
bis zu 50.000.000 erzielt. Reaktionsgeschwindigkeit, Geschwindigkeitsgesetz, Ge-
Die Umlauffrequenz TOF (engl. für turnover frequency) ist ein schwindigkeitskonstante, Reaktionsordnung, Molekulari-
Maß für die Aktivität (Geschwindigkeit) eines Katalysators. Die tät, Arrhenius-Gleichung, präexponentieller Frequenzfak-
TOF ist die Produktivität eines Katalysors pro Zeiteinheit bzw. gibt tor, Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung, Katalysator,
an, wie viel Produktmenge pro Katalysatormenge und Zeiteinheit homogene Katalyse, heterogene Katalyse.
(Dt ) generiert wird. In der Literatur wird sowohl die physikalische
Einheit 1/s als auch 1/h verwendet.
? Verständnisfragen
nP TON Übung 1
TOF = =
nK ⋅ ∆t ∆t Erklären Sie den Ablauf chemischer Reaktionen unter
Verwendung der Begriffe Aktivierungsenergie und
Die Umlauffrequenz gibt an, wie viel Mol Produkt durch ein Übergangszustand. Warum kann Knallgas ( H2 + O2 ) bei
Mol Katalysator pro Sekunde resp. pro Stunde produziert Raumtemperatur problemlos gelagert werden, obwohl ein
werden. Die Umlauffrequenz für viele großindustrielle Prozesse einziger Funke ausreicht, um es zur Explosion zu bringen?
bewegt sich bei einem Umlauf pro Sekunde, d. h. TOF =11/s .
Wesentlich höhere Umlauffrequenzen ergeben Enzyme, die Übung 2
sich über hunderte von Millionen Jahren per Selektion opti- Die Aktivierungsenergie hat Einfluss auf die Geschwindigkeit
miert haben. So zersetzt das Enzym Katalase in menschlichen chemischer Reaktionen (Reaktionskinetik), während
9.10 · Lernkontrolle
129 9
die Reaktionsenthalpie maßgebend für die Lage des
chemischen Gleichgewichts ist (Thermodynamik). Wie ist
das zu verstehen?
Übung 3
Warum werden Geschwindigkeitsgesetze von Gleichge-
wichtsreaktionen direkt zu Beginn der Reaktion ermittelt?
Übung 4
Warum nimmt die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen
mit zunehmender Temperatur zu (Stichwörter: Boltzmann,
Aktivierungsenergie, Kollisionsfrequenz)? Wie viel Mal
schneller verläuft eine Reaktion bei einer Temperatur-
erhöhung um 50 °C?
Übung 5
Warum reagiert eine Säure mit einem Metall heftiger, wenn
dieses fein verteilt vorliegt?
Übung 6
Die Reaktion C 4H9Br + NaOC2H5 → C 4H9-O-C2H5 + NaBr läuft
mit folgender Kinetik ab:
T [min] 0 2,5 5 7,5 10
C4H9Br [mol] 0,0505 0,0475 0,0446 0,0419 0,0398
NaOC2H5 [mol] 0,0762 0,0732 0,0703 0,0676 0,0655
Übung 7
Was ist ein Katalysator? Erklären Sie, warum die chinesischen
Schriftzeichen für Katalysator und Heiratsvermittler nahezu
identisch sind.
Übung 8
Katalysierte Reaktionen können wesentlich selektiver
ablaufen als unkatalysierte Reaktionen. Selektiv bedeutet,
dass von mehreren Produktoptionen eine präferiert wird.
Woran liegt das?
Übung 9
Beschreiben Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen
homogener und heterogener Katalyse.
Übung 10
Der Autokatalysator heißt auch Dreiwegekatalysator, weil
er drei Schadstoffe gleichzeitig „entgiftet“. Um welche
Schadstoffe handelt es sich und zu welchen Endprodukten
werden diese mit über 90 % umgesetzt?
131 10
10.4 pH- und pK-Wert – Kennzahlen für die Stärke von Säuren und
Basen – 135
10.4.1 Autoprotolyse – 135
10.4.2 pH-Wert und pK-Wert – 135
10.4.3 pH-Wert starker Säuren und Basen – 137
10.4.4 pH-Wert schwacher Säuren und Basen – 138
10.4.5 Unterschied zwischen pH- und pKS-Wert – 139
a b c
. Abb. 10.1 (a) Zitronensäure in Südfrüchten, (b) Natronlauge für Laugengebäck und (c) Salz für den Geschmack (© alexlukin/Fotolia, weseetheworld/
Fotolia, ekaterina_belova/Fotolia)
Säuren, Basen und Salze sind allgegenwärtig (. Abb. 10.1). So (Calciumhydroxid) wird zum Tünchen von Häuserfassaden ver-
würzen wir unsere Salate mit Essig (Essigsäure), schützen uns mit wendet. Ammoniak in Glasreinigern sorgt beim Fensterputzen
Vitamin C (Ascorbinsäure) aus Südfrüchten vor Erkältungen und für schlierenfreie Durchsicht.
ohne Milchsäure gäbe es keinen Joghurt. Magensäure (0,5 %ige Kochsalz macht Suppen schmackhaft und Tausalz hilft beim
Salzsäure) hilft nicht nur bei der Verdauung, sondern auch beim Enteisen von Hauseingängen. Ammonsalpeter (Ammoniumnit-
Abtöten von Krankheitserregern in der Nahrung. Ameisen, rat) ist ein wichtiger Stickstoffdünger. Flussspat (Calciumfluorid)
Quallen und Brennnessel schützen sich mit Ameisensäure vor erleichtert die großtechnische Aluminiumherstellung.
allzu zudringlichen Zeitgenossen. Ohne Batteriesäure (Schwefel- Seit jeher ist bekannt, dass Säuren einen sauren Geschmack
10 säure) in Bleiakkumulatoren, kein bequemer Start von Verbren- aufweisen und den Pflanzenfarbstoff Lackmus rot färben
nungsmotoren. Fruchtsäuren wie Zitronensäure, Weinsäure und ( . Abb. 10.2a). Laugen, d. h. wässrige Lösungen von Basen,
Apfelsäure verleihen den entsprechenden Früchten ihren einzig- färben dagegen Lackmus blau, schmecken bitter und fühlen sich
artigen Geschmack. Saure Kalkreiniger lösen unansehnliche Kalk- seifig an (. Abb. 10.2b). Sowohl Säuren als auch Basen weisen
flecken auf Fliesen, Armaturen und Sanitärkeramik auf und führen ätzende Wirkung auf, können also lebendes Gewebe (Haut, Augen,
diese in leicht abspülbare, wasserlösliche Salze über. Schleimhäute) zerstören, weshalb man sich vor Kontakt durch per-
In den 1970er Jahren litt die Umwelt am sauren Regen. Die sönliche Schutzausrüstung (Schutzbrille, Handschuhe) schützen
Verbrennung fossiler Brennstoffe (Kohle, Heizöl, Benzin) setzte muss. Säuren und Basen müssen mit dem Gefahrensymbol für
große Mengen Schwefeldioxid frei, das in der Atmosphäre Schwe- ätzende Stoffe gekennzeichnet werden (. Abb. 10.2c).
felsäure bildete (7 Abschn. 12.6.2). Da die gebildete Säure auf die
Erde abregnete, resultierten Schäden an Kalksteinfassaden, Pflan-
zen und insbesondere Wäldern. Erst Rauchgasentschwefelungs- 10.1 Arrhenius – Säuren/Basen geben an
anlagen und das Absenken des Schwefelgehaltes von Kraftstof- Wasser H+ resp. OH− ab
fen in Verbindung mit dem Dreiwegekatalysator verbesserten die
Situation. Die erste brauchbare Definition für Säuren und Basen stammt
Alkalische (basische) Natronlauge-Reiniger lösen Fett- und von dem schwedischen Physikochemiker Svante Arrhenius aus
Haarrückstände in verstopften Abflussrohren auf. Bäcker tauchen dem Jahre 1887.
Teiglinge von Croissants, Brezeln, Semmeln etc. vor dem Backen Arrhenius führte als Erster die sauren Eigenschaften von
in Bäckerlauge (4 %ige Natronlauge), wodurch die typische braun Säuren auf H+-Ionen (Protonen) und die basischen Eigenschaf-
glänzende Haut des Laugengebäcks erhalten wird. Kalkmilch ten auf Hydroxidanionen (OH−) in wässriger Lösung zurück. Die
a b c
. Abb. 10.2 (a) Säuren färben Lackmus rot (b) Basen dagegen blau (c) Gefahrensymbol ätzend (© Schlierner/Fotolia, Bamumaru/Fotolia, T. Michel/Fotolia)
10.2 · Brønsted – Säuren/Basen als Protonendonatoren resp. Protonenakzeptoren
133 10
H2O
+
10.2 Brønsted – Säuren/Basen als
HCl H + Cl–
Protonendonatoren resp.
H2O Protonenakzeptoren
NaOH Na + + OH–
Zusammenfassung Arrhenius-Säuren/Basen
55Arrhenius-Säure: Wasserstoffverbindungen, die in 10.2.1 Konjugierte Säure-Base-Paare
Gegenwart von Wasser Protonen abspalten, z. B. HCl.
55Arrhenius-Base: Hydroxidverbindungen, die in Gegenwart Säuren und Basen sind nach Brønsted komplementär, sodass stets
von Wasser Hydroxidanionen abspalten, z. B. NaOH. zwei konjugierte Säure-Base-Paare vorliegen (. Abb. 10.6). Aus
55Säure-Base-Reaktion: Reaktion von Protonen mit Ammoniak (Protonenakzeptor) entsteht durch Protonenauf-
Hydroxidanionen zu Wasser. nahme ein Ammoniumkation (Protonendonator). Ammonium-
55Milieu: Definition ist auf Wasser beschränkt. kationen können unter Bildung von Ammoniak (NH3) Protonen
55Wertigkeit: Anzahl der Protonen resp. Hydroxidanionen, abgeben, sind somit Brønsted-Säuren. Das durch Protonenauf-
die ein Säure- resp. Basenmolekül an Wasser abspalten nahme „automatisch“ resultierende Teilchen (NH+ 4 ) wird als kon-
können. jugierte (lat. für verbundene) Säure bezeichnet. NH+4 (Säure) und
NH3 (Base) konkurrieren letztendlich um das Proton und bilden
2–
H2SO4 HSO4– + H+ SO4 + 2 H+
. Abb. 10.4 Schwefelsäure als zweiwertige Säure und Aluminiumhydroxid als dreiwertige Base
134 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
. Abb. 10.8 Wasser ist ein Ampholyt, sodass es als Brønsted-Base (oben)
oder als Brønsted-Säure wirken kann
. Abb. 10.6 Ammoniak als Brønsted-Base und Wasser als Brønsted-Säure 44Auch Ionen wie Ammonium (NH4+) oder Chloridanionen
bilden jeweils konjugierte Paare (Cl−) können nach Brønsted saure resp. basische Eigen-
schaften aufweisen.
H
– 10.2.2 Ampholyte
H2O + H Cl H O+ + Cl
. Abb. 10.9 Neutralisation der Lewis-Base NH3 mit der Lewis-Säure BF3
ist und das Ionenprodukt des Wassers bei 25 °C den Wert 10−14
mol²/l² aufweist.
Je höher die Hydroniumionenkonzentration [H3O+], desto
saurer ist die Lösung, da aufgrund der Konstanz des Ionenpro-
dukts dann die Hydroxidionenkonzentration abnimmt. Beträgt
beispielsweise nach Säurezugabe zu Wasser die Hydroniumionen-
konzentration 10−3 mol/l, dann ist die Hydroxidionenkonzentra-
tion nur noch 10−11 mol/l.
pH-Wert
Auf die Dauer ist es ermüdend, die Säurestärke in unpraktischen
Zehnerpotenzen oder Nachkommastellen anzugeben. Deshalb
wurde die Definition des pH-Wertes als negativer dekadischer
Logarithmus (7 Exkurs 10.1) der Hydroniumionenkon-
zentration eingeführt. pH steht dabei für das lateinische pondus
hydrogenii, was so viel wie Kraft, Gewicht des Wasserstoffs . Abb. 10.13 pH-Wert-Skala mit Beispielen aus dem Alltag
bedeutet. Die pH-Wert-Definition ist eine Rechenvorschrift, die
die Hydroniumionenkonzentration von Säuren resp. Basen in
handliche Zahlenformate überführt (. Abb. 10.13).
Saure Lösungen haben eine Hydroniumkonzentration größer
pH = − log[H 3O+]
10−7 mol/l, sodass der pH-Wert von Säuren kleiner als 7 ist. Laugen
Für die Berechnung des pH-Wertes muss die Konzentration (wässrige Lösungen von Basen) weisen dagegen eine Hydronium-
10 der Hydroniumionen in mol/l vorliegen. So ergibt sich konzentration kleiner 10−7 mol/l auf und somit ist der pH-Wert
beispielsweise der pH-Wert für neutrales Wasser zu größer als 7. Reines Wasser als neutraler Referenzpunkt hat einen
pH = ‒log[10‒7 mol/l] = 7. pH-Wert von 7.
Saure Losungen: [H3O+] > 10−7 mol / l → pH < 7
Exkurs 10.1
H2O
HCl + H2O H3O+ + Cl– NaOH Na+ + OH–
. Abb. 10.14 Dissoziation von Chlorwasserstoff in Proton und . Abb. 10.15 Dissoziation von Natriumhydroxid in Natriumkation und
Chlorididanion Hydroxidanion
138 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
Der pOH-Wert ist analog zum pH-Wert als negativer dekadi- HA + H2O H3O+ + A–
scher Logarithmus der Hydroxidionenkonzentration definiert. Die
Hydroxidionenkonzentration muss in mol/l eingesetzt werden. MOH M+ + OH–
c ⋅ m ⋅ z
pOH = − log[OH−] = − log B B . Abb. 10.16 Schwache Säuren (oben) und Basen dissoziieren nur zu
M B ⋅ VB einem geringen Anteil in Ionen
Lösung
1⋅ 8 ⋅1 g In Analogie zum pH-Wert ist der negative dekadische Logarith-
pOH = −log = −log(0, 001) = 3 und mus der Säurekonstante als pKS-Wert definiert (pKS = ‒log(KS)),
40, 0 g/mol ⋅ 200 l
pH = 14−pOH = 14 − 3 = 11
sodass sich die Gleichung des pH-Werts für schwache Säuren ver-
einfacht zu:
Da der pOH-Wert 3 beträgt, ist der pH-Wert dieser Natronlauge-
lösung 14 minus 3 gleich 11. pH = 0, 5 ⋅ (pKS − log[HA 0])
Ergebnis Völlig analog ergibt sich der pH-Wert für schwache Basen:
8 Gramm Natronlauge gelöst in 200 Liter Wasser ergeben einen
pH-Wert von 11. pH = 14− pOH = 14 − 0, 5 ⋅ (pK B − log[MOH 0])
10.4 · pH- und pK-Wert – Kennzahlen für die Stärke von Säuren und Basen
139 10
Beispiel 4 realen Säurelösungen wiedergibt. Je nach Säurekonstante K S
Berechnen Sie den pH-Wert einer 0,1-molaren Lösung Essigsäure resp. dem pKS-Wert können Säuren in sehr starke, starke, mittel-
(pKS = 4,75). starke, schwache und sehr schwache Säuren klassifiziert werden
(. Tab. 10.1).
pH = 0, 5 ⋅ (4, 75 − log 0, 1) = 0, 5 ⋅ (4, 75 − (−1)) = 2, 88
. Tabelle 10.2 gibt einen Überblick über verschiedene
Brønsted-Säuren und Basen.
Der Dissoziationsgrad von Säuren und Basen, auch als Proto-
Beispiel 5 lysegrad (α) bezeichnet (. Abb. 10.17), ergibt sich aus der Defini-
Berechnen Sie den pH-Wert einer 1 molaren Ammoniaklösung tion der Säurekonstante:
(pKS = 9,2).
Da der pKS-Wert für Ammoniak 9,2 beträgt, errechnet sich der α ⋅ [HA o] ⋅ α ⋅ [HA o] α 2 ⋅ [HA o]
KS = = →
benötigte pKB-Wert zu 14 - 9,2 = 4,8. (1 − α) ⋅ [HA o] (1 − α)
Mit dem pKB-Wert können wir dann den pH-Wert der Ammoniak-
KS K 2 KS
lösung berechnen: α =−
+ 2 ⋅ [HA ] + [HA ]
S
2 ⋅ [HA o] o o
pH = 14 − 0, 5 ⋅ (4, 8 − log1) = 14 − 0, 5 ⋅ (4, 8 − 0) = 11, 6
. Tab. 10.2 Brønsted-Säuren und Basen geordnet nach pKS resp. pKB-Wert
10 9,25 NH+
4
Ammonium Ammoniak NH3 4,8
der sechsten Hauptgruppe, dass die Säurestärke in der Reihenfolge 10.5 Salze – Säuren und Basen neutralisieren
H2O < H2S < H2Se < H2Te < H2Po zunimmt. Größere Anionen sich zu Salzen
verringern die Bindungsstärke zwischen Wasserstoff und dem Ele-
mentatom, sodass Protonen leichter abgespaltet werden können. Verrührt man vorsichtig äquimolare Mengen von Säuren und
Basen, so trifft auf jedes Hydroniumion (H3O+) ein Hydroxida-
nion (OH−), sodass sie sich neutralisieren (. Abb. 10.18). Dabei
entstehen unter Freisetzung der Neutralisationswärme Salz und
Wasser. Die Wertigkeit der einzelnen Säuren und Basen muss
berücksichtigt werden, damit alle Protonen auf ein Hydroxida-
nion treffen und vice versa. Die entstehenden Salze (. Tab. 10.3)
liegen meist in Lösung als hydratisierte Ionen vor, schwerlösliche
Salze fallen aus.
. Abb. 10.17 Der Protolysegrad schwacher Säuren nimmt mit . Abb. 10.18 Neutralisation verschiedener Säuren und Basen zu Salzen
zunehmender Konzentration ab und Wasser
10.6 · Bestimmung des pH-Wertes
141 10
. Tab. 10.3 Salze und deren theoretische Bildung aus Säure und Base
10.6 Bestimmung des pH-Wertes Farbe auf als die konjugierte Base (. Abb. 10.20). So ist beispiels-
weise Phenolphthalein im sauren und neutralen Bereich farblos, ab
10.6.1 Indikator pH 8,2 aber rot. Bei hohem pH-Wert ändert sich die Molekülstruk-
tur des Phenolphthaleins, einhergehend mit einem anderen Licht-
Säure-Basen-Indikatoren sind organische Farbstoffe, mit deren absorptionsverhalten. Wird die Lösung erneut angesäuert, schlägt
Hilfe festgestellt werden kann, ob eine Lösung sauer oder alkalisch die Farbe der Lösung wieder nach farblos um. . Tabelle 10.4 gibt
reagiert. So zeigt der Lackmustest bei Rotfärbung eine Säure und den Umschlagsbereich und die Farben verschiedener Indikato-
bei Blaufärbung eine Base an. Im metaphorischen Sinne entspricht ren an.
der Lackmustest einer Gretchenfrage, gleichbedeutend einer
Bekenntnisfrage, bei der beispielsweise ein Politiker klar „Farbe“
bekennen muss, ob er beispielsweise für oder gegen Atomkraft ist. 10.6.2 Glaselektrode
Indikatoren können als Lösung zugegeben werden. Je nach
Farbumschlag ist erkennbar, ob die Lösung sauer oder alkalisch Bequem ist die kontinuierliche Messung des pH-Wertes einer
ist (. Abb. 10.19b). Eine weitere Möglichkeit ist das Eintauchen Lösung durch Eintauchen einer Glaselektrode ( . Abb. 10.21).
von pH-Teststreifen, die mit verschiedenen Indikatoren getränkt Eine pH-Glaselektrode ist ein dickwandiges Glasrohr, an dessen
wurden. Durch Vergleich des Streifens mit einer Farbskala kann unterem Ende eine sehr dünne kugelförmige Glasmembran von
dann der pH-Wert einer Lösung bestimmt werden (. Abb. 10.19a). 50 µm Dicke angeschmolzen ist. Je nach pH-Wert der Außen-
Indikatoren sind für sich konjugierte organische Säure-Base- lösung (pHa) wird eine elektrische Spannungsdifferenz zwi-
Paare. Die undissoziierten Säuremoleküle weisen eine andere schen einer Bezugselektrode in der Pufferlösung im Innern der
a b
. Abb. 10.19 pH-Teststreifen (a) und Indikatorlösung (b) zeigen an, welchen pH-Wert Lösungen haben (a © Schlierner/Fotolia)
142 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
O
HO
OH
+ 2 NaOH – 2 H2O
+ 2 HCl – 2 NaCl
O
O
ONa
O
ONa
. Abb. 10.20 Phenolphthalein, farblos in saurer (links) und rot in alkalischer (rechts) Lösung
a b c
. Abb. 10.22 Titrationskurve (a), Farbumschlag am Äquivalenzpunkt (b), Natronlaugeverbrauch (c) (b © spencergrant/Fotolia, c © PRHaney – Meniscus,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meniscus.jpg)
144 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
44Der Verbrauch von 20 ml 0,1-molarer Natronlauge d. h. sämtliche Essigsäure wurde mit Natriumhydroxid
entspricht einer Stoffmenge von 20·0,1 mmol = 2 mmol neutralisiert.
NaOH. 44Der Äquivalenzpunkt (ÄP, pH = 8,7) ist nicht identisch mit
442 mmol NaOH neutralisieren 2 mmol HCl (siehe Neutralisa- dem Neutralpunkt (NP, pH = 7).
tionsgleichung, Schritt 1). 44Methylorange ist als Indikator für die Titration schwacher
441 mol HCl entspricht der Stoffmenge von 36,45 g HCl, so Säuren nicht geeignet, da der Farbumschlag im flachen
dass 1 mmol 36,45 mg HCl entsprechen. Bereich der Titrationskurve liegt, sodass der Äquivalenz-
44Im Erlenmeyerkolben befinden sich somit 2·36,45 mg = 72,9 punkt nicht bestimmt werden kann.
mg HCl.
44Da ja nur 25 von 100 ml Salzsäurelösung aus dem Das beschriebene manuelle Titrationsverfahren ist für Routine-
Messkolben in den Erlenmeyerkolben transferiert wurden, bestimmungen von automatischen Titrationsapparaturen, sog.
enthielt der 100 ml Messkolben 4·72,9 mg = 291,6 mg HCl. Titratoren, abgelöst worden. Dabei wird der Äquivalenzpunkt mit-
hilfe einer pH-Elektrode (. Abb. 10.21) elektronisch ermittelt. Die
In 7Abschn. A.5 wird die Berechnung des Titrationskurvenver- Zugabe der Maßlösung wird über das Spannungspotential an der
laufs, d. h. des graphischen Verlaufs des pH-Werts in . Abb. 10.22a, Glaselektrode mit Präzisionsbüretten geregelt. Ein integrierter
als Funktion des zugegebenen Volumens der Natronlauge-Maßlö- Computer berechnet aus den elektronisch erfassten Daten sofort
sung (x-Achse) detailliert beschrieben. . Abbildung 10.22a zeigt, den Gehalt der zu bestimmenden Säure (Alkalimetrie) resp. Base
dass die drei Indikatoren Phenolphthalein, Bromthymolblau und (Acidimetrie).
Methylorange zur Bestimmung des Äquivalenzpunktes (pH = 7) Säure-Base-Titrationen werden zur Qualitätskontrolle, z. B.
starker Säuren geeignet sind, da deren Umschlagbereiche sich im zur Bestimmung des Säuregehalts von Fruchtsäften, Wein, Milch
steilen Verlauf der Titrationskurve befinden. und freier Fettsäuren von Speiseölen, des Basengehalts von Rei-
nigungsmitteln und bei der Prozessüberwachung in der chemi-
10 10.7.2 Titration einer schwachen Säure mit einer
schen Industrie eingesetzt.
starken Base
10.8 Pufferlösungen – der pH-Wert bleibt
Titriert man eine schwache Säure wie Essigsäure mit einer starken konstant
Base wie Natriumhydroxid, unterscheidet sich der Verlauf der Tit-
rationskurve (. Abb. 10.23). Chemische Reaktionen und enzymatische Stoffwechselvorgänge
44Der Anfangs-pH-Wert liegt höher als bei einer starken Säure verlaufen optimal bei definiertem, konstanten pH-Wert. Eine pH-
wie Salzsäure, da ja nur ein Teil der Essigsäure dissoziiert Wert-Änderung des Blutes (7 Exkurs 10.2) würde strukturelle Ver-
vorliegt (Protolysegrad α ~ 1 %). änderungen von Eiweißmolekülen wie Enzymen zur Folge haben
44Bei pH = 4,8, ist 50 % der Essigsäure neutralisiert, sodass und zu schweren Stoffwechselkrankheiten bis hin zum Tod führen.
sich ein Wendepunkt im Kurvenverlauf ergibt, der dem Deshalb gilt es in industriellen Prozessen und in lebenden Zellen
pKS-Wert von Essigsäure von 4,75 entspricht. drastische pH-Wert-Änderungen abzupuffern.
44Der zweite Wendepunkt der Kurve liegt bei pH = 8,7 Sogenannte Pufferlösungen bzw. Puffersysteme sorgen dafür,
und entspricht dem Äquivalenzpunkt der Titration, dass der pH-Wert chemischer Reaktionen und biochemischer
a b
. Abb. 10.23 a Titrationskurvenverlauf für Essigsäure, b Vollautomatischer Titrator (b © Deutsche Metrohm GmbH, 2016)
10.8 · Pufferlösungen – der pH-Wert bleibt konstant
145 10
Stoffwechselvorgänge selbst bei Auftreten größerer Menge Säure Bei Zugabe starker Basen wird die Essigsäure (Puffersäure)
oder Base weitestgehend konstant bleibt (. Abb. 10.24). neutralisiert (. Abb. 10.26). Das daraus resultierende Natriumace-
Generell bestehen Pufferlösungen entweder aus einer schwachen tat reagiert nur im geringen Ausmaß mit Wasser zu Essigsäure und
Säure (Puffersäure) und deren konjugierter Base (Pufferbase) oder Natronlauge, sodass unterm Strich die Menge der freien Hydro-
aus einer schwachen Base und deren konjugierter Säure (. Tab. 10.5). xidionen um 98 % kleiner ausfällt als die Menge der über das Nat-
riumhydroxid zugegebenen Hydroxidionen.
. Abb. 10.25 Abpufferung von Säuren durch die Pufferbase Acetat (konjugierte Base)
146 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
Logarithmieren und multiplizieren mit minus 1 auf beiden (OH−) kann die Pufferlösung abfangen. Beim Verdünnen bleibt
Seiten, ergibt mit den Definitionen des pH-Werts und des Säu- das Konzentrationsverhältnis von [A−]/[HA] konstant, sodass der
reexponenten pKS die Henderson-Hasselbach-Gleichung oder pH-Wert der Pufferlösung gleich bleibt. Lediglich die Absolutkon-
Puffer-Gleichung. zentrationen ändern sich, wodurch die Pufferkapazität abnimmt.
Pufferlösungen werden in der Praxis in einem pH-Bereich von
[H3O+] ⋅ [A−] pKs ± 1 eingesetzt.
− log KS = − log
[HA]
Beispiel
[A−]
= −log[H3O+] − log → −log[H3O+] Um die Kapazität (Leistungsfähigkeit) von Pufferlösungen zu ver-
[HA]
anschaulichen, betrachten wir die pH-Wert-Änderungen eines Es-
[A−] [A−]
= −log KS + log → pH = pKS + log sigsäure-Natriumacetat-Puffers (pKS = 4,75) nach Zugabe von 0,1 l
[HA] [HA] bzw. 1,0 l 0,1-molarer Salzsäure-, resp. Natriumhydroxidlösung zu
Henderson-Hasselbalch-Gleichung einem Liter Pufferlösung. Dies vergleichen wir mit der pH-Ände-
rung bei Zugabe gleicher Mengen Salzsäure resp. Natronlauge zu
Aus der Henderson-Hasselbalch-Gleichung ergeben sich folgende ungepuffertem Wasser. Der Puffer setzt sich aus je ein Mol Essig-
Zusammenhänge: säure (HA) und Natriumacetat (A−) zusammensetzt.
44Weisen Pufferbase und Puffersäure die gleiche Konzen- pH-Wert des Puffers im Ausgangszustand:
10 tration auf ([A‒] = [HA]), entspricht der pH-Wert der
1
Pufferlösung dem pKS-Wert der Puffersäure. pH = 4, 75 + log = 4, 75
1
44Eine Verdünnung des Puffers hat nur geringe Auswirkung
auf den pH-Wert, da sich durch Verdünnung das Verhältnis pH-Wert des Puffers nach Zugabe von 0,01 mol/l Salzsäure resp.
([A−]/[HA]) nicht ändert. Natronlauge:
44Der pH-Wert einer Pufferlösung kann über das Verhältnis Zugabe von 0,1 Liter 0,1-molarer Salzsäure (pH = 1) resp. Natron-
von Pufferbase [A−] zu Puffersäure [HA] feinjustiert lauge (pH = 13) zu einem Liter der Pufferlösung ergibt folgende
werden. pH-Werte:
44Mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung kann der pH des 1− 0, 1⋅ 0, 1
Puffers nach Säure- oder Basezugabe errechnet werden. 0, 1 l 0, 1-molare HCl : pH = 4, 75 + log = 4, 74
1+ 0, 1⋅ 0, 1
1+ 0, 1⋅ 0, 1
10.8.3 Pufferoptimum 0,1 l 0, 1-molare NaOH : pH = 4, 75 + log = 4, 76
1− 0, 1⋅ 0, 1
Nach der Henderson-Hasselbalch-Gleichung wirken sich auf pH-Wert des Puffers nach Zugabe von 0,1 mol/l Salzsäure resp.
den pH-Wert nicht die Absolutmengen, sondern lediglich das Natronlaugelösung:
molare Verhältnis von Pufferbase zu Puffersäure für eine gege- Zugabe von einem Liter 0,1 molarer Salzsäure (pH = 1) resp. Nat-
bene Pufferlösung aus. Eine Pufferlösung wirkt optimal, wenn die ronlauge (pH = 13) zu einem Liter der Pufferlösung ergibt folgen-
molaren Konzentrationen an Pufferbase und Puffersäure äqui- de pH-Werte:
valent ([A‒] = [HA]) sind, da dann der Puffer im gleichen Maße 1−1⋅ 0, 1
Protonen und Hydroxidanionen abfängt und sich dann sowohl 1 l 0, 1-molare HCl : pH = 4, 75 + log = 4, 66
1+ 1⋅ 0, 1
bei Base- als auch Säurezugabe der pH-Wert am wenigsten ändert.
Allgemein gilt, dass das Pufferoptimum dann gegeben ist, wenn 1+ 1⋅ 0,1
1 l 0, 1-molare NaOH : pH = 4, 75 + log = 4, 84
der pH-Wert eines Puffersystems dem pKS-Wert der Puffersäure 1−1⋅ 0,1
resp. dem pKB-Wert der Pufferbase entspricht. pH-Wert von Wasser
Wenn das Verhältnis [A‒]/[HA] > 1 ist, liegt mehr Pufferbase pH = 7
als Puffersäure vor, so dass der Puffer mehr Säure abpuffern kann
als Säure. Ist das Verhältnis [A‒]/[HA] < 1, puffert die Lösung ver- pH-Wert von Wasser nach Zugabe von 0,01 mol/l Salzsäure resp.
stärkt Basen ab. Natronlauge:
Zugabe von 0,1 Liter 0,1-molarer Salzsäure (pH = 1) resp. Natron-
lauge (pH = 13) zu einem Liter Wasser ergibt folgende pH-Werte:
10.8.4 Pufferkapazität
0, 1 l Liter 0, 1-molare HCl : pH =− log (0, 01 / (1+ 0, 1)) = 2, 04
Je höher die absoluten Mengen an Pufferbase (A−) und Puffersäure
(HA) sind, umso mehr Protonen (H+) resp. Hydroxidanionen 0, 1 l 0, 1-molare NaOH : pH= 14 − log(0, 01 / (1+ 0,1)) = 11, 96
10.9 · Lernkontrolle
147 10
Reale Pufferlösungen
Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, Pufferlösungen
herzustellen, indem man entweder
55eine Lösung aus Puffersäure (HA, z.B. Essigsäure) und
Pufferbase (A−, z. B. Natriumacetat) herstellt und über
das Mischungsverhältnis [A−]/[HA] den pH-Wert des
Puffers gemäß der Henderson-Hasselbalch-Gleichung
abweichend vom pKS-Wert einstellt, oder
55Puffersäure, z. B. Essigsäure mit Natronlauge titriert,
wodurch eine der Natronlauge äquivalente Menge
an Pufferbase (Natriumacetat) entsteht und über die
. Abb. 10.27 pH-Wert-Änderung nach Zugabe von 0,1 mol NaOH/HCl zu Natronlaugezugabe das gewünschte Mischungs-
1 l Wasser (links) resp. Pufferlösung (rechts) verhältnis [A−]/[HA] bzw. der pH-Wert erzielt wird.
Übung 2
Exkurs 10.2 Die Brønsted-Definition von Säuren und Basen ist heute
Blutpuffer noch aktuell. Wie definiert Brønsted Säuren und Basen? Was
Der Mensch erzeugt im Ruhezustand pro Tag ca. 15 mol ist unter einem konjugierten Säure-Base-Paar zu verstehen?
Hydroniumionen [H3O+] und bei sportlicher Betätigung noch
wesentlich mehr. Ursprung der Hydroniumionen ist das bei der Übung 3
Zellatmung (7 Abschn. 20.8.2) entstehende Kohlenstoffdioxid (CO2),
Was versteht man unter der Autoprotolyse des Wassers?
das sich im Blut löst und dabei Kohlensäure bildet. Die Menge der
durch die Zellatmung erzeugten Hydroniumionen würde ausreichen, Erklären Sie das Ionenprodukt des Wassers. Warum ist
um den pH-Wert von 150 l Wasser auf 1 abzusenken. Wasser ein Ampholyt?
Darüber hinaus reicht die der Zelle zugeführte Sauerstoffmenge bei
starker körperlicher Betätigung nicht aus, um Glukose vollständig zu Übung 4
CO2 abzubauen, sodass auch Milchsäure (Lactat) entsteht, die den
Wie ist der pH-Wert definiert? Warum wird in der Definition
gefürchteten Muskelkater verursacht.
pH-Wert-Änderungen in Blutplasma und Zellflüssigkeit können die Logarithmusfunktion verwendet? Was ist ein pOH-Wert
zu erheblichen Stoffwechselerkrankungen führen, weshalb beim und wie kann dieser in einen pH-Wert transformiert werden?
Menschen mit hohem Aufwand der pH-Wert des Blutes auf 7,4
± 0,03 gepuffert wird. Der mit Abstand wichtigste Blutpuffer ist Übung 5
der Hydrogencarbonat-Kohlensäure-Puffer. Allerdings wäre die
Welchen pH-Wert haben generell Säuren, Wasser und
Pufferkapazität des Menschen schnell erschöpft, wenn nicht über die
Lunge 15 mol CO2 = 335 Liter Kohlenstoffdioxid pro Tag ausgeatmet Basen? Verdünnt man eine Säurelösung mit pH = 2 um das
würden. Zehnfache, erhöht sich der pH-Wert um eine Einheit auf
pH = 3. Erklären Sie das.
148 Kapitel 10 · Säuren und Basen – der pH-Wert macht den Unterschied
Übung 6
Berechnen Sie den pH-Wert einer 0,001-molaren
Salzsäurelösung und einer 0,1-molaren
Natriumhydroxidlösung.
Übung 7
Berechnen Sie den pH-Wert einer Lösung von 0,245 g
Schwefelsäure (100 %) in 500 ml. Was gilt es im Falle der
Schwefelsäure zu berücksichtigen?
Übung 8
Erklären Sie die Begriffe Säurekonstante resp. Basekonstante.
Leiten Sie daraus den pH-Wert schwacher Säuren resp.
Basen ab. Erklären Sie den Unterschied zwischen pH-Wert
und Säurekonstante. Was ist der Protolysegrad? Wie verhält
sich der Protolysegrad bei zunehmender Konzentration von
Säure resp. Base?
Übung 9
Was ist eine Säure-Base-Titration? Erklären Sie den
Unterschied von Neutralpunkt und Äquivalenzpunkt.
Warum ist der Äquivalenzpunkt bei der Titration schwacher
10 Säuren oder Basen ungleich 7? Wie läuft typischerweise eine
acidimetrische Titration ab?
Übung 10
Was sind Pufferlösungen? Wie ist generell die
Zusammensetzung und Wirkungsweise von Puffern? Warum
kann durch Kombination starker Säuren mit starken Basen
kein Puffer formuliert werden? Leiten Sie die Henderson-
Hasselbalch-Gleichung her. Was versteht man unter
Pufferoptimum und Pufferkapazität?
149 11
Readoxreaktionen –
Elektronenübergang zwischen
Atomen
Glucose basieren auf chemischen Redoxreaktionen. Redoxreak- 44Für Elemente, die nur mit sich selbst eine Bindung
tionen ermöglichen auch den Antrieb von Elektroautos, die Her- eingehen (N2, O2, F2, Cl2, Br2, H2) oder atomar
stellung von Metallen aus Erzen (. Abb. 11.1), das Starten von Ver- vorliegen (Metalle, Edelgase) beträgt die Oxidationszahl
brennungsmotoren und die Photosynthese von Kohlenhydraten ±0.
aus Kohlendioxid und Wasser. 44Bindungen zwischen zwei gleichen Atomen, wie z. B.
Redoxreaktionen setzen sich stets aus zwei Halbreaktionen zwischen den Kohlenstoffatomen in Ethan (H3C-CH3)
zusammen: einer Oxidations- und einer Reduktionsreaktion mit oder den Sauerstoffatomen in Wasserstoffperoxid
11 einhergehendem Elektronenübergang vom oxidierten auf das (HO-OH), werden zu gleichen Teilen, also jeweils ein
reduzierte Atom. Bevor wir auf das Aufstellen komplexer Redox- Elektron den beiden Kohlenstoff- resp. Sauerstoffatomen,
reaktionen eingehen, wollen wir die Grundlagen dafür erarbeiten. zugeordnet. Somit beträgt die Oxidationszahl für
Kohlenstoff in Ethan −III und für Sauerstoff in Wasserstoff-
peroxid −I.
11.1 Oxidationszahl – Definition und 44Die formale Oxidationszahl (OZ) eines Elements
Bestimmung errechnet sich aus der Differenz der Gruppenzahl (bei
Hauptgruppenelemente nur letzte Ziffer der Hauptguppe)
Die Oxidationszahl der an der Redoxreaktion beteiligten Elemente gemäß PSE minus der Anzahl der Elektronen nach erfolgter
hilft uns zu erkennen, wie der Elektronenfluss bei Redoxreaktio- Bindungselektronenzuordnung entsprechend der Elektro-
nen erfolgt, d. h. welches Element Elektronen abgibt (Oxidation) negativität der beteiligten Elemente (. Tab. 11.1, rote
resp. welches Element Elektronen aufnimmt (Reduktion). Hilfslinien).
Cl2 Cl Cl OZCl = 7−7 = 0 (0) + (0) = 0 Molekül besteht aus zwei gleichen Atomen, neutrales
Molekül.
H2O H O H OZH = 1−0 = + I 2·(+I) + (−II) = 0 Sauerstoff ist elektronegativer als Wasserstoff, neutrales
OZO = 6−8 = −II Molekül.
F2 F F OZF = 7−7 = 0 (0) + (0) = 0 Molekül besteht aus zwei gleichen Atomen, neutrales
Molekül.
F 2O F O F OZF = 7−8 = −I 2·(−I) + (+II) = 0 Fluor ist elektronegativer als Sauerstoff,
OZO = 6−4 = +II Sauerstoffdifluorid.
NaH Na H OZNa = 1−0 = +I (+I) + (−I) = 0 Wasserstoff ist elektronegativer als Natrium,
OZH = 1−2 = −I Natriumhydrid.
CH4 H OZC = 4−8 = −IV (−IV) + 4·(+I) = 0 Kohlenstoff ist elektronegativer als Wasserstoff.
H C H OZH = 1−0 = + I
*Die roten Linien in den Strichformeln veranschaulichen die Elektronenzuordnung nach heterolytischer Aufspaltung gemäß des
Elektronegativitätsprinzips
Formalladung – homolytische
11.1.2.1
Bindungsspaltung
EN
2,2 3,0
0 0
Formalladung,
H Br H Br
homolytische Spaltung
+I –I
– Oxidationszahl,
H Br H+ Br heterolytische Spaltung
. Abb. 11.3 Unterschied zwischen Formalladung (oben) und . Abb. 11.5 Kohlefeuer – Oxidation von Kohlenstoff durch Sauerstoff (©
Oxidationszahl (unten) yuratosno/Fotolia)
11.4 · Redoxgleichungen – systematische Ableitung mithilfe von Oxidationszahlen
153 11
0 0
< 600 °C +IV –II sehr kompliziert sein. In den folgenden zwei Übungsbeispielen
C + O2 CO2
wird eine systematische Vorgehensweise für das Aufstellen stö-
0 0 +II –I chiometrischer Stoffgleichungen von Redoxreaktionen gezeigt.
Mg + Cl2 MgCl2
Beispiel 1 – Auflösen von Kupfer in Salpetersäure
. Abb. 11.6 Bei Oxidationsreaktionen nimmt die Oxidationszahl eines
Werden Kupferspäne (Cu) in verdünnte Salpetersäure (HNO3) ge-
Elements zu
geben, dann bilden sich Stickstoffmonoxid (NO) und ein zwei-
wertiges Kupfersalz. Gesucht wird die Stoffgleichung für diese
Elektronen eines Elements definiert, wobei dessen Oxidations- Reaktion.
zahl ansteigt. 1. Ausgangsstoffe und Produkte:
So nimmt bei der Verbrennung des Kohlenstoffs beispielsweise Zunächst gilt es, Ausgangsstoffe und Produkte zu
die Oxidationszahl von 0 auf +IV (. Abb. 11.6 oben) und bei der erkennen, sodass eine Rohgleichung aufgestellt werden
Reaktion von Magnesium mit Chlor die des Magnesiums von 0 kann. Aus der Aufgabenstellung ergibt sich eindeutig,
auf +II zu (. Abb. 11.6 unten). D. h. Magnesium gibt zwei Elekt- dass Kupfer und Salpetersäure die Ausgangsstoffe sind
ronen ab und wird als Konsequenz davon oxidiert. und daraus zweiwertiges Kupfer und Stickstoffmonoxid
entstehen.
Ausgangsstoffe: Cu, HNO3
11.3 Reduktion – die Oxidationszahl nimmt ab Produkte: Cu2+, NO
Rohgleichung: Cu + HNO3 → Cu2+ + NO
Für chemische Reaktionen, bei denen Verbindungen Sauerstoff 2. Oxidationszahlen der beteiligten Elemente:
entzogen wird, prägte Lavoisier den Begriff Reduktion. So wird Um zu verstehen, welche Elemente der Rohgleichung oxidiert
beispielsweise Eisenoxid im Hochofenprozess durch Kohlenstoff- resp. reduziert werden, werden die Oxidationszahlen aller
monoxid (CO) der Sauerstoff „entrissen“, wodurch elementares Elemente in der Rohgleichung gemäß 7 Abschn. 11.1.1
Eisen erhalten wird (. Abb. 11.7, oben). ermittelt (. Abb. 11.8).
Im allgemeinen Sinne wird Reduktion definiert als Aufnahme 3. Ermitteln der Halbreaktionen:
von Elektronen durch ein Element, wodurch die Oxidationszahl Anhand der Oxidationszahlen wird klar, dass Kupfer
des Elements abnimmt. So nimmt die Oxidationszahl von Eisen oxidiert (0→+II, Erhöhung der Oxidationszahl) und das
bei der Reduktion von Eisenoxid (Fe2O3) mit Kohlenstoffmono- Element Stickstoff reduziert (+V→+II, Erniedrigung der
xid von +III auf 0 ab, da formal jedes Eisenatom drei Elektronen Oxidationszahl) wird (. Abb. 11.9).
aufnimmt. 4. Formulieren der Halbreaktionen mit Elektronenbilanz:
Anschließend wird die Elektronenbilanz für die Oxidations-
und Reduktionshalbgleichungen ausgeglichen. Da
11.4 Redoxgleichungen – systematische elementares Kupfer (OZ = 0) in den zweiwertigen Zustand
Ableitung mithilfe von Oxidationszahlen (OZ = +II) übergeht, werden pro Kupferatom zwei Elektronen
abgegeben.
In den Reaktionen . Abb. 11.6 und 11.7 fließen zwar Elektro- Stickstoff dagegen geht vom fünfwertigen Zustand in
nen, aber sie erscheinen nicht in den Reaktionsgleichungen, da HNO3 (OZN = +V) in zweiwertigen Stickstoff in NO
Oxidations- und Reduktionsreaktionen miteinander zu Redox- (OZN = +II) über, sodass jedes Stickstoffatom drei Elektronen
reaktionen verkoppelt sind. Im Falle der Verbrennung von Koh- aufnimmt.
lenstoff (. Abb. 11.6, oben) wird z. B. das Element Kohlenstoff Oxidation: Cu → Cu2+ + 2e−
oxidiert (OZC: 0 ® + IV) und gleichzeitig werden zwei Sauer- Reduktion: HNO3 + 3e− → NO
stoffatome durch die vier freigesetzten Elektronen reduziert 5. Ausgleich der Ladungsbilanzmit H+:
(OZO: 0 ® -II). Die Elektronenbilanz wurde in Schritt 4 für die beiden
Halbreaktionen ausgeglichen. Allerdings stimmt die
Ladungsbilanz für die Reduktionsreaktion noch nicht, da subtrahiert werden können und die Stoffgleichung wie folgt
links vom Reaktionspfeil drei negativ geladene Elektronen aussieht:
vorliegen, während rechts vom Reaktionspfeil ein elektrisch
3 Cu + 8 HNO3 + 6 H2O → 3 Cu(NO3)2 + 2 NO + 10 H2O | − 6 H2O
ungeladenes NO-Molekül gegeben ist.
Da die Reaktion in saurer Lösung erfolgt, wird der Ergebnis:
Ladungsausgleich mit drei Hydroniumionen (H3O+) 3 Cu + 8 HNO3 → 3 Cu(NO3)2 + 2 NO + 4 H2O
durchgeführt.
Oxidation: Cu → Cu2+ + 2 e− Mit der Stoffgleichung ist nicht nur gewährleistet, dass der Elekt-
Reduktion: HNO3 + 3 e− + 3 H3O+ → NO ronenübergang der Redoxpartner übereinstimmt, sondern auch,
6. Ausgleich der Atombilanz: dass links und rechts vom Reaktionspfeil die gleiche Anzahl an
Jetzt stimmen zwar die Elektronen- und Ladungsbilanz für die Atomen der jeweiligen Elemente gegeben ist. Schließlich kann
Reduktionsgleichung, allerdings ist deren Atombilanz noch Materie bei chemischen Reaktionen nicht verloren gehen und
unausgeglichen auch nicht aus dem Nichts entstehen.
Linke Seite: 10 H, 1 N, 6 O
Rechte Seite: 0 H, 1 N, 1 O
Auf der rechten Seite fehlen somit zehn H-Atome und fünf Beispiel 2 – Reaktion von Brom mit Natronlauge
O-Atome, sodass die Atombilanz durch Hinzufügen von fünf Tropft man Brom (Br2) zu Natronlauge (NaOH) entstehen Bromid-
Wassermolekülen auf der rechten Seite ausgeglichen werden (mit Br−) und Bromatsalze (BrO−3 ). Die Einzelschritte erfolgen völlig
kann. analog zum Übungsbeispiel 1. Es sind jedoch zwei Besonderhei-
Oxidation: Cu → Cu2+ + 2 e− ten zu berücksichtigen:
Reduktion: HNO3 + 3 e− + 3 H3O+ → NO + 5 H2O 44 Aus dem Element Brom (OZBr = 0) entstehen zwei
7. Ausgleich der Gesamtelektronenbilanz: unterschiedliche Bromprodukte, Bromid (OZBr = −I) und Bromat
Da ja Oxidation- und Reduktionshalbgleichungen in (OZBr = +V) mit unterschiedlicher Oxidationszahl des Broms.
einer Redoxgleichung gekoppelt sind, muss Kupfer
–II +IV 0
2 H2S + SO2 3 S + 2 H2O
Als Erster hat der britische Chemiker John Frederic Daniell die
11.5.1 Halbzellen beiden Halbzellen zu einer galvanischen Zelle, dem sog. Daniell-
Element vereint. Der Überschuss an Elektronen an der Zinkanode
Wird ein Metallstab (Elektrode) in eine wässerige Metallsalzlösung wandert über einen externen Stromkreis zur Kupferelektrode, wo
(Elektrolyt) getaucht, erfolgt eine Redoxreaktion an der Metall- im Kupfersulfat gelöste Kupferionen reduziert werden und sich an
oberfläche. Metallionen lösen sich als Kationen aus dem Metall und der Kupferkathode abscheiden (. Abb. 11.14). Mit der Zeit löst
gehen in den Elektrolyten über, während die Elektronen auf der sich die Zinkanode auf und die Kupferkathode legt an Masse zu.
11 Elektrode zurückbleiben, wodurch sich diese negativ auflädt. Da Die Zinkelektrode entspricht dabei der Anode, da dort Zn zu
der Lösungsdruck der einzelnen Metalle unterschiedlich ist, laden Zn2+ oxidiert, die Kupferelektrode ist die Kathode, da dort Cu2+-
sich Elektroden metallspezifisch unterschiedlich stark negativ auf. Ionen zu elementarem Cu reduziert werden.
Generell gilt, je unedler ein Metall, umso höher der Lösungsdruck,
d. h. die Bereitschaft Kationen an den Elektrolyten abzugeben und Anode, Oxidation von Zink: Zn → Zn 2+ +2e−
umso stärker ist die negative Aufladung der Elektrode. Kathode, Reduktion von Kupfer: Cu 2++2e− → Cu
Vergleicht man beispielsweise die Metalle Zink und Kupfer, so Redox-Reaktion: Zn +Cu 2+ → Zn 2++Cu
stellt man fest, dass Zink wesentlich mehr Ionen an den Elektroly-
ten abgibt als Kupfer. Die Zinkelektrode ist dadurch negativer als Da die Elektronen von der Zinkanode zur Kupferkathode
die Kupferelektrode (. Abb. 11.13). Oder anders ausgedrückt, das wandern, entstünde im Anodenraum ein Überschuss an Zinkio-
unedlere Zink lässt sich leichter oxidieren als das edlere Kupfer. nen und im Kathodenraum ein Überschuss an Sulfationen. Der
interne Ladungsausgleich erfolgt durch Wandern der Sulfationen
vom Kathodenraum zum Anodenraum.
11.5.2 Galvanische Zelle Andererseits muss durch eine poröse Membran (Diaphragma)
Anoden- (Zinksulfatlösung) und Kathodenraum (Kupfersulfat-
Die Zinkelektrode in . Abb. 11.13 ist stärker negativ geladen als lösung) voneinander getrennt werden, um ein völliges Durchmi-
die Kupferelektrode, wodurch eine elektrische Spannung (Poten- schen der Elektrolytlösungen zu verhindern, da sich sonst Cu2+-
tialdifferenz) von 1,11 V zwischen den beiden Elektroden besteht. Ionen an der Zinkanode niederschlagen würden und kein exter-
ner Elektronenfluss von der Zink- zur Kupferelektrode erfolgen
würde.
11.5.3 Normalpotential
Li+ + e – ↔ Li −3,05
Ca2+ + 2e – ↔ Ca −2,87
Na+ + e – ↔ Na −2,71
Mg2+ + 2e – ↔ Mg −2,36
Zn2+ + 2e – ↔ Zn −0,76
Fe2+ + 2 e – ↔ Fe −0,44
Pb2+ + 2 e – ↔ Pb −0,13
2 H 3O + + 2 e – ↔ H 2 + 2 H 2O ±0,00
Cu2+ + 2 e – ↔ Cu +0,35
. Abb. 11.15 Bestimmung des Normalpotentials – Wasserstoffstandard Cu+ + e – ↔ Cu +0,52
als Referenz
Fe3+ + 3 e – ↔ Fe +0,77
Ag+ + e – ↔ Ag +0,80
R ⋅T [Ox]
E = E0 + ⋅ ln = E 0 + 0,059 V ⋅ log [Ox]
z⋅ F [Red] z [Red]
1867 wurde von dem französischen Chemiker Leclanché die erste Mit der Zeit braucht sich die Anode (Zinkbecher) auf und wird
kommerziell erfolgreiche galvanische Zelle auf der Weltausstel- löchrig, sodass der Elektrolyt auslaufen würde. Um dies zu ver-
lung in Paris vorgestellt, die in abgewandelter Form als Zink- hindern, ist das Element von einem dichten Stahlmantel umgeben.
Braunstein-Element bis zum Ende des 20. Jahrhunderts von kom-
merzieller Bedeutung war. Sie besteht aus einem Zinkbecher, der
als Anode (Minuspol) fungiert, und einer in der Mitte platzierten 11.6.2 Bleiakkumulator
Graphitkathode (Pluspol), die von Braunstein (MnO2) und einer
Paste aus Ammoniumchlorid (NH4Cl) und Graphit (C) umgeben Bleiakkumulatoren (. Abb. 11.17), wie z. B. Starterbatterien für
ist. Diese Elektrolytpaste ermöglicht den Transport von Ammo- Kraftfahrzeuge, bestehen aus einem säurefesten Kunststoffgehäuse,
niak (s. u.) zwischen Anode und Kathode. Anode und Kathode das einen 37 %igen Schwefelsäureelektrolyten (H2SO4) enthält.
sind mittels einer Papiermembran, die für Ammoniak durchlässig Darin sind Bleigitterelektroden gestapelt. Die Zwischenräume der
ist, voneinander elektrisch isoliert (. Abb. 11.16). Elektroden sind im geladenen Zustand alternierend mit Blei (nega-
Die Nennspannung des Elements beträgt 1,5 V, die Energie- tiver Pol, blau, Anode) und Bleidioxid (PbO2, positiver Pol, rot,
dichte ca. 50 Wh/kg. Leclanché-Batterien sind von kleinen Rund- Kathode) gefüllt. Die einzelnen Platten sind mit gewellten, per-
zellen bis zu großen prismatischen Batterien erhältlich. forierten PVC-Folien (Separator) elektrisch voneinander isoliert.
11.6 · Leclanché-Element, Bleiakkumulator, Brennstoffzelle, Lithiumbatterie
159 11
a b
. Abb. 11.17 Bleiakku (a) als 12-V-Starterbatterie – Eine einzelne Pb/PbO2-Zelle (b) liefert 2 Volt (© a Dreaming Andy/Fotolia)
Das Normalpotential eines galvanischen Elements aus einer z Halbzellen und Redoxreaktion – Entladevorgang
Blei- und einer Bleidioxidplatte beträgt ca. 2 V. In einer Zelle des Anode (Minuspol), Oxidation:
Bleiakkus sind mehrere Bleidioxid- (Kathodenplatten) und Blei- Pb + H 2SO 4 + 2 H 2O → PbSO 4 + 2 H3O+ + 2 e−
platten (Anodenplatten) parallel geschaltet, wodurch sich die
Kapazität des Akkus vervielfacht, sodass ein Bleiakku kurzfris- Kathode (Pluspol), Reduktion:
tig sehr hohe Stromleistungen, notwendig für den Startvorgang,
PbO 2 + H 2SO 4 + 2 H3O+ + 2 e− → PbSO 4 + 4 H 2O
abgeben kann. Die Zellspannung von 2 V erhöht sich durch die
Parallelspaltung der Elektrodenplatten nicht. Redoxgleichung:
In Autobatterien sind sechs Zellen in Serie geschaltet, wodurch
Pb + PbO 2 + 2 H 2SO 4 → 2 PbSO4 + 2 H 2O
eine klassische Starterbatterie eine Gesamtspannung von 12 Volt
erzeugt.
z Ladungsvorgang
z Entladungsvorgang Ist einmal ein Bleiakku entladen, kann er durch Anlegen von „ent-
Beim Starten eines Kraftfahrzeuges fließen Elektronen (Entla- gegengesetzter“ Gleichspannung wieder aufgeladen werden. Durch
devorgang) vom negativen Pol (Anode aus Blei, blaue Elektrode, die Umkehrung der Stromrichtung werden die durch den Entlade-
. Abb. 11.18) via Anlasser zum positiven Pol (Kathode aus Blei- vorgang mit Bleisulfat überzogenen Elektroden wieder in Blei- und
dioxid, rote Elektrode). Dabei wird Blei am negativen Pol zu Pb2+ Bleidioxidelektroden umgewandelt, sodass der Akku wieder ein-
oxidiert und Pb4+am positiven Pol zu Pb2+ reduziert. An beiden satzbereit ist. Ein Überladen muss vermieden werden, da dies der
Elektroden reagieren die Bleiionen (Pb2+) mit Schwefelsäure Lebensdauer des Akkus abträglich ist und außerdem zu gefährli-
(H2SO4) zu schwer löslichem Bleisulfat (PbSO4), sodass beide cher Knallgasbildung (2 H 2O → 2 H 2 + O 2) führen würde.
Pole von einer weißen Schicht bedeckt werden. Beim Entlade- Während der Autofahrt erfolgt dieser Ladevorgang kontinu-
vorgang wird Schwefelsäure verbraucht, wodurch die Dichte des ierlich durch die vom Verbrennungsmotor angetriebene Lichtma-
Elektrolyten von 1,28 auf 1,10 g/ml abfällt. D. h. der Ladezustand schine, sodass nur in Ausnahmefällen mit einem externen Lade-
einer Autobatterie kann über die Dichte der Batteriesäure kont- gerät der Akku aufzuladen ist.
rolliert werden.
z Halbzellen und Redoxreaktion – Ladevorgang
Kathode (Minuspol), Reduktion:
PbSO4 + 2 H3O+ + 2 e− → Pb + H 2SO 4 + 2 H 2O
Redoxgleichung:
2 PbSO 4 + 2 H 2O → Pb + PbO 2 + 2 H 2SO 4
Theoretisch sind die Entladungs-Ladungs-Zyklen unendlich oft
wiederholbar. Mit der Zeit häuft sich aber sog. Bleischlamm am
Akkuboden an, bis schließlich beide Elektroden in den Schlamm
eintauchen und durch Kurzschluss der gesamte Bleiakku zerstört
. Abb. 11.18 Schematischer Aufbau einer Brennstoffzelle wird.
160 Kapitel 11 · Readoxreaktionen – Elektronenübergang zwischen Atomen
11.6.3 Brennstoffzelle
. Abb. 11.20 Lithiumakkus für Multimediaanwendungen (a) und im Akkuschrauber (b) (© Coprid/Fotolia, Apart Foto/Fotolia)
11.7 Elektrolyse, Galvanik, Korrosion – zur negativen Kathode, weshalb sie als Kationen bezeichnet
Redoxvorgänge von kommerzieller werden. An der Kathode werden die Kationen durch Elektronen-
Bedeutung aufnahme reduziert. Negativ geladene Ionen dagegen machen sich
auf den Weg zur Anode. Dort geben die Anionen Elektronen ab
11.7.1 Elektrolyse und werden somit oxidiert. Summa summarum wirkt die Anode
einer Elektrolysezelle als Oxidationsmittel und die Kathode als
Während in galvanischen Zellen durch chemische Redoxreak- Reduktionsmittel. Damit sich die an den Elektroden entstehenden
tionen elektrische Energie erzeugt wird, werden in Elektrolyse- Elektrolyseprodukte nicht vermischen und unerwünschte chemi-
zellen mithilfe des elektrischen Stroms chemische Reaktionen sche Folgereaktionen eingehen, sind Kathoden- und Anodenraum
erzwungen. meist durch eine Membran, auch als Diaphragma bezeichnet, von-
Anorganische Verbindungen sind oft ionischer Natur, weshalb einander getrennt.
sie in wässriger Lösung, aber auch im geschmolzenen Zustand, Der englische Naturforscher Michael Faraday erkannte als
frei bewegliche Ionen aufweisen. Mithilfe des elektrischen Stroms Erster die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Elektrolyse. So
können solchen Elektrolyten Redoxreaktionen aufgezwungen stellte er fest, dass die an den Elektroden umgesetzte Ionenmenge
werden. Elektrolyse ist kurz gesagt, die chemische Zerlegung proportional zu der durch den Elektrolyten geflossenen elektri-
eines Elektrolyten (elektrisch leitfähiger Stoff) mithilfe des elek- schen Ladungsmenge (Q) ist.
trischen Stroms. Die Ladungsmenge, die durch den Elektrolyten fließt, ergibt
sich aus der Stromstärke (I) multipliziert mit der Dauer des Strom-
flusses, der Elektrolysezeit (t):
Anoden für die Oxidation, Kathoden für die Reduktion Q = I ⋅t
Die Bezeichnung der Elektroden bei elektrochemischen
Prozessen führt regelmäßig zur Verwirrung. Generell gilt, Q: elektrische Ladungsmenge, A · s
dass an Anoden Oxidationsreaktionen und an Kathoden I: elektrische Stromstärke, A
Reduktionsvorgänge ablaufen. t: Elektrolysedauer, s
11 Bei freiwillig ablaufenden (exothermen) elektrochemischen
Redoxreaktionen wie in galvanischen Elementen ist Die vom Elektrolyten transportierte Ladungsmenge muss iden-
die Anode negativ (Oxidation) und die Kathode positiv tisch sein mit der an der Kathode resp. Anode im Zeitraum t aus-
(Reduktion) gepolt. getauschten Ladungsmenge. Die sowohl an der Kathode als auch
Bei erzwungenen chemischen Redoxreaktionen wie in an der Anode ausgetauschte Ladungsmenge errechnet sich aus
der Elektrolyse dreht sich die Stromflussrichtung um. Die der Anzahl der Ionen (n · NA) multipliziert mit der elektrischen
Kathode (Reduktion) ist dann negativ geladen und die Elementarladung (e–) und der Wertigkeit (z) des Ions. Schließlich
Anode (Oxidation) positiv. saugt ein zweiwertiges Ca2+-Ion (z = 2) im Zeitraum t doppelt so
Also über die Polung kann per se kein Rückschluss gezogen viele Elektronen von der Kathode ab, wie ein einfach positiv gela-
werden, ob es sich um eine Kathode oder Anode handelt. denes Na+-Ion (z = 1).
Q = n⋅ NA ⋅ e⋅ z
Zur Elektrolyse tauchen sowohl die positive Anode als auch die
negative Kathode in den Elektrolyten ein (. Abb. 11.22). Positiv n: Stoffmenge, der an der jeweiligen Elektrode umgesetzten
geladene Ionen (griech. für wandern) des Elektrolyten wandern Ionen, mol
NA: Avogadrozahl, Naturkonstante, Ionen/mol
e: elektrische Elementarladung, Naturkonstante, A · s
z: Wertigkeit des Ions
11.7.2 Galvanik
Übung 4
Was sind Disproportionierungs- und
Synproportionierungsreaktionen?
. Abb. 11.28 Karabinerhaken aus Aluminium passiviert und eingefärbt
nach dem Eloxal-Verfahren (© Schlierner/Fotolia) Übung 5
Was ist eine Halbzelle? Was hat man unter dem
Lösungsdruck von Metallen zu verstehen? Was ist eine
Die Schichtdicke der Passivschicht beträgt dabei bis zu 30 µm. Normalwasserstoffelektrode und wofür wird sie verwendet?
Die frische noch poröse Oxidschicht erlaubt ein Einfärben der
Aluminiumoberfläche in nahezu allen Farben. Übung 6
Anode (Pluspol), Oxidation: Was ist ein galvanisches Element? Erklären Sie den Aufbau
eines Bleiakkus. Was versteht man unter internem und
2 Al → 2Al3+ + 6 e−
externem Stromkreislauf?
2 Al3+ + 9H 2O → Al2O3 + 6 H3O+ Warum kann der Ladezustand einer Autobatterie durch
Messung der Dichte der Batteriesäure ermittelt werden?
Kathode (Minuspol), Reduktion
Übung 7
6 H3O+ + 6 e− → 6 H 2O + 3 H 2
Erläutern Sie den Aufbau einer Brennstoffzelle. Wozu
Redoxgleichung: dient die Polymerelektrolytmembran (PEM)? Wie kann der
benötigte Wasserstoff erzeugt werden? Führen Sie hierzu
2 Al + 3 H 2O → Al2O3 + 3 H 2
eine Internetrecherche durch.
Übung 8
11.8 Lernkontrolle Was ist eine Elektrolyse? Beschreiben Sie den
grundsätzlichen Aufbau einer Elektrolysezelle. Erklären Sie
die Begriffe Kathode, Anode, Kationen, Anionen. Warum
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: werden Kathoden- und Anodenraum einer Elektrolysezelle
Oxidation, Elektronegativität, Oxidationszahl, Oxidations- meist durch eine permeable Membran voneinander
mittel, Reduktion, Reduktionsmittel, Redoxreaktion, Dis- getrennt?
proportionierung, Synproportionierung, Halbzelle, gal-
vanische Zelle, Primärzelle, Sekundärzelle, Monozelle, Übung 9
Batterie, Akkumulator, Normalpotential, elektrochemische Was versteht man unter Galvanisieren? Was ist das
Spannungsreihe, Bleiakku, Lithiumzelle, Brennstoffzelle, Eloxal-Verfahren?
Elektrolyse, Korrosion, Lokalelement, aktiver und passiver
Korrosionsschutz, Galvanisieren, Eloxal-Verfahren. Übung 10
Was ist chemisch betrachtet Korrosion? Korrosion von
Metallstücken beginnen oft an sog. Lokalelementen. Was
versteht man darunter? Wie können sich Metalle selbst
? Verständnisfragen passivieren? Was versteht man unter aktiven und passiven
Übung 1 Korrosionsschutz?
Wie ist die formale Oxidationszahl definiert? Nach welchen
allgemeinen Regeln können formale Oxidationszahlen von
Elementen in Verbindungen bestimmt werden? Ermitteln Sie
die Oxidationszahlen der Elemente in Ar, Fe, Li, H2, O2, Cl2,
H2O, H2O2, HCl, NH3, CH4, NaH.
Übung 2
Wie lauten die historischen und modernen Definitionen für
Oxidation und Reduktion? Was sind Oxidationsmittel und
Reduktionsmittel?
167 II
Anorganische Chemie
12.5 Gruppe 15 – Stickstoff und Phosphor, wichtig für Mensch, Tier und
Pflanze – 201
12.5.1 Vorkommen, Eigenschaften und Herstellung – Luftverflüssigung nach
Linde – 201
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 12.1 Halbmetalle (gelb) trennen Metalle (blau) von Nichtmetallen (grün) im Periodensystem der Elemente
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 12.2 Wasserstoff als Kopfelement der 1. Hauptgruppe, obwohl es ein typisches Nichtmetall ist
Element H
Kernladungszahl 1
Relative Atommasse [g/mol] 1,01
Elektronegativität 2,20
Kovalenzradius [pm] 37
Ionenradius [pm] 24 (+I), 154 (−I)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 1311
Oxidationszahl +I, −I
Siedepunkt [°C] −253
Schmelzpunkt [°C] −259
Dichte [g/l] 0,084
Entdecker Cavendish, 1766
. Abb. 12.3 Die Sonne besteht zu 92 % aus H2 – 500 Mio. Tonnen Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 8800
verschmelzen jede Sekunde zu Helium (© designstock/Fotolia) Häufigkeit Atmosphäre [Vol.-ppm, ml/m³] 0,5
Zn + 2 HCl ZnCl2 + H2
Elektrolyse
2 H2O O2 + 2 H2 ; ∆HR = +286 kJ/mol H2
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
Periodenzahl
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
. Abb. 12.11 Wasserstoff bildet mit den Elementen salzartige (rot), metallische (grün) und kovalente (blau) Hydride
12
44Elemente der Gruppen 13–17 (früher Hauptgruppen des Metallgitters (7 Abschn. 4.4). Metallhydride bilden sich
III–VII bilden mit Wasserstoff kovalente Hydride, z. B. CH4, bei Erwärmen des Übergangmetalls unter hohem Wasser-
NH3, H2O, HF etc., mit nur schwach polarisiertem H-Atom stoffdruck und sind meist spröde. So löst beispielsweise
(OZH = +I). Die Verbindungen sind meist gasförmig oder Palladium bei Raumtemperatur bis zum 900fachen seines
flüssig, weisen also einen messbaren Dampfdruck auf. Durch Eigenvolumens an Wasserstoff. Man nimmt an, dass der
gemeinsame Nutzung von bindenden Elektronenpaaren Wasserstoff mit dem Elektronengas Hydridanionen
erzielen sowohl das verbundene Elementatom als auch die (H−, OZH = −I) bildet, die mit den positiven Metallatom-
Wasserstoffatome Edelgaskonfiguration. . Abbildung 12.12 rümpfen wechselwirken. Die „Wasserstoffdichte“ ist in
gibt die geometrische Struktur von kovalenten Hydridver- manchen metallischen Hydriden sogar höher als in flüssigem
bindungen wieder. Die freien Elektronenpaare sind mit Wasserstoff. Metallhydride geben den eingelagerten Wasser-
einem schwarzen Doppelpunkt symbolisiert. stoff beim Erwärmen wieder ab. Viele Übergangsmetall-
44Metalle der 1. und 2. Hauptgruppe bilden mit Wasserstoff hydride sind aktive Hydrierungskatalysatoren.
ionische Hydride mit stark negativ geladenen Hydrida-
nionen (H−, OZH = −I), wie z. B. NaH. Die elektropositiven
Metallatome geben ihre Valenzelektronen an den elektrone- 12.2.3 Oxide des Wasserstoffs – Wasser,
gativeren Wasserstoff ab, wodurch sowohl die Metallkationen Schweres Wasser, Überschweres Wasser,
als auch das Hydridanion Edelgaskonfiguration erzielen. Wasserstoffperoxid
Diese weißen, salzartigen Verbindungen hydrolysieren (lat.
für durch Wasser zerlegt werden) in heftiger Reaktion mit
Wasser zu Metallhydroxid und Wasserstoff (. Abb. 12.13). 12.2.3.1 Wasser (H2O)
44Übergangsmetalle lagern unstöchiometrische Mengen
Wasserstoff unter Ausbildung sog. metallischer Hydride
ein. Der Wasserstoff besetzt dabei die tetraedrischen und Wasser als Grundlage des Lebens
oktaedrischen Lücken zwischen den Metallatomrümpfen „Wasser, du hast weder Geschmack, noch Farbe noch Aroma.
Man kann Dich nicht beschreiben. Man schmeckt Dich, ohne
Dich zu kennen. Es ist nicht so, dass man Dich zum Leben
400 °C + 2 H2O braucht: Du bist das Leben!“
Ca + H2 CaH2 Ca(OH)2 + 2 H2
Antoine de Saint-Exupéry, „Wind, Sand und Sterne“, in:
. Abb. 12.13 Ionische Hydride reagieren mit Wasser zu Metallhydroxid Romane. Dokumente, Düsseldorf: Karl Rauch Verlag (1966)
und Wasserstoff
12.2 · Gruppe 1 – Wasserstoff, das leichteste und häufigste Element des Universums
177 12
Ohne Wasser wäre tatsächlich kein Leben auf der Erde möglich. besetzt. Da freie Elektronenpaare einen größeren Platzbedarf
Der Mensch besteht aus über 65 % Wasser und muss täglich ein- haben als die gerichteten Elektronenpaare der O-H-Bindungen,
einhalb Liter trinken, um Körpertemperatur, Stoffwechselpro- werden die H-Atome etwas zusammengedrängt, sodass der H-O-
zesse, Blutkreislauf etc. aufrecht zu erhalten. Ohne Wasserver- H-Winkel lediglich 104,5° beträgt und damit kleiner ist als der
sorgung überlebt der Mensch nur wenige Tage. Wasser bestimmt ideale Tetraederwinkel von 109,5°.
außerdem das Aussehen unserer Kulturlandschaft und ist seit jeher Da die Elektronegativität des Sauerstoffatoms (EN = 3,44)
Grundlage allen wirtschaftlichen (Industrie, Verkehr, Landwirt- größer ist als die der Wasserstoffatome (EN = 2,20) sind die Was-
schaft, Tourismus) und kulturellen Lebens (Städtebau). serstoffatome partiell positiv und das Sauerstoffatom partiell
Wasser ist die häufigste Verbindung auf der Erde. 70 % der Erd- negativ polarisiert. In Kombination mit der gewinkelten Struk-
oberfläche werden von den Ozeanen bedeckt. Die Wasserbilanz tur weisen deshalb Wassermoleküle einen dipolaren Charakter
der Erde sieht wie folgt aus: auf (. Abb. 12.14).
44Salzwasser in Ozeanen: 1360,0 Millionen Kubikkilometer, Der dipolare Charakter erklärt, weshalb Wasser ein so ausge-
44Süßwasser: 37,8 Millionen Kubikkilometer, zeichnetes Lösemittel für Salze ist. Die Wassermoleküle zwängen
44Oberflächenwasser: 29,4 Millionen Kubikkilometer, sich entsprechend ihrer Polarität zwischen die Na-Kationen und
–– Eis, Gletscher: 29,2 Millionen Kubikkilometer, Cl-Anionen und brechen diese durch Schwächung der elektro-
–– Frischwasserseen: 0,1 Millionen Kubikkilometer, statischen Wechselwirkung aus dem Ionenverband (. Abb. 12.15)
–– Flüsse, Atmosphäre: 0,1 Millionen Kubikkilometer, heraus.
44Tiefengrundwasser: 4,2 Millionen Kubikkilometer, Die einzelnen Ionen werden von einer sphärischen Hydrat-
44Förderbares Grundwasser: 4,2 Millionen km3 hülle stabilisiert. Natriumkationen werden dabei von sechs Was-
sermolekülen oktaedrisch umhüllt, wobei sich die Wassermole-
Somit ist lediglich 0,3 % allen Wassers als Süßwasser nutzbar. küle mit dem partiell negativ geladenen Sauerstoff des Dipols um
Die Bundesrepublik Deutschland verbraucht jährlich ca. 8 Bil- das Natriumkation gruppieren. Das Chloridanion wird von sechs
lionen Liter (= 8 km3) Trinkwasser. Im Vergleich zu den globa- Wassermolekülen durch Gruppierung der partiell positiv gela-
len Süßwasservorkommen verhält sich der Trinkwasserverbrauch denen Wasserstoffatome des Wasserdipols um das Chloridanion
Deutschlands wie der Inhalt eines Reagenzglases zum Inhalt eines stabilisiert.
Schwimmbeckens. Durch die Hydrathüllen werden die elektrischen Ladungen
Wasser zeigt für ein so kleines Molekül mit einer molaren der Na+- und Cl−-Ionen abgeschwächt, sodass diese aufgrund der
Masse von lediglich 18,02 g/mol sehr ungewöhnliche Eigenschaf- abgeschwächten Ionenladungen und der sperrigen Hydrathüllen
ten wie: nicht mehr zu einem Ionengitter rekombinieren können.
44außergewöhnlich hohe Schmelz- und Siedetemperatur, Die Energie, die zum Herauslösen der Ionen aus dem Salz-
44größere Dichte im flüssigen als im festen Zustand, gitter benötigt wird, wird im Falle von NaCl durch die Hydrata-
44hohes elektrisches Dipolmoment, tionsenergie der Ionen nur zum Teil kompensiert, sodass sich die
44sehr gute Löseeigenschaften für salzartige Verbindungen. Lösung abkühlt.
Wird Wasser unter 0 °C abgekühlt, gefriert es zu Eis. Auf-
Dieses extravagante Verhalten steht in enger Beziehung mit der grund des dipolaren Charakters ist im Eis jedes Wassermole-
gewinkelten Struktur des Wassermoleküls (. Abb. 12.14) und den kül über Wasserstoffbrückenbindungen tetraedrisch von vier
daraus resultierenden Wasserstoffbrückenbindungen (7 Abschn. anderen Wassermolekülen umgeben. Die Struktur der Wasser-
6.1). Die gewinkelte Struktur ist auf die sp³-Hybridisierung moleküle in gefrorenem Eis entspricht einer offenen Käfigstruk-
(7 Abschn. 16.1.1) des O-Atoms zurückführen, wodurch die tur von Sauerstoffatomen in Sesselstruktur (. Abb. 12.16). Wegen
beiden Wasserstoffatome auf den Ecken eines Tetraeders zu liegen der vielen Hohlräume zwischen den Wassermolekülen weist
kommen (. Abb. 12.12). Die beiden restlichen Ecken des Tetra- festes Eis eine geringere Dichte auf als flüssiges Wasser. Deshalb
eders sind von den freien Elektronenpaaren des Sauerstoffatoms schwimmt Eis auf flüssigem Wasser, sodass Gewässer stets von
. Abb. 12.14 Geometrische Struktur des Wassermoleküls (O – rot, . Abb. 12.15 Dipolares Wasser ist ein hervorragendes Lösemittel für
H – hellgrau) ionische Verbindungen wie Kochsalz
178 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Summenformel H 2O D 2O T 2O
Molare Masse [g/mol] 18,02 20,03 22,03
Siedepunkt [°C] 100,0 101,4 101,5
Schmelzpunkt [°C] 0,0 3,8 4,5
Maximale Dichte 1,00 1,11 1,22
[kg/l]
pH 7,0 7,4 7,6
. Abb. 12.16 Hexagonale Kristallanordnung von Wassermolekülen in Radioaktiv? Nein Nein Ja, β-Strahler
gefrorenem Eis (© Danski14 - Kristallstruktur Eis, https://commons.wikimedia.
org/wiki/File:Ice_XI_View_along_c_axis.png)
der Oberfläche her vereisen, wodurch Fische vor dem Erfrieren Bei der Elektrolyse eines Kubikmeter Wassers wird ca. 40 g
geschützt werden. Dieses Phänomen wird auch als Anomalie des schweres Wasser erhalten. Es ist in geringen Mengen ungiftig für
Wassers bezeichnet. den menschlichen Körper.
Die Wasserstoffbrückenbindungen erklären auch den abnor- Bei der Spaltung von Uran-235 werden pro Atom zwei bis drei
mal hohen Siedepunkt von 100 °C. Wären diese Kräfte nicht vor- Neutronen freigesetzt, die wiederum U-235 Kerne spalten können.
handen, läge der Siedepunkt in etwa bei −120 °C (blauer Punkt, Da herkömmliches Reaktorkühlwasser Neutronen absorbiert,
. Abb. 12.17b). kann die Kettenreaktion bei natürlichem Uran mit einem Gehalt
an U-235 von 0,7 % nicht aufrechterhalten werden. Deshalb muss
12 für Leichtwasserreaktoren das U-235-Isotop aufwendig von 0,7
12.2.3.2 Schweres Wasser (D2O) auf 4 % angereichert werden (7 Abschn. 15.4). Bei der Reaktorküh-
Substitution der 1H-Atome durch 2H-Atome (Deuterium, D) lung mit schwerem Wasser werden wesentlich weniger Neutronen
in leichtem Wasser (H2O) ergibt sogenanntes schweres Wasser absorbiert, sodass Schwerwasserreaktoren mit nicht angereicher-
(D2O). Die Dichte von D2O ist ca. 11 % höher als von leichtem tem Natururan betrieben werden können. Schwerwasserreaktoren
Wasser. Eiswürfel aus schwerem Wasser (ρ = 1,1 g/l) sinken in werden von Ländern wie Indien betrieben, die zwar eigene Uran-
leichtem Wasser zu Boden, während Eiswürfel aus „leichtem“ vorkommen besitzen, aber nicht über das Know-how zur Anrei-
Wasser (ρ = 0,9 g/l) obenauf schwimmen. . Tabelle 12.3 fasst die cherung von U-235 verfügen.
physikalischen Eigenschaften von leichtem und schwerem Wasser Bei der 1H-Kernspinresonanzspektroskopie werden deute-
zusammen. rierte Lösemittel benötigt, s. 7 Exkurs 12.1.
a b
. Abb. 12.17 Wasser hat bei 4 °C die höchste Dichte (a) und weist einen anomal hohen Siedepunkt auf (b)
12.2 · Gruppe 1 – Wasserstoff, das leichteste und häufigste Element des Universums
179 12
Exkurs 12.1
1H-NMR-Spektroskopie
O2 H2O2
OH O
C2H5 C2H5
OH O
2-Ethylanthrahydrochinon 2-Ethylanthrachinon
[Pd-Kat.]
H2
durch Licht und Temperatur begünstigt. Deshalb muss Wasser- 12.2.4.1 Wasserstoff als Reaktionspartner
stoffperoxid in gekühlten, dunklen Räumen und in braunen Glas- Mehr als die Hälfte des Wasserstoffs geht in die Ammoniak-
flaschen bzw. lichtundurchlässigen Polyethylenflaschen aufbe- herstellung nach dem Haber-Bosch-Verfahren (. Abb. 12.23,
12 wahrt werden. 7 Abschn. 12.5.2).
Bei Hautkontakt mit Wasserstoffperoxid treten kurzzeitig Aus Ammoniak können Salpetersäure und Ammoniumnit-
weiße Flecken und stechender Schmerz auf. Da Wasserstoffper- rat produziert werden, das zur Herstellung von Stickstoffdünger
oxid intrazellulär als Stoffwechselprodukt entsteht, verfügt der (7 Abschn. 12.5.5.1) und Sprengnitraten eingesetzt wird.
menschliche Körper mit der Katalase ein hocheffizientes Enzym- Mithilfe von Wasserstoff lässt sich Kohle nach dem Fischer-
system, um das Zellgift Wasserstoffperoxid schnell in Wasser und Tropsch-Verfahren verflüssigen, d. h. in synthetisches Benzin
Sauerstoff zu zersetzen. überführen. Im ersten Schritt wird Wasserdampf über glühender
Die Herstellung von Wasserstoffperoxid erfolgt nach dem von Kohle zu Wassergas vergast (. Abb. 12.8). Da Wassergas für die
der BASF entwickelten Anthrachinonverfahren. Als Nettoreaktion Fischer-Tropsch-Synthese zu viel Kohlenstoffmonoxid enthält,
verbinden sich Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasserstoffperoxid wird das Gasgemisch einer sog. Wassergas-Shift-Reaktion unter-
(. Abb. 12.22). Als Wasserstoffträger dient 2-Ethylanthrahydro- worfen (. Abb. 12.9), sodass schließlich Synthesegas mit einem
chinon, das durch katalytische Hydrierung aus 2-Ethylantrachi- molaren Wasserstoff zu Kohlenstoffmonoxid Verhältnis von etwa
non entsteht. Anthrahydrochinon reduziert dann Luftsauerstoff 2 zu 1 erhalten wird. Anschließend wird dieses Synthesegas bei
(OZO = 0) zu Wasserstoffperoxid (OZO = −I) und wird dabei selbst 200 °C in Gegenwart eines Co-Fe-Ni-Katalysators zu flüssigen
wieder zu 2-Ethylanthrachinon oxidiert, sodass es erneut für einen Kohlenwasserstoffen umgesetzt (. Abb. 12.24). Abhängig vom
katalytischen Durchlauf zur Verfügung steht. Ölpreis ist dieses Verfahren ökonomisch konkurrenzfähig, aller-
Die Hauptaufgabe des 2-Ethylanthrachinons ist, als Reaktions- dings sind die ökologischen Auswirkungen (CO2-Bilanz, Tagebau,
vermittler den direkten Kontakt zwischen Sauerstoff und Wasser- Abraum) so gravierend, dass es großtechnisch nur noch in Süd-
stoff (Knallgas!) zu vermeiden und Sauerstoff auf sanfte Weise mit afrika (Fa. Sasol) durchgeführt wird.
Wasserstoff zu kombinieren. Abschließend erfolgt die Extraktion Tierische und pflanzliche Öle können durch Hydrie-
des Wasserstoffperoxids mit Wasser und dessen Aufkonzentration rung in feste, gehärtete Fette (Margarine) überführt werden.
auf die handelsüblichen Gehalte von bis zu 70 %. Dabei addiert sich Wasserstoff an Kohlenstoff-Kohlenstoff-
Doppelbindungen ungesättigter Öle, sodass letztendlich
? Verständnisfragen
Übung 1
Wie ist die Oxidationszahl (OZ) definiert? Bestimmen Sie die
OZ von Sauerstoff in den folgenden Verbindungen: O2, H2O,
H2O2, KO2.
Übung 2
Welche Valenzelektronenkonfiguration weisen Nichtmetalle
auf? Nichtmetalle werden auch als p-Block-Elemente
bezeichnet, wieso?
Übung 3
Wasserstoff ist das leichteste Element. Berechnen Sie die
Dichte von Wasserstoffgas bei Normalbedingungen.
Übung 4
. Abb. 12.25 Spaceshuttle powered by Wasserstoff und Sauerstoff Erklären Sie die Begriffe Isotop und Nuklid. Welche natürlich
(oranger Flüssigkeitstank, © 3dsculptor/Fotolia) vorkommenden Isotope des Wasserstoffs gibt es?
182 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Übung 10
Was ist schweres Wasser und wofür wird es benötigt? Warum 12.3.1.2 Eigenschaften
spielte schweres Wasser im III. Reich eine wichtige Rolle. Elementares Bor (. Tab. 12.4) ist hart, spröde und bei Raumtem-
Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch. peratur ein elektrischer Isolator. Da die Leitfähigkeit mit steigen-
der Temperatur durch Übergang von Elektronen vom Valenzband
(Valenzband, 7 Abschn. 4.4.3) in das leere Leitungsband stetig
12.3 Gruppe 13 – Bor, Element von hoher Härte zunimmt, ist Bor ein Halbmetall. Nach Diamant ist es mit einer
Mohs-Härte von 9,3 (s. a. 7 Exkurs 12.3) das zweithärteste Element.
Bormineralien wie Borax (Na2B4O7 · 10H2O) sind seit jeher Es weist hohe Schmelz- (2036 °C) und Siedepunkte (3930 °C) auf.
12 bekannt. So verwendeten es bereits die Ägypter zur Mumifizie- Bor ist reaktionsträge, so reagiert es beispielsweise nicht mit Fluss-
rung von Pharaonen und die Römer zur Glasherstellung. Elemen- säure oder Salpetersäure. Lediglich Königswasser oxidiert Bor zur
tares Bor dagegen wurde erstmals 1808 von Davy, Gay-Lussac und Borsäure (H3BO3 = B(OH)3).
Thenard mithilfe des elektrischen Stroms hergestellt. Bor verfügt über zwei stabile natürliche Isotope 10B (19,9 %)
Bor weist als Element der 2. Periode und 13. Gruppe und 11B (80,1 %). Die bevorzugte Oxidationszahl ist +III.
(. Abb. 12.26) die Elektronenkonfiguration 1s22s22p1 auf, verfügt Es kommt in mehreren allotropen Formen mit regulär ange-
somit über drei Valenzelektronen. ordneten B12-Ikosaedern (. Abb. 12.28), aber mit unterschiedlicher
*UXSSHQ]DKO
+ +H
/L %H % & 1 2 ) 1H
3HULRGHQ]DKO
1D 0J $O 6L 3 6 &O $U
5E 6U < =U 1E 0R 7F 5X 5K 3G $J &G ,Q 6Q 6E 7H , ;H
&V %D /D +I 7D : 5H 2V ,U 3W $X +J 7O 3E %L
3R
$W
5Q
)U
5D
$F
5I
'E
6J
%K
+V
0W
'V
5J
&Q
1K
)O
0F
/Y
7V
2J
/DQWKDQRLGH &H 3U 1G 3P
6P (X *G 7E '\ +R (U 7P <E /X
$FWLQRLGH 7K
3D
8
1S
3X
$P
&P
%N
&I
(V
)P
0G
1R
/U
. Abb. 12.26 Bor trennt in der zweiten Periode Metalle (links) von Nichtmetallen (rechts)
12.3 · Gruppe 13 – Bor, Element von hoher Härte
183 12
räumlicher Verknüpfung vor. Die Boratome liegen auf den 12
Ecken eines Ikosaeders (s. a. 7 Exkurs 12.2). Jedes Boratom ist
von fünf Dreiecksflächen umgeben. Im α-rhomboedrischen Bor,
der thermodynamisch stabilsten Modifikation, weisen die B12-
Ikosaeder eine kubisch dichteste Packung auf. α-Bor ist rot durch-
scheinend und hat eine Dichte von 2,46 g/cm³.
Elementares Bor bildet somit kein typisches Metallgitter mit
freien Elektronen und positiv geladenen Atomrümpfen aus, ist
somit kein Metall. Anderseits nimmt dessen elektrische Leitfä-
higkeit mit zunehmender Temperatur stark zu, was dem Charak-
ter eines Halbmetalls entspricht. Außerdem geht es wie Nichtme-
talle klassische kovalente Bindungen mit Wasserstoff, Sauerstoff
und Halogenen ein.
Exkurs 12.2
. Abb. 12.27 Der borhaltige Edelstein Turmalin kann alle Farben des
Regenbogens aufweisen (© Miriam Doerr/Shutterstock) Ikosaeder – einer von fünf platonischen Körpern
Platonische Körper (. Abb. 12.29) weisen zwei offensichtliche
Merkmale auf. Ihre Oberflächen werden durch gleiche regelmäßige
Vielecke begrenzt und an jeder Ecke trifft die gleiche Anzahl dieser
. Tab. 12.4 Physikalische Eigenschaften des Bors Vielecke aufeinander. Nur fünf geometrische Körper erfüllen diese
beiden Charakteristika:
Element B
55 Tetraeder, Dreieckspyramide mit:
–– 4 gleichseitigen Dreiecken als Flächen,
Kernladungszahl 5
–– 3 Flächen treffen sich an jeder Ecke,
Relative Atommasse [g/mol] 10,81 –– 4 Ecken;
55 Hexaeder, Würfel mit:
Elektronegativität 2,04
–– 6 Quadraten als Flächen,
Kovalenzradius [pm] 82 –– 3 Flächen treffen sich an jeder Ecke,
Ionenradius [pm] 25 (+III, 4) –– 8 Ecken;
55 Oktaeder, quadratische Doppelpyramide mit:
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 801 –– 8 gleichseitigen Dreiecken als Flächen,
Oxidationszahl +III –– 4 Flächen treffen sich an jeder Ecke,
–– 6 Ecken;
Schmelztemperatur [°C] 2036
55 Dodekaeder, Zwölfflächner mit:
Siedetemperatur [°C] 3930 –– 12 gleichseitigen Fünfecken als Flächen,
Dichte [kg/m³] 2460 –– 3 Flächen treffen sich an jeder Ecke,
–– 20 Ecken;
Entdecker Davy, Gay-Lussac, Thenard, 1808 55 Ikosaeder, Zwanzigflächner mit:
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 10 –– 20 gleichseitigen Dreiecken als Flächen
–– 5 Flächen treffen sich an jeder Ecke,
–– 12 Ecken.
12.3.1.3 Herstellung
Bor wird durch Elektrolyse einer Schmelze aus Kaliumtetraf-
luoroborat (KBF4), Kaliumfluorid (KF) und Bortrioxid (B2O3)
bei 800 °C in einem Reaktor aus Graphit, der als Anode dient,
gewonnen. Das Bor scheidet sich an Eisenkathoden (Minuspol)
mit einem Reinheitsgrad von 99 % ab.
Hochreines, kristallines Bor wird bei 1200 °C durch thermi-
. Abb. 12.28 B12-Ikosaeder, die Grundeinheit elementaren Bors sche Reduktion von gasförmigen Bortrichlorid mit Wasserstoff
(© 3dsculptor/Fotolia) ( 2 BCl3 + 3 H 2 → 2 B + 6 HCl ) im Lichtbogen zwischen zwei
184 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
12.3.1.4 Verwendung
Kristallines, hochreines Bor (>99,99 %) wird zur Dotierung elek-
tronischer Halbleiter (. Abb. 12.30) und zur Härtung von Stählen
verwendet. Die hohe Zugfestigkeit künstlich hergestellter Borfa-
sern wird als Bestandteil von Reaktionsharzen und Leichtmetallen
für die Versteifung von Flugzeugteilen und Sportgeräten (Tennis-
schläger, Angelruten, …) ausgenutzt. Das Nuklid 10B ist ein ausge-
sprochen guter Neutronenabsorber (10B + 10n → 11B), sodass es
in Steuerstäben zur Regelung der Neutronendichte in Kernkraft-
werken (7 Abschn. 15.4.1) verwendet wird.
Hartstoffe wie Bornitrid und Borcarbid sind beliebte Schleif-
und Poliermittel oder Ausgangsbasis für Schmelztiegel und Scha-
motte (feuerfeste Steine). Weitere Bedeutung haben Borverbin-
dungen als Flammschutz-, Reinigungs- und Düngemittel, als Her-
bizide und Insektizide. Peroxoborate wiederum dienen als Bleich-
mittel in Waschmitteln. Borglas, genauer Borosilicatglas, ist nicht . Abb. 12.31 Erlenmeyerkolben aus Borosilicatglas (© Lucabosch –
nur chemisch, sondern auch gegen Temperaturwechsel resistent, Erlenmeyerkolben, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schott_Duran_
sodass es in der chemischen Verfahrenstechnik ein beliebter Werk- Erlenmeyer_flask_wide_neck_250ml.jpg)
stoff ist.
60 °C
NaBO3 • 4 H2O H2O2 + NaH2BO3 + 2 H2O
. Abb. 12.32 Herstellung von Natriumperborat (oben) und dessen Zerfall . Abb. 12.33 Bindungsparameter von Diboran (B2H6)
in Wasserstoffperoxid (unten)
a b c
d e
12 . Abb. 12.35 Kugel-Stab-Modelle von BH3, B2H6, arachno-B4H10, nido-B5H9 und nido-B10H14 mit (B - rosa, H - grauweiß, © Ben Mills/Wikimedia)
Präfixe für die Anzahl der Boratome und durch eine endständige der Käfigbindungen (Elektronenpaare des Käfiggerüsts) ergibt sich
Ziffer in Klammern für die Anzahl der Wasserstoffatome bezeich- aus der Summe der Boratome und der Wasserstoffatome dividiert
net. Pentaboran(9) steht somit für (B5H9). . Abbildung 12.35 gibt durch zwei. Je nachdem, um wie viel die Anzahl der Gerüstelekt-
von links nach rechts die geometrischen Strukturen von Boran(3), ronenpaare (Käfigbindungen) die Anzahl der Boratome (n) über-
Diboran(6), Tetraboran(10), Pentaboran(9) und Decaboran(14) steigt, bilden sich closo-, (lat. für geschlossene Käfige, n + 1), nido-
wieder. (lat. für nestartige Käfige, n + 2), arachno- (lat. für spinnenartige
Generell verfügen höhere Borane über eine einseitig geöff- Käfige, n + 3) oder hypho- (lat. für netzartige Käfige, n + 4) Struktu-
nete Käfigstruktur. Die Art des Käfigs wird durch das Verhält- ren aus. Neutrale Borane bilden fast ausschließlich nido- (BnHn+4)
nis von der Anzahl der Käfigbindungen zur Anzahl der Bora- resp. arachno- Borane (BnHn+6).
tome bestimmt und lässt sich direkt aus der Summenformel des B2H6 zerfällt in Ether zu Boran (BH3), das sich dann regiose-
Borans nach den Wade-Regeln ableiten (. Tab. 12.5). Die Anzahl lektiv (lat. für ortsspezifisch) an Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppel-
bindungen (. Abb. 12.36, 7 Abschn. 16.2.1) anlagern kann. In der
Regel reagieren drei Alkene mit Boran zu Trialkylboran, das in
. Tab. 12.5 Ableitung der Käfigstruktur von höheren Boranen alkalischer Lösung von Wasserstoffperoxid zu Propanol und Bor-
nach den Wade-Regeln säure oxidiert wird. Summa summarum addiert sich ein Molekül
Wasser an die Doppelbindung des Alkens, sodass ein Alkohol-
Summenformel Anzahl Anzahl Käfigstruktur molekül (7 Abschn. 17.1.1) entsteht. Die Hydroxyfunktion (-OH)
Boratome Käfigbindungen
lagert sich dabei regioselektiv an das C-Atom der Doppelbin-
B4H10 n=4 (4 + 10)/2 = 7 = arachno- dung mit den meisten Wasserstoffatomen an. Für seine intensi-
n+3 Tetraboran(10) ven Arbeiten auf diesem Gebiet wurde 1979 Herbert Brown mit
B 5H 9 n=5 (5 + 9)/2 = 7 = nido- dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet.
n+2 Pentaboran(9)
B5H11 n=5 (5 + 11)/2 = 8 = arachno-
n+3 Pentaboran(11) 12.3.3.3 Natriumborhydrid
B10H14 n = 10 (10 + 14)/2 = 12 nido-
Natriumborhydrid (NaBH 4) ist ein Komplexsalz, das weiße
=n+2 Decaboran(10) Mikrokristalle mit einer Dichte von 1,07 g/ml bildet und sich
ausgezeichnet in Wasser löst. NaBH 4 wird großtechnisch aus
12.3 · Gruppe 13 – Bor, Element von hoher Härte
187 12
CH3
H H H H2C
H +2 C C
H B H B H
H H H3C CH2 + 3 H2O2
H 3 CH3-CH2-CH2-OH + B(OH)3
H H H H2C B
C C C C
H3C H H3C H
H3C CH2 H2C CH2
CH3
–
H
H3CO OCH3
B 250 °C
+ 4 NaH Na + B + 3 CH3ONa
H H
OCH3
H
. Abb. 12.37 Darstellung von Natriumborhydrid (oben) und dessen Reaktion mit Wasser (unten)
+
Borsäuremethylester und Natriumhydrid bei 250 °C hergestellt F F F
(. Abb. 12.37, oben). B –
B – B–
Wie bereits erwähnt ist Boran (BH3) nicht stabil, da es ja ledig- F F +F F F F+
lich über ein Elektronensextett verfügt. Durch die Anlagerung des
. Abb. 12.38 Grenzstrukturen von Bortrifluorid
Elektronenpaars des Hydridanions (H−) erzielt Bor in Natrium-
borhydrid ein Elektronenoktett und ist tetraedrisch von H-Ato-
men umgeben (. Abb. 12.37, oben rechts). Durch die vier Bindun- BX3-Verbindungen sind Lewis-Säuren (7 Abschn. 10.3), da sie
gen des Bors zu Wasserstoffatomen ist das Borhydridanion formal als Elektronenmangelverbindung eine Elektronenlücke von zwei
einfach negativ geladen. Elektronen aufweisen. Der Säurecharakter von BX3-Verbindungen
Alkalische Lösungen von Natriumborhydrid sind stabil, während ist umso stärker, je geringer die Stabilisierung über π-Bindungen
sich saure Lösungen schnell unter Freisetzung von Wasserstoff (H2) erfolgen kann, da dadurch der Elektronenmangel am Boratom
zu Natriummetaborat (NaBO2) zersetzen (. Abb. 12.37, unten). verstärkt wird.
NaBH4 ist ein wichtiges Reduktionsmittel in der organischen Lewis-Basen wie Fluorid- (F−) und Hydridanionen (H−) oder
Chemie. Durch Abgabe von Hydridanionen (H−) reduziert es Amine (NR3, 7 Abschn. 18.1), also Teilchen mit freien Elektronen-
Ketone und Aldehyde zu Alkoholen (7 Abschn. 17.1). Ester und paaren, können über ein freies Elektronenpaar an das Boratom
Carbonsäuren (7 Abschn. 17.4) dagegen werden nicht reduziert, des BX3 andocken, sodass eine Lewis-Säure-Base-Neutralisation
sodass Natriumborhydrid als spezifisches Reduktionsmittel ein- erfolgt (. Abb. 12.39).
gesetzt werden kann. Größere Mengen NaBH4 werden für die Her- . Tabelle 12.6 gibt einen Überblick über die Eigenschaften von
stellung von Zellulosebleichmittel verwendet. Die Verwendung Bortrihalogeniden. Generell gilt, dass Schmelzpunkt, Siedepunkt,
als druckloser Wasserstoff-Feststoffspeicher für Brennstoffzellen Dichte und Lewis-Acidität mit der atomaren Masse des Halogens,
wird derzeit in Testwagen studiert. also von BF3 zu BI3, zunehmen. Mit Luftfeuchte bilden Borhalo-
genide Nebel und hydrolysieren zu Borsäure und Halogenwasser-
stoff (. Abb. 12.40).
12.3.4 Borhalogende – Lewis-Säuren von hoher Diborhalogenide (B2X4 = X2B−BX2) mit einer zentralen Bor-
Flüchtigkeit Bor-Bindung, deren thermische Stabilität in der Reihenfolge
B2F4 (farbloses Gas, Sdp. −34°C) > B2Cl4 (farblose Flüssigkeit,
Bor reagiert mit elementaren Halogenen zu monomeren Bortri-
halogeniden (BX3, X = F, Cl, Br, I). In diesen Verbindungen ist Bor
Cl
sp²-hybridisiert, sodass die Moleküle eine trigonal-planare Struk-
Cl
tur mit einem X-B-X-Winkel von 120° aufweisen. B Cl
Cl Cl Cl Cl Cl Cl
Borhalogenide wie Bortrifluorid (BF3, . Abb. 12.38) sind Elek- B B–
tronenmangelverbindungen, die erst durch Einbeziehung nicht- +
+
N N
bindender Elektronenpaare des Halogenatoms durch Ausbildung N Me Me
Me Me
von π-Bindungen (7 Abschn. 16.2.1) Edelgaskonfiguration errei- Me Me Me Me
chen. Dabei verkürzt sich die B-F-Bindungslänge von 145 pm Me
für eine klassische B-F-Einfachbindung auf 130 pm für formal . Abb. 12.39 Lewis-Säure-Base-Reaktion zwischen Bortrichlorid (Lewis-
4/3-B-F-Bindungen. Säure) und Trimethylamin (Lewis-Base)
188 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
a b
. Abb. 12.41 (a) Hexagonales α-Bornitrid (Bor – orange, Stickstoff – violett) und (b) kubisches β-BN
12.3 · Gruppe 13 – Bor, Element von hoher Härte
189 12
900 °C 2 B2O3 + 6 Mg + C B4C + 6 MgO
B2O3 + 2 NH3 2 BN + 3 H2O
. Abb. 12.44 Großtechnische Herstellung von Borcarbid durch Reduktion
750 °C
BCl3 + NH3 BN + 3 HCl von Bortrioxid mit Magnesium in Gegenwart von Kohlenstoff
Übung 5
Was sind nido- und arachno-Borane und wie kann man sie
durch die Wade-Regeln vorhersagen?
Übung 6
Was ist Regioselektivität? Erklären Sie das Phänomen der
Regioselektivität anhand der Hydroborierungsreaktion.
Übung 7
Natriumtetrahydridoborat (NaBH4) ist ein Reduktionsmittel.
Wieso?
Übung 8
. Abb. 12.43 Keramisch gebundene CBN Schleifwerkzeuge zum Was ist CBN? Warum ist CBN so hart? Für welche
Außenrundschleifen (β-BN-Außenrand) (©TYROLIT) Anwendungen wird CBN eingesetzt?
190 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Übung 9
. Tab. 12.7 Physikalische Eigenschaften des Kohlenstoffs
Was ist Borosilicatglas? Welche herausragende Eigenschaft
weist es auf und für welche Anwendungen ist es Element C
insbesondere geeignet?
Kernladungszahl 6
Übung 10 Relative Atommasse [g/mol] 12,01
Erklären Sie die bleichende Wirkung von Perboraten! Elektronegativität 2,55
Kovalenzradius [pm] 77
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 12.45 Kohlenstoff – Element in der Mitte des PSE und von zentraler Bedeutung für Flora und Fauna
12.4 · Gruppe 14 – Kohlenstoff, Element voller Überraschungen
191 12
Exkurs 12.3
. Tab. 12.9 Mohssche Härteskala – oder die mörderische Frage, wer ritzt wen?
12 12.4.1.2 Graphit
Graphit besteht aus gestapelten Kohlenstoffatomschichten die ganze planare Schicht verteilt, was die gute elektrische Leitfä-
( . Abb. 12.48). Die Kohlenstoffatome sind sp²-hybridisiert higkeit entlang den Schichten und die geringe Leitfähigkeit senk-
(7 Abschn. 16.2.1), sodass jedes Kohlenstoffatom in den Schicht- recht zu den Schichten erklärt.
ebenen mit drei weiteren C-Atomen kovalent verbunden ist und Die einzelnen Schichten sind versetzt angeordnet, sodass
planare regelmäßige Sechsecke bildet. Das 4. Elektron der Koh- sich eine ABAB-Abfolge ergibt. D. h. jeweils die Lagen A resp.
lenstoffatome befindet sich senkrecht zu den planar angeordneten die Lagen B sind deckungsgleich. Dabei sind die unter- und ober-
C-Atomen in p-Orbitalen. Die p-Orbitale überlappen in der Ebene halb der gelben B-Schicht angeordneten A-Schichten (grün)
aber nicht zwischen den Schichten, sodass sich ein zweidimensio- so versetzt, dass unter- und oberhalb der Mitte jedes Sechsecks
nales delokalisiertes π-Elektronensystem ausbildet, das sich über der B-Schichten (rote Kringel, . Abb. 12.48) ein C-Atom einer
A-Schicht zu liegen kommt.
Der Kohlenstoff-Kohlenstoff-Abstand in den Schich-
ten beträgt 142 pm, was kürzer als eine C-C-Einfachbindung
(154 pm), aber länger als eine klassische C=C-Doppelbindung
(133 pm) ist (7 Abschn. 16.2.1). Folgerichtig ergibt sich die durch-
schnittliche effektive Anzahl an Bindungen an einem Kohlenstoff-
atom aus sechs Einfach- (blau) und zwei Doppelbindungen (rot)
pro Sechsring dividiert durch 6 Kohlenstoffatome (6 + 2)/6 = 1,33
(. Abb. 12.49).
Da der Abstand zwischen den hexagonalen Kohlenstoffebenen
335 pm beträgt, wirken zwischen den Schichten nur geringe Van-
der-Waals-Kräfte, sodass diese ohne großen Kraftaufwand anein-
ander vorbeigleiten können. Graphit färbt dadurch leicht schwarz
ab, was man sich für „Blei-“ oder besser gesagt Graphitstiftminen
und als Schmierstoffe für Achslager zu Nutze macht. Weitere typi-
sche Anwendungen des Graphits sind hochtemperaturbeständige
. Abb. 12.48 Graphit weist eine versetzt wabenartige Schichtenstruktur Behälter und elektrische Elektroden. Große Graphitvorkommen
auf. gibt es in China, Indien, Korea, Kanada und Mexiko.
12.4 · Gruppe 14 – Kohlenstoff, Element voller Überraschungen
193 12
a b
. Abb. 12.49 (a) Graphitschicht mit polyaromatischem Ringsystem, (b) Bleistifte mit Graphitminen (b © Qyzz/Fotolia)
. Abb. 12.50 C60-Buckminsterfulleren – Kohlenstoff in vollendeter . Abb. 12.51 Graphen – eine einzige Lage Graphit, deshalb nicht grau,
Struktur (© Leonid Adronov/Fotolia) sondern transparent
194 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Wegen seiner einzigartigen Eigenschaften wird Graphen als 12.4.2 Inkohlung – Pflanzen werden zu Torf,
innovativer Werkstoff für diverse Anwendungen untersucht: Braunkohle, Steinkohle, Anthrazit oder
44Miniaturisierung elektronischer Schaltelemente wie Transis- Graphit
toren. Mikrochips könnten um den Faktor 100 schneller,
kleiner, leichter und energieeffizienter gestaltet werden als
die zurzeit siliciumbasierten Elemente. In Mitteleuropa bildete sich vor etwa 300 Mio. Jahren (Zeit-
44Die hohe Lichtdurchlässigkeit in Kombination mit der alter des Karbon) elementarer Kohlenstoff in großen Mengen
hohen elektrischen Leifähigkeit macht ultradünne und durch Inkohlung (Carbonisierung) abgestorbener Pflanzen.
rollbare Touchscreenfolien denkbar. Der Prozess der allmählichen Metamorphose (griech. für
44Beschichten von Kunststoffen mit einer Graphenlage Umwandlung) von Pflanzenmasse (Baumfarne, Schachtel-
könnte diese elektrisch leitend, antistatisch und kratzfest halme, Schuppenbäume, Koniferen, Bärlappgewächse) dauerte
gestalten. Jahrmillionen und führte je nach vorherrschenden Bedingun-
44Graphenbeschichtete Verpackungen ergeben gasdichte gen zu Torf, Braunkohle, Anthrazit oder Graphit. Mit zuneh-
Getränkeflaschen und neue Möglichkeiten des Schutzes von mendem Inkohlungsgrad steigt der Kohlenstoffgehalt, während
Medikamenten vor Feuchtigkeit. die Gehalte an Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff abnehmen
(. Abb. 12.53).
Nach Absterben von Pflanzen in Moorwäldern (50 % C-Ge-
12.4.1.5 Nanoröhren halt) wurden diese durch Sumpf und Wasser luftdicht überdeckt,
Kohlenstoffnanoröhren sind zu Zylindern aufgerolltes Graphen sodass anaerobe Bakterien im ersten Schritt die Biomasse in Torf
(. Abb. 12.52). Die Herstellung von Nanoröhren erfolgt durch überführten. Torf hat bröckelige Konsistenz mit noch erkennbaren
katalytische Zersetzung von Kohlenwasserstoffen auf nanostruk- Pflanzenresten und einem Kohlenstoffgehalt von 55 bis 65 %. Der
turierten Eisenpartikeln. Dabei entstehen einwandige (einfa- Heizwert von Torf beträgt ca. 15 MJ pro Kilogramm.
che) oder mehrwandige, teleskopartig ineinander geschachtelte Mit steigender Sedimentüberdeckung wurde der Torf mehr
Nanoröhren. und mehr verdichtet und zunehmend Wasser und Gas ausgepresst.
Mehrwandige Nanoröhren haben einen Durchmesser bis Aufgrund der ansteigenden Temperatur nahm die Bakterienakti-
100 nm und Längen von wenigen Millimetern. Der Abstand zwi- vität ab und chemische Reaktionen wandelten Lignin und Cellu-
schen den Graphenwänden beträgt wie der Schichtenabstand im lose des Torfes in Braunkohle (60–75 % C, fest, dunkelbraun, kaum
12 Graphit 335 pm. Mehrwandige Nanoröhren zeichnen sich durch noch pflanzliche Reste, Heizwert Braunkohlebrikett 20 kJ/kg) um.
20mal höhere Zugfestigkeit und doppelt so hohes Elastizitätsmo- Da Braunkohleflöze meist oberflächennah sind, wird Braunkohle
dul wie Stahl bei gleichzeitig geringerer Dichte aus. Hochfeste im Tagebau abgebaut.
verwindungssteife Windräder, Tennisschläger etc. basierend auf Mit zunehmender Tiefe der Flöze nahmen Temperatur und
dieser Technologie sind vorstellbar. Druck weiter zu, sodass Lipide, Proteine und Harze ebenfalls ver-
Einfache Nanoröhren dagegen weisen einen Durchmesser von kohlt wurden. Kohlenstoffgehalt und Heizwert steigen dabei über
nur wenigen Nanometern und extrem hohe elektrische Leitfä- Steinkohle (78–90 % C, schwarz, fest, keine Pflanzenreste erkenn-
higkeit entlang der Röhre auf. Deshalb sind Nanoröhren für die bar, Heizwert 30 kJ/kg) und Anthrazit (94–98 % C, schwarz, fest,
Miniaturisierung von Halbleiterelementen in den Fokus des Inte- Heizwert 35 kJ/kg) bis hin zu Graphit (100 % C, grau, schmierig,
resses gelangt. Durch die hohe elektrische Leitfähigkeit könnten Heizwert 35 kJ/kg) weiter an.
verlustarme, schnelle Transistoren und Computerprozessoren aus
Graphen hergestellt werden.
. Abb. 12.52 Nanoröhren sind nichts anderes als aufgerolltes Graphen . Abb. 12.53 Von Holz zum Graphit – mit zunehmendem Inkohlungsgrad
(© Tyler Boyes/Fotolia) steigt der Kohlenstoffgehalt
12.4 · Gruppe 14 – Kohlenstoff, Element voller Überraschungen
195 12
12.4.4.3 Kohlenstoffdioxid
Kohlenstoffdioxid nimmt eine zentrale Rolle in der belebten Natur
. Abb. 12.57 Boudouard-Gleichgewicht – das Verhältnis von CO und CO2 ein. Pflanzen sind in der Lage, aus Wasser und Kohlenstoffdioxid
ist temperaturabhängig mithilfe von Sonnenlicht und Chlorophyll per Photosynthese
komplexe Kohlenhydrate aufzubauen (7 Abschn. 20.8). Mensch
und Tier verbrennen Kohlenhydrate in der Zellatmung kontrol-
Gemäß dem Prinzip des kleinsten Zwanges von Le Chatelier liert zu Kohlenstoffdioxid und Wasser, wobei die durch Photo-
12 (7 Abschn. 8.5) weicht die endotherme Reaktion bei Temperatur- synthese eingefangene Sonnenenergie wieder freigesetzt und zur
erhöhung in Richtung Wärmeverbrauch, d. h. in Richtung Koh- Aufrechterhaltung von Stoffwechselvorgängen, Körpertemperatur
lenstoffmonoxid aus. Bei zunehmendem Druck dagegen verla- und Mobilität genutzt wird. Verstärkte Freisetzung von Konhlens-
gert sich das Gleichgewicht auf die Seite mit dem kleineren Volu- toffdioxid seit Beginn der industriellen Revolution durch Verbren-
menanspruch. Da auf der linken Seite neben Kohlenstoff (Fest- nung fossiler Brennstoffe trägt in erheblichem Maße zum Treib-
stoff) nur ein Mol Gas Kohlenstoffdioxid, auf der rechten Seite hauseffekt bei (7 Exkurs 12.4).
dagegen zwei Mole Gas Kohlenstoffmonoxid vorliegen, ver- Kohlenstoffdioxid ist wie Kohlenstoffmonoxid ein farb- und
schiebt sich durch Druckerhöhung das Gleichgewicht in Rich- geruchloses Gas. Im Unterschied zu Kohlenstoffmonoxid ist
tung Kohlenstoffdioxid. es aber nicht brennbar und ungiftig, in höherer Konzentration
In . Abb. 12.57 befinden sich alle Kohlenstoffmonoxid-Koh- jedoch betäubend. Da bei der Gärung von Biomasse wie Gras oder
lenstoffdioxid-Kombinationen auf der roten Linie im Gleichge- Mais Kohlenstoffdioxid entsteht, ist besondere Vorsicht beim Ein-
wicht. Eine Kombination aus 20 % Kohlenstoffmonoxid und 80 % steigen und Arbeiten in landwirtschaftlichen Silos geboten. Koh-
Kohlenstoffdioxid (blauer Punkt) stellt dagegen bei 800 °C einen lenstoffdioxid ist mit einer molaren Masse von (44,0 g/mol) schwe-
instabilen Zustand dar. Da die Kombination sich im Zustands- rer als Luft (29,0 g/mol) und verdrängt dadurch den Sauerstoff aus
gebiet „CO“ befindet, zerfällt solange CO2 in CO, bis die verti- dem Silo, zurück bleibt quasi ein Kohlenstoffdioxidsee. Kohlen-
kale blauer Linie die rote Boudouard-Gleichgewichtslinie schnei- stoffdioxid kann mit den Sinnesorganen nicht wahrgenommen
det. Es stellt sich letztendlich eine Gleichgewichtskonzentration werden und führt beim Einatmen ab Konzentrationen von 10 % zu
von ca. 12 % Kohlenstoffdioxid und 88 % Kohlenstoffmonoxid spontaner Bewusstlosigkeit und letztendlich innerhalb Minuten
(. Abb. 12.57, waagrechte, blaue Linie) ein.
Das Boudouard-Gleichgewicht spielt u. a. eine zentrale Rolle
im Hochofenprozess (7 Abschn. 14.7.1). Es erklärt auch, warum
Dieselmotoren im Vergleich zu Ottomotoren mehr rußen und
weniger Kohlenstoffmonoxid ausstoßen. Schließlich beträgt das
Verdichtungsverhältnis von Dieselmotoren 20 zu 1 und das von
Benzinmotoren lediglich 10 zu 1. So liegt bei annähernd glei- ±
cher Verbrennungstemperatur für Dieselmotoren wegen des
höheren Druckes im Zylinderraum das Boudouard-Gleichge-
wicht mehr auf der Seite von Kohlenstoffdioxid und Kohlen- . Abb. 12.58 Bindungsparameter und Struktur von Kohlenstoffmonoxid
stoff (Ruß, Feinstaub). und Kohlenstoffdioxid
12.4 · Gruppe 14 – Kohlenstoff, Element voller Überraschungen
197 12
O
+ NaOH
C H = NaHCO3
– H2O Na + – O O
O
H C H
O O O
+ 2 NaOH
C = Na2 CO3
– 2 H2O Na + – O O – Na+
T
2– +
CO2 + H2O H2CO3 HCO3– + H+ CO3 + 2 H
p
pH < 5 pH 6 –11 pH > 12
. Abb. 12.60 Kohlenstoffdioxid, Hydrogencarbonat und Carbonat stehen in einem komplexen Gleichgewicht
Exkurs 12.4
a b
. Abb. 12.62 Der Gehalt an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphärenluft nimmt seit der industriellen Revolution deutlich zu
12
. Abb. 12.63 Great Barrier Reef – das größte Korallenriff der Erde ist durch die globale Erwärmung bedroht (© vlad61_61/Fotolia)
12.4.5 Carbide – Kohlenstoff mit partiell Dichtringe, Heizwiderstände, Zahnräder, Schleifscheiben etc. und
negativer Ladung als Halbleiter zur Herstellung elektronischer Dioden und Wider-
stände eingesetzt. Borcarbid findet Anwendung als Schleif- und
Verbindungen des Kohlenstoffs mit Metallen oder Halbmetallen Läppmittel, Verschleißschutz für Drahtsägen, Ultraschallbohrer
werden als Carbide bezeichnet. Da in Carbiden der Kohlenstoff und Sandstrahldüsen.
das elektronegativere Element ist, weist dieser negative Oxida- Das wohl bekannteste ionische Carbid ist Calciumcarbid
tionszahlen auf. Prinzipiell wird zwischen kovalenten, ionischen (. Abb. 12.64). Es besteht aus einem Acetyliddianion (C2-
2 ) , siehe
und metallischen Carbiden unterschieden. auch . Abb. 12.65, und einem Calciumkation (Ca2+). Calciumace-
Kovalente Carbide sind von Bor und Silicium bekannt. Da die tylid wird durch Erhitzen von Calciumoxid und Kohlenstoff auf
Elektronegativitätsunterschiede zwischen C und B resp. Si klein über 2000 °C im elektrischen Ofen erhalten.
sind, sind beiden Verbindungen kovalenter Natur, was sie extrem Jedes Kohlenstoffatom verfügt über eine negative Ladung und
hart macht. auch über die Oxidationszahl –I. Aufgrund des hohen Elektrone-
Sowohl Borcarbid (B4C, 7 Abschn. 12.3.5.2) und Siliciumcarbid gativitätsunterschieds zwischen Metallkation und Carbidanion
(Caborund, SiC, OZC = −IV) zeichnen sich durch extreme Härte weisen ionische Carbide salzartigen Charakter auf. Entsprechend
(Mohs-Härte 9,5) und hohe Temperatur- und Thermoschockbe- ihrer Polarisierung reagieren ionische Carbide mit Wasser zu Hyd-
ständigkeit aus. Siliciumcarbid wird für verschleißfeste Gleitlager, roxiden und Acetylen (C2H2, . Abb. 12.66, oben).
12.4 · Gruppe 14 – Kohlenstoff, Element voller Überraschungen
199 12
CaO + 3 C
2100 °C
CaC2 + CO ; HR = +465 kJ/mol C2H2
12.4.6 Kohlenwasserstoffverbindungen –
Variationsvielfalt als Voraussetzung für
. Abb. 12.64 Gebrannter Kalk (CaO) und Kohlenstoff ergeben Leben
Calciumcarbid (CaC2)
– – – –
Drei Viertel des auf der Erde vorkommenden Kohlenstoffs ist als
C C N C N Carbonat(CO32-) in Kalkstein (überwiegend Calcit, CaCO3) und
. Abb. 12.65 Lewis-Formeln für Acetyliddianion (links) und Dolomitgestein (überwiegend Dolomit, CaMg(CO3)2) gebunden.
Cyanamiddianion (rechts) mit Formalladungen Torf, Humus, Kohle, Gashydrate, andere Sedimentgesteine etc.
machen weitere 20 % aus. Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Atmo-
CaC2 + 2 H2O Ca(OH)2 + C2H2 sphäre und in den Meeren trägt lediglich 0,1 % zur gesamten Koh-
lenstoffmenge bei, steht aber wegen der Global-Warming-Debatte
1000 °C
CaC2 + N2 CaCN2 + C ; HR = –291 kJ/mol CaCN2 im Fokus.
Das vierbindige Kohlenstoffatom mit seiner halbgefüllten
CaCN2 + 3 H2O CaCO3 + 2 NH3 Elektronenschale und mittleren Elektronegativtät geht nahezu mit
allen anderen Elementen chemische Verbindungen ein. Zusätz-
. Abb. 12.66 Reaktionen von Calciumacetylid (oben, Mitte) und lich ermöglicht seine Atomgröße, dass Kohlenstoff nicht nur mit
Calciumcyanamid (unten) sich selbst nahezu beliebig lange, verzweigte und cyclische Koh-
lenstoffskelette, sondern auch Doppel- und Dreifachbindungen
Acetylen wird als Schweißgas verwendet (7 Abschn. 16.3.2). ausbilden kann. Allein mit dem Element Wasserstoff bildet Koh-
Eine kommerziell wichtige Anwendung ist die Umsetzung von Cal- lenstoff eine schier unendliche Mannigfaltigkeit an Molekülen.
ciumacetylid mit Stickstoff zu Calciumcyanamid (CaCN2). Cal- Einige grundlegende Repräsentanten von Kohlenwasserstoffen
ciumcyanamid oder Kalkstickstoff war der erste Mineraldünger, sind in . Tab. 12.10 wiedergegeben.
der Luftstickstoff für Pflanzen nutzbar machte (7 Abschn. 12.5.5). Mit den Heteroatomen (hetero, griech. für ungleich) Sauer-
Durch langsame Hydrolyse (. Abb. 12.66, unten) versorgt es nicht stoff, Stickstoff und Schwefel steigen die Variationsmöglichkei-
nur Pflanzen über einen längeren Zeitraum bedarfsgerecht mit ten enorm an, sodass sich die „Lebensmoleküle“ Kohlenhydrate
Stickstoff in Form von Ammoniak (NH3), sondern mineralisiert (7 Abschn. 20.3), Lipide (7 Abschn. 20.4), Proteine (7 Abschn. 20.2),
zusätzlich den Boden mit Calcium. Nucleinsäuren (7 Abschn. 20.7) und DNA (7 Abschn. 20.7) aus-
Übergangsmetalle lagern Kohlenstoff in die Zwickelräume der bilden konnten. Da Flora und Fauna auf diesen Molekülen auf-
dichtesten Kugelpackung aus Metallatomrümpfen (7 Abschn. 4.4) bauen, werden Kohlenstoffverbindungen als organische Verbin-
ein, weshalb diese Verbindungen auch als Übergangsmetallcar- dungen bezeichnet.
bide oder Einlagerungscarbide bezeichnet werden. Übergangs-
metallcarbide weisen oft kein eindeutiges stöchiometrisches Ver-
hältnis auf, da die eingelagerte Menge Kohlenstoff in erster Linie Kohlenstoff als Grundlage des Lebens
vom Raumangebot der Zwickelräume abhängt. Die wichtigsten Eigenschaften des Kohlenstoffs, damit er als
Das wichtigste Übergangsmetallcarbid ist Wolframcarbid Grundlage des Lebens dienen kann, sind:
(WC), das wegen seiner hohen Härte für Bohr- und Schneidwerk- 55Seine mittlere Elektronegativität ermöglicht stabile
zeuge verwendet wird (. Abb. 12.67). Mit Cobalt vermahlenes kovalente Verbindungen mit fast allen anderen
und in Pressen gesintertes Wolframcarbid wird als WIDIA® („wie Elementen.
Diamant“) bezeichnet. Aus dem Material werden hoch verschleiß- 55Der geringe Elektronegativitätsunterschied
feste Bohr- und Schneidewerkzeuge gefertigt. zu Wasserstoff ermöglicht zahlreiche stabile
Kohlenwasserstoffbindungen.
55Der kleine Atomdurchmesser erlaubt die
Ausbildung großer Kohlenstoffgerüste und von
C-C-Mehrfachbindungen.
12.4.7 Lernkontrolle
12
But-2-in Alkine 7 Abschnitt 16.3
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102No* 103Lr*
. Abb. 12.68 Stickstoff und Phosphor – Elemente der 15. Gruppe verfügen über 5 Valenzelektronen
202 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Element N P
Kernladungszahl 7 15
Relative Atommasse 14,01 30,97
[g/mol]
Elektronegativität 3,04 2,19
Kovalenzradius [pm] 70 110
Ionenradius [pm] 30 (+III, 6) 58 (+III, 6)
27 (+V, 6) 52 (+V, 6)
132 (−III, 4) 212 (−III)
Ionisierungsenergie 1402 1012
[kJ/mol] . Abb. 12.69 Luftverflüssigung nach Linde – Kompression, Kühlen im
Gegenstrom, Entspannen
Oxidationszahl +V, +III, −III +V, +III, −III
Siedepunkt [°C] −196 280 (weiß)
Schmelzpunkt [°C] −210 44 (weiß) siedende Stickstoff aus der Flüssigkeit verdampft. Als Ergebnis rei-
Dichte [g/l] 1,17 1,82 chert sich auf den unteren Böden flüssiger Sauerstoff an, während
Entdecker Scheele, 1772 Brand, 1669 sich flüssiger Stickstoff auf einem höheren Glockenboden ansam-
melt. Durch mehrfaches Wiederholen der Rektifikation können
Häufigkeit Erdhülle [ppm, 300 900
g/t] Sauerstoff, Stickstoff und die Edelgase Argon, Xenon, Krypton,
Helium und Neon voneinander abgetrennt werden.
Häufigkeit Atmosphäre 78,1 0
[Vol.-%]
Bei Atmosphärendruck weist flüssiger Stickstoff (. Abb. 12.70)
eine Temperatur von −196 °C auf. Da selbst bestens isolierte, dop-
pelwandige, verspiegelte und evakuierte Glas- oder Edelstahlge-
12 fäße (Dewargefäße) Wärme aus der Umgebung aufnehmen, siedet
Elementarer Stickstoff ist ein farb- und geruchloses Gas mit immer etwas Stickstoff ab. In gut isolierten 10-Liter-Dewargefäßen
einem Schmelzpunkt von −210 °C und einem Siedepunkt von hält sich jedoch flüssiger Stickstoff bis zu einer Woche.
−196 °C (. Tab. 12.11). Die Reingewinnung von Stickstoff erfolgt
seit ca. 120 Jahren durch Luftverflüssigung nach dem Linde-Ver-
fahren und anschließender Zerlegung der verflüssigten Luft in 12.5.1.3 Phosphor
deren Einzelbestandteile durch Destillation. Weißer Phosphor ist sehr reaktiv, sodass in der Natur Phos-
phor ausschließlich in gebundener Form als Phosphate (Salz
der Phosphorsäure) vorkommt. Hydroxyapatit (Ca5(OH)(PO4))
12.5.1.2 Linde-Verfahren und mit Calcit durchwobener Phosphorit sind die wichtigsten
Das von Linde 1895 entwickelte Verfahren der Luftverflüssigung Phosphorminerale.
basiert auf dem Joule-Thompson-Effekt, wonach sich reale Gase Vom Element Phosphor (s. a. . Abb. 12.71) gibt es mehrere
beim Komprimieren erwärmen und beim Entspannen abkühlen. Allotrope, d. h. Kristallmodifikationen. In allen Modifikatio-
Im ersten Schritt wird Luft auf 200 bar verdichtet, wodurch sie nen ist Phosphor dreibindig und weist Edelgaskonfiguration
sich von 20 °C auf 65 °C erwärmt. Die verdichtete Luft wird mit
Wärmetauschern wieder auf 20 °C abgekühlt und dann auf 20 bar
entspannt, was mit einem Temperaturabfall auf −25 °C einhergeht.
In Gegenstrom-Plattenwärmetauschern wird diese Kaltluft zum
Vorkühlen der komprimierten Luft genutzt, sodass diese beim
Expandieren noch weiter abkühlt (. Abb. 12.69).
Durch mehrfaches Wiederholen der Verdichten-Abküh-
len-Expansions-Zyklen werden schließlich Temperaturen unter
−196 °C erreicht, sodass alle Bestandteile der Luft in flüssiger Form
vorliegen. Die Zerlegung der verflüssigten Luft in die Einzelgase
erfolgt in einer Rektifikationskolonne (7 Abschn. 7.1.1), die mit
einer Anzahl von Glockenböden versehen ist. Auf den Glocken-
böden verbleibt konstruktionsbedingt ein Teil der nach unten flie-
ßenden flüssigen Luft. Aufsteigende, gasförmige Luft durchströmt
die flüssige Luft auf den Glockenböden. Dabei verflüssigt sich aus . Abb. 12.70 Umgießen von flüssigen Stickstoff in ein Dewargefäß
dem Gasstrom der höher siedende Sauerstoff, während der tiefer (© Asmus Koefoed/Shutterstock)
12.5 · Gruppe 15 – Stickstoff und Phosphor, wichtig für Mensch, Tier und Pflanze
203 12
–50 °C
ex. NH3(fl.) + Na Na+(NH3)x + e(NH3)y tiefblaue Lösung
. Abb. 12.77 Fritz Habers Laborapparatur zur Erforschung der Exkurs 12.6
Ammoniaksynthese (JGv Berkel – Laborapparatur von Fritz Haber,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Haber_Ammonia.JPG) Fritz Haber, eine zerrissene Biografie – Chemiker, Patriot, Nobel-
preisträger, Giftgasaktivist, Emigrant
9.12.1868 Geburt in Breslau als Sohn einer jüdischen
wie z. B. Cu2+. Die Bindung der sog. Amminliganden erfolgt über Kaufmannsfamilie.
das freie Elektronenpaar an das Metallkation. Die Bildung von 1891 Promotion in organischer Chemie an der Friedrich-Wilhelms-
Universität Berlin.
Tetraamminkupfer(II) [Cu(NH3)4]2+, eine tiefblaue wasserlös-
1893 Haber konvertiert vom jüdischen Glauben zum Protestantismus.
liche Komplexverbindung (7 Abschn. 14.1.3), wird beispielsweise 1896 Habilitation zur Verbrennung von Kohlenwasserstoffen an der
als empfindlicher Nachweis auf Kupfer genutzt. TH Karlsruhe.
1901 Haber ehelicht Clara Immerwahr, erste promovierte deutsche
Chemikerin, Feministin und Pazifistin.
12.5.2.1 Haber-Bosch-Verfahren 1908 Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff, Durchbruch in der
Düngemittelindustrie („Brot aus Luft“).
Justus von Liebig erkannte als Erster, dass Pflanzen dem Boden 1911 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts (heute Fritz-Haber-Institut
Mineralstoffe wie Nitrate entziehen (7 Abschn. 12.5.5.1). Um die der MPG) für physikalische Chemie in Berlin.
Fruchtbarkeit von Böden nachhaltig aufrechtzuerhalten, müssen 1914 Berater des Kriegsministeriums für die Entwicklung von
diesen die durch die Ernte entzogenen Minerale durch Düngung Giftkampfstoffen („Tod aus der Luft“).
1915 Haber überwacht den ersten deutschen Giftgasangriff an der
wieder zugeführt werden. Da die Nitratvorkommen (Chilesal-
Westfront. Anschließend erfolgt die Beförderung zum Hauptmann.
peter) begrenzt sind und der Bedarf an Nahrungsmitteln seit Kurz darauf nimmt sich seine Frau, die unter der Dominanz und den
Beginn der industriellen Revolution extrem anstieg, wurde ein militärischen Aktivitäten ihres Mannes zerbrach, das Leben.
Weg gesucht, den in der Erdatmosphäre in nahezu unbegrenzter 1918 Anklage als Kriegsverbrecher, die jedoch nach der Verleihung
Menge vorhandenen elementaren Stickstoff zu aktivieren, sodass des Nobelpreises fallengelassen wurde.
1919 Auszeichnung mit dem Chemie-Nobelpreis für die Entwicklung
er der Pflanzendüngung zugeführt werden kann.
der Ammoniaksynthese
Bahnbrechende Arbeiten auf diesem Gebiet erbrachte der 1925 Langjährige Arbeiten, aus Meerwasser Gold für
deutsche Chemiker Fritz Haber (1868–1934), dem es schließlich Reparationszahlungen zu extrahieren, bleiben erfolglos.
1908 gelang, Stickstoff (N2) und Wasserstoff (H2) unter hohem 1933 Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Druck in Gegenwart von Osmium-Katalysatoren zu Ammo- 1933 Der jüdisch stämmige, jedoch konvertierte Haber wird aus der
Position des Institutsleiters gedrängt.
niak (NH3) zu verknüpfen (. Abb. 12.77, 7 Exkurs 12.5 und 12.6).
1933 Emigration nach England.
Für seine Arbeiten zur Ammoniaksynthese erhielt er 1919 den 29.01.1934 Haber stirbt während einer Erholungsreise in Basel.
Nobelpreis für Chemie. Die kommerzielle Ammoniaksynthese
erfolgte bereits 1913 durch die BASF, wobei der Chemiker Carl
Bosch – Neffe des Elektrokonzerngründers Robert Bosch – vorher
immense verfahrenstechnische Probleme zu bewältigen hatte. Die 12.5.2.1.1 Großtechnische Ammoniaksynthese
größte Herausforderung war es, Eisenreaktoren zu entwickeln, die Die Synthese von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff ist
Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen standhalten eine exotherme Gleichgewichtsreaktion (7 Abschn. 8.4), d. h.
konnten. Für die großtechnische Umsetzung der Ammoniaksyn- nur ein Teil der Ausgangsstoffe Stickstoff und Wasserstoff wird
these durfte er 1931 den Nobelpreis für Chemie entgegennehmen. in Ammoniak umgewandelt. Die Lage des Gleichgewichts ist
206 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
800 °C/Ni
C + H2O CO2 + H ; HR = +131 kJ/mol CO Dampfreforming
350 °C
CO + H2O CO2 + H2 ; HR = –41 kJ/mol H2 Wasser-Shift-Reaktion
druck- und temperaturabhängig. Gemäß des Prinzips des kleins- vorhandenes Kohlenstoffmonoxid in Kohlenstoffdioxid trans-
ten Zwanges von Le Chatelier verlagert sich das Gleichgewicht formiert, das durch Wäsche mit Diethanolmethylamin aus dem
einer exothermen Reaktion bei niedrigen Temperaturen in Rich- Rohgas entfernt wird. Nach weiteren Reinigungsschritten liegt
tung Energiefreisetzung, also bei der Ammoniaksynthese auf die letztendlich reines Frischgas mit 75 Vol.-% Wasserstoff (3 mol H2)
Seite des Ammoniaks. Bei hohem Druck erfolgt ebenfalls eine und 25 Vol.-% Stickstoff (1 mol N2) vor.
Verschiebung des Gleichgewichts in Richtung Ammoniak, da aus Die Reaktion von Wasserstoff mit Stickstoff erfolgt in Hoch-
vier Mol Ausgangsgasen lediglich zwei Mol Ammoniak entstehen druckreaktoren, den sog. Kontaktöfen, bei 200 bar und 450 °C
(. Abb. 12.78, unten). (. Abb. 12.79). Hinsichtlich der Reaktionstemperatur befindet
Die erste Herausforderung bei der großtechnischen Produk- man sich in einem Dilemma. Einerseits verschiebt sich das Gleich-
tion von Ammoniak ist, Wasserstoff in der benötigten Menge und gewicht der exothermen Reaktion mit zunehmender Temperatur
Reinheit bereitzustellen. Das bevorzugte, da kostengünstigste in Richtung der Ausgangsstoffe, d. h. die Ausbeute an Ammoniak
Verfahren ist das Dampfreforming (. Abb. 12.78, oben), wobei nimmt ab. Andererseits verlagert sich zwar bei tiefen Temperatu-
Methan (Erdgas) oder Naphtha (Fraktion der Erdöldestillation, ren das Gleichgewicht auf die Seite des Ammoniaks, jedoch nimmt
Siedebereich 150–200°C) mit Wasserdampf von 800 °C an einem die Reaktionsgeschwindigkeit und somit der Ausstoß an Ammo-
Nickelkatalysator zu Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff umge- niak massiv ab.
12 setzt wird. Das entstandene Kohlenstoffmonoxid (CO) wird durch Ein technisch akzeptabler Kompromiss aus Reaktionsge-
Wasser-Shift-Reaktion zur weiteren Wasserstofferzeugung ver- schwindigkeit und Gleichgewichtslage konnte erst durch die Ein-
wendet. Als Nebenprodukt entstehen äquimolare Mengen Koh- führung von Eisenoxid-Mischkatalysatoren (Fe3O4/K2O/CaO/
lenstoffdioxid (. Abb. 12.78, Mitte). Al2O3/SiO2), die die Aktivierungsenergie ( 7 Abschn. 9.1) der
Im zweiten Schritt wird dem Rohgas so viel Stickstoff – meist Ammoniakbildung von 239 auf 83 kJ/mol absenken, gefunden
aus einer integrierten Luftzerlegungsanlage nach Linde – beige- werden. Das Katalysatorsystem erlaubt die großtechnische Her-
mischt, bis das molare Verhältnis von Stickstoff zu Wasserstoff stellung von Ammoniak bei 450 °C und 200 bar. Zwar würden
eins zu drei beträgt. In weiteren Reinigungsschritten wird noch höhere Drucke generell das Gleichgewicht noch mehr auf die Seite
. Abb. 12.79 Historischer Haber-Bosch-Kontaktofen auf dem Werksgelände der BASF (© BASF SE, 2016)
12.5 · Gruppe 15 – Stickstoff und Phosphor, wichtig für Mensch, Tier und Pflanze
207 12
des Ammoniaks verschieben, andererseits aber auch die Kosten Jahr produziert. Großanlagen stellen 4000 Tonnen Harnstoff pro
für die Anlage exponentiell ansteigen lassen. Tag her.
Durch den hohen Durchsatz an Frischgas durch den Kon-
taktofen werden statt der bei 200 bar und 450 °C theoretischen
27 % nur 17 % des Ausgangsgases in Ammoniak umgesetzt, 83 % 12.5.3 Oxide und Sauerstoffsäuren –
bleiben unverändert. Das gebildete Ammoniak wird auskonden- Salpeter- und Phosphorsäure für die
siert und das verbleibende, nicht umgesetzte Ausgangsgas (H2, Düngemittelindustrie
N2) dem Reaktor wieder im Kreislauf zugeführt. Bei der groß-
technischen Produktion gilt es, ein Optimum hinsichtlich Kata-
lysator, Reaktionsdruck, Reaktionstemperatur und Durchsatz zu 12.5.3.1 Stickstoffoxide
finden, sodass eine sichere kontinuierliche Fahrweise des Kontakt- Stickstoffoxide (. Tab. 12.13 und . Abb. 12.81) oder Stickoxide
ofens bei optimaler Wirtschaftlichkeit gewährleistet ist. Ammo- sind Oberbegriffe für gasförmige Oxidationsprodukte von Stick-
niak ist eine der wichtigsten Grundchemikalien der Anorgani- stoff mit den allgemeinen Summenformeln NOx(x = 1,2) und
schen Chemie. . Tabelle 12.12 faßt die mengenmäßig wichtigsten N2Oy(y = 1, 3, 4, 5).
Basischemikalien der Anorganischen Chemie mit ihren Haupt-
anwendungen zusammen. 12.5.3.1.1 Lachgas (N2O)
Großanlagen produzieren 3000 t Ammoniak pro Tag. Welt- Lachgas (N2O) weist einen leicht süßlichen Geruch auf. Geringe
weit werden ca. 180 Mio. Jahrestonnen Ammoniak produziert. Mengen führen – nomen est omen – zu rauschähnlichem Zustand
Der größte Ammoniakproduzent mit ca. einem Drittel der Welt- und Lachanfällen. Die Synthese von N2O erfolgt durch thermische
produktion ist derzeit China, gefolgt von Indien, Russland und Zersetzung (< 300 °C! Ansonsten Explosionsgefahr) von Ammo-
den Vereinigten Staaten. 85 % des global produzierten Ammo- niumnitrat ( NH 4NO3 → N 2O + 2 H 2O ) zu Lachgas und Wasser.
niaks geht in die Düngemittelindustrie (7 Abschn. 12.5.5.1), aus Lachgas wird nach wie vor als Anästhetikum verwendet,
den anderen 15 % werden Explosivstoffe und Feinchemikalien da es neben der anästhesierenden auch eine schmerzbetäu-
wie Amine, Salpetersäure etc. produziert. bende Wirkung aufweist und die Narkosewirkung schnell ein-
Der Großteil des Ammoniaks wird in Harnstoff überführt tritt. Darüber hinaus findet es als geschmackneutrales Treib- und
(. Abb. 12.80). Harnstoff ist der billigste und deshalb auch welt- Lockerungsgas z. B. für Sprühsahne und Softeis Anwendung. Der
weit meistverwendete N-Dünger. Das Ammoniak wird mit Koh- in Actionfilmen bei Verfolgungsjagden beliebte Boost der Motor-
lenstoffdioxid in einem Hochdruckreaktor bei 150 bar in Ammo- leistung um bis zu 50 % beruht auf einer Direkteinspritzung von
niumcarbamat überführt, das durch Erwärmen letztendlich zu Lachgas in die Ansaugleitung des Motors, sodass auf Grund des
Harnstoff umlagert. Die anfallende 70 %ige Harnstofflösung höheren Sauerstoffgehalts (N2O ca. 36 %, Luft 20 %) und der oxi-
wird eingeengt, ausfallender Harnstoff abzentrifugiert und gra- dativen Kraft von Distickstoffoxid mehr Benzin pro Zeiteinheit
nuliert. Es werden weltweit über 150 Mio. Tonnen Harnstoff pro verbrannt werden kann.
O H O
150 bar + 200 °C/20 bar
2 NH3 + CO2 C H N H C + H2O
H2 N O– H H2N NH2
– –
O O ++ O O O
+ – + + + +
N O N O N N O N N N N N N
O O O O –
O O O O
– –
–
O
6 R C + P4O10 6R C N + 4 H3PO4
N H2
Säureamid Nitril
Pt-Rh-Kat./650 °C
4 NH3 + 5 O2 4 NO + 6 H2O ; HR = –227 kJ/mol NO Ammonoxidation
. Abb. 12.86 Herstellung von Salpetersäure aus Ammoniak nach dem Ostwald-Verfahren
terminale Oxo-Funktion
O O O
+V +III +I
P P P
O H H O H H O H
H O
O O H
saure Protonen
H H
ortho- Phosphonsäure Phosphinsäure
Phosphorsäure (Phosphorige Säure) (Hypophosphorige Säure)
O O O O
HO P OH + HO P OH HO P O P OH + H2O
OH OH OH OH
ortho-Phosphorsäure Diphosphorsäure
O O O O O O
HO P O P OH + HO P OH HO P O P O P OH + H2O
OH OH OH OH OH OH
Triphosphorsäure
O
HO P O H + (n-1) H2O
OH n
lineare Polyphosphorsäure
O O
–
Na+ O
P O O
P
O O
O P –
O O Na+ + 2 H O
+ 4 NaOH –
2
O Na+ O
P P P O
O O
P O P
O O
O O –
Na+
O O
X F Cl Br I geom. Struktur
NX3 −207 °C/−129 °C −40 °C/+71 °C > −100°C Explosion > −78°C Zersetzung
N X
farbloses Gas gelbes Öl tiefrote Kristalle roter Feststoff X
X
PX5 −94 °C/−85 °C sublimiert bei +160 °C +106 °C/k.D.v +41 °C/k.D.v. X
farbloses Gas gelbe Kristalle gelber Feststoff schwarzer Feststoff X
X P
X
X
12.5 · Gruppe 15 – Stickstoff und Phosphor, wichtig für Mensch, Tier und Pflanze
213 12
NH3 + 3 X2 N X
X + 3 HX
X
X
P + 4 X2 X
P4 + 6 X2 4 X 4 X P
X
X X
X
O
+ 3 H2O
PCl5 + H2O P H3PO4
– 2 HCl Cl Cl – 3 HCl
Cl
. Abb. 12.97 Feuerwerk und Böller – Schwarzpulver sorgt für den lauten
Knall (© rcfotostock/Fotolia)
entnehmen war.
Die Arbeiter versuchten am Unglückstag in gewohnter Weise,
die Halde mit einer kleinen Dynamitsprengung aufzulockern, was Deshalb ist seit 2013 EU-weit der Einsatz von Phosphaten in
letztendlich 5000 t Ammoniumnitrat-Ammoniumsulfat-Gemisch Waschmitteln verboten. In Geschirrspülmitteln dürfen sie noch
zur Explosion brachte. Durch die Detonation wurden über 500 bis 2017 eingesetzt werden (. Abb. 12.99). Die Enthärtung des
Arbeiter getötet und Tausende von Menschen obdachlos. Auf dem Wassers erfolgt in modernen Waschmitteln durch das Gerüstsi-
Werksgelände bildete sich ein 90 m breiter und 20 m tiefer Krater. licat Zeolith A (7 Abschn. 13.4.3), das keine Eutrophierungsef-
Der Knall war bis Frankfurt, evtl. sogar im 300 km entfernten fekte zeigt.
München zu hören.
12.5.6 Lernkontrolle
12.5.5.3 Waschmittelindustrie
Lösliche Calciumsalze machen Wasser „hart“. Phosphate, ins-
besondere Pentanatriumtriphosphat, auch als Natriumtripoly- Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
phosphat oder nur Triphosphat bezeichnet (Na5P3O10), enthär- Luftverflüssigung nach Linde, weißer Phosphor, roter
ten Wasser. Durch die stärkere Bindung der zweiwertigen Calci- Phosphor, Ammoniak, Haber-Bosch-Verfahren, Ammon-
umkationen an die fünffach negativ geladenen Triphosphatanio- oxidation, Ostwald-Verfahren, Salpetersäure, Stickoxide,
nen werden diese gegen die schwächer gebundenen einprotoni- Phosphoroxide, Phosphorsäure, Poplyphosphorsäuren,
gen Natriumionen ausgetauscht, wodurch das Wasser „weicher“ Düngemittel, Nitrifikation, Wasserenthärtung
wird (. Abb. 12.98).
So tauscht ein Gramm Triphosphat in etwa 0,2 g Calciumio-
nen gegen Natriumionen aus. Im Unterschied zu den Calciumio- ? Verständnisfragen
nen sind Natriumionen nicht imstande, waschaktive Substanzen Übung 1
wie Seifen auszufällen, sodass diese ihre volle Waschkraft entfal- Welche physikalischen Eigenschaften weist Stickstoff auf?
ten können. Wie kommt Stickstoff in der Natur vor?
Allerdings gelangen die Phosphate mit dem Abwasser über
die Kanalisation in Flüsse, Seen und Meere, wo sie als Dünger für Übung 2
die Wasserpflanzen dienen und insbesondere das Algenwachstum Erklären Sie das Prinzip der Luftverflüssigung nach
anregen (Eutrophierung). Linde.
O O O O O O
Ionenaustausch
Na+ – O P O P O P O– Na+ + Ca2+ Na+ – O P O P O P O – Na+ + 2 Na+
O– O– O– O– O– O–
Na+ Na+ Na+ Na+ Ca2+
. Abb. 12.98 Natriumtripolyphosphat enthärtet Wasser durch Austausch von Ca- und Mg-Ionen durch Natriumionen
216 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Übung 4 Sauerstoff (O), Schwefel (S), Selen (Se), Tellur (Te) und Polonium
Wofür werden jährlich 180 Mio. Tonnen Ammoniak (Po) verfügen als Elemente der 16. Gruppe des Periodensystems
benötigt? (. Abb. 12.100) über sechs Valenzelektronen (s2p4). Sauerstoff
und Schwefel sind Nichtmetalle. Auf die Halbmetalle Selen und
Übung 5 Tellur und das radioaktive Metall Polonium wird in 7 Abschn. 13.6
Nach welchem Verfahren wird Ammoniak großtechnisch eingegangen.
hergestellt?
Übung 7
Nach welchem Verfahren wird Salpetersäure hergestellt? 12.6.1.1 Sauerstoff
Wofür wird Salpetersäure benötigt?
12.6.1.1.1 Vorkommen
Übung 8 Sauerstoff ist mit 0,8 % das dritthäufigste Element im Univer-
Phosphorsäure hat welche Strukturformel? Warum sum und mit 49,4 % das weitaus häufigste Element der Erdkruste.
ist Phosphorsäure (H3PO4) eine dreiprotonige Säure, So besteht die Atmosphäre aus 21 Vol.-% (23,2 %) elementarem
Phosphonsäure (H3PO3) dagegen nur eine zweiprotonige Sauerstoff (O2) und Wasser (H2O) aus 88,9 % gebundenen Sauer-
Säure? Erklären Sie dies anhand der Strukturformeln. stoff. Weitverbreitete Gesteine und Minerale wie Silicate, Sulfate,
Phosphate und Quarz enthalten ebenfalls Sauerstoff in großen
Übung 9 Mengen. Als Hauptelement des menschlichen Körpers (. Abb. 1.3)
Weshalb ist Phosphorsäure für die Düngemittelindustrie von trägt Sauerstoff 65 % zum Körpergewicht bei.
12 so großer Bedeutung?
12.6.1.1.2 Eigenschaften
Übung 10 Sauerstoff (. Tab. 12.15) ist ein farb-, geruch- und geschmackloses
Pentanatriumtriphosphat enthärtet Wasser effektiv. Was ist Gas, das unter −183 °C als hellblaue Flüssigkeit kondensiert und
das Wirkprinzip? bei −218 °C kristallisiert. In der Natur kommen drei Isotope des
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35Br 36 Kr
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59 Pr 60Nd 61Pm* 62Sm 63Eu 64Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68Er 69Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94 Pu* 95Am* 96Cm* 97Bk* 98Cf* 99Es* 100 Fm* 101Md* 102No* 103 Lr*
. Abb. 12.100 Sauerstoff und Schwefel – klassische Nichtmetalle und Elemente der sechsten Hauptgruppe
12.6 · Gruppe 16 – Chalkogene, wichtige Bestandteile von Erzen und Mineralien
217 12
Element O S
Kernladungszahl 8 16
Relative Atommasse [g/mol] 16,00 32,07
Elektronegativität 3,44 2,58
Kovalenzradius [pm] 66 104
Ionenradius [pm] 124 (−II, 4) 170 (-II, 6)
43 (+VI, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 1311 999
Oxidationszahl −I, −II +VI, +IV, +II, −II
Siedepunkt [°C] −183 445
Schmelzpunkt [°C] −218 119
. Abb. 12.102 Überlagerung der Atomorbitale (AO) zu bindenden (σ) und
Dichte [g/l] 1,33 2060 antibindenden (σ*) Molekülorbitalen (MO); die Wechselwirkung der s-Orbitale
Entdecker Priestley, Altertum trägt nichts zur Bindungsordnung des Sauerstoffmoleküls bei
Scheele, 1774
Häufigkeit Erdhülle 49,4 % 480 ppm
verloren. Da die Energieunterschiede zwischen den O-Atomor-
Häufigkeit Atmosphäre 21,0 Vol.-% 0,1 Vol.-ppm bitalen sehr groß sind, wechselwirken separat voneinander jeweils
die 1s-, 2s- und die drei 2p-Orbitale der beiden Sauerstoffatome
zu Molekülorbitalen.
Sauerstoffs vor: 16O (99,76 %), 17O (0,04 %) und 18O (0,2 %). Bei Die insgesamt sechszehn Elektronen der beiden Sauerstoff-
20 °C lösen sich ca. 6,3 ml Sauerstoff in Wasser. Mit zunehmen- atome füllen die Molekülorbitale des Sauerstoffmoleküls nach stei-
der Temperatur nimmt die Löslichkeit ab. Damit Fische überle- gender Energie und gemäß der Hundschen Regel (7 Abschn. 3.3)
ben können, müssen Gewässer einen Mindestgehalt von ca. 3 ml auf. Letztere besagt, dass Orbitale gleicher Energie (entartete Orbi-
Sauerstoff pro Liter Wasser aufweisen. tale) nur dann mit einem zweiten Elektron besetzt werden, wenn
Sauerstoff ist ein sehr reaktives Element, das mit fast allen Ele- alle anderen entarteten Orbitale bereits einfach belegt sind.
menten (außer He, Ne, Ar, Kr) Verbindungen eingeht, wenngleich Die 1s- und 2s-Orbitale der beiden Sauerstoffatome haben
die Reaktionen mit Edelmetallen und Halogenen langsam erfol- kugelförmige Gestalt und überlagern im Sauerstoffmolekül
gen. Die bevorzugte Oxidationsstufe von Sauerstoff ist −II. Mit zu je einem bindenden (σ, Anziehung) und antibindenden (σ*,
Alkali- und Erdalkalimetallen bildet es Oxide (Na2O, MgO, OZO Abstoßung) Molekülorbital (. Abb. 12.102). Zur O-O-Bindungs-
= −II), Peroxide (Na2O2, BaO2, OZO = −I) und Hyperoxide (KO2, achse rotationssymmetrische MO werden als Sigma-Orbitale (σ)
CsO2, OZO = −1/2). Während Metalloxide sich in Wasser alka- bezeichnet. Das bindende MO, das aus AO mit gleichen mathema-
lisch lösen, ergeben Nichtmetalloxide mit Wasser saure Lösungen. tischen Vorzeichen hervorgeht, erhöht die Elektronendichte zwi-
Sauerstoff ist eines der wenigen Gase, die von einem Mag- schen den O-Atomen und ist energieärmer als die entsprechen-
netfeld angezogen werden. Dieses paramagnetische Verhalten den s-Atomorbitale des Sauerstoffs. Das antibindende, mit Aste-
(7 Abschn. 14.1.4) ist auf ungepaarte Elektronen zurückzuführen. risk versehene, σ*-MO dagegen weist einen Knotenpunkt entlang
Mit der Lewis-Formelschreibweise (. Abb. 12.101, links) sind der O-O-Bindungsachse auf, d.h. zwei Sauerstoff-AO mit unter-
ungepaarte Elektronen nicht erkennbar. Einen tieferen Einblick schiedlichem mathematischen Vorzeichen überlagern sich und
in die Bindungsverhältnisse des Sauerstoffmoleküls erlaubt die schwächen dadurch die Elektronendichte zwischen den O-Atom-
Molekülorbitaltheorie. Molekülorbitale (MO) entstehen durch kernen (. Abb. 12.102).
Überlagerung von Atomorbitalen (AO), was mathematisch einer Da der Energiegewinn der bindenden σ-O2-MO durch die
Addition (bindende Wirkung) resp. Subtraktion (antibindende energetisch ungünstigen antibindenden σ*-MO wieder aufgeho-
Wirkung) der Schrödinger-Wellengleichungen (7 Abschn. 2.6) der ben wird, und sowohl die bindenden als auch die anti-bindenden
Atomorbitale entspricht. Generell gilt, dass Atomorbitale nur dann MO mit je zwei Elektronen besetzt sind, tragen die Wechselwir-
miteinander zu Molekülorbitalen wechselwirken können, wenn kungen der 1s- und 2s-AO der Sauerstoffatome nichts zur Mole-
sie in etwa die gleiche Energie und Symmetrieform aufweisen. külbildung bei (. Abb. 12.102).
Aufgrund des Energieerhaltungssatzes geht bei der Kombi- Zielführender sind da die Wechselwirkungen der drei ent-
nation von Atomorbitalen zu Molekülorbitalen keine Energie arteten p-Orbitale. Von den drei energetisch entarteten 2p-Or-
bitalen des Sauerstoffatoms ist eines doppelt und zwei einfach
mit Elektronen besetzt. . Abbildung 12.103 zeigt die entstehen-
O O O O
den Molekülorbitale (links) und gibt rechts die Energielevel der
. Abb. 12.101 Die Lewis-Formel des Sauerstoffmoleküls (links) erklärt Wechselwirkungen schematisch wieder. Die positive Überlage-
nicht dessen diradikalischen Charakter rung der beiden pz-Orbitale ergibt ein bindendes, energetisch
218 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
a b
. Abb. 12.103 Wechselwirkungen der energetisch entarteten 2p-Atomorbitale der Sauerstoffatome im Sauerstoffmolekül
O2 + UV-C O + O
2 O + 2 O2 2 O3
3 O2 + UV-C 2 O3
Stratosphärenozon O + O3 2 O2
Leben konnte erst vor 400 Mio. Jahren vom Wasser an Land
wechseln, als sich ein genügend starker Ozonschutz in der Stra- 2 O3 + UV-B 3 O2
tosphäre aufgebaut hatte, der die Lebewesen vor der aggressiven
. Abb. 12.110 Abbau des Ozons in der Stratosphäre durch UV-B-
Strahlung
Cl• + O3 ClO• + O2
O3 + UV-B O2 + •O•
2 O3 + UV-B 3 O2
. Abb. 12.108 Siemens' scher Ozonisator zur Erzeugung von Ozon aus . Abb. 12.111 Mechanismus des katalytischen Ozonabbaus in der
Sauerstoff Stratosphäre durch Chlorradikale
12.6 · Gruppe 16 – Chalkogene, wichtige Bestandteile von Erzen und Mineralien
221 12
NO2 + UV-A NO + O
O2 + O O3
O3 + NO O2 + NO2
12.6.1.2 Schwefel
12 12.6.1.2.1 Vorkommen
Die Vorkommen von elementarem Schwefel werden auf ca. 600
Mio. Tonnen geschätzt. Er kommt gediegen als Schwefelblüte
(S8) auf Sizilien, Japan und in Nordamerika vor. In Louisiana und
Texas gibt es Lagerstätten von elementarem Schwefel in 400 m Tiefe
mit einer Mächtigkeit von bis zu 100 m. Sulfidische Erze, die je
nach Optik von den Bergmännern umgangssprachlich als Kiese,
. Abb. 12.116 Schwefel ist das Element mit den meisten allotropen
Glanze oder Blenden klassifiziert werden, und Sulfate wie z. B. Gips
Formen
(CaSO4 · 2H2O), Anhydrit (CaSO4), Bittersalz (MgSO4 · 7H2O) und
Baryt (Schwerspat, BaSO4) kommen ubiquitär vor (. Abb. 12.117).
Schwefel ist darüber hinaus auch ein essenzielles Element der 44Ab 119 °C schmilzt β-S zu einer hellgelben, leicht beweg-
belebten Natur. Als Bestandteil schwefelhaltiger Aminosäuren und lichen Flüssigkeit (λ-Schwefel), wobei zunächst die S8-Ringe
Proteine ist es beispielsweise in Haaren, Nägeln, Horn, Muskeln, erhalten bleiben.
Eiern etc. anzutreffen. 44Ab 159 °C wechselt die Farbe nach braun (π-Schwefel) und
die Viskosität nimmt zu. π-Schwefel ist ein Gemisch von
12.6.1.2.2 Eigenschaften Ringen mit 6 bis 25 Schwefelatomen und parallel formen
Physikalische Eigenschaften von Schwefel sind in . Tab. 12.15 auf- sich auch Schwefelketten (μ-Schwefel).
geführt. Bei Raumtemperatur liegt elementarer Schwefel in fester, 44Bei 187 °C ist die Viskosität maximal, da der Anteil an
kristalliner Form als kronenförmige S8-Moleküle (α-Schwefel) vor. langkettigem μ-Schwefel am höchsten ist. Die Schmelze ist
Die einzelnen S-Atome sind über Einfachverbindungen miteinan- zähflüssig und rotbraun. Die Länge der helicalen Ketten
der verknüpft. Der S-S-S-Bindungswinkel in der S8-Kronenform beträgt bis zu einer Mio. Schwefelatome.
beträgt 108°, die S-S-Bindungslänge 206 pm (. Abb. 12.115). 44Ab 445 °C wird die Schwefelschmelze wieder dünnflüssig
α-Schwefel ist hellgelb, kristallin und spröde. und es bilden sich dunkel-rotbraune Dämpfe. Aus moleku-
Weitere allotrope Formen des Schwefels (. Abb. 12.116): larer Sicht zersetzen sich die Ketten und bilden wieder
44Ab 96 °C ordnen sich die S8-Kronen im Kristall um. Aus Kronen mit maximal acht Schwefelatomen. Mit steigender
orthorhombischem α-S8 wird weniger dichter, monokliner Temperatur zerfallen diese Kronen in immer kleinere
ß-S. Ab 119 °C schmilzt Schwefel. Vom flüssigen Schwefel Schwefelfragmente.
sind drei allotrope Formen bekannt: 44Ab 2200 °C liegen nur noch einzelne Schwefelatome vor.
12.6 · Gruppe 16 – Chalkogene, wichtige Bestandteile von Erzen und Mineralien
223 12
a b
c d
. Abb. 12.117 (a) Schwefelblüte (S), (b) Pyrit (FeS2), (c) Baryt (Schwerspat, BaSO4) und (d) Sphalerit (Zinkblende, ZnS) (© a rigamondis/Fotolia, b Miriam
Dörr/Fotolia, c, d Albert Russ/Shutterstock)
Schwefel reagiert mit Alkali- und Erdalkalimetallen zu ionischen, oben gefördert wird (. Abb. 12.118). Der gewonnene Rohschwe-
wasserlöslichen Sulfiden wie z. B. Natriumsulfid (Na2S), Magne- fel weist eine Reinheit von mehr als 98 % auf und lässt sich durch
siumsulfid (MgS) etc. Mit Schwermetallen bilden sich schwerlös- Vakuumdestillation weiter reinigen. Heute wird knapp die Hälfte
liche, kovalente Sulfide wie Bleisulfid (PbS) resp. Quecksilber- an Schwefel mit dem Frasch-Verfahren gewonnen.
sulfid (HgS). Mit Sauerstoff reagiert Schwefel zu Schwefeloxiden
(SxOy, 7 Abschn. 12.6.2) und mit Wasserstoff zu Schwefelwasser-
stoff (H2S).
12.6.1.2.3 Gewinnung
Frasch-Verfahren
Das von Hermann Frasch 1891 entwickelte Verfahren erlaubt das
Fördern von elementarem Schwefel aus tiefliegenden Gesteinsfor-
mationen ohne bergmännischen Aufwand. Dazu wird ein Metall-
rohr mit 25 cm Durchmesser in die schwefelführende Lagerstätte
abgeteuft. Anschließend werden dann zwei weitere Rohre mit ca.
15 und 7 cm Durchmesser abgelassen, sodass drei teleskopartig
ineinander geführte Rohre in die Schwefellagerstätte reichen.
Durch das äußere Rohr wird Heißwasserdampf von 160 °C mit
25 bar eingepresst, wodurch der Schwefel aufschmilzt (Smp.
119 °C) und aus der Lagerstätte herausgelöst wird. Durch das
Innenrohr wird Luft mit 40 bar Druck eingespeist, sodass täglich . Abb. 12.118 Frasch-Verfahren – Schwefelgewinnung aus tiefliegenden
300 t geschmolzener Schwefel als Schaum im mittleren Rohr nach Lagerstätten mit Wasserdampf und Pressluft
224 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Claus-Prozess
Die andere Hälfte an Schwefel wird aus Schwefelwasserstoff (H2S)
nach dem Claus-Prozess hergestellt. Schwefel und Schwefelwas-
serstoff sind Bestandteile von Erdöl und saurem Erdgas. Aus öko-
logischen Gründen muss der Schwefel dem Erdöl durch kataly-
tisches Hydrieren (350 °C, 50 bar, Co-Mo-Trägerkatalysator) in . Abb. 12.120 Kein Zündholz ohne Schwefel (© jjoja/Fotolia)
Raffinerien entzogen werden.
Der dabei in großen Mengen anfallende Schwefelwasserstoff
wird anschließend nach dem Claus-Prozess in elementaren Schwe-
fel überführt. Dazu wird der Schwefelwasserstoff (OZS = −II) 12.6.2.1 Schwefeldioxid
aus dem Erdöl ausgewaschen und dann in einer Brennkammer Schwefeldioxid kommt in der Natur in Erdgas und Vulkanga-
bei 1100 °C unter Sauerstoffunterschuss zu Schwefeldioxid (SO2, sen vor. Es ist ein farbloses, stechend riechendes Gas mit einem
OZS = +IV) oxidiert (. Abb. 12.119, erste Gleichung). Drei Viertel Schmelzpunkt von −76 °C und einem Siedepunkt von −10 °C. In
des entstehenden Schwefeldioxids reagieren bereits in diesem einem Liter Wasser lösen sich bei Raumtemperatur ca. 35 l (100 g)
Stadium mit restlichem H2S zu elementarem Schwefel (zweite Schwefeldioxid. Unter Druck kondensiert SO2 zu einer farblosen
Gleichung). Flüssigkeit.
Noch verbleibendes Schwefeldioxid wird dann bei 300 °C über Das Schwefelatom und die beiden Sauerstoffatome bringen
12 porösen Bauxitkatalysator (Poren < 8 nm, spezifische Oberfläche jeweils sechs Bindungselektronen ein, sodass insgesamt 18 Elekt-
> 300m2/g) mit Schwefelwasserstoff zu Schwefel (OZS = 0) redu- ronen in der Lewis-Formel untergebracht werden müssen. Unter
ziert (. Abb. 12.119, zweite Gleichung). Da dabei Schwefel sowohl Einhaltung der 8-Elektronen-Regel ergeben sich zwei mesomere
oxidiert (H 2S ® S ) als auch reduziert (SO 2 ® S ) wird, handelt Resonanzstrukturen (. Abb. 12.121a). Das zentrale Schwefelatom
es sich um eine Synproportionierungsreaktion. Moderne Schwe- ist sp²-hybridisiert, sodass sich ein O-S-O-Bindungswinkel von
felrückgewinnungsanlagen nach Claus konvertieren 99,8 % des 119° einstellt. Die S-O-Bindungslängen der formalen 1½-Bindung
Schwefelwasserstoffs in elementaren Schwefel mit einer Reinheit betragen 143,1 pm.
von mehr als 99 %. Schwefeldioxid wird gezielt durch die Verbrennung von
Schwefel oder Schwefelwasserstoff bzw. durch Rösten von
12.6.1.2.4 Verwendung
Aus dem überwiegenden Teil des Schwefels (85 %) wird Schwe- a
felsäure (7 Abschn. 12.6.2.4) hergestellt, die zur Produktion von + +
S S
Mineraldüngern benötigt (7 Abschn. 12.5.5.1) wird. Der Rest O O – – O O
wird zum Vulkanisieren, d. h. Härten von Kautschuk zu Gummi,
für Pyrotechnik (Zündhölzer, . Abb. 12.120, Feuerwerkskörper)
und Schwarzpulver benötigt. Schwarzpulver ist eine Mischung b
aus Kalisalpeter (KNO3), Kohle (C) und Schwefel (S) im Verhält-
nis sechs zu zwei zu eins.
12.6.2 Schwefel-Sauerstoff-Verbindungen –
Schwefelsäure als wichtigster Vertreter
a – –
O O O
2+ 2+ 2+
S S S
– – – –
O O O O O O
. Abb. 12.126 Trimeres γ-SO3 (a) und polymeres β-SO3 (b) 12.6.2.3 Sauerstoffsäuren des Schwefels
Es gibt zahlreiche Sauerstoffsäuren des Schwefels. Abhängig von
6 H2SO4 + P4O10 6 SO3 + 4 H3PO4 der Anzahl der Schwefelatome werden diese als Monoschwefel-
säuren H2SOn (n = 2−5) oder Dischwefelsäuren H2S2On (n = 2−8)
. Abb. 12.127 Dehydratisierung von Schwefelsäure zu Schwefeltrioxid eingruppiert (. Tab. 12.17). Die meisten Sauerstoffsäuren des
+I H 2S 2O 2 Thioschweflige Thiosulfite
Säure
+II H2SO2 Sulfoxylsäure Sulfoxylate H 2S 2O 3 Thioschwefel- Thiosulfate
säure
+III H 2S 2O 4 Dithionige Dithionite
Säure
+IV H2SO3 Schweflige Säure Sulfite H 2S 2O 5 Dischweflige Disulfite
Säure
+V H 2S 2O 6 Dithionsäure Dithionate
+VI H2SO4 Schwefelsäure Sulfate H 2S 2O 7 Dischwefel- Disulfate
säure
H2SO5 Peroxoschwefelsäure Peroxosulfate H 2S 2O 8 Peroxodi- Peroxo-
schwefelsäure disulfate
12.6 · Gruppe 16 – Chalkogene, wichtige Bestandteile von Erzen und Mineralien
227 12
Schwefels sind nur in wässriger Lösung oder als Salze stabil. In
Reinsubstanz können nur Schwefelsäure (H2SO4), Peroxoschwe-
felsäure (H2SO5), Thioschwefelsäure (H2S2O3), Dischwefelsäure
(H2S2O7) und Peroxodischwefelsäure (H2S2O8) isoliert werden.
Generell gilt, dass es sich um zweiprotonige Säuren handelt
und die Säurestärke mit zunehmender Oxidationsstufe zunimmt.
Bei gleicher Oxidationsstufe sind Dischwefelsäuren stärker sauer
als Monoschwefelsäuren.
1/2 O2
V2O5 V2O4
. Abb. 12.130 Großindustrielle Herstellung von Schwefelsäure nach dem katalytischen Kontaktverfahren
228 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
X=F X = Cl X = Br
Alle Halogenoxide sind endotherme Verbindungen, mit der werden. Auf der SF6-Gasoberfläche schweben leichte Gegenstände
Ausnahme von Diiodpentaoxid (I2O5), und starke Oxidationsmit- wie z. B. vorsichtig aufgesetzte Aluschalen.
tel, die mit oxidierbarer Materie explosionsartig reagieren. Sämt- Schwefelhexafluorid wird wegen seiner isolierenden Eigen-
liche Bromoxide sind nur bei tiefen Temperaturen stabil. Techni- schaften und seiner hohen elektrischen Durchschlagsfestigkeit in
sche Bedeutung hat nur Chlordioxid (ClO2). Es wird als Bleichmit- Hochspannungstransformatoren und -kondensatoren als Isolier-
tel in der Zellstoffindustrie und als Desinfektionsmittel für Abwas- gas eingesetzt. Weitere Anwendungen wie das Befüllen von Auto-
ser, Trinkwasser und in Gebäuden eingesetzt. reifen oder als Schutzgas nehmen immer mehr ab, da Schwefel-
hexafluorid das mit Abstand stärkste bekannte Treibhausgas ist.
Es ist um den Faktor 20.000 schädlicher für die Erdatmosphäre
12.6.3.2 Schwefelhalogenide als Kohlenstoffdioxid (CO2, 7 Abschn. 12.4.4.3).
Das mit Abstand wichtigste Schwefelhalogenid (. Tab. 12.19) ist
Schwefelhexafluorid (SF6). Schwefelhexafluorid kann direkt aus
den Elementen (S + 3 F2 → SF6) hergestellt werden. Es ist äußerst 12.6.4 Wasserstoffverbindungen
reaktionsträge und reagiert im Unterschied zu den anderen
Schwefelhalogeniden nicht mit Natronlauge und heißem Was-
serdampf. Bei Normalbedingungen ist es gasförmig und subli- 12.6.4.1 Wasser, schweres Wasser,
miert bei −64 °C. Es weist eine oktaedrische Idealstruktur auf, Wasserstoffperoxid
d. h. alle F-S-F-Winkel betragen 90° und alle S-F-Bindungslängen Auf Vorkommen, Eigenschaften, Struktur, Bedeutung und Ver-
156,4 pm. Aufgrund seiner hohen Gasdichte (6,6 g/l) kann Schwe- wendung von Wasser (H2O), schwerem Wasser (D2O), und
felhexafluorid wie eine Flüssigkeit in ein Becherglas gegossen Wasserstoffperoxid (H2O2), wurde bereits in 7 Abschn. 12.2.3
12.6 · Gruppe 16 – Chalkogene, wichtige Bestandteile von Erzen und Mineralien
229 12
. Abb. 12.131 Eisberge – nur 10 % des Eisvolumens ragt aus dem Wasser
(© adimasa/Fotolia) . Abb. 12.133 Bindungsparameter von Schwefelwasserstoff
eingegangen. Im Detail wurde das anomale Siede- und Dichte- (HS–) zerfällt. Wässrige Schwefelwasserstofflösungen weisen einen
verhalten von Wasser beschrieben, was auf die ausgeprägte Dipola- pH-Wert von 4 auf. Da Schwefelwasserstoff eine zweiprotonige
rität der O-H-Bindung wegen der hohen Elektronegativitätsunter- Säure ist, kann es neben sauren Hydrogensulfidsalzen (MSH) auch
schiede der Elemente Wasserstoff (EN = 2,2) und Sauerstoff (EN basische Sulfide (M2S) bilden.
= 3,5) zurückzuführen ist. Schwefelwasserstoff ist genauso giftig wie Blausäure,
Eis weist ein raumeinnehmendes, hexagonales Kristallgit- verfügt aber über eine wesentlich geringere Geruchsschwelle
ter (. Abb. 12.16) auf. Dadurch sind die Abstände der Wasser- ( 0,1 ppm » 0,13 mg/m3 Raumluft). Allerdings ist es über 200 ppm
moleküle im Eis größer als im ungeordneten flüssigen Zustand, nicht mehr wahrnehmbar, da es in hohen Konzentrationen die
wodurch die Dichte von Eis (0,92 kg/l) kleiner ist als von Wasser Riechnerven lähmt. Atemluft, die mehr als ein Prozent Schwe-
(1,0 kg/l, . Abb. 12.131). felwasserstoff enthält, führt in nur wenigen Sekunden zum Tod.
Da Schwefelwasserstoff bei der Fermentation von Gülle ent-
steht (. Abb. 12.134) und sich ausgesprochen gut in dieser löst,
12.6.4.2 Schwefelwasserstoff kann bereits das Aufrühren von Güllebehältern zu lebensge-
Schwefelwasserstoff (H2S) kann in Konzentrationen bis zu 20 % fährlichen Situationen führen. Deshalb müssen Gruben, Kanäle
in Erdgas vorkommen, das dann als Sauergas bezeichnet wird.
Sümpfe, Mülldeponien, Biogas- und Kläranlagen können eben-
falls Schwefelwasserstoff freisetzen. Es bildet sich bei der Fäulnis
von eiweißhaltigen Stoffen wie Speiseabfällen, Gülle, Eier etc. und
dadurch auch in Abwasserkanälen und Jauchegruben. In Gegen-
wart von Sauerstoff kann Schwefelwasserstoff von bestimmten
Bakterien zu Schwefelsäure oxidiert werden, was zur biogenen
Betonkorrosion im Kanalsystem führen kann (. Abb. 12.132).
Schwefelwasserstoff (. Abb. 12.133) ist ein farbloses, brenn-
bares, stark toxisches Gas, dessen Geruch an faule Eier erin-
nert. Schwefelwasserstoff kann selbst bei einer Verdünnung von
1:10.000.000 noch wahrgenommen werden. Schwefelwasserstoff
schmilzt bei −85 °C und siedet bei −60 °C und ist schwerer als Luft.
In Wasser lösen sich bei 20 °C ca. 2,6 l (4 g) H2S pro Liter. Wäss-
rige Schwefelwasserstofflösungen sind nur sehr schwach sauer
(pKS = 6,9, 7 Abschn. 10.4.5), da nur jedes tausendste Molekül . Abb. 12.134 Bei der Fermentation von Biomasse entsteht
Schwefelwasserstoff in Proton (H+) und Hydrogensulfidanion Schwefelwasserstoff (© Stephan Leyk/Fotolia)
230 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Übung 9
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: Beschreiben Sie das katalytische Kontaktverfahren zur
MO-Schema des Sauerstoffmoleküls, Biradikal, Triplett- Schwefelsäureherstellung. Wofür wird Schwefelsäure
sauerstoff, Singulettsauerstoff, Paramagnetismus, Ozon, benötigt?
Ozonloch, bodennahes Ozon, Synproportionierung,
Frasch-Verfahren, Claus-Prozess, Rauchgasentschwefelung, Übung 10
Schwefeloxide, Schwefelsäure, Kontaktverfahren, Schwe- Welche Eigenschaften hat Schwefelwasserstoff? Warum
felwasserstoff, Schwefelhexafluorid müssen Landwirte beim Aufrühren von Güllegruben
besondere Vorsicht walten lassen?
12.7 · Gruppe 17 – Halogene, Elemente hoher Elektronegativität und Reaktivität
231 12
12.7 Gruppe 17 – Halogene, Elemente hoher 12.7.1 Vorkommen, Eigenschaften und
Elektronegativität und Reaktivität Herstellung
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70Yb 71Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102No* 103Lr*
a b
c d
12
. Abb. 12.137 Halogene – (a) Fluor (g), (b) Chlor (fl), (c) Brom (fl) und (d) Iod (fest) im elementaren Zustand (© a, b, c Juergen Kummer- http://images-of-
elements.com/, d © Benjah-bmm27 – Iodine Sample, https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Benjah-bmm27/Gallery/samples/#mediaviewer/File:Iodine-
sample.jpg)
oder als Fluor-Stickstoff-Gemisch mit einem Fluorgehalt von 20 % geleitet, wo er in Protonen (H+) und Fluoridanionen (F−) dis-
in Stahlflaschen in den Handel gebracht. soziiert (lat. für trennen). Die Protonen wandern zur Stahlka-
Zur Herstellung von elementarem Fluor wird im ersten Schritt thode und werden zu Wasserstoff reduziert, während die Fluo-
Fluorwasserstoffsäure (HF) aus Fluorit mit konzentrierter Schwe- ridanionen an der Graphitanode je ein Elektron abgeben und
felsäure verdrängt (. Abb. 12.138). zu Fluor kombinieren. Der Prozess ist wegen der hohen Reakti-
Da Fluor das elektronegativste und stärkste aller Oxidations- vität des Fluors aufwendig. Dabei stellt die allmähliche Zerset-
mittel ist, kann es aus Fluorverbindungen nicht durch chemi- zung der Graphitanode durch das aggressive Fluor das größte
sche Reaktion, sondern nur mithilfe des elektrischen Stroms Problem dar.
(Elektrolyse) freigesetzt werden (. Abb. 12.139). Dazu wird Flu- Jährlich werden ca. 20.000 Tonnen elementares Fluor herge-
orwasserstoff bei 100 °C in eine Schmelze von Kaliumfluorid stellt und verarbeitet.
12.7 · Gruppe 17 – Halogene, Elemente hoher Elektronegativität und Reaktivität
233 12
Element F Cl Br I At*
Kernladungszahl 9 17 35 53 85
Relative Atommasse [g/mol] 19,00 35,45 79,90 126,90 209,99
Elektronegativität 3,98 3,16 2,96 2,66 2,20
Kovalenzradius [pm] 64 99 114 133 141
Ionenradius [pm] 119 (−I, 6) 167 (−I, 6) 182 (−I, 6) 206 (−I, 6) 213 (−I, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 1681 1256 1143 1009 920
Oxidationszahlen −I −I, +I, +III, +V, +VII −I, +I, +III, +V, +VII −I, +I, +III, +V, +VII −I, +I, +III, +V, +VII
Siedepunkt [°C] −188 −35 59 184 337
Schmelzpunkt [°C] −220 −101 −7 114 302
Dichte [g/l] 1,58 2,95 3140 4940 ca. 8700
Entdecker Moissan Scheele Balard Courtois Corson, McKenzie
1886 1774 1826 1811 1940
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 300 1900 6 0,1 3 · 10−20
Elektrolysezelle
Summengleichung 2 HF F2 + H2
Die Elektrolysezelle besteht aus einem Anoden- und einem Katho-
. Abb. 12.139 Elektrolyse von wasserfreiem Fluorwasserstoff ergibt denraum, die durch eine Membran voneinander getrennt sind. Die
elementares Fluor und Wasserstoff Membran ist für Chorid- und Hydroxidanionen undurchlässig,
jedoch für Natriumkationen passierbar. Als Membranmaterial
werden sulfonierte Perfluorverbindungen (Nafion®) verwendet,
12.7.1.3 Chlor da nur diese den harschen Bedingungen – Chlor, Natronlauge,
Chlor ist das mit Abstand am häufigsten vorkommende Halogen heiße Salzsole – standhalten können.
und zählt zu den wichtigsten Grundstoffen der chemischen Indus-
trie. Es kommt in der Natur in großen Mengen als Natriumchlorid
(Halit, NaCl) in Steinsalz-Lagerstätten vor. Weitere wichtige Chlor-
minerale sind Sylvin (KCl) und Carnallit (KCl · MgCl2 · 6H2O).
Außerdem enthält Meerwasser pro Kubikmeter ca. 20 kg Chlor.
Die Menge an Natriumchlorid der bekannten Salzstöcke wird
auf 3,7 Billionen Tonnen und die in den Ozeanen gelöste Menge
auf weitere 50 Billiarden Tonnen geschätzt.
Elementares Chlor ist ein gelbgrünes Gas von stechendem
Geruch und hoher Toxizität, das mehr als doppelt so schwer ist
wie Luft. Chlor lässt sich ohne großen Aufwand zu einer gelben
Flüssigkeit komprimieren (. Abb. 12.137b). Natürliche Chlorver-
bindungen enthalten zu 75,8 % das Isotop 35Cl und zu 24,2 %
37Cl, was eine gemittelte relative Atommasse für Chlor von 35,45
. Abb. 12.140 Anoden- und Kathodenreaktionen bei der Chlor-Alkali-
g/mol ergibt. Elektrolyse
234 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Reduktion
Kathodenreaktion 2 H+ + 2 e– H2
Oxidation
Anodenreaktion 2 Cl– Cl2 + 2 e–
Soleaufbereitung – Aufwand Gering, aus Steinsalz Gering, aus Natursole Aufwendig, Ca/Mg < 20 ppb
Chlor – Qualität < 1% O2 Bis zu 3 % O2 Bis zu 3 % O2
Natronlauge – Qualität 50 %, chloridarm 15 %, 1 % Chlorid 32 %, chloridarm
Spannung Elektrolysezelle 4,2 V 3,0 V 2,8 V
Kathodenmaterial Quecksilber Stahlnetz Stahlnetz
Anodenmaterial Graphit Titan + Rutheniumoxid Titan + Rutheniumoxid
Membran – Basis n. z. Asbest Perfluoriertes Polymer
Energiebedarf pro Tonne Chlor 3250 kWh 3500 kWh 2700 kWh
und 50 %iges NaOH
Umweltaspekte Quecksilberkathode Asbestdiaphragma Keine
12 Schnelle Laständerung Bedingt möglich Nicht möglich Problemlos möglich
Hauptnachteile Quecksilberemissionen, Chlorid in Natronlauge, Hochreine Sole erforderlich,
hoher Stromverbrauch Sauerstoff im Chlor hohe Membrankosten
Hauptvorteile Sehr reines Cl2/NaOH Geringe Anforderungen an die Sehr reines NaOH,
NaOH fällt mit 50 % an Solereinheit Umweltverträglichkeit
Elektrolyt
Natriumkationen (violett) wandern vom Anodenraum durch die
Die Elektrolysezelle wird mit gesättigter, hochreiner Salzsole (310 g Membran in den Kathodenraum.
NaCl pro Liter Solelösung) gespeist. Damit die Membranporen Theoretisch würde die Zellspannung ausreichen, um auch
nicht durch Magnesium- oder Calciumionen verstopfen, muss der Hydroxidanionen (blau) an der Anode zu Sauerstoff zu oxidie-
Gehalt dieser Metalle durch Ionenaustausch (7 Abschn. 7.3) unter ren. In der Praxis tritt diese Reaktion jedoch nur untergeordnet
20 ppb (20 mg pro Tonne Sole) reduziert werden. Die Reinheit der auf (Restgehalt Sauerstoff im Chlor), da eine höhere Spannung als
Sole bestimmt die Standzeit der Membran. die theoretisch berechnete Spannung benötigt wird. Die Differenz
Die Sole beinhaltet neben Natriumkationen und Chloridanio- von tatsächlicher und theoretisch benötigter Spannung wird als
nen auch Protonen (H+) und Hydroxidanionen (OH−). Während Überspannung bezeichnet. Sie hängt vom Elektrodenmaterial, der
des Elektrolyseprozesses fällt der Gehalt an Natriumchlorid im Elektrodenoberflächenbeschaffenheit und den Prozessparametern
Anodenraum auf 200 g/l ab. Die Sole wird ausgespeist, mit festem (Temperatur, Stromdichte etc. …) ab.
Steinsalz wieder aufkonzentriert und der Elektrolysezelle im
Kreislauf wieder zugeführt. Kathodenraum
An der negativ geladenen Kathode werden ausschließlich Proto-
Anodenraum nen (grau, . Abb. 12.140) zu Wasserstoff reduziert. Für die Reduk-
An der Anode werden Chloridanionen (grün, . Abb. 12.140) zu tion der Natriumkationen (violett) wäre eine höhere Zellspannung
Chlor oxidiert, das die Elektrolysezelle gasförmig mit einer Tem- nötigt. Da der entstehende Wasserstoff vor Ort meist nicht chemisch
peratur von 90 °C verlässt. Das Chlorgas wird gekühlt, getrocknet verwendet werden kann, wird er zur Erzeugung von Wärmeenergie
und zur Beseitigung von Sauerstoffverunreinigungen evtl. destil- verbrannt. Die Hydroxidanionen formen mit den in den Kathoden-
liert. Sollte es nicht vor Ort eingesetzt werden, wird es verflüssigt raum eingewanderten Natriumkationen eine 32 %ige Natronlauge
und per LKW oder Kesselwagen zum Zielort transportiert. Die mit einem Chloridgehalt von weniger als 30 ppm. Je nach Bedarf
12.7 · Gruppe 17 – Halogene, Elemente hoher Elektronegativität und Reaktivität
235 12
kann diese direkt verwendet, auf 50 % aufkonzentriert oder einge-
dampft und zu Schuppen, Plätzchen etc. geformt werden.
Es ist wichtig, dass die Membran für die Hydroxidanionen
nicht durchlässig ist, da sonst im Anodenraum Chlor mit Hydro-
xidanionen zu Chlorid (Cl−) und Hypochlorit (ClO−) reagieren
würde ( Cl2 + 2 OH− → ClO− + Cl− + H 2O ). Genauso wichtig
ist, dass Chloridanionen nicht passieren können, da sonst die Nat-
ronlauge mit NaCl verunreinigt würde. Verfahrensbedingt sind
Chlor und Natronlauge Koppelprodukte. Pro Tonne Chlor ent-
stehen zwangsläufig 1130 kg Natriumhydroxid.
12.7.1.4 Brom
Brom kommt mit Chlor vergesellschaftet in Steinsalzlager-
stätten vor. Außerdem enthält Meerwasser Kaliumbromid . Abb. 12.143 Seetang und Scampi – Natürliche Iodquellen par
und Magnesiumbromid in Konzentrationen bis zu 68 g Brom Excellence (© starush/Fotolia)
pro Kubikmeter Meerwasser. Ergiebigste Bromquellen sind
Salzseen (z. B. Totes Meer) und Meerwassersalinen in China,
Japan und USA mit Gehalten bis zu 12 kg Brom pro Kubikme-
ter Salinenwasser. 12.7.1.6 Astat
Elementares Brom wird aus angereicherten Bromidlösun- Astat ist das seltenste Element überhaupt und kommt in der Natur
gen (Meerwasser, Salinensole) bei 110 °C durch Einleiten von als Zerfallsprodukt von Uran nur in winzigsten Spuren vor. Im
Chlor freigesetzt. Da Chlor ein stärkeres Oxidationsmittel ist gesamten Erdmantel beträgt die kumulierte Astatmenge ledig-
als Brom, werden Bromidsalze (OZBr = −I) durch Chlor zu Br2 lich 0,1 g. Da die Halbwertszeit des langlebigsten Isotops 210At
(OZBr = 0) oxidiert (. Abb. 12.142). Das Brom wird anschlie- nur gute acht Stunden beträgt, hat das Element keine kommer-
ßend gasförmig ausgetrieben und destillativ von Chlor und zielle Bedeutung. Insgesamt sind über 20 Isotope bekannt, viele
Wasser getrennt. davon weisen Halbwertszeiten von weniger als einer Sekunde auf.
Brom ist eine dunkelbraune, übelriechende Flüssigkeit mit Alle Isotope des Astats sind radioaktiv. 211At (Halbwertszeit 7,1 h)
hoher Dichte (3,14 g/ml). Neben Quecksilber ist es das einzige kann durch Beschuss von Bismut mit Alphateilchen künstlich her-
Element, das bei Standardbedingungen (25 °C, 1 bar) flüssig ist. gestellt werden: 83209Bi + 4He → 211At + 2 1 n . In seinen chemi-
2 85 0
Der Siedepunkt beträgt 59 °C, sodass geöffnete Brombehälter von schen Eigenschaften verhält es sich in etwa wie Iod.
dunkelbraunen Schwaden umgeben sind. Natürliches Brom setzt
sich aus den Isotopen 79Br (50,7 %) und 81Br (49,3 %) zusam-
men, sodass sich für Brom eine relative Atommasse von 79,9 g/ 12.7.2 Chemisches Reaktionsverhalten und
mol ergibt. bedeutende Verbindungsklassen
2 F2 + 2 H2O 4 HF + O2
O –I +I
Cl2 + H2 O HCl + HClO Disproportionierung
–200 °C
F2 + H2 2 HF ; HR = –271 kJ/mol HF explosiv
Licht/20 °C
Cl2 + H2 2 HCl ; HR = –92 kJ/mol HCl Chlorknallgas
Pt/500 °C
I2 + H2 2 HI ; HR = +27 kJ/mol HI endotherm
I2 + KI KI3 Kaliumtriiodid
12.7.2.2.1 Fluorwasserstoff
Großtechnisch wird Fluorwasserstoff aus Calciumfluorid (Mineral
Fluorit, Flussspat) mit konzentrierter Schwefelsäure freigesetzt
(. Abb. 12.138). Die wässrige Lösung von Fluorwasserstoff wird
als Flusssäure bezeichnet. Flusssäure ist äußerst giftig und ätzend,
jeglicher Hautkontakt muss unbedingt vermieden werden.
Die Salze der Flusssäure heißen Fluoride. Aufgrund starker
Wasserstoffbrückenbindungen lässt sich Fluorwasserstoff bereits
durch leichtes Abkühlen verflüssigen und weist mit 20 °C einen . Abb. 12.146 Modernes Türdesign mit Milchglas – Ätzen mit Flusssäure
unerwartet hohen Siedepunkt auf (. Tab. 12.22). Außerdem ist die macht’s möglich (© Matthias Buehner/Fotolia)
starke Wasserstoff-Fluor-Bindung dafür verantwortlich, dass HF
in Wasser nur zu einem geringen Prozentsatz in Protonen und Flu-
oridanionen zerfällt. HF ist somit eine schwache Säure. Luft weiße Nebel bildet, wird sie auch als rauchende Salzsäure
Flusssäure ätzt als eine der wenigen Säuren Glas bezeichnet. Rauchende Salzsäure hat eine Dichte von 1,18 g/ml
(. Abb. 12.146), sodass sie als sog. Glastinte zum Mattieren und und enthält 456 g HCl in einem Liter Lösung. Die Dichte von Salz-
Beschreiben von Glas verwendet wird. Flusssäure kann deshalb säure ergibt sich aus der Konzentration in Prozent dividiert durch
nicht in Glasflaschen, sondern nur in Behältern aus Kunststoff 200 plus eins. So hat z. B. eine 20 %ige Salzsäure eine Dichte von
gelagert werden. Fluorwasserstoff wird in großen Mengen indus- 1,10 g/ml (= 1 + 20/200).
triell produziert, da es zur Herstellung von Tetrafluorethylen (40 % Technisch wird Salzsäure aus Steinsalz durch die noch stärkere
der Produktion, Kunststoffindustrie, 7 Abschn. 22.2.6), von Kryo- Schwefelsäure (2 NaCl + H 2SO 4 → Na 2SO 4 + 2HCl ) ausgetrie-
lith (40 %, Aluminiumproduktion, 7 Abschn. 13.3.1.2) und von ben. Salzsäure wird in großen Mengen zur Herstellung von Vinyl-
Uranhexafluorid (5 %, Nuklearindustrie, 7 Abschn. 15.2) benö- chlorid – dem Monomer für Polyvinylchlorid (7 Abschn. 22.2.3)
tigt wird. – benötigt. Unedle Metalle wie Eisen, Magnesium, Natrium etc.
Weltweit werden ca. eine Mio. Tonnen Fluorwasserstoff (HF) reagieren mit Salzsäure zu wasserlöslichen Chloriden und Was-
pro Jahr verarbeitet. serstoff (. Abb. 12.147).
Königswasser (. Abb. 12.148) ist ein Gemisch aus drei Teilen
12.7.2.2.2 Chlorwasserstoff konzentrierter Salzsäure und einem Teil konzentrierter Salpeter-
Chlorwasserstoff ist ein farbloses Gas, von dem sich mehr als 500 l säure (HNO3), ist imstande, selbst die in reiner Salzsäure resp.
in einem Liter Wasser lösen. Wässrige Lösungen von Chlorwasser- Salpetersäure unlöslichen, „königlichen“ Edelmetalle Gold und
stoff werden als Salzsäure bezeichnet. Konzentrierte Salzsäure ist Platin aufzulösen.
eine 37 %ige Lösung von Chlorwasserstoffgas (HCl) in Wasser. Da Die Salze der Salzsäure heißen Chloride. Technisch wich-
konzentrierte Salzsäure durch Chlorwasserstoffabgabe an feuchter tige Chloride sind Natriumchlorid (NaCl) und Calciumchlorid
(CaCl2). Überwiegend aus Natriumchlorid bestehende Salzstö-
cke bildeten sich in Mitteleuropa vor etwa 250 Mio. Jahren als
kleinere Meeresbecken auf Grund der damaligen Klimaerwär-
. Tab. 12.22 Vergleich der Halogenwasserstoffe
mung eindampften und sich dadurch Steinsalz in Senken anrei-
Parameter HF HCl HBr HI cherte. Durch Landerosion und tektonische Verschiebungen
wurden die Salzdepots im Laufe der Zeit mit Gesteinen über-
Aggregatszu- Flüssig Gasförmig Gasförmig Gasförmig deckt, sodass sie vor Regenwasser geschützt waren. Heute werden
stand diese Lagerstätten entweder bergmännisch abgebaut oder mit
Siedepunkt [°C] 20 −84 −67 −35 Wasser ausgelaugt. Die anfallende Sole wird anschließend ein-
Schmelzpunkt −83 −115 −89 −51 gedampft. Natriumchlorid dient als Speisesalz zum Würzen und
[°C] Konservieren (Pökeln) von Nahrungsmitteln und als Auftau-
Dissoziations- 8 100 100 100 salz zum Enteisen von Straßen. In der chemischen Industrie
grad in Wasser wird es als Rohstoff zur Herstellung von Chlor und Natronlauge
[%] benötigt.
Dissoziations- 574 428 363 295
energie [kJ/mol]
Fe + 2 HCl FeCl2 + H2
pKS-Wert 3,2 −6,1 −8,9 −9,3
Salze Fluoride Chloride Bromide Iodide . Abb. 12.147 Reaktionsgleichung für das oxidative Auflösen von Eisen
mit Salzsäure
238 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
12.7.2.3 Halogenoxide
Es sind zahlreiche Halogen-Sauerstoff-Verbindungen mit den
allgemeinen Summenformeln X2O, X2O3, XO2, X2O5, X2O6 und
X2O7 bekannt (. Abb. 12.18). Die meisten davon sind sehr energie-
. Abb. 12.148 Gold löst sich in Königswasser – Lösung aus drei reiche und damit reaktive Verbindungen, die beim Erwärmen zu
Teilen Salzsäure und einem Teil Salpetersäure (© Alexander C. Wimmer –
Königswasser, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Platin_loest_sich_
explosiver Zersetzung neigen. Lediglich I2O5 ist eine exotherme
in_heissem_Koenigswasser.JPG) Verbindung. Interessant ist, dass Fluor-Sauerstoff-Verbindun-
gen als Sauerstofffluoride (z. B. OF2, OZO = +II, OZF = −I) ange-
sehen werden müssen, während alle anderen Halogen-Sauer-
Calciumchlorid wird ebenfalls als Streusalz verwendet. Che- stoff-Verbindungen Halogenoxide (z. B. Cl2O, OZCl = +I, OZO =
miker nutzen es u. a., um Kältemischungen herzustellen. Ein −II) sind. Der Grund hierfür ist, dass in der Reihenfolge Fluor,
Kilogramm Eis vermischt mit 1200 g Calciumchlorid-Hexahyd- Sauerstoff, restliche Halogene die Elektronegativität abnimmt
rat (CaCl2 · 6H2O) kühlt auf −40 °C ab. Eine weitere Anwendung und dadurch ein Polaritätswechsel in den Halogen-Sauerstoff-
ist die Trocknung von Gasen und Flüssigkeiten mit kristallwas- Verbindungen erfolgt. . Tabelle 12.23 gibt beispielhaft bekannte
serfreiem Calciumchlorid (CaCl2 + 6 H 2O → CaCl2 ⋅ 6 H 2O). Chloroxide mit den korrelierenden Oxosäuren und Salzen
12 wieder.
12.7.2.2.3 Bromwasserstoff Stabilität und Stärke der Oxochlorsäuren (. Abb. 12.150)
Bromwasserstoff (HBr) hat ähnliche Eigenschaften wie Chlor- nimmt mit steigender Oxidationszahl des Chlors zu. So ist Per-
wasserstoff. Die gelblich, stechend riechende Flüssigkeit löst sich chlorsäure (HClO4) eine der stärksten Säuren überhaupt. Reine
solange in Wasser, bis eine 65 %ige Bromwasserstoffsäure mit einer Perchlorsäure raucht an Luft und darf auf keinen Fall erwärmt
Dichte von 1,77 g/ml erhalten wird. Bromwasserstoff ist eine sehr werden, da bei Konzentrationen über 50 % explosive Zersetzung
starke Säure, d. h. sie dissoziiert in Wasser vollständig zu Protonen eintreten kann. Reine Perchlorsäure ist stark oxidierend und
(H+) und Bromidanionen (Br−). darf nicht in unkontrollierten Kontakt mit organischen Stoffen
Oxidationsmittel wie Wasserstoffperoxid, aber auch Luft- gelangen.
sauerstoff setzen aus Bromwasserstoff Brom frei. Darüber Perchlorate, die Salze der Perchlorsäure, sind starke Oxidati-
hinaus reagiert Bromwasserstoff analog zu Salzsäure heftig mit onsmittel und werden als Raketentreibstoff und zur Unkrautbe-
Basen und Metallen wie Silicium, Aluminium und Zinn unter kämpfung eingesetzt.
Bromidbildung.
–I H +I H +III H O H O
+V +VII
H Cl O Cl O Cl O Cl O Cl O
O O O
. Abb. 12.150 Oxidationszahl von Chlor in Salzsäure (a), hypochloriger Säure (b), chloriger Säure (c), Chlorsäure (d) und Perchlorsäure (e)
wodurch sich die freien Elektronenpaare der einzelnen Iodatome 12.7.3 Verwendung von Halogenverbindungen
stärker abstoßen. – Kunststoffe, Salze, Lampen,
Es gibt auch gemischte dreiatomige Interhalogenid–Anionen Kontrastmittel
wie IBr2−, ICl2−, BrCl2− etc. Generell gilt, dass deren Stabilität mit
der Größe des Zentralatoms und der generellen Größe zunimmt,
sodass sich folgende Stabilitätsreihenfolge ergibt: I 3− > IBr2− > 12.7.3.1 Fluor
ICl2− > Br3− > BrCl2−. Elementares Fluor wurde erstmals in den 1940er Jahren in grö-
Neutrale Interhalogen-Verbindungen mit den Summenfor- ßeren Mengen hergestellt, um festes Uran in gasförmiges Uran-
meln XY (lineare Struktur), XY3 (verzerrtes T), XY5 (quadrati- hexafluorid (UF6) überzuführen, was Voraussetzung zur Anrei-
sche Pyramide) und XY7 (pentagonale Bipyramide) sind eben- cherung des spaltfähigen Isotops 235U in Gaszentrifugen ist
falls beschrieben. Dabei ist das Ligandhalogen Y elektronegativer (7 Abschn. 15.4.2.7). Fluorhaltige Verbindungen wie synthetisch
als das Zentralhalogenatom X. Die geometrische Struktur ergibt hergestelltes Kryolith (Na3AlF6) wird für die effiziente Schmelz-
sich gemäß den VSEPR-Regeln (7 Abschn. 4.3.2) unter der Rand- flusselektrolyse von Aluminium verwendet.
bedingung, dass freie Elektronenpaare mehr Platz einnehmen als Fluor wird auch für die Herstellung des Polymers Polytet-
Bindungselektronenpaare. . Tabelle 12.24 zeigt die Interhalogen- rafluorethylen (PTFE, Teflon®, 7 Abschn. 22.2.6) das bis 260°C
verbindunen in der Übersicht. dauerhaft temperaturbeständig und außerdem gegen nahezu alle
240 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Cl Br I
HOOC I OH
I
12.7.3.4 Iod
Silberiodid hatte lange Zeit große Bedeutung in der Photographie
zur Herstellung von lichtempfindlichen Platten und Papieren. Im
Zeitalter der digitalen Photographie hat diese Anwendung jedoch
an Bedeutung verloren.
Wässrige Iod-Kaliumiodid-Lösungen dienen zum Nachweis
von Stärke durch Ausbildung eines tiefblauen Iod-Stärke-Kom-
plexes. Dabei werden Iodmoleküle kettenförmig in die helicale
Molekülstruktur der Stärke (7 Abschn. 20.3.5.3) eingebettet. Die
Einschlussverbindung absorbiert langwelliges Licht, wodurch die
Komplementärfarbe blau beobachtet wird.
Iodtinkturen (5 % Iod in Ethanol) dienen zur Wund- und
Hautdesinfektion vor Operationen. Eine ausreichende Iodauf-
. Abb. 12.155 Speisesalz – Natriumchlorid für den Geschmack, Fluorid
nahme über die Nahrung ist für eine reibungslose Schilddrüsen- zur Kariesprophylaxe,, Iod gegen die Kropfbildung (© Bad Reichenhaller)
funktion von Bedeutung. Das schmetterlingsartige Organ steuert
über das Hormon Thyroxin (. Abb. 12.154) Stoffwechsel, Kreis-
lauf, Schlaf, Schweißbildung und Psyche. In der Medizin werden iodhaltige Kontrastmittel in der radio-
In Gegenden mit Iodmangel versucht die Schilddrüse, den logischen Diagnose und in der Computer- und Magnetresonanz-
Mangel durch Kropfbildung auszugleichen. Die Zugabe von Iod tomographie zur besseren Kontrastierung der Blutgefäße einge-
(20 ppm = 20 g/t) zu Speisesalz (. Abb. 12.155) soll Iodmangel setzt. Dieser Effekt wird durch die stärkere Durchblutung von ent-
und Kropfbildung vorbeugen. Anhaltender Iodmangel führt zündeten oder tumorhaltigen Körperregionen unterstützt.
zu Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwäche und Weltweit werden ca. 35 Tausend Tonnen elementares Iod her-
Stoffwechselstörungen. gestellt und verarbeitet.
242 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 12.156 Die Edelgase bilden die achte Hauptgruppe bzw. 18. Gruppe im PSE
12.8 · Gruppe 18 – Edelgase sind äußerst reaktionsträge Elemente
243 12
12.8.1 Vorkommen und Gewinnung – auch über Durchdringungen und Risse ins Gebäudeinnere, wo es
Atmosphärenluft enthält ein Prozent sich auf Grund der hohen Dichte in Kellern und unteren Stock-
Argon werken anreichert (7 Exkurs 12.9).
Helium (23 %) ist im Weltall das zweithäufigste Element nach Was- 12.8.2 Physikalische Eigenschaften und
serstoff (75 %). Unter Einfluss von enormen Gravitationskräften chemisches Reaktionsverhalten
und Temperaturen wie im Sonneninnern fusionieren (lat. für ver-
schmelzen) vier Wasserstoffatome zu einem Heliumatom unter
Freisetzung enormer Energiemengen (7 Abschn. 12.2.1.1). Auf der 12.8.2.1 Physikalische Eigenschaften
Erde kommen Edelgase dagegen selten vor. Lediglich Argon ist zu Edelgase sind farb- und geruchlose Gase, die aus Atomen bestehen.
0,93 % Bestandteil der Erdatmosphäre. Da die äußerste Schale mit zwei (He) resp. acht Elektronen voll
Edelgase wurden erstmals indirekt von Cavendish 1875 nach- besetzt ist, sind Edelgase chemisch extrem reaktionsträge, gehen
gewiesen. Mittels chemischer Reaktion eliminierte er Sauerstoff also mit anderen Elementen bis auf wenige Ausnahmen keine che-
und Stickstoff aus der Atmosphärenluft, wobei jedoch ca. 0,9 % des mischen Bindungen ein. Dieses Verhalten korreliert auch mit den
ursprünglichen Luftvolumens nicht reagierten, also weder Stick- Ionisierungsenergien, die die höchsten aller chemischen Elemente
stoff noch Sauerstoff waren. 1894 identifizierte Strutt den weitaus sind. . Tabelle 12.25 fasst die physikalischen Eigenschaften der
überwiegenden Hauptbestandteil dieses Restes als das Element Edelgase zusammen.
Argon. Aufgrund ihres unpolaren Charakters üben Edelgas-
Die nur in winzigen Mengen vorkommenden Edelgase atome untereinander lediglich schwache Anziehungskräfte
Neon, Krypton und Xenon isolierte schließlich Sir William (7 Abschn. 6.1) aus, sodass Schmelz- und Siedepunkte trotz zum
Ramsay 1898 als Nebenprodukte bei der fraktionierten Destil- Teil hoher Atommassen (Xenon, Radon) sehr niedrig sind. Helium
lation (7 Abschn. 7.1.1.4) von verflüssigter Luft. Durch langsames und Neon sind leichter als Luft, sodass das Gravitationsfeld der
Erwärmen trennte er Helium (Sdp. −269 °C), von Neon (Sdp. Erde diese auf Dauer nicht halten konnte, was deren geringe Kon-
−246 °C), Argon (Sdp. −189 °C), Krypton (Sdp. −152 °C) und zentration in der Erdatmosphäre erklärt.
Xenon (Sdp. −107 °C) ab. Wenn flüssiges Helium unter die sogenannte Lambdatem-
Technisch werden die Edelgase Neon, Argon, Krypton peratur von 2,2 K(–271 °C) abgekühlt wird, zeigt es superflui-
und Xenon durch fraktionierte Destillation verflüssigter Luft des Verhalten. Die Viskosität fällt schlagartig auf nahezu null ab
(7 Abschn. 12.5.1.2) und Helium aus Erdgas gewonnen. Je nach und ist 1000mal kleiner als von gasförmigem Wasserstoff. Auf-
Provenienz (lat. für Herkunft) weisen Erdgase bis zu 16 % Helium grund der geringen inneren Reibung verflüchtigt sich supra-
auf. Radon bildet sich beim radioaktiven Zerfall von Uran. Deshalb fluides Helium in Sekunden selbst über dünnste Kapillaren von
kommt es in Gegenden mit hohem Urangehalt im Boden vor. Es ist weniger als einem Mikrometer Durchmesser. Die Wärmeleit-
eines der seltensten Elemente überhaupt, trotzdem ist es ubiqui- fähigkeit nimmt dagegen sprunghaft zu und ist 1000mal höher
tät anzutreffend. Aus den obersten Gesteinsschichten wandert es als von Kupfer
Element He Ne Ar Kr Xe Rn
Kernladungszahl 2 10 18 36 54 86
Relative Atommasse [g/mol] 4,00 20,18 39,95 83,80 131,29 222,02
Elektronegativität n. z. n. z. n. z. 3 2,6 2,2
Kovalenzradius [pm] 28 58 106 116 140 150
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 2372 2080 1520 1351 1170 1037
Oxidationszahlen n. z. n. z. n. z. +II, +IV +II, +IV, +VI +II
Siedepunkt [°C] −269 −246 −186 −152 −107 −62
Schmelzpunkt [°C] −272 −249 −189 −157 −112 −71
Dichte [g/l] 0,17 0,84 1,66 3,48 4,49 9,23
Entdecker Ramsay Ramsay Ramsay Ramsay Ramsay Dorn
Cleve Travers Strutt Travers Travers Rutherford
1895 1898 Rayleigh 1894 1898 1898 1900
Häufigkeit Erdhülle 0,004 0,005 4 0,0002 0,00002 10−11
[ppm, g/t]
Häufigkeit Atmosphäre [Vol.-ppm, ml/m³] 5,2 18,0 9.340 1,1 0,09 10−19
244 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
F Xe F
F F
p, T, UV
Xe + ex. F2 Xe
F F
F O
F F + 3 H2O Xe H2SO4 Xe
Xe
– 6 HF O O
F F O O
O O
F
. Abb. 12.161 „The lights are much brighter there and the neon signs are
pretty“ singt Petula Clark in Downtown (© coloursinmylife/Shutterstock)
. Abb. 12.160 Startvorbereitung für einen Stratosphärenballon – Helium
verleiht dem Ballon Auftrieb (© NASA)
12.8.3.2 Neon
Helium abgemischt. Das resultierende Gasgemisch setzt sich aus Neon wird wie alle anderen Edelgase auch als Füllgas von Leucht-
den Gasen Sauerstoff, Stickstoff und Helium zusammen und wird röhren für Leuchtreklamen verwendet (. Abb. 12.161). Durch
deshalb als Trimix Tx10/70 (10 % Sauerstoff, 70 % Helium, 20 % Anlegen hoher elektrischer Spannung erfolgt Gasentladung,
Stickstoff) bezeichnet. wobei in Abhängigkeit des Füllgases die Röhre in unterschied-
Helium wird als zweitleichtestes Element als Traggas für lichen Farben leuchtet. Helium gefüllte Leuchtröhren leuchten
Ballone (. Abb. 12.160) und Zeppeline eingesetzt. Ein Kubikme- gelbweiß, während mit Neon gefüllte Lampen ein oranges Licht
ter Helium erzeugt in etwa 1,16 kg/m³ Auftrieb. Im Gegensatz abstrahlen. Für Leuchtreklamen werden die Farbeffekte aller-
zu dem noch leichteren Wasserstoff (Auftrieb 1,25 kg/m³) ist es dings mit unterschiedlich eingefärbten Acrylglas-Neonröhren
nicht brennbar und bildet keine explosiven Gemische mit Luft. erzielt. Von Neon werden jährlich weltweit einige Hundert Tonnen
Der Nachteil ist der wesentlich höhere Preis von Helium im Ver- produziert.
gleich zu Wasserstoff.
Helium ist das einzige Element, das auch Nahe am absolu- 12.8.3.2.1 Helium-Neon-Laser
ten Nullpunkt noch flüssig ist und somit Wärme von zu kühlen- Laser (7 Exkurs 12.8) sind aus unserem alltäglichen Leben (Nivel-
den Körpern abtransportieren kann. Nur mithilfe von flüssigem liergeräte, Strichcodescanner, Lesestrahl im DVD-Gerät etc.) nicht
Helium (Sdp. −269 °C) können die Eigenschaften von Materie mehr wegzudenken. Sie geben kohärentes Licht ab, das aus Photo-
nahe am absoluten Nullpunkt (−273, 15 °C) untersucht werden. nen gleicher Wellenlänge in einem gebündelten, stark fokussierten
So leiten metallische Supraleiter beim Unterschreiten der soge- Lichtstrahl besteht. Ganz prinzipiell betrachtet sind Laser Ener-
nannten Sprungtemperatur den elektrischen Strom quasi wider- gieumwandler, die beispielsweise elektrische Energie in geord-
standslos. Supraleitende Materialien wie Niobtantal werden für nete Strahlungsenergie umwandeln. Der Verstärkungseffekt rührt
Magnetspulen zur Erzeugung starker Magnetfelder in der che- daher, dass das Lasermedium in einen angeregten, energierei-
mischen Analytik (Kernspinresonanzspektroskopie) oder in der chen Zustand „hochgepumpt“ wird, der dann diese gespeicherte
medizinischen Diagnose (Kernspintomograph) verwendet. Wird Energie auf einmal schlagartig abgibt.
der Stromfluss in supraleitenden Magnetspulen einmal angeregt, Neon-Helium-Gemische sind das aktive Element von konti-
so kreist dieser ewig und hält das Magnetfeld aufrecht. Da die nuierlich rotstrahlenden Helium-Neon-Lasern, die z. B. als Laser-
Sprungtemperatur bei 4,2 K liegt, wird flüssiges Helium (Siede- pointer Verwendung finden. Das Akronym Laser steht übrigens
punkt 4,15 K, −269 °C) als Kühlmittel für supraleitende Magne- für light amplification by stimulated emission of radiation, was auf
ten benötigt, was deren Unterhalt teuer macht. Weltweit werden Deutsch so viel bedeutet wie Lichtverstärkung durch stimulierte
30.000 Tonnen Helium pro Jahr benötigt. Strahlungsemission.
246 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
Exkurs 12.8
12
a b
. Abb. 12.162 (a) Schematischer Aufbau eines Helium-Neon-Lasers wie er z. B. in Laserpointern (b) zum Einsatz kommt (© b Robin Lund/
Shutterstock)
12.8.3.6 Radon
Die durchschnittliche Strahlenbelastung in Deutschland
beträgt 4,2 mSv (Millisievert, 7 Abschn. 2.9.6) pro Jahr. Den
größten Anteil daran haben medizinische Untersuchungen
(1,9 mSv) und natürliches Radon (1,4 mSv) in unseren Wohn-
räumen. Der Rest ist zu gleichen Anteilen durch Bodenstrah-
lung, Höhenstrahlung und Nahrungsaufnahme bedingt. Siehe
. Abb. 12.163 Xenon – Hochleistungs-Gasentladungslampe für auch 7 Exkurs 12.9.
Filmprojektoren (© Jultud/Fotolia)
Exkurs 12.9
Radon verursacht Lungenkrebs DNA (7 Abschn. 20.7.2) zerstört und Räumen mit 1000 Bq/m³ Radonkonzentration
Nach dem Zigarettenrauchen gilt Radon als Krebserkrankungen hervorrufen kann. aufhält, hat somit ein doppelt so hohes
zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs. So Da der Urangehalt des Bodens in Thüringen, Risiko, an Lungenkrebs zu sterben. Die Studie
weiß man bereits seit den 1920er Jahren, dass Sachsen und Bayern relativ hoch ist, ist es schließt mit dem Fazit, dass ca. 5 % aller
bei Bergarbeitern eine Korrelation zwischen der auch der Gehalt an 222Rn-Gas in einem Meter Lungenkrebstodesfälle (1900 pro Jahr) in der
Höhe der Radonexposition und dem Auftreten Erdreichtiefe in dieser Region. Aus dem BRD auf Radon in Wohnräumen zurückzuführen
von Lungenkrebs besteht. Konsequenterweise Erdreich diffundiert das schwere Radon ist.
wurde der sogenannte „Schneeberger (9,4 g/l, Luft 1,2 g/l) über Risse, Wie kann man sich schützen? Einfache
Lungenkrebs“ bereits 1925 Rohrdurchführungen, Treppenaufgänge, etc. Maßnahmen wie regelmäßiges
als zu entschädigende Berufskrankheit in das Gebäudeinnere und sammelt sich im Stoßlüften, Abdichten von Rissen, Fugen,
anerkannt. Kellerbereich an. Rohrdurchführungen und Leitungskanälen in
Als Folge des radioaktiven Zerfalls von im Großangelegte Studien ergaben, dass den Kellerräumen, Abdichten von Kellertüren
Erdreich und Gestein vorhandenem Uran bildet die mittlere Radonaktivität in der und das Verlegen von Schlafräumen in das
sich das Isotop 222Rn. Der α-Strahler 222Radon Bundesrepublik 50 Becquerel pro Kubikmeter Obergeschoß zeigen bereits große Wirkung.
(Halbwertszeit 3,8 Tage) selbst ist unkritisch, Wohnraumluft beträgt. Das heißt, ca. 50 Präventive Maßnahmen beim Neubau
da beim Zerfall in der Luft α-Strahlen bereits 222Rn-Kerne zerfallen pro Sekunde und pro sind eine durchgehende Bodenplatte statt
von der Haut abgeschirmt werden. Selbst Kubikmeter Luft und geben α-Strahlung ab. Streifenfundamenten, eine radondichte
das Einatmen von 222Radon ist aufgrund der In Gebieten mit hoher Radonkonzentration Folie unter der Bodenplatte, sorgfältiges
relativ langen Halbwertszeit im Vergleich zur in der Bodenluft steigt dieser Wert auf Abdichten von Kelleraußenwänden,
Verweildauer in der Lunge unproblematisch. 200 Bq/m³ und in seltenen Fällen sogar auf Durchdringungen (Kellerfenster, Lichtschächte,
Kritisch dagegen sind die Zerfallsprodukte des 1000 Bq/m³ an (. Abb. 12.164). Rohrdurchdringungen), Abtrennung von
Radons wie 218Po und 214Po, da diese sich als Ausführliche WHO-Studien ergaben einen Wohn- und Kellerräumen etc.
Feststoffteilchen an winzige Aerosolpartikel linearen Zusammenhang zwischen der Für medizinische Zwecke wird die
anlagern und durch Einatmen in der Radonkonzentration in den Wohnräumen und umstrittene Radontherapie zur Stimulation
Lunge ablagern. 218Po- und 214Po-Nuklide dem Risiko an Lungenkrebs zu erkranken. Bei des Immunsystems genutzt. So sollen der
schädigen als α-Strahler die Zellen der Zunahme der Radonkonzentration von 0 Bq/m³ Aufenthalt in Radonstollen, Inhalationskuren
Bronchien. Auf kleinstem Raum führt die auf 100 Bq/m³ nimmt die Wahrscheinlichkeit, und Radonbäder z. B. bei rheumatischen und
α-Strahlung zu starken Ionisationsprozessen, an Lungenkrebs zu sterben, für Raucher asthmatischen Erkrankungen heilende Wirkung
die die Doppelstrangstruktur der und Nichtraucher um 10 % zu. Wer sich in entfalten.
248 Kapitel 12 · Nichtmetalle – alle Nichtmetalle sind Hauptgruppen-Elemente
12
? Verständnisfragen
Übung 1
Welche Elemente gehören zur Gruppe der Edelgase?
Übung 2
Weshalb stehen die Edelgase in der 18. Gruppe resp. 8.
Hauptgruppe des Periodensystems?
Übung 3
Welches Edelgas kommt am häufigsten vor? Wo ist es
anzutreffen?
Übung 4
Von Helium, Neon, Argon sind keine chemischen
Verbindungen bekannt. Was ist die Ursache hierfür?
Übung 5
Helium zeigt bei Temperaturen unter −271 °C (2 K)
suprafluide Eigenschaften. Was versteht man darunter?
Übung 6
Was ist der Onnes-Effekt?
Übung 7
Was sind die Hauptanwendungen von Heliumgas? Warum
ist Helium für Luftschiffe und Ballons von Interesse?
Übung 8
Erklären Sie die Hauptkomponenten eines
Helium-Neon-Lasers. Wofür steht die Abkürzung Laser?
Übung 9
Radon ist ein α-Strahler und gilt nach dem
Zigarettenrauchen als zweithäufigste Ursache für
Lungenkrebs. Erklären Sie den Zusammenhang. Was
sind α-Strahlen? Welche physiologische Wirkung haben
α-Strahlen? Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch.
Übung 10
Wie funktioniert eine Neonleuchtröhre? Führen Sie hierzu
ebenfalls eine Internetrecherche durch.
251 13
Hauptgruppenmetalle –
Metalle mit stark variierenden
Eigenschaften
13.2 Gruppe 2 – Erdalkalimetalle (Be, Mg, Ca, Sr, Ba, Ra) – 263
13.2.1 Vorkommen und Herstellung – 263
13.2.2 Allgemeine und physikalische Eigenschaften – 264
13.2.3 Chemisches Reaktionsverhalten – 264
13.2.4 Grignard-Verbindungen erweitern das Syntheserepertoire organischer
Chemiker – 266
13.2.5 Kalkkreislauf – Kalkstein, Branntkalk, gelöschter Kalk – 266
13.2.6 Calciumsulfate – Anhydrit, Halbhydrat, Dihydrat – 268
13.2.7 Zement – das mengenmäßig größte chemisch erzeugte Produkt – 269
13.2.8 Wasserhärte – Calcium und Magnesium als troublemaker – 270
13.2.9 Verwendung – Leichtlegierungen, Reduktionsmittel, Chlorophyll – 271
13.2.10 Lernkontrolle – 272
a b
. Abb. 13.1 Metalle sind allgegenwärtig (© Superingo/Fotolia, Oleksandr Delyk/Fotolia, Oleksiy Mark/Fotolia)
254 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59 Pr 60 Nd 61Pm* 62Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
13 4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107Bh* 108Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112Cn* 113Nh* 114 Fl* 115Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67Ho 68 Er 69 Tm 70Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97Bk* 98 Cf* 99Es* 100Fm* 101Md* 102No* 103 Lr*
Strontium, Barium, Radium, 2. Hauptgruppe) füllen die s-Schale Hauptgruppenzahl n gleich 6 oder 7. D. h., es werden die sieben
auf, sodass sie über die Valenzelektronenkonfiguration ns2 ver- f-Orbitale der drittäußersten Schale sukzessive mit bis zu 14 Elek-
fügen. Die Hauptgruppenmetalle Aluminium, Gallium, Indium, tronen aufgefüllt, was die jeweils vierzehn Lanthanoidenmetalle
Thallium (Gruppe 13) beginnen mit der Besetzung der p-Orbitale (n = 6) resp. Actinoidenmetalle (n = 7) erklärt (7 Abschn. 15.1).
(ns2p1). Die nächsten Hauptgruppenelemente füllen dann suk- Diese sogenannten inneren Übergangsmetalle schließen sich den
zessive die p-Orbitale weiter auf – Zinn, Blei (ns2p2), Antimon, Elementen Lanthan resp. Actinium an. Aus Platzgründen werden
Bismut (ns2p3) und Polonium (ns2p4). sie meist separat unterhalb des PSE aufgeführt.
Nebengruppenmetalle (. Abb. 13.3, grau) weisen auf der
Valenzschale zwei Elektronen (ns2) auf und füllen dann die fünf
d-Orbitale der zweitäußersten Schale (n-1, n = 4,5,6,7) sukzessive 13.1 Gruppe 1 – Alkalimetalle (Li, Na, K, Rb,
mit bis zu zehn Elektronen ns2(n-1)d1-10 auf. Dadurch schließen Cs, Fr)
sich den beiden s-Block Hauptgruppenmetallen zehn Nebengrup-
penmetalle (Gruppe 3–12, d-Block-Metalle) an (7 Abschn. 3.3). Als Alkalimetalle werden die Metalle der ersten Hauptgruppe
Die f-Block-Metalle (. Abb. 13.3, braun) verfügen über die (. Abb. 13.4) Lithium (Li), Natrium (Na), Kalium (K), Rubi-
allgemeine Elektronenkonfiguration ns2(n-1)d1(n-2)1−14 mit der dium (Rb), Cäsium (Cs) und das radioaktive Francium (Fr)
13.1 · Gruppe 1 – Alkalimetalle (Li, Na, K, Rb, Cs, Fr)
255 13
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92U* 93 Np* 94 Pu* 95Am* 96Cm* 97 Bk* 98Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 13.4 Die Alkalimetalle verfügen als Elemente der 1. Gruppe über ein Valenzelektron
13.1.1.1 Vorkommen
Lithiumverbindungen sind meist als Begleiter von Natrium- und
Kaliummineralen anzutreffen. Die Konzentration ist dabei eher
gering. Kommerziell genutzt werden silicatische Minerale wie
. Abb. 13.5 Halitkristalle (NaCl) weisen Würfelform auf (© w?odi – Rock
Lepidolith, Petalit und Spodumen mit einem Lithiumgehalt von
salt crystal, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rock_salt_crystal.jpg)
bis zu fünf Prozent. Abbaugebiete befinden sich in Australien und
China. In den Anden (Chile, Argentinien, Bolivien) kann Lithium
mit relativ geringem Aufwand aus Salzseen als Lithiumchlorid gewonnen werden. Die resultierende Sole wird dann in Salinen
gewonnen werden. eingedampft.
Natrium ist das sechsthäufigste Element mit einem Anteil Kalium ist ebenfalls ein häufig anzutreffendes Element, das in
von 2,64 % an der Erdkruste. Die wichtigsten Natriumminera- mineralischer Form als Sylvin (KCl), Carnallit (KCl·MgCl2·6H2O),
len sind Halit (NaCl, . Abb. 13.5, Hauptbestandteil von Stein- Sylvinit (KCl·NaCl) und Kalifeldspat (KAlSi 3O8) angetroffen
salz), Chilesalpeter (NaNO3) und Albit (Natronfeldspat, Na(Al- wird. Kaliumchlorid als Ausgangsrohstoff für alle Kaliumverbin-
Si3O8)). Natriumchlorid bzw. Halit, das häufigste Natriummine- dungen wird aus dem in großen Mengen vorhandenen Carnal-
ral, findet sich in großen Mengen in Salzstöcken wie im Salzkam- lit (KCl·MgCl2 · 6H2O) hergestellt. Das Doppelsalz zerfällt beim
mergut, in der Norddeutschen Tiefebene oder gelöst in Meerwas- Auflösen in die Salze KCl und MgCl2. Da Kaliumchlorid weniger
ser. Aus Meerwasser kann Natriumchlorid durch Eindampfen löslich ist als Magnesiumchlorid, kristallisiert es beim Eindamp-
in Salinen und aus Salzstöcken durch bergmännischen Abbau fen einer Carnallit-Lösung zuerst aus und kann dadurch isoliert
oder durch Aussolung, d. h. durch Auslaugen mit Süßwasser werden.
256 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
Rubidium und Cäsium kommen in der Natur mit Kaliummi- KCl + Na NaCl + K
neralen zusammen vor. Rubidium passt aufgrund seines ungüns-
H2
tigen Ladung- zu Radiusverhältnis nicht gut in Kristallgitter, so 2 MOH + Mg 2 M + Mg(OH)2 M = Rb, Cs
dass nur wenige eigenstandige Minerale bekannt sind (inkom-
patibles Element). Das wichtigste Cäsiummineral ist Pollucit . Abb. 13.7 Synthese von Kalium, Rubidium und Cäsium
((Cs,Na)2Al2Si4O12 · H2O).
. Abb. 13.6 Schmelzflusselektrolyse von Natriumchlorid nach dem . Abb. 13.8 Alkalimetalle kristallisieren kubisch raumzentriert, jedes
Downs-Verfahren Atom ist von acht Atomen umgeben
13.1 · Gruppe 1 – Alkalimetalle (Li, Na, K, Rb, Cs, Fr)
257 13
Natrium und Cäsium sind Reinelemente, d. h. sie kommen iso-
topenrein in der Natur vor, alle anderen Alkalimetalle sind Misch-
elemente, d. h. es existieren mehrere stabile Isotope.
Element Li Na K Rb Cs
Kernladungszahl 3 11 19 37 55
Relative Atommasse [g/mol] 6,94 22,99 39,10 85,47 132,91
Elektronegativität 0,98 0,93 0,82 0,82 0,79
Metallradius [pm] 152 186 227 248 272
Ionenradius [pm] 90 (+I, 6) 116 (+I, 6) 152 (+I, 6) 166 (+I, 6) 181 (+I, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 520 496 419 403 376
Oxidationszahl +I +I +I +I +I
Siedepunkt [°C] 1342 883 774 688 678
Schmelzpunkt [°C] 181 98 64 39 28
Dichte [g/cm3] 0,53 0,97 0,86 1,53 1,9
Entdecker Arfwedson Davy Davy Bunsen, Kirchhoff Bunsen, Kirchhoff
1817 1807 1807 1861 1860
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 60 26.400 24.100 300 6
258 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
4 Li + O2 2 Li2O der Reaktion zu. Während Natrium meist noch ohne Funken-
2 Na + O2 Na2O2
bildung reagiert, verbrennt im Falle des Kaliums der entstehende
Wasserstoff (. Abb. 13.13). Rubidium und Cäsium reagieren
M + O2 MO2 M = K, Rb, Cs explosionsartig.
Großtechnisch werden Natriumhydroxid (NaOH) und
. Abb. 13.10 Reaktionsprodukte der Alkalimetalle bei
Kaliumhydroxid durch Chloralkalielektrolyse nach dem Memb-
Sauerstoffüberschuss
ranverfahren hergestellt. Mithilfe elektrischer Energie wird wäss-
rige Alkalichloridlösung zu Chlor und Alkalihydroxid elektro-
M2O2 + 2 M 2 M2O M = K, Rb, Cs
lysiert. Die genauen Details der Chloralkalielektrolyse sind in
2 MOH + 2 M 2 M2O + H2 7 Abschn. 12.7.1.3.1 beschrieben.
Dissoziation: 2 NaCl + 2 H2O → 2 Na+ + 2Cl- + 2 H+ + 2 OH-
. Abb. 13.11 Herstellung von Metalloxiden (M2O) aus Metallperoxiden Anode (Pluspol), Oxidation: 2 Cl− → Cl2 + 2 e−
(M2O2) resp. Metallhydroxiden (MOH)
Kathode (Minuspol), Reduktion: 2 H+ + 2 e− → H 2
Gesamtgleichung: 2 NaCl + 2 H2O → Cl2 + H2 + 2 NaOH
Bei der Elektrolyse von Natriumchlorid nach dem Membran-
In Fluchthauben und in Unterseebooten „neutralisiert“ Natrium- verfahren fällt 30 % ige Natriumhydroxidlösung an, die anschlie-
peroxid ausgeatmetes Kohlenstoffdioxid sowie Kohlenstoffmo- ßend zu 50 % iger Lösung aufkonzentriert wird.
noxid (2 Na2O2 + 2 CO2 → 2 Na2CO3 + O2, Na2O2 + CO → Alkalihydroxide sind weiße, stark hygroskopische (griech. für
Na2CO3), sodass für gewisse Zeit ohne externe Luftversorgung wasserziehend) Feststoffe mit niedrigem Schmelzpunkt. Alkali-
agiert werden kann. Alkalimetallperoxide sind aufgrund eines hydroxide lösen sich sehr gut unter Wärmeentwicklung in Wasser
ungepaarten Elektrons orangefarben. und ergeben dabei hochalkalische Laugenlösungen. Generell
nimmt die Stärke und Löslichkeit der Hydroxide mit ansteigen-
der Ordnungszahl der Alkalimetalle zu. Kalilauge (KOH) ist somit
13.1.3.4 Hyperoxide und Ozonide eine stärkere Base als Natronlauge (NaOH).
Bei Verbrennung an Luft reagieren Kalium, Rubidium und Die mit Abstand wichtigsten Alkalihydroxide sind NaOH
Cäsium zu Hyperoxiden (MO2). Die Hyperoxide von Lithium und KOH. Natronlauge wird für die Produktion von Cellulose
und Natrium können ebenfalls hergestellt werden, allerdings nur aus Holz, den Bayer-Aufschluss von Bauxit (7 Abschn. 13.3.1.2)
unter extremen Druck- und Temperaturbedingungen. für die Aluminiumherstellung und zur Produktion von Wasch-
Al ka limet a l lozonide (MO 3 , M = Na, K, Rb, Cs) mitteln benötigt.
13 werden aus Hyperoxiden (MO 2) durch Reaktion mit Ozon Kaliumhydroxid ist Ausgangsstoff für zahlreiche andere
(2 MO 2 + 2 O3 → 2 MO3 + O 2) bei niedrigen Temperaturen Kaliumverbindungen wie Kaliumcyanid (KCN) und Kalium-
erhalten. Ozonide zersetzen sich leicht in die stabileren Hyperoxide. carbonat (Pottasche). Außerdem wird es zur Herstellung von
Alle Sauerstoffverbindungen der Alkalimetalle reagieren Schmierseife verwendet. In der Glasindustrie wird Pottasche als
heftig mit Wasser zu Alkalimetallhydroxiden und mit Kohlen- Flussmittel, d. h. zur Schmelzpunkterniedrigung, zu ca. 10 % der
stoffdioxid zu Alkalicarbonaten (. Abb. 13.12). Glasmischung zugesetzt.
Die Bindungsverhältnisse des Hyperoxidanions (O 2 - , Lithiumhydroxid dient zur Herstellung von Lithiumseifen
BO = 1,5, 1 ungepaartes Elektron, OO-Abstand = 128 pm) und (. Abb. 13.19), die als Verdickungsmittel Schmierfetten zugesetzt
des Peroxianions (O22-, BO = 1, kein ungepaartes Elektron, OO- werden, und zur Absorption von Kohlenstoffdioxid in zeitweise
Abstand = 149 pm) wurde mithilfe der MO-Schemata detailliert geschlossenen Räumen wie Raumfähren und Unterseebooten.
in 7 Abschn. 12.6.1.1.2 diskutiert.
13.1.3.6 Halogenide
13.1.3.5 Hydroxide Mächtige Lagerstätten von Halit (NaCl), Sylvin (KCl) etc. haben
Alkalimetalle reagieren heftig mit Wasser zu Alkalimetallhydro- sich vor 250 Mio. Jahren in der Norddeutschen Tiefebene und
xid und Wasserstoff (2 M + 2 H 2O → 2 MOH + H 2). Mit zuneh- im Salzkammergut durch Verdunsten von Meerwasser gebil-
mender Ordnungszahl des Alkalimetalls nimmt die Heftigkeit det. Dabei lagerten sich die im Meerwasser gelösten Salze in der
+ CO2 + H2O
Li2CO3 Li2O 2 LiOH
+ 2 CO2 + 4 H 2O
2 Na2CO3 + O2 2 Na2O2 4 NaOH + 2 H2O2
+ 2 CO2 + 4 H2O
2 K2CO3 + 3 O2 4 KO2 4 KOH + 2 H2O2 + 2 O2
. Abb. 13.12 Reaktion von Alkalimetalloxiden mit Wasser (rechts) und Kohlenstoffdioxid (links)
13.1 · Gruppe 1 – Alkalimetalle (Li, Na, K, Rb, Cs, Fr)
259 13
MOH + HX MX + H2O
a b
. Abb. 13.15 Schmelzpunkt der Alkalihalogenide (a) und Wasserlöslichkeit der Iodide und Fluoride (b)
260 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
a b
. Abb. 13.16 Kristallgitter von NaCl (a) und CsCl (b), mit Cl = grün, Na = blau, Cs = violett
O O
d. h. Natriumkationen (Na+) und Hydridanionen (H-) sind wech-
selseitig von je sechs Hydrid- resp. Natriumionen umgeben. Das O
besondere an Metallhydriden ist, dass der Wasserstoff aufgrund
seiner höheren Elektronegativität (EN = 2,2) im Vergleich zum . Abb. 13.18 Kronenether 18-Krone-6 komplexiert selektiv
Alkalimetall (EN < 1) negativ polarisiert ist. Als starke Base reagie- Kaliumkationen (K = violett, O = rot, C = schwarz, H = weiß, © b Ben Mills –
ren Hydridanionen mit den Protonen des Wassers unter Bildung 18-crown-6-potassium, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:18-crown-
6-potassium-3D-vdW-A.png)
von Wasserstoff. Alkalimetallhydride eignen sich deshalb zur
Reduktion von Metallhalogeniden wie Titantetrachlorid (TiCl4)
zu Titan (. Abb. 13.17).
12-Krone-4, von Na+ mit 15-Krone-5, von K+ mit 18-Krone-6 und
von Rb+ mit 21-Krone-7.
13.1.3.8 Komplexe mit Kronenethern
Wie in 7 Abschn. 17.5.3.5 beschrieben, komplexieren Kronenether
über die freien Elektronenpaare der Sauerstoffatome Alkalimetall- 13.1.4 Verwendung – Batterien, Kühlmittel,
ionen (. Abb. 13.18), wodurch die Löslichkeit von Alkalimetallsal- Atomuhren
zen in organischen Lösemitteln immens ansteigt. So löst sich z. B.
Kaliumpermanganat (KMnO4) durch Zugabe von 18-Krone-6
(18 = Anzahl der kronenbildenden Atome, 6 = Anzahl der Sauer- 13.1.4.1 Lithium
stoffatome in der Krone) unter Komplexierung des Kaliumkations Elementares Lithium wird zur Herstellung besonders leistungsfä-
in Chloroform (Trichlormethan). higer Lithiumionen-Akkumulatoren benötigt (7 Abschn. 11.6.4).
Die Größe des Hohlraums des Kronenethers entscheidet über Gerade für Elektroautos sind die im Vergleich zu Bleibatterien
dessen Selektivität hinsichtlich des Alkalimetalls. Die optimale wesentlich leichteren und leistungsfähigeren Lithiumbatterien
Komplexierung der einzelnen Alkalimetalle erfolgt für Li+ mit unverzichtbar. Zusätzlich ermöglichen sie eine hohe Variabilität
13.1 · Gruppe 1 – Alkalimetalle (Li, Na, K, Rb, Cs, Fr)
261 13
hinsichtlich Design und somit Platzierung des Akkus in Geräten
und Fahrzeugen (. Abb. 11.20).
Als Legierungsbestandteil verbessert Lithium Gewicht, Härte,
Beständigkeit und Elastizität von Metallen. Des Weiteren wird
Lithium zur Entschwefelung und Desoxidation von Metallschmel-
zen verwendet.
Lithiumcarbonat (Li2CO3) erniedrigt die Schmelztempera-
tur von Bauxit, sodass es in großen Mengen als Flussmittel bei
der Herstellung von Aluminium (7 Abschn. 13.3.1.2) zum Einsatz
gelangt. Manisch depressive Personen werden in einer medika-
mentösen Langzeitbehandlung erfolgreich mit Lithiumcarbonat
therapiert.
Lithiumsalze von Fettsäuren (7 Abschn. 20.4), sogenannte
Lithiumseifen, werden zur Verdickung pastöser Schmierfette auf
Mineralölbasis eingesetzt (. Abb. 13.19). . Abb. 13.20 Auftausalz hält Straßen im Winter eisfrei (© Robert Hoetink/
Shutterstock)
13.1.4.2 Natrium Der menschliche Körper verfügt über ca. 100 g Natriumchlo-
Natrium in elementarer Form wird aufgrund seiner guten rid. Es regelt den Wasserhaushalt und unterstützt die Nervenzellen
Wärmeleitfähigkeit als Kühlmittel in schnellen Brutreaktoren bei der Signalübertragung. Da über Schweiß und Wasser ständig
(7 Abschn. 15.4) verwendet. Im Labor dient elementares Natrium Salz verloren geht, müssen wir über die Nahrung täglich etwa 6 g
zum Trocknen organischer Lösemittel wie Ether und Hexan. Salz aufnehmen.
Steinsalz ist die kommerziell wichtigste Natriumverbindung.
Es wird zum Enteisen von Straßen (Streusalz, . Abb. 13.20), als
Rohstoff in der chemischen Industrie (Chlorquelle) und zum Kon- 13.1.4.3 Kalium
servieren und Würzen von Nahrungsmitteln (Tafelsalz) verwen- Kalium in elementarer Form hat kaum kommerzielle Bedeutung,
det. Natriumchlorid ist Ausgangsverbindung für kommerziell sodass jährlich nicht mehr als 200 t davon hergestellt werden.
wichtige Natriumverbindungen wie Natriumhydroxid (NaOH), Zusammen mit Natrium dient es als Kühlmittel für schnelle Brut-
Natriumcarbonat etc. und für elementares Chlor. reaktoren. Im Labor wird Kalium ähnlich wie Natrium als effek-
tives Trockenmittel für nicht-halogenierte, organische Lösemit-
tel eingesetzt.
90 % aller Kaliumsalze wie Kaliumchlorid und Kaliumsul-
fat werden für landwirtschaftliche Zwecke (Pflanzendünger)
verwendet.
Kaliumbromid und Kaliumiodid wurden in der Vergangenheit
zur Herstellung von Silberbromid (AgBr) für lichtsensible Platten
und Filme benötigt. Diese Anwendung hat seit der Jahrtausend-
wende durch die digitale Photographie wesentlich an Bedeutung
verloren. In der Infrarotspektroskopie werden Kaliumbromid und
Kaliumiodid wegen deren Infrarotdurchlässigkeit als Probenfens-
ter verwendet.
Kaliumhydroxid und Kaliumcarbonat verseifen Fettsäureester
zu flüssiger Schmierseife. Kaliumcarbonat (Pottasche) wird außer-
dem in großen Mengen bei der Herstellung von Glas als Flussmit-
tel eingesetzt.
Kalium regelt wie Natrium über den osmotischen Druck
den Wasserhaushalt der Zellen. Dabei ist Kalium im Zellin-
nern konzentrierter als Natrium, während die Natriumkon-
zentration im extrazellulären Bereich (Blutplasma) höher ist,
sodass sich über die Zellmembran eine elektrische Spannung
von 60 mV aufbaut. Bei einem Reizsignal wird die Zellwand für
Natrium- und Kaliumionen durchlässig, sodass es zum Kon-
. Abb. 13.19 Mit Lithiumseife verdicktes Schmierfett eignet sich gut für zentrationsausgleich der Ionen kommt und das Ruhepoten-
Rollenlager (© SKF) tial zusammenbricht und als elektrischer Impuls weitergeleitet
262 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
wird. Danach schließen sich die Ionenkanäle der Zellwand 13.1.5 Lernkontrolle
wieder und durch eine sogenannte Natrium-Kalium-Ionen-
pumpe wird das Natrium-Kalium-Konzentrationsgefälle des
Ruhezustands und die damit korrelierende Spannung von Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
60 mV wieder hergestellt. Metall, Halbmetall, Leichtmetall, Schwermetall, Hauptgrup-
penmetall, Nebengruppenmetall, Alkalimetall, Schmelz-
flusselektrolyse, Doppelsalz, Flammenfärbung, Oxid, Per-
13.1.4.4 Rubidium, Cäsium, Francium oxid, Hyperoxid, Ozonid, Kronenether, Hydride.
Da Rubidium sehr teuer ist, hat es kaum praktische Bedeutung.
Manchmal wird es Vakuumröhren zum Entfernen von Sauerstoff-
spuren zugesetzt oder als Rubidiumnitrat (RbNO3) in Feuerwer- ? Verständnisfragen
ken für Violetteffekte verwendet. Übung 1
Cäsium wird ebenfalls als Gettersubstanz zur chemischen Wodurch zeichnen sich Metalle aus? Worin liegt der
Bindung von Sauerstoffspuren in Vakuumröhren verwendet. Unterschied zwischen einem klassischen Metall und einem
Des Weiteren wird es wegen seiner geringen Ionisierungsenergie Halbmetall? Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch.
in Glühkathoden eingesetzt. Seit 1967 dient Cäsium als „Stan-
dardpendel“ für die SI-Einheit Sekunde. Nach der SI-Definition Übung 2
entspricht eine Sekunde 9.192.631.770 mal der Periodendauer Was ist der Unterschied zwischen Hauptgruppen- und
eines Elektronenübergangs zwischen zwei Energiezuständen des Nebengruppenmetallen?
Cäsiumatoms. Mit aufwendiger Elektronik lässt sich die Anzahl
der Übergänge exakt zählen. Die genaueste Cäsiumuhr der Bun- Übung 3
desrepublik steht an der Physikalisch-Technischen-Bundesan- Was sind Alkalimetalle? Welche Valenzelektronenkonfi-
stalt Braunschweig, nach der sich alle offiziellen Uhren der BRD guration haben sie? Was sagt die Bezeichnung aus?
richten (. Abb. 13.21).
Francium hat aufgrund seiner geringen Verfügbarkeit in Übung 4
Kombination mit der kurzen Halbwertszeit keine wirtschaftliche Wie werden Alkalimetalle üblicherweise hergestellt? Warum
Bedeutung. ist die Elektrolyse von Alkalisalzlösungen kein Weg zur
Herstellung von elementaren Alkalimetallen? Skizzieren Sie
den Aufbau einer Downs-Zelle.
13
Übung 5
Die Reaktivität der Alkalimetalle steigt zum Cäsium hin an.
Geben Sie eine Erklärung hierfür.
Übung 6
Alkalimetalle reagieren heftig mit Wasser. Geben Sie die
Reaktionsgleichungen an.
Übung 7
Welche Hauptprodukte werden durch die Chlor-Al-
kali-Elektrolyse erhalten? Formulieren Sie die
Elektrodengleichungen.
Übung 8
Geben Sie die Reaktionsgleichungen der einzelnen
Alkalimetalle mit Sauerstoff an. Bezeichnen Sie die
entstehenden Produkte. Wie reagieren diese Oxidations-
produkte mit Wasser?
Übung 9
Kaliumhyperoxid wird in geschlossenen Räumen zur
Absorption von Kohlenstoffdioxid und Feuchtigkeit
eingesetzt? Nach welchen Reaktionsgleichungen erfolgt dies?
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109Mt* 110Ds* 111Rg* 112Cn* 113Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 13.22 Die Erdalkalimetalle verfügen als Element der 2. Hauptgruppe über 2 Valenzelektronen
13.2.1.1 Vorkommen . Abb. 13.23 Die drei Zinnen bestehen aus dem Mineral Dolomit
(CaCO3·MgCO3) (© Jiri Miklo/Fotolia)
Aufgrund ihrer hohen Reaktivität kommen Erdalkalimetalle nicht
gediegen, sondern ausschließlich im gebundenen Zustand vor.
Beryllium ist ein sehr seltenes Element. Das bekannteste wirtschaftlicher Bedeutung. Bekannte Magnesiumsilicatverbin-
Berylliummineral ist der Edelstein Beryll(Be3Al 2(Si 6O 18)). dungen sind Chrysotilasbest und Meerschaum (Mineral Sepio-
Abbauwürdige Beryllvorkommen gibt es in Südafrika, USA, lith). Im Meerwasser ist Magnesium mit ca. 1,3 kg/m 3quasi in
Russland, Argentinien und Brasilien. Reiner Beryll ist farblos. unerschöpflichen Mengen vorhanden. Außerdem ist es zentraler
Spuren von Chrom färben ihn grün (Smaragd) und von Eisen Bestandteil des Blattgrüns (Chlorophyll).
blau (Aquamarin). Noch häufiger als Magnesium ist Calcium mit einem Anteil
Magnesium hat einen Anteil von 2 % an der Erdhülle, sodass es von 3,4 % an der Erdkruste. Neben Dolomit (CaCO3 · MgCO3) ist
das achthäufigste Element ist. Ein weltweit vorkommendes Magne- Calcit (CaCO3) als Hauptbestandteil von Kalkstein (. Abb. 13.24),
siummineral ist das Doppelcarbonat Dolomit (CaCO3 · MgCO3), Marmor und Tafelkreide eine wichtige Quelle für Calciumver-
welches namensgebend für die Dolomiten ist (. Abb. 13.23). bindungen. Calciumsulfat (CaSO4) bildet mit unterschiedlichen
Ein weiteres wichtiges Magnesiummineral ist das in großen Mengen Kristallwasser die Minerale Anhydrit (CaSO4), Halbhyd-
Mengen in Salzstöcken vorkommende Doppelchlorid Carnal- rat (CaSO4 · 0,5H2O) und Gips (CaSO4 · 2H2O). Ein weiteres wich-
lit (KCl · MgCl2 · 6H2O), das Ausgangsrohstoff sowohl für tech- tiges Mineral ist Fluorit (Flussspat, CaF2), der für die Herstellung
nische Kalium- als auch Magnesiumverbindungen ist. Mag- von Flusssäure (HF) benötigt wird. Hydroxylapatit (Ca5X(PO4)3)
nesit (MgCO 3 ) und Brucit (Mg(OH) 2 ) sind ebenfalls von verleiht Zähnen und Knochen die notwendige Härte.
264 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
Element Be Mg Ca Sr Ba Ra
Kernladungszahl 4 12 20 38 56 88
Relative Atommasse [g/mol] 9,01 24,31 40,08 87,62 137,33 226,02
Elektronegativität 1,57 1,31 1,00 0,95 0,89 0,89
Metallradius [pm] 111 160 197 215 224 230
Ionenradius [pm] 59 (+II, 6) 86 (+II, 6) 114 (+II, 6) 132 (+II, 6) 149 (+II, 6) 162 (+II, 8)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 899 738 590 549 503 509
Oxidationszahl +II +II +II +II +II +II
Siedepunkt [°C] 2970 1090 1484 1384 1640 1140
Schmelzpunkt [°C] 1278 649 839 769 725 700
Dichte [g/cm3] 1,47 1,74 1,54 2,63 3,65 5,5
Entdecker Vauquelin Black Davy Crawford Davy Curie
1798 1755 1808 1790 1808 1898
Häufigkeit Erdhülle 5 19.400 33.900 100 300 10-4
[ppm, g/t]
2 M + O2 ' HR
2 MO + Ba: BaO und BaO2 von Erdalkalimetallen mit zunehmender Kernladungszahl.
T + 6 H 2O
Beryllium reagiert nicht, Magnesium nur mit heißem Wasser,
3 M + N2 M3N2 3 M(OH)2 + 2 NH3 Calcium, Strontium und Barium bereits bei Raumtemperatur.
Die Löslichkeit der resultierenden Erdalkalimetallhydroxide
M + 2 H2O M(OH)2 + H2 außer Be nimmt in der Gruppe nach unten zu und dadurch auch deren
alkalischer Charakter.
T, p + 2 HCl
M + H2 MH2 MCl2 + 2 H2 Auch die Hydridbildung (MH2) nimmt in der Gruppe von
oben nach unten zu. Während Barium, Strontium und Calcium
M + X2 MX2
bereits beim Erwärmen in Wasserstoffstrom ionische Hydride
bilden, muss zur Herstellung von Magnesiumhydrid Druck auf-
. Abb. 13.26 Reaktionsverhalten von Erdalkalimetallen gewendet werden und das polymere BeH2 ist auf diese Weise
ohnehin nicht mehr darstellbar. Mit verdünnten Säuren reagie-
ren die Hydride unter Freisetzung von Wasserstoff zu Metallha-
reduziert das Erdalkalimetall die Reaktionspartner und wird dabei logenid (MH 2 + 2 HX → MX 2 + 2 H 2 , X = F, Cl, Br, I).
selbst oxidiert. Die Oxidationsstufe der Erdalkalimetalle in den Mit Halogenen (X2) reagieren die Erdalkalimetalle bis auf
resultierenden Verbindungen beträgt +II. Beryllium zu ionischen Halogeniden (MX2), Berylliumhalogenid
So reagieren Erdalkalimetalle mit Sauerstoff in exothermer weist kovalenten Charakter auf (s. a. 7 Exkurs 13.1, . Abb. 13.28).
Reaktion zu farblosen Erdalkalimetalloxiden (MO). Barium bildet Calciumfluorid (CaF2) kristallisiert im sogenannten Fluoritgitter,
neben dem normalen Oxid (BaO) auch noch das Peroxid (BaO2), wie viele Salze des Typs MX2 (M = Metallkation, X = Anion, z. B.
das als Bleichmittel Verwendung findet. Magnesiumoxid wird auf- PbF2, BaF2, SrCl2). Dabei besteht das Gitter aus einer kubisch flä-
grund seines hohen Schmelzpunktes als Schamottsteine zum Aus- chenzentrierten Kugelpackung von Ca2+-Ionen. Da eine dichteste
kleiden von Hochtemperaturöfen eingesetzt. Erdalkalimetalloxide Kugelpackung stets doppelt so viele Tetraederlücken wie Kugeln
reagieren mit Wasser zu den schwerlöslichen Erdalkalimetallhy- (Ca2+-Ionen) aufweist, sind alle Tetraederlücken mit F–-Anionen
droxiden (MO + H 2O → M(OH) 2 ). besetzt, was im Einklang mit dem Calcium-Fluor-Verhältnis von
Durch Erhitzen von Erdalkalimetallen im Stickstoff- eins zu zwei ist.
strom bilden sich ionische Erdalkalinitride (M 3 N 2 ), die Letztendlich sind alle Calciumkationen würfelförmig von acht
mit Wasser zu Hydroxid und Ammoniak hydrolysieren Fluoridanionen und die Fluoridanionen tetraedrisch von vier Cal-
(M 3N 2 + 6 H 2O → 3 M(OH) 2 + 2 NH3). ciumkationen umgeben. Die in . Abb. 13.27 dargestellte Fluo-
Erdalkalimetalle – außer Beryllium – reagieren mit Wasser ritstruktur kann alternativ als kubisch primitive Anordnung von
zu Hydroxid (M(OH) 2 ) und Wasserstoff (H 2 ). Die Reak- Fluoridionen mit einem Calciumkation im Zentrum jedes zweiten
tion ist ein weiterer Beleg für die zunehmende Reaktivität Fluoridwürfels beschrieben werden.
266 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
13.2.6 Calciumsulfate – Anhydrit, Halbhydrat, Eindünsten von Meerwasser. Gemäß ihrer Wasserlöslichkeit fiel
Dihydrat zuerst Kalkstein (CaCO3), dann Gipsstein (CaSO4 · 2H2O) und
zuletzt Steinsalz (NaCl) aus. Je nach Beigang variiert die Farbe
von gelblich bis grau.
Umgangssprachlich werden die drei Calciumsulfat-Wasser- Dihydrat fällt als Industriegips bei der Phosphorsäureher-
Phasen Calciumsulfat-Dihydrat (CaSO4 · 2H2O), Calciumsulfat- stellung (7 Abschn. 12.5.3.4.1) und der Rauchgasentschwefelung
Halbhydrat (CaSO4 · 1/2H2O) sowie Anhydrit (CaSO4) allesamt (REA-Gips, 7 Abschn. 12.6.2.1.1) an. Er ist feinkristallin und von
als Gips bezeichnet (. Tab. 13.3). hoher Reinheit und deckt etwa die Hälfte des Bedarfs ab.
Als Bindemittel (. Tab. 13.4 und . Abb. 13.32) eignen sich die Gips ist ein farbloses bis weißes Mineral von geringer Härte
beiden Systeme Halbhydrat und Anhydrit, da diese mit Wasser (Mohs-Härte = 2). Beim Erhitzen geht Gips bei 130 °C in Halbhy-
durch Hydratation zu Gipsstein, Dihydrat (CaSO4 · 2H2O) abbin- drat und bei 300 °C in Anhydrit über.
den. Weltweit werden ca. 200 Mio. Tonnen Calciumsulfat jähr- Alle abgebundenen Calciumsulfat-Endprodukte wie Gipsplat-
lich verarbeitet, wobei 65 % als Erstarrungsregler für Zement und ten, -putze und -spachtelmassen bestehen ebenfalls aus Dihydrat.
weitere 30 % für Gipsplatten verbraucht werden.
Bauprodukte aus Calciumsulfat sorgen für ein angenehmes
Raumklima und sind wegen ihrer schneeweißen Farbe optisch 13.2.6.2 Halbhydrat (CaSO4 · 1/2H2O)
ansprechend. Die relativ hohe Wasserlöslichkeit von Dihydrat Calciumsulfatbindemittel wie Halbhydrat werden durch calcinieren
(CaSO4 · 2H2O) von 2 g/l beschränkt deren Anwendung jedoch (brennen, erhitzen) von Gips erhalten. Im Temperaturbereich von
auf den Innen- und Trockenbereich. 100 bis 200 °C wird 75 % des Kristallwassers des Gipses ausgetrie-
ben und das resultierende Produkt, ein weißes Pulver, als Halbhyd-
rat bezeichnet. Wird die Reaktion in einem Autoklav (Druckgefäß)
13.2.6.1 Gips, Dihydrat (CaSO4·2H2O) unter Druck und Feuchtigkeit ausgeführt, wird α-Halbhydrat erhal-
Chemisch und mineralogisch betrachtet wird nur das Dihydrat als ten, während beim Calcinieren im offenen Trog unter Normaldruck
Gips bzw. Gipsstein angesehen. In Deutschland bildeten sich die β-Halbhydrat (Stuckgips, . Abb. 13.33) anfällt. Die beiden Modi-
wichtigsten Naturgipslagerstätten vor etwa 200 Mio. Jahren durch fikationen unterscheiden sich lediglich in ihrer Kristallstruktur.
+ 3/2 H2O
+ 2 H2O
Abbinden, Hydratation
. Abb. 13.35 Drehrohrofen einer Zementfabrik (© HeidelbergCement AG) Kurzschreibweise: 2C3S + 7 H → C3S2H4 + 3 CH
Grundlegende Begriffe der Betontechnologie 13.2.8 Wasserhärte – Calcium und Magnesium als
55Zement: Trockenes, aufgemahlenes, graues troublemaker
Bindemittelpulver.
55Zementleim: Pastöses Gemisch aus Zement und Wasser, Kalkablagerungen auf Fliesen und Armaturen oder im Teewas-
direkt nach dem Anrührprozess. serkocher rühren von hartem Wasser her. Hartes Wasser ver-
55Zementstein: Ausgehärteter (abgebundener) braucht auch Waschmittel, sodass dieses für den Waschvor-
Zementleim als fester Stein. gang nicht mehr zur Verfügung steht und deshalb höher dosiert
55Zementmörtel: Mischung aus Zement, Anmachwasser werden muss. In Industrieanlagen können Kalkablagerungen
und Sandzuschlag (Größtkorn 2 mm). (. Abb. 13.37) in Heizkesseln zu ineffizienter Wärmeübertragung
55Beton: Gemisch aus Zement, Anmachwasser, Sand- und und im schlimmsten Fall zu Explosionen führen. Die Wasserhärte
13 Kieszuschlag (Größtkorn 63 mm). kann vom Wasserversorger erfragt werden. Aber was ist eigent-
lich Wasserhärte?
Gebrauchswasser besteht nicht nur aus H2O-Molekülen,
sondern enthält auch gelöste Salze. Je höher der Anteil an gelösten
Der Drehofen (. Abb. 13.35) ist ein bis zu 100 m langes Stahlrohr, Calcium- und Magnesiumsalzen, desto härter das Wasser. Woher
das eine Neigung von etwa 4° aufweist und zweimal pro Minute stammen die Salze, schließlich enthält Regenwasser keine Salze?
um die eigene Achse rotiert. Durch die Neigung und Drehung Grundwasser bildet sich aus versickerndem Regenwasser. Beim Ver-
des Ofens bewegt sich das Rohmehl innerhalb einer Stunde in sickern löst das Regenwasser Minerale aus Erd- und Gesteinsschich-
Richtung Ofenende, wobei es auf 1450 °C erwärmt wird. Bei ten, sodass sich je nach Bodenpassage und Umgebung mehr oder
dieser Temperatur reagiert das Rohstoffgemisch zu neuen Klin- weniger Calcium- und Magnesiumsalze im Grundwasser lösen.
kerphasen. Der Klinker hat am Ofenausgang eine Größe von ca. Die Gesamthärte von Wasser setzt sich aus den beiden Kom-
3 cm und wird dann in Mühlen zusammen mit bis zu 5 % Cal- ponenten temporäre Härte (Carbonathärte) und permanente
ciumsulfat als Erstarrungsverzögerer zu Zementpulver vermah- Härte (Nichtcarbonathärte) zusammen.
len. Moderne Drehrohröfen weisen eine Tagesleistung von bis zu 44Die Gesamthärte entspricht dem gesamten Calcium- und
10.000 t Zement auf. Magnesiumgehalt eines Wassers. Die gebräuchliche Einheit
Bau- und Zementchemiker benutzen eine „stenographische“ für die Wasserhärte sind deutsche Härtegrade (°dH). Per
Kurzschreibweise für die Phasenzusammensetzung des Zement- Definition entspricht ein Grad deutscher Härte 10 mg
klinkers. So steht C für CaO, S für SiO2, A für Al2O3, F für Fe2O3 Calciumoxid (CaO) bzw. 7,2 mg Magnesiumoxid (MgO).
? Verständnisfragen
Übung 1
Welche Elemente zählen zu den Erdalkalimetallen?
Welche Valenzelektronenkonfiguration weisen
Erdalkalimetalle auf?
Übung 2
Wie kommt Calcium in der Natur vor? In Süddeutschland
gibt es mächtige Kalksteinlagerstätten. Wie sind diese
entstanden? Führen Sie hierzu eine Internetrecherche
durch.
Übung 3
Was versteht man unter einer Schrägbeziehung? Was ist
. Abb. 13.39 Feuerwerk – Strontium, Barium und Magnesium ergeben der Grund für diese Schrägbeziehungen? Welchem Element
prächtige Farbeffekte (© Smileus/Fotolia) ähnelt Beryllium mehr, Magnesium oder Aluminium?
Übung 4
Calcium ist als Hydroxyapatit (Ca5(PO4)3OH) für den Kno- Geben Sie die chemischen Formeln für Tafelkreide, Marmor,
chenaufbau und für die Härte des Zahnschmelzes von Bedeutung. Flussspat, Kalkstein, Dolomit und Schwerspat an.
Kalkstein (CaCO3) bildet das strukturelle Rückgrat für Korallen-
skelette, Muschel- und Eierschalen und ist außerdem Ausgangs- Übung 5
rohstoff für die meisten Calciumverbindungen. Was sind Grignard-Verbindungen? Wie werden Grignard-
Strontiumcarbonat sorgt in der Pyrotechnik für dunkelrote Verbindungen hergestellt? Erklären Sie die Besonderheit
Effekte, außerdem wird daraus gewonnens Strontium für Dauer- von Grignard-Verbindungen.
magnete benötigt.
Gelöste Bariumverbindungen sind starke Herzgifte. So wird Übung 6
Bariumcarbonat (BaCO3) als Rattengift eingesetzt. Bariumsulfat ist Was sind Kalkstein, Branntkalk, Löschkalk und Kalkmilch?
unlöslich, somit ungiftig und kann deshalb in der Medizin als Kon- Wie werden diese Verbindungen hergestellt? Wieviel
13 trastmittel für Röntgenuntersuchungen zur besseren Reliefbildung Branntkalk entsteht beim Calcinieren von einer Tonne
von Speiseröhre, Magen und Darm verwendet werden. Reines Calciumcarbonat?
Bariumsulfat ist ein lichtechter und chemisch stabiler weißer Füll-
stoff für Malerfarben und Lacke. Bohrspülungen für die Erdölex- Übung 7
ploration enthalten Schwerspat (BaSO4, ρ = 4,5 g/cm3) zum Jus- Was sind Calciumsulfate? Geben Sie die chemischen
tieren der Bohrspülungsdichte. Die Bohrspülungsdichte muss in Formeln für Gips, Halbhydrat und Anhydrit an. Wie werden
engen Grenzen gehalten werden, um einerseits ein Kollabieren die einzelnen Verbindungen hergestellt?
des Bohrlochs bei zu geringer, und andererseits ein unkontrollier-
tes Aufspalten bei zu hoher Dichte zu vermeiden.In Feuerwerken Übung 8
sorgen Bariumverbindungen für grüne Showeffekte (. Abb. 13.39). Beschreiben Sie das Abbindeverhalten von Kalk- und
Gipsmörteln. Was ist das Bindemittel und wie bindet
es ab?
13.2.10 Lernkontrolle
Übung 9
Beschreiben Sie den Unterschied von Zement, Zementleim,
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: Zementstein, Zementmörtel und Beton. Wie wird
Erdalkalimetall, Schrägbeziehung, Grignard-Verbindung, großtechnisch Zement hergestellt? Wie bindet Zement ab?
Kalkstein, Branntkalk, gelöschter Kalk, Kalkmilch, Calcium- Warum spricht man von Hydratation?
sulfat, Dihydrat, Halbhydrat, Anhydrit, Stuckgips, Kristall-
wasser, Calcinieren, Zement, Mörtel, Beton, Zementklinker, Übung 10
Zementleim, Wasserhärte, permanente Wasserhärte, tem- Unterscheiden Sie zwischen Gesamthärte, permanenter
poräre Wasserhärte. Härte und temporärer Härte von Wasser. Wie kann Wasser
enthärtet werden?
13.3 · Gruppe 13 – Aluminium, Gallium, Indium, Thallium
273 13
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33As 34 Se 35 Br 36 Kr
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72Hf 73Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110Ds* 111Rg* 112Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59 Pr 60 Nd 61Pm* 62Sm 63 Eu 64 Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68 Er 69 Tm 70Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92 U* 93Np* 94Pu* 95 Am* 96Cm* 97Bk* 98Cf* 99Es* 100Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 13.40 Die Metalle der Borgruppe verfügen als Elemente der 13. Gruppe über 3 Valenzelektronen
13.3.1.1 Vorkommen
Aluminium ist mit 7,6 % nicht nur das dritthäufigste Element
der Erdkruste, sondern auch das häufigste Metall überhaupt. . Abb. 13.41 Rubin – Aluminiumoxid mit Chrom als farbgebende
Da Aluminium sehr unedel ist (E° = -1,67 V), wird es in der Komponente (© kaedeezign/Fotolia)
Natur nur in Form von Verbindungen meist Sauerstoffverbin-
dungen angetroffen. Das mit Abstand wichtigste Aluminium- Gallium, Indium und Thallium sind seltene Elemente, die mit
gestein ist Bauxit, das insbesondere in Guinea, Australien und Zinksulfid (ZnS), Kupfersulfid (CuS) und Bleisulfid (PbS) ver-
Brasilien vorkommt, im Tagebau abgebaut werden kann und gesellschaftet angetroffen werden. Die derzeitige globale Jahres-
für die Aluminiumherstellung benötigt wird. Bauxit besteht aus produktion an Gallium beträgt etwa 200 t, Tendenz steigend. Der
Aluminium- und Eisenmineralien und weist einen Aluminium- weltweite Bedarf an Indium wird auf 1000 Jahrestonnen geschätzt.
gehalt bis 25 % auf. Weitere wichtige Aluminiumvorkommen
sind Kalium- und Natriumfeldspäte (M(AlSi 3O8), M = Na, K)
und Korund (Al2O3). Die Edelsteine Rubin (rot, . Abb. 13.41) 13.3.1.2 Herstellung
und Saphir (blau) sind reiner Korund (farblos) mit Spuren von Aluminium wird durch Elektrolyse einer Schmelze aus 18,5 % Alu-
Chrom (rot) resp. Titan (blau). miniumoxid (Al2O3) und 81,5 % Kryolith (Na3AlF6) hergestellt.
274 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
7 bar/170 °C/7 h
Bauxit + NaOH Na + + [Al(OH)4]– + Rotschlamm
filtrieren impfen
Na + + Al(OH)4– + Rotschlamm Na[Al(OH)4]-Lösung Al(OH)3
1200 °C
2 Al(OH)3 Al2 O3 + 3 H2O
Element Al Ga In Tl
Kernladungszahl 13 31 49 81
Relative Atommasse [g/mol] 26,98 69,72 114,82 204,38
Elektronegativität 1,61 1,81 1,8 1,8
Metallradius [pm] 143 153 167 170
Ionenradius [pm] 68 (+III, 6) 76 (+III, 6) 94 (+III, 6) 164 (+I, 6),
103 (+III, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 577 579 558 589
Oxidationszahl +III +III +I, +III +I, +III
Siedepunkt [°C] 2467 2403 2080 1457
Schmelzpunkt [°C] 660 30 156 304
Dichte [kg/l] 2,70 5,91 7,31 11,85
Entdecker Örsted, 1825 Boisbaudran, 1875 Reich, Richter, 1863 Crookes, 1861
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 75.700 30 0,1 0,3
13.3.2 Allgemeine und physikalische erhöht auch dessen Kratzfestigkeit. Schließlich weist die 0,04 mm
Eigenschaften dicke Oxidschicht die gleiche Kristallstruktur wie Korund auf.
α-Al2O3 (Korund, . Abb. 13.44) ist extrem hart (Mohs-Härte
9) und dient als Schleif- und Poliermittel. Feuerfeste Werkstoffe
13.3.2.1 Eigenschaften und Hochofenauskleidungen werden ebenfalls daraus gefertigt.
Die Metalle der Borgruppe (. Tab. 13.6) sind weich, dehnbar, glän- α-Al2O3 (Tonerde) ist Ausgangsstoff für die Herstellung von Alu-
zend und luft- und wasserbeständig. Der metallische Charakter minium per Schmelzflusselektrolyse (7 Abschn. 13.3.1.2). Weltweit
nimmt von oben nach unten zu und damit auch der basische Cha- werden etwa 50 Mio. Tonnen α-Al2O3 dafür verwendet.
rakter der Oxide und Hydroxide. Aluminium ist ein Leichtme- Aluminium weist amphoteren Charakter auf. So reagiert es mit
tall, Gallium, Indium und Thallium sind dagegen Schwermetalle. nichtoxidierenden Säuren wie Chlorwasserstoff (HCl) zu dreiwer-
Gallium weist mit 30 °C einen sehr niedrigen Schmelzpunkt auf. tigen, wasserlöslichen Aluminiumsalzen und Wasserstoff. Basen
reagieren ebenfalls mit Aluminium unter Wasserstoffbildung zu
Aluminatlösungen, aus denen durch Neutralisation Aluminium-
13.3.3 Chemisches Reaktionsverhalten – Oxide, hydroxid (Al(OH)3) ausgefällt werden kann (. Abb. 13.45, mitte).
Halogenide, Hydride
+ 6 HCl
2 Al 3+ + 6 Cl– + 3 H2
+ 3 F2
2 AlF3
+ 3 X2
Al2 X6 X = Cl, Br, I
13.3.3.2 Halogenide
Es sind sämtliche Trihalogenide der Metalle der 3. Hauptgruppe
13 (MX3; M = Al, Ga, In, Tl; X = F, Cl, Br, I) bekannt. Aluminiumfluo- . Abb. 13.47 Struktur dimerer Aluminiumhalogenide am Beispiel
Br2Al(μ-Br)2AlBr2
rid (AlF3) entsteht bei der Einwirkung von Flusssäure (HF) auf Alu-
miniumoxid (Al2O3 + 6 HF → 2 AlF3 + 3 H 2O) oder durch Fluo-
rierung von Aluminium. Mit Natriumfluorid reagiert Aluminium- Aluminiumbromid und -iodid können ebenfalls aus den Ele-
fluorid zu Kryolith (AlF3 + 3 NaF → Na 3AlF6). Kryolith dient als menten hergestellt werden. Sie weisen ebenfalls eine dimere Struk-
Flussmittel bei der elektrolytischen Aluminiumproduktion. tur auf (. Abb. 13.47). Aluminiumbromid und -iodid werden wie
Aluminiumchlorid (AlCl3) entsteht beim Erhitzen von Alumi- Aluminiumchlorid als Katalysatoren für Polymerisationsreaktio-
nium im Chlorstrom. Es ist eine stark hygroskopische (wasserzie- nen und organische Synthesen (7 Abschn. 16.5.3) verwendet.
hende) Substanz, die mit sechs Molekülen Wasser auskristallisiert Gallium- und Indiumhalogenide (MX3, X = Cl, Br, I) weisen
(AlCl3 · 6H2O) und bei 183 °C sublimiert. Während Aluminium- ebenfalls eine dimere Struktur ((X2M(μ-X)2MX2) auf. Thal-
chlorid im Feststoff als Kristallgitter vorliegt, bildet es beim Auf- lium(III)-halogenide sind relativ instabil und zerfallen zu Thal-
schmelzen dimere Moleküle mit zwei überbrückenden Chlorato- lium(I)-halogenid (ThX, X = Cl, Br, I). So spaltet Thallium(III)-
men (Cl2Al(μ-Cl)2AlCl2, analog . Abb. 13.47). Die Aluminium- chlorid bereits bei 40 °C Chlor ab (TlCl3 → TlCl + Cl2).
atome sind dabei tetraedrisch von Halogenatomen umgeben. Thallium(I)-halogenide sind wesentlich beständiger als die
Durch die stark kovalente Struktur leitet Aluminiumchlorid den analogen Gallium(I)- und Indium(I)-halogenide und ähneln
elektrischen Strom nicht, sodass eine Schmelzflusselektrolyse von in ihren Eigenschaften und chemischen Verhalten den Alkali-
Aluminiumchlorid nicht möglich ist. metallverbindungen. Der Grund für die Stabilität der einwerti-
gen Oxidationsstufe liegt im chemisch inerten s-Elektronenpaar
(7 Exkurs 13.4) begründet.
+ 6 HCl
2 AlCl3 + 6 H2O
Übung 10
? Verständnisfragen Welche Eigenschaften machen Aluminium zu einem
Übung 1 wichtigen Element für die Fahrzeug- und Flugzeugindustrie?
Zwischen Aluminium und Beryllium besteht eine
Schrägbeziehung, weshalb? Was bedeutet das? An welchen
Fakten kann diese Schrägbeziehung demonstriert werden? 13.4 Gruppe 14 – Silicium, Germanium, Zinn,
Blei
Übung 2
Was ist Bauxit, Tonerde und Korund? Wie kann aus Bauxit Kohlenstoff (C), Silicium (Si), Germanium (Ge), Zinn (Sn) und
saubere Tonerde gewonnen werden? Blei (Pb) bilden die 14. Gruppe resp. 4. Hauptgruppe des PSE
(. Abb. 13.51). Diese Elemente weisen die Valenzelektronenkon-
Übung 3 figuration ns²np2 (n = Periodenzahl) auf, d. h. die äußerste Elekt-
Beschreiben Sie die großtechnische Herstellung von ronenschale ist mit vier Elektronen besetzt. Generell nimmt in der
Aluminium. Warum sind dafür große Mengen an Kryolith Gruppe der metallische Charakter zum Blei hin stetig zu. Während
notwendig? Formulieren Sie die Elektrodengleichungen. Kohlenstoff (7 Abschn. 12.4) ein klassisches Nichtmetall ist, das
durch seine zentrale Stellung im PSE das Basiselement organi-
Übung 4 scher Verbindungen (7 Kap. 16 ff) ist, sind Silicium und Germa-
Aluminium reagiert nur widerwillig mit Sauerstoff. Woran nium Halbmetalle, Zinn und Blei klassische Metalle.
liegt das? Wie kann Aluminium gegen oxidativen und Die Edelgaskonfiguration (ns²np6) erreichen diese Elemente
chemischen Angriff noch besser geschützt werden? entweder durch Ausbildung von vier Kovalenzbindungen ((8
minus N)-Regel, 8 – N = 4 mit N = 4, Hauptgruppenzahl) oder
Übung 5 durch Abgabe der Valenzelektronen an elektronegative Elemente
13 Aluminium und Aluminiumhydroxid sind amphotere Stoffe. wie den Halogenen.
Was ist Amphoterie? Formulieren Sie die entsprechenden Während Kohlenstoff praktisch beliebig lange Ketten und
Reaktionsgleichungen. Mehrfachbindungen mit sich selbst eingehen kann, ist diese Fähig-
keit bei Silicium (max. 15 Atome), Germanium (max. 9), Zinn (2)
Übung 6 und Blei (1) nur sehr begrenzt oder gar nicht ausgeprägt. Stabile
Lithiumaluminiumhydrid ist eine wichtige Chemikalie in der Doppel- oder Dreifachbindungen mit den Elementen Si, Ge, Sn
organischen Chemie. Geben Sie die chemische Formel für und Pb sind erst in den letzten 10 Jahren synthetisiert worden.
Lithiumaluminiumhydrid an. Wie wird es hergestellt? Welche Dies liegt daran, dass die Elemente Si, Ge, Sn, Pb im Vergleich zu
besondere Eigenschaft weist der Wasserstoff in Lithiumalu- Kohlenstoff wesentlich größer sind, sodass die Überlappung der
miniumhydrid auf? Wie reagiert Lithiumaluminiumhydrid Elektronenorbitale zu kovalenten Bindungen geringer ausfällt als
mit Wasser? Geben Sie hierfür eine detaillierte Erklärung auf bei Kohlenstoffatomen.
Basis von Elektronegativitäten und Polarisierungen. Nach IUPAC-Nummerierung wird die Gruppe als 14. Gruppe,
früher 4. Hauptgruppe, bezeichnet.
Übung 7
Die Metalle der 13. Gruppe bilden mit Halogenen
Trihalogenide (MX3). Thallium(+III)-halogenid ist jedoch 13.4.1 Vorkommen und Herstellung – chemische
instabil und zerfällt leicht in das stabilere Thallium(+I)- Reduktion von Oxiden
halogenid. Als Grund hierfür wird der Effekt des inerten
Elektronenpaares (Inert-Pair-Effect) angeführt. Was versteht
man darunter? Wodurch wird dieser Effekt hervorgerufen? 13.4.1.1 Silicium
Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch. Silicium ist mit 25,8 % Masseanteil nach Sauerstoff das zweithäu-
figste Element der Erdkruste. Silicium kommt in der Natur nicht
Übung 8 elementar, sondern ausschließlich in Oxidmineralen (Quarz,
Die Struktur von Hauptgruppenelementen wird bestimmt Amethyst, Bergkristall, . Abb. 13.52a) oder silicatischen Gestei-
durch die Oktettregel. Was versteht man darunter? Wie nen resp. Mineralen (Feldspäte, Glimmer, Schiefer) vor. So besteht
erfüllen die Trihalogenidverbindungen AlCl3, AlBr3 die nicht nur Sand nahezu ausschließlich aus Siliciumdioxid (SiO2),
Acht-Elektronen-Regel? sondern auch Halbedelsteine wie Amethyst, Achat und Opal.
13.4 · Gruppe 14 – Silicium, Germanium, Zinn, Blei
279 13
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18Ar
Periodenzahl
5 37Rb 38 Sr 39 Y 40Zr 41Nb 42 Mo 43Tc* 44Ru 45Rh 46Pd 47 Ag 48 Cd 49In 50 Sn 51Sb 52Te 53 I 54 Xe
1
6 55Cs 56 Ba 57 La 72Hf 73Ta 74 W 75Re 76Os 77Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83Bi* 84Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87Fr* 88Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105Db* 106 Sg* 107Bh* 108Hs* 109Mt* 110Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62Sm 63Eu 64Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68Er 69 Tm 70Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92 U* 93Np* 94 Pu* 95Am* 96Cm* 97 Bk* 98Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 13.51 Die Elemente der 14. Gruppe verfügen über 4 Valenzelektronen
a b
. Abb. 13.52 Bergkristall und Kieselalge – verschiedene Erscheinungsformen von Siliciumdioxid (© omepl1/Shutterstock, © Jan Michels)
a b
. Abb. 13.54 Si-Einkristalle für die Halbleiterindustrie (a) und polykristallines Si für Solarzellen (b) (© frog/Fotolia, yakes/Fotolia)
Polykristallines Silicium
13.4.1.3 13.4.1.5 Zinn
(Solarzellenwafer) Kassiterit (Zinnstein, SnO2) ist das kommerziell wichtigste Zinn-
Zur Herstellung von polykristallinem Silicium ( . Abb. 13.54b) mineral. Ein weiteres bedeutsames Erz ist Stannit (Zinnkies,
13 wird Rohsilicium geschmolzen und daraus ein Block gegossen. Cu2S·FeS·SnS2).
Durch langsames Abkühlen wachsen im Block Kristalle von unten Zur Herstellung elementaren Zinns wird Kassiterit gebrochen,
nach oben mit unterschiedlichster Raumorientierung. Optisch aufgemahlen und durch Flotation gereinigt. Anschließend wird
erkennbar beträgt die Kristallgröße von wenigen Millimetern bis das angereicherte Zinndioxid (SnO2) im Elektroofen mit Koks
hin zu mehreren Zentimetern. Nach vollständiger Erkaltung wird bei 1100 °C zu Zinn (SnO 2 + 2 C → Sn + 2 CO) reduziert. Das
der Block in Scheiben, sog. Wafer, zergattert, die die Schlüsselkom- entstehende Rohzinn weist einen Zinngehalt von 97 % auf. Wird
ponenten polykristalliner Solarzellen sind. hochreines Zinn benötigt, so wird das Rohzinn knapp über die
Schmelztemperatur erhitzt, wodurch hochreines Zinn von den
höherschmelzenden Verunreinigungen abdekantiert werden
13.4.1.4 Germanium kann. Weltweit werden jährlich ca. 200.000 t Zinn produziert.
Germanium ist zwar weit verbreitet, trotzdem sind Lagerstätten mit
hohem Germaniumgehalt äußerst selten. Die wichtigsten Germa-
niumminerale sind Argyrodit (4Ag2S · GeS2) und Germanit (3Cu2S · 13.4.1.6 Blei
FeS · 2GeS2), die meist Begleiter von Silicium-, Kupfer- und Zinker- Das technisch wichtigste Mineral für die Bleiherstellung ist Galenit
zen sind. Weltweit werden jährlich ca. 150 t Germanium hergestellt. (Bleiglanz, PbS). Weitere bedeutsame Bleiminerale sind Cerussit
Zur technischen Gewinnung von Germanium dient der bei (Weißbleierz, PbCO3) und Anglesit (Bleivitriol, PbSO4). Große
der Zinkgewinnung (7 Abschn. 14.11.1.1) anfallende Flugstaub. Vorkommen von Bleierzen befinden sich in China, Russland, Aus-
Dieser wird in Schwefelsäure gelöst und mit Natronlauge neu- tralien und Kanada. In den natürlichen Vorkommen liegt Blei fast
tralisiert, wobei ein Niederschlag aus Germaniumoxid (GeO2) ausschließlich in der Oxidationsstufe +II vor.
und Zinkoxid (ZnO) ausfällt. Mit konzentrierter Salzsäure bildet Elementares Blei wird aus Galenit (PbS) nach dem Direkt-
sich eine Germaniumtetrachlorid-Lösung (GeCl4). Da der Siede- schmelzverfahren (. Abb. 13.56), auch als Röstreaktionsverfah-
punkt von GeCl4 lediglich 83 °C beträgt, kann es problemlos aus ren bezeichnet, hergestellt (Primärblei). Mit elementarem Sauer-
dem Reaktionsgemisch abdestilliert werden. Anschließend wird stoff werden etwa zwei Drittel des Bleiglanzes zu Bleioxid (PbO)
es mit Wasser wieder zu Germaniumdioxid hydrolysiert, d. h. mit geröstet. Das entstehende Gemisch wird dann gesintert, sodass
Wasser zersetzt und letztendlich mit Wasserstoff zu hochreinem durch Reduktion des Bleioxids mit noch vorliegendem Bleisul-
Germanium reduziert wird (. Abb. 13.55). fid flüssiges Blei entsteht. Das sich bildende Schwefeldioxid wird
Da Germanium für die Halbleitertechnologie maximal Verun- der Schwefelsäureherstellung zugeführt. Flugasche und Röststaub
reinigungen von 0,1 ppb (Reinheit 1:1010) aufweisen darf, wird das enthalten noch Silber-, Gallium- und Germaniumverbindungen,
hochreine Germanium durch Zonenschmelzen nochmals gereinigt. und werden zur Gewinnung dieser Elemente weiterverwendet.
13.4 · Gruppe 14 – Silicium, Germanium, Zinn, Blei
281 13
2 PbS + 3 O2 2 PbO + 2 SO2 Röstarbeit 327 °C. Bleiverbindungen sind hochtoxisch, sodass bereits die
2 PbO + PbS 3 Pb + SO2 Reaktionsarbeit kontinuierliche Aufnahme geringer Mengen zur Schädigung des
Zentralnervensystems führen kann.
. Abb. 13.56 Darstellung von Blei aus Bleiglanz
Exkurs 13.3
Mehr als 50 % des benötigten Bleis werden heute durch Recycling
(Sekundärblei) von Dachblechen, Akkumulatoren etc. gewonnen. Zinngeschrei und Zinnpest
Verformt man ein Werkstück aus reinem Zinn, so ist ein knirschendes
Geräusch zu vernehmen. Das als Zinngeschrei bekannte Knirschen
ist auf die innere Reibung von tetragonalen Zinnkristalliten
13.4.2 Allgemeine und physikalische
zurückzuführen.
Eigenschaften Unterhalb 13 °C formt sich β-Zinn exotherm in α-Zinn um. Bei
Temperaturen bis zum Gefrierpunkt erfolgt dies sehr langsam, bei −50
°C dagegen innerhalb weniger Stunden. Da das Volumen von α-Zinn
Silicium ist ein stahlgraues, metallisch glänzendes, sprödes Halb-
um ca. 25 % größer ist als von β-Zinn, wird durch den Phasenübergang
metall, das in reinem Zustand den elektrischen Strom nur sehr Zinngeschirr mit der Zeit zerstört. Es entstehen beispielsweise
schlecht leitet. Die Kristallstruktur elementaren Siliciums ent- graue Punkte auf Zinngeschirr (. Abb. 13.57), die sich mit der Zeit
spricht der von Diamant (7 Abschn. 12.4.1.1). Silicium kommt in vergrößern und in graue Pusteln übergehen, was die Bezeichnung
der Natur in drei stabilen Isotopen 28Si (92,2 %), 29Si (4,7 %) und Zinnpest erklärt. Nota bene – Zinngeschirr muss in Räumen bei
30Si (3,1 %) vor. Temperaturen über 13 °C aufbewahrt werden. Eine „Heilung“ der
Zinnpest durch Erwärmen ist nicht möglich. Angeblich sind 1812
Typisch für einen Halbleiter steigt die elektrische Leitfähigkeit die aus reinem Zinn gefertigten Uniformknöpfe der napoleonischen
mit zunehmender Temperatur an. Dotieren, d. h. gezieltes „Ver- Armee in der klirrenden Kälte Moskaus wegen Zinnpest zerfallen.
unreinigen“ mit geringsten Spuren an Gallium oder Arsen, erhöht
die Grundleitfähigkeit von Silicium erheblich.
Germanium ist ebenfalls ein sprödes, metallisch glänzendes
Halbmetall, allerdings mit höherer elektrischer Leitfähigkeit als
Silicium. Beim Schmelzen nimmt die Dichte des Germaniums zu,
da das Volumen um ca. 6 % abnimmt (Dichteanomalie).
Zinn ist ein weiches, silbrig glänzendes Metall, das in
α- und β-Modifikation (7 Exkurs 13.3) auskristallisiert. Das graue
α-Zinn (Dichte 5,8 g/cm3) ist nur unter13 °C stabil und wandelt
sich ab 13 °C in das metallisch glänzende β-Zinn um. Üblicher-
weise wird β-Zinn (Dichte 7,3 g/cm3) verarbeitet, dem etwas
Bismut zulegiert wird, um den Übergang zu grauem α-Zinn zu
unterbinden. Zinn lässt sich zu 20 µm dünnen Stanniolfolien
(stannum, lat. für Zinn) auswalzen. Es ist das Element mit den
meisten stabilen Isotopen. . Abb. 13.57 Von Zinnpest befallenener Zinnschrot (rechts) (©
Blei ist ein weiches, verformbares Schwermetall mit einer Alchemist-hp – Sn-Alpha-Beta, https://commons.wikimedia.org/wiki/
Dichte von 11,3 g/cm3 und einem Schmelzpunkt von lediglich File:Sn-Alpha-Beta.jpg)
. Tab. 13.7 Physikalische Eigenschaften der Elemente Silicium, Germanium, Zinn und Blei
Element Si Ge Sn Pb
Kernladungszahl 14 32 50 82
Relative Atommasse [g/mol] 28,09 72,64 118,71 207,2
Elektronegativität 1,90 2,01 1,96 2,33
Metallradius [pm] 117 122 158 146
Kovalenzradius [pm] 54 (+IV, 6) 67 (+IV, 6) 83 (+IV, 6) 133 (+II, 6)
92 (+IV, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 786 761 708 715
Oxidationszahl -IV, +IV +IV +II, +IV +II, +IV
Siedepunkt [°C] 2355 2830 2270 1740
Schmelzpunkt [°C] 1410 937 232 327
Dichte [g/cm3] 2,33 5,32 7,29 11,34
Entdecker Berzellius, 1824 Winkler, 1886 Altertum Altertum
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 258.000 6 30 20
282 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
. Abb. 13.59 Golden Gate Bridge – Erstanstrich mit orangefarbener Mennige als passiver Korrosionsschutz (© luciano mortula/Fotolia)
verhalten sich sauer, die Zinnoxide SnO und SnO2 bereits ampho- ausschließlich an den Ecken verknüpft und weisen keine gemein-
ter und die Bleioxide (PbO, PbO2) rein basisch. samen Kanten oder Flächen auf.
OH OH
HO Si OH + HO Si OH H2O +
OH OH
OH
HO OH
HO Si OH
OH Si
OH OH HO O O OH
HO Si OH Si Si
HO Si OH
OH HO OH
OH O O + 6 H2O
HO OH
OH Si
OH Si
HO Si OH HO OH
HO Si OH O O
OH OH Si
OH
HO Si OH HO OH
OH
OH OH
n HO Si OH HO Si O H + (n–1) H2O
OH OH n
OH OH
OH OH OH OH OH
Si Si OH OH OH
O O O O Si OH Si Si
HO Si Si O O O O
OH OH HO Si Si Si OH
OH OH OH OH OH
O O O + 3 H 2O
OH OH
OH OH OH HO Si Si Si OH
OH O O O O
OH Si Si
HO Si Si Si OH OH OH OH
O O O O
Si Si OH OH
OH OH OH
OH OH
OH OH
OH OH OH
Si Si
O O O O Si OH
HO Si Si
OH OH OH OH
OH OH OH OH OH OH
Si Si
O O O O Si OH
HO Si Si
OH OH OH OH OH
OH OH O O O
HO Si Si O Si OH OH
O O O OH
Si Si HO Si Si Si OH
OH OH OH O O O O
Si Si
OH OH OH OH OH
O O + 8 H2O
OH OH OH
OH OH Si Si
OH O O O O Si OH
OH OH HO Si Si
Si Si OH OH
O O O O Si OH
HO Si Si O O O
OH OH
OH OH OH
OH OH HO Si Si Si OH
O O O O
Si Si
OH OH OH OH OH OH
OH OH OH
OH
HO Si Si Si OH
O O O O
Si Si
OH OH OH
OH OH
a b
. Abb. 13.67 Gerüst- und Kanalsystem des Zeoliths ZSM-5 (© a Thomas Splettstösser – Zeolite ZSM5, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zeolite-
ZSM-5-vdW.png, b) Caroline Rohr – [email protected])
Kanäle mit 0,55 nm und Kavernen mit 0,9 nm Durchmesser auf können Zeolithe in der Regel wieder regeneriert, d. h. von orga-
(. Abb. 13.67). Kommerzielle Verwendung findet dieser Zeolith nischen Gästen befreit werden.
als Trägermaterial für Reformingkatalysatoren zur Erhöhung der
Oktanzahl von Benzin (7 Abschn. 16.6.5.4). 13.4.3.2.8 Amorphe Kieselsäuren
Weitere Anwendungen von Zeolithen sind als Trocknungsmit- In amorphen Silicaten (7 Exkurs 13.5) sind die SiO4-Tetraeder
tel für Gase und Flüssigkeiten, in Waschmitteln zur Enthärtung nicht regelmäßig angeordnet wie z. B. in kristallinem α-Quarz.
13 des Wassers (Ionenaustauscher) und zur Adsorption von Gasen Amorphe Kieselsäuren verfügen über geringe Schüttdichte und
und gelösten Stoffen mit definiertem Moleküldurchmesser (Mole- große innere Oberflächen. Zu den amorphen Kieselsäuren zählen
kularsiebe). Generell stehen Molekularsiebe mit Porenweiten von die nach dem Nassverfahren hergestellten Kieselgele, pyrogene
0,3 bis 1,0 Nanometer zur Verfügung. Durch Erhitzen auf 400 °C Kieselsäuren und die in der Natur vorkommenden Opalmineralen.
Exkurs 13.5
oder Kaliumcarbonat (K2CO3) bei 1300 °C flüssiges Wasserglas überführt. Wassergläser . Abbildung 13.69 gibt eine Übersicht
(M2CO3 + n SiO2 → M2O ⋅ nSiO2 + CO2 ↑, werden als Bindemittel in der Bauchemie, über natürliche und industriell erzeugte
mit n = 3−5; M = Na, K) erhalten. Das für Sandformen in der Metallurgie, zum Siliciumdioxidvarianten.
resultierende feste Wasserglas wird Abdichten von Mauerwerk und Deponien und
gemahlen und mit heißem Wasser in als Nährmedien für Bakterien verwendet.
. Abb. 13.69 Natürliche und industriell erzeugte Varianten des Siliciumdioxids (SiO2)
13.4.3.4 Halogenverbindungen . Tabelle 13.9 fasst die wichtigsten Eigenschaften wie Aggre-
gatszustand, Farbe, Schmelz- resp. Siedepunkt der Halogenide von
Siliciumtetrachlorid als wichtigste Silicium-Halogen-Verbindung Silicium, Germanium, Zinn und Blei zusammen.
kann aus den Elementen bzw. aus Silicium und Chlorwasserstoff
in einer exothermen Reaktion hergestellt werden. SiCl4 ist eine
stark lichtbrechende Flüssigkeit, siedet bei 57 °C und raucht an 13.4.4 Verwendung – Wafer, Photovoltaik,
Luft. Mit Wasser kann SiCl4 schrittweise hydrolysiert und in die Mikrochips, Weißblech, Bleiakku
entsprechenden Silanole überführt werden.
Germaniumtetrachlorid (GeCl4) ist eine Flüssigkeit mit Sie- Rohsilicium mit einem Reinheitsgrad 90 % wird in Form von
depunkt 83 °C, die durch Reaktion von Germaniumdioxid mit Ferrosilicium zur Desoxidierung von Stahl eingesetzt. Techni-
Salzsäure erhalten wird. Mit Wasser reagiert es spontan zu Germa- sches Silicium mit einem Reinheitsgrad von 98 % dient als Aus-
niumdioxid und Salzsäure zurück. Germaniumtetrachlorid wird gangsstoff für die Herstellung von Siliconen (7 Abschn. 22.2.7) und
zur Herstellung hochreinen Germaniums und zur Beschichtung Solarsilicium.
von Glasfaserkabeln benötigt. Solarsilicium (99,99 %) ist für die photovoltaische Stromerzeu-
Löst man Zinn in Salzsäure, so wird kristallines Zinn(II)-chlo- gung unverzichtbar. Obwohl der Wirkungsgrad von polykristal-
rid mit zwei Molekülen Kristallwasser (SnCl2·2H2O) erhalten, das linem Solarsilicium etwas geringer ist, als von monokristallinem,
durch Erhitzen im Chlorwasserstoffstrom zu Zinnchlorid (SnCl2) werden aus Kostengründen über 80% der Solarzellen aus poly-
getrocknet werden kann. Wird Zinn oder verzinntes Weißblech kristallinem Silicium gefertigt.
mit Chlor erhitzt, dann wird Zinn(IV)-chlorid (SnCl4) als farblose, In der Halbleiterindustrie nutzt man die Eigenschaft des Sili-
hochhygroskopische Flüssigkeit erhalten. Während SnCl4 eine ciums (. Abb. 13.70), dass dessen Valenzelektronen temperatur-
kovalente Verbindung mit diskreten tetraedrischen SnCl4-Mole- abhängig in das Leiterband übergehen. Die Grundleitfähigkeit
külen ist, ist SnCl2 ein festes Salz, das polymere Ketten [-(SnCl2)n-] kann durch gezieltes Verunreinigen (Dotieren) mit 0,1 bis 1 ppb
aufbaut. Gallium oder Arsen beeinflusst werden.
Blei reagiert mit Halogenen zu Blei(II)-halogeniden. Dabei Silicium eignet sich dadurch für die Fertigung von Transisto-
nimmt die Reaktivität vom Fluor zum Iod ab. Während die Reak- ren, Dioden und integrierten Schaltkreisen. Siliciumchips weisen
tion mit Fluor hoch exotherm ist, läuft die Reaktion mit Iod nur Millionen von integrierten Schaltkreisen auf engstem Raum auf,
nach Erwärmen ab. Blei(II)-halogenide können aber auch einfach sodass sie unverzichtbar für die Computer- und Kommunika-
durch Ausfällen mit Halogenidionen aus Blei(II)-Lösungen her- tionstechnologie sind. Die Chiptechnologie verlangt Silicium in
gestellt werden. Bleihalogenide sind schwerlöslich, wobei die Lös- reinster Form. Verunreinigungen dürfen in Summe 1 ppb (engl.
13 lichkeit zum Iodid hin abnimmt. Blei(II)-chlorid und -fluorid für part per billion = 1 zu 1.000.000.000) nicht übersteigen.
lassen sich zu Blei(IV)-fluorid und -chlorid halogenieren. Diese Germaniumdioxid verfügt über einen großen Brechungsin-
sind starke Oxidationsmittel und zerfallen unter Halogenab- dex. Dotierung von Lichtwellenleitern mit Germaniumdioxid und
gabe wieder zu den stabileren PbX2-Verbindungen. Die analogen Ummantelung der dotierten Glasfaser mit undotiertem Quarz-
Blei(IV)-Verbindungen des Bromids und Iodids sind unbekannt. glas ergibt Totalreflexion an der Grenzfläche, wodurch das Licht
. Tab. 13.9 Wichtige Halogenide von Silicium, Germanium, Zinn und Blei
Halogen F Cl Br I
SiX4 SiF4, Sdp. −95 °C SiCl4, Sdp. 58 °C SiBr4, Sdp. 153 °C Sil4, Smp. 121 °C
farbloses Gas farblose Flüssigkeit farblose Flüssigkeit farbloser Feststoff
GeX4 GeF4, Sdp. −37 °C GeCl4, Sdp. 83 °C GeBr4, Smp. 26 °C Gel4, Smp. 144 °C
farbloses Gas farblose Flüssigkeit farbloser Feststoff orangener Feststoff
GeX2 GeF2, Smp. 110 °C GeCl2 GeBr2, Smp. 120°C Gel2, Smp. 428°C
weißer Feststoff instabiler Feststoff gelblicher Feststoff gelber Feststoff
SnX4 SnF4, Smp. 705 °C SnCl4, Sdp. 114 °C SnBr4, Smp. 31 °C Snl4, Smp. 145 °C
weißer Feststoff farblose Flüssigkeit weißer Feststoff oranger Feststoff
SnX2 SnF2, Smp. 213 °C SnCl2, Smp. 247 °C SnBr2, Smp. 215 °C Snl2, Smp. 320 °C
weißer Feststoff weißer Feststoff gelber Feststoff roter Feststoff
PbX4 PbF4, Smp. 600°C PbCl4, Sdp. 150°C Nicht bekannt Nicht bekannt
weißer Feststoff gelbe Flüssigkeit
PbX2 PbF2, Smp. 818 °C PbCl2, Smp. 498 °C PbBr2, Smp. 373 °C Pbl2, Smp. 412 °C
weißer Feststoff weißer Feststoff weißer Feststoff goldfarbener Feststoff
13.4 · Gruppe 14 – Silicium, Germanium, Zinn, Blei
289 13
. Abb. 13.71 Germaniumoptik für Thermografieaufnahmen zum Erkennen von Wärmebrücken (© electriceye/Fotolia)
290 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
Übung 3
Was ist monokristallines und polykristallines Silicium? Wie
werden diese großtechnisch hergestellt? Erklären Sie die
Begriffe Ingot, Wafer, Chip.
Übung 4
Silicium ist ein Halbleiter. Was zeichnet einen elektrischen
Halbleiter aus? Was wird durch Dotieren erzielt?
Übung 5
Elementares Zinn nimmt unterschiedliche Kristallmodifi-
kationen ein. Was versteht man unter Zinnpest? Was ist die
Ursache für Zinnpest? Was ist das sogenannte Zinngeschrei?
. Abb. 13.73 Medizinisches Personal schützt sich mit Bleischürzen vor Übung 6
Röntgenstrahlen (© Bergringfoto/Fotolia) Was sind Quarzmehl, Kieselgur, Kieselgel und pyrogene
Kieselsäure? Welche chemische Formel weisen diese Stoffe
auf?
25 cm dicke Bleiplatten schirmen beispielsweise Gamma- und
Röntgenstrahlen genauso effektiv ab wie sieben Meter dicke Beton- Übung 7
wände. Blei wird deshalb im Strahlenschutz (Bleiplatten für Reak- Beschreiben Sie den Aufbau von Insel-, Gruppen-, Ring-,
torbau, Bleischürzen für medizinisches Personal (. Abb. 13.73) Ketten-, Band-, Schicht- und Gerüstsilicaten. Leiten Sie
eingesetzt. Bleielektroden in Autobatterien (7 Abschn. 11.6.2) vom Aufbau für das jeweilige Silicat den Grundbaustein
ermöglichen das bequeme Starten von Verbrennungsmotoren. (Monomer) und das Silicium-Sauerstoff-Verhältnis ab.
Autobatterien enthalten ca. 20 kg und LKW-Batterien bis zu 60 kg
Blei. Übung 8
Schrotkugeln werden aus bleihaltigen Legierungen, die meist Was ist Photovoltaik? Warum eignet sich gerade Silicium für
mit Arsen oder Antimon gehärtet werden, hergestellt. Da durch die Herstellung von photovoltaischen Elementen? Führen
die Jagd allein in der BRD über 1000 t Bleischrot in die Umwelt und Sie hierzu eine Internetsuche durch.
13 in Spuren auch in das Wildbret gelangen, darf in manchen Bundes-
ländern nur noch mit bleifreier Munition gejagt werden. Weltweit Übung 9
werden ca. 4 Mio. Tonnen Blei jährlich verbraucht. Was ist Weißblech? Wie wird es hergestellt? Wofür wird
Weißblech verwendet?
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10Ne
3 11 Na 12 Mg 13Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18Ar
Periodenzahl
1
6 55 Cs 56Ba 57 La 72 Hf 73Ta 74W 75Re 76Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106Sg* 107Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110Ds* 111Rg* 112Cn* 113Nh* 114 Fl* 115Mc* 116Lv* 117Ts* 118Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59Pr 60 Nd 61Pm* 62Sm 63Eu 64 Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68Er 69Tm 70Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94Pu* 95Am* 96Cm* 97Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102No* 103Lr*
. Abb. 13.74 Arsen, Antimon und Bismut verfügen als Elemente der 5. Hauptgruppe über 5 Valenzelektronen
Nach IUPAC-Nummerierung wird die Gruppe als 15. Gruppe, Begleiter sulfidischer Minerale und fallen als Nebenprodukte bei
früher 5. Hauptgruppe, bezeichnet. der Aufbereitung von sulfidischen Blei-, Cobalt-, Silber- und Kup-
fererzen an.
Bedeutende Arsenerze sind Arsenopyrit (Arsenkies, FeAsS),
13.5.1 Vorkommen und Herstellung – Reduktion Arsenkupfer (Cu3As), Auripigment (As2S3) und Realgar (As4S4).
von Sulfid- bzw. Oxiderzen Wichtige Antimonmineralen sind Stibnit (Grauspießglanz,
Antimonit, Sb2S3) und Valentinit (Weißspießglanz, Antimon-
blüte, Sb2O3, 7 Exkurs 13.6). Bismuthinit (Wismutglanz, Bi2S3
13.5.1.1 Vorkommen . Abb. 13.75) und der daraus durch Verwitterung entstehende
Generell gehören Arsen, Antimon und Bismut mit einer Häu- Bismit (Wismutocker, Bi2O3) sind natürliche Verbindungen des
figkeit im ppm-Bereich zu den seltenen Elementen. Sie sind oft Bismuts.
Exkurs 13.6
13.5.1.2 Herstellung So kann beispielsweise aus Arsenik (As2O3), Valentinit (Sb2O3) und
Arsen-, antimon- und bismuthaltige Nebenprodukte fallen bei Bismit (Bi2O3) mit Koks bei 750 °C elementares Arsen, Antimon,
der Verhüttung von Kupfer-, Blei-, Kobalt- und Bleierzen an. Die resp. Bismut (. Abb. 13.76, Verfahren 1) erhalten werden. Bei
Metalle können daraus nach drei prinzipiellen Verfahren gewon- Sulfiden mit hohem Metallgehalt wird durch Verschmelzen mit
nen werden: Eisen unter Luftabschluss Schwefel als Eisensulfid niedergeschla-
44Oxiderze: Reduktion mit Koks, gen und dadurch werden die Metalle Antimon resp. Bismut frei-
44Sulfiderze mit hohem Metallgehalt: Niederschlagen des gesetzt. Arsenkies muss lediglich erhitzt werden, da das Mineral
Schwefels mit Eisen, bereits das für die Niederschlagarbeit erforderliche Eisen enthält.
44Sulfiderze mit geringem Metallgehalt: Rösten mit Sauerstoff Antimon- und Bismutsulfide mit niedrigem Metallgehalt
und Reduktion mit Koks. werden per Röstreduktionsverfahren (. Abb. 13.76, Verfahren 3)
292 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
a b
13
c
. Abb. 13.75 a Arsenopyrit (Arsenkies, FeAsS), b Stibnit (Grauspießglanz, Antimonit, Sb2S3), c Bismuthinit (Wismutglanz, Bi2S3) (© Rob Lavinsky –
Arsenopyrite, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Arsenopyrite-158855.jpg, Ra'ike – Stibnite Antimonite, https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Stibnite_Antimonite.jpg, Schorn/Osterhammer www.mineralienatlas.de)
1) M2O3 + 3 C
750 °C 13.5.2 Allgemeine und physikalische
2 M + 3 CO M = As, Sb, Bi
Eigenschaften
600 °C
2a) M2S3 + 3 Fe 2 M + 3 FeS M = Sb, Bi
700 °C Arsen, Antimon und Bismut bilden metallisch glänzende, spröde
2b) FeAsS As + FeS
Kristalle (Sprödmetalle), die mit Mühlen pulverisiert werden
600 °C können. Arsen und Antimon sind Halbmetalle, während Bismut
3a) Sb2S3 + 5 O2 Sb2O4 + 3 SO2
750 °C als klassisches Metall den elektrischen Strom bei Raumtempera-
3b) Sb2O4 + 4 C 2 Sb + 4 CO
tur gut leitet.
. Abb. 13.76 Herstellverfahren für Arsen, Antimon und Bismut Arsen weist mehrere allotrope Modifikationen auf. Das sta-
bilste Allotrop ist graues, metallisch glänzendes Arsen, das ein
elektrischer Halbleiter ist. Es kristallisiert in gewellten Schichten
zuerst mit Sauerstoff zu Oxiden geröstet und anschließend mit aus Sechsecken, d. h. jedes As-Atom ist über drei kovalente Bin-
Koks zu den Metallen reduziert. dungen mit drei anderen As-Atomen innerhalb einer Schicht ver-
Jährlich werden etwa 50.000 t Arsen, 160.000 t Antimon und knüpft (. Abb. 13.77). Die einzelnen Ebenen sind in der Folge ABC
10.000 t Bismut hergestellt. Der Marktanteil Chinas beträgt für geschichtet, sodass letztendlich jedes As-Atom von sechs As-Ato-
Arsen 50 %, für Antimon 75 % und Bismut 85 %. men umgeben ist. Der Abstand benachbarter As-Atome innerhalb
13.5 · Gruppe 15 – Arsen, Antimon, Bismut
293 13
Element As Sb Bi
Kernladungszahl 33 51 83
Relative Atommasse [g/mol] 74,92 121,76 208,98
Elektronegativität 2,18 2,05 2,02
Kovalenzradius [pm] 121 141 155
Ionenradius [pm] 60 (+V, 6), 72 (+III, 6) 74 (+V, 6), 90 (+III, 6) 90 (+V, 6), 117 (+III, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 947 834 703
Oxidationszahl −III, +III, +V −III, +III, +V −III, +III, +V
Siedepunkt [°C] 615, sublim. 1750 1560
Schmelzpunkt [°C] 615, sublim. 631 271
Dichte [g/cm3] 5,72 6,69 9,8
Entdecker Magnus, 1250 Valentin, 1492 Altertum
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 6 0,7 0,2
Oxide nimmt von Arsen zu Bismut hin zu. So ist Arsentrioxid ein
saures Oxid, das sich nur in Basen löst, Antimontrioxid ampho-
ter und Bismuttrioxid ein alkalisches Oxid, das nur mit Säuren
reagiert. Arsenik (As2O3) ist äußerst giftig, bereits 0,1 g können
tödlich sein. Mit Wasser reagiert Arsentrioxid zu arseniger Säure
(H3AsO3), die nur in Lösung stabil ist. Mit konzentrierter Salpe-
tersäure bildet es Arsensäure (H3AsO4), das durch Erhitzen zu
Arsenpentoxid (As2O5) entwässert werden kann.
13.5.3.2 Halogenide
Mit Halogenen reagieren die Metalle in stark exothermer Reak-
tion zu den Elementtrihalogeniden (EX3). Die Trifluoride werden
in der Praxis aus den Elementtrioxiden durch Neutralisation mit
Flusssäure (M 2O3 + 6 HF → 2 MF3 + 3 H 2O) hergestellt. Von
den instabilen Pentahalogeniden sind bis jetzt alle Elementpenta-
fluoride (EF5) sowie AsCl5 und SbCl5 charakterisiert.
E = As, Sb
2 ECl5 + 5 H2S E2S5 + 10 HCl
Exkurs 13.7
. Abb. 13.80 Paul Ehrlich, der Erfinder des Salvarsans, verewigt auf dem 200-Mark-Schein (© Deutsche Bundesbank – 200 DM, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:200_dm_1989_vs.jpg)
In vergangenen Jahrhunderten wurde Arsenik (As2O3) als zu verwischen. Seit 1836 sind jedoch selbst geringste Spuren von
„beliebtes Erbschaftspulver“ eingesetzt, da es zum einen nicht Arsen durch die Marshsche Probe (7 Exkurs 13.8) nachweisbar,
nachweisbar und zum anderen als Rattengift leicht erhältlich war. sodass die „Königin der Gifte“ an Bedeutung verloren hat. Soge-
Bereits eine Dosis von ca. 0,1 Gramm des geruch- und geschmack- nannte Arsenikesser immunisierten sich gegen Arsenvergif-
losen, gutlöslichen Giftes ist tödlich. Der Tod tritt jedoch erst nach tungen, indem sie regelmäßig kleinere Mengen Arsenik zu sich
Stunden oder Tagen ein, Zeit genug für den Täter, um Spuren nahmen.
Exkurs 13.8
Marshsche Probe
Die nach dem englischen Chemiker James Dazu wird der zu untersuchende Mageninhalt fahlblau. Durch die Temperatur der Flamme
Marsh 1836 benannte analytische Methode zusammen mit Zinkgranalien und verdünnter zerfällt das gebildete Arsan (AsH3) in Arsen,
erlaubt den Nachweis von Arsenik in geringsten Schwefelsäure in ein Reagenzglas gegeben. wodurch sich an kalten Porzellanflächen ein
Spuren. Sie beruht auf der Reaktion von Der entstehende (nascierende, lat. für schwarzer Niederschlag aus elementarem
nascierenden, d. h. atomaren Wasserstoff („H“) neugeborene) Wasserstoff wird über eine Arsen, ein sog. Arsenspiegel, bildet
mit Arsenik (As2O3) zu gasförmigen Arsan aufgesetzte Pipettenspitze entzündet. Bei (. Abb. 13.82).
(AsH3) nach Gleichungen . Abb. 13.81. Gegenwart von Arsen leuchtet die Flamme
. Abb. 13.82 Marshsche Probe – einfacher und schneller Nachweis für Arsen
13.5.3.5.2 Antimon
Hauptanwendung (50 %) des Antimons sind Antimonoxid und
Antimonchlorid (SbCl3) als Ausgangsstoffe für halogenierte
13 Flammschutzmittel für Kunststoffe und Textilfasern. Als Legie-
rungsbestandteil (25 %) härtet es Weichmetalle wie Blei und Zinn.
So enthalten Bleielektroden in Bleiakkumulatoren und Bleischrot
bis zu 2 % Antimon. Antimonoxid (Sb2O3, 12 %) katalysiert Poly-
kondensationsreaktionen wie die Herstellung des Massenkunst-
stoffs Polyethylenterephthalat (PET, 7 Abschn. 22.2.8.1). In der
Glasindustrie verwendet man Natriumantimonat (NaSbO2) zum
Entfärben optischer Gläser. Pigmente, Vulkanisiermittel, che-
motherapeutische Präparate sind weitere Anwendungen von
. Abb. 13.83 Wassersprenkler sind durch Schmelzsicherungen aus
Antimonverbindungen. Bismut gesichert (© studio306fotolia/Fotolia)
13.5.3.5.3 Bismut
Legierungen mit Bismut schmelzen bei niedrigen Temperatu-
ren, sodass diese z. B. für elektrische Sicherungen verwendet 13.5.4 Lernkontrolle
werden. Woodsches Metall (50 % Bi, 25 % Blei, 12,5 % Zinn, 12,5 %
Cadmium) schmilzt bei 62 °C und wird als Schmelzsicherung in
Feuermeldern und Sprinkleranlagen (. Abb. 13.83) sowie als Heiz- Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
badmedium im Labor verwendet. Kiese, Glanze, Blenden, Niederschlagsverfahren, Röstre-
Da Bismut das am wenigsten giftige Schwermetall ist, wird es duktionsverfahren, Arsenik, Marshsche Probe, Arsenspie-
in der Medizin als hochwirksames Präparat gegen das Bakterium gel, Woodsches Metall.
Helicobacter pylori eingesetzt, das Magengeschwüre bis hin zu
Magenkrebs verursachen kann. Bismutpräparate finden zudem
eine weite Anwendung als Pigment in kosmetischen Produkten ? Verständnisfragen
wie Lippenstift, Nagellack und Haarspray. Zum Teil wird Blei- Übung 1
schrot durch das weniger giftige Bismut ersetzt. Kiese, Glanze und Blenden sind sulfidische Erze. Wie
unterscheiden sie sich?
13.6 · Gruppe 16 – Selen, Tellur, Polonium
297 13
Übung 2 13.6 Gruppe 16 – Selen, Tellur, Polonium
Wie kann elementares Arsen hergestellt werden?
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
1
6 55 Cs 56Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107Bh* 108 Hs* 109Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59Pr 60 Nd 61Pm* 62Sm 63 Eu 64 Gd 65Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69Tm 70Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 13.84 Chalkogene verfügen über 6 Valenzelektronen (6. Hauptgruppe, 16. Gruppe)
298 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
500 °C
Cu2Se + Na2CO3 + O2 Na2SeO3 + 2 Cu + CO2
gewünschte Polonium (Sdp. 962 °C) kann von Bismut (Sdp. 1500
. Abb. 13.85 Elektrolytische Kupferraffination – unlöslicher °C) durch Destillation abgetrennt werden. Jährlich werden welt-
Anodenschlamm enthält Kupferselenid und -tellurid
weit ca. 2500 t Selen, 500 t Tellur und 100 g Polonium hergestellt.
Kupferselenide und -telluride (Cu2Se, Cu2Te) reichern sich dabei 13.6.2 Allgemeine und physikalische
unterhalb der Rohkupferanode an. Der Anodenschlamm, der bis Eigenschaften
zu 10 % Selen und Tellur enthält, wird anschließend bei 500 °C
mit Sauerstoff und Soda (Na2CO3) zu Selenit (Na2SeO3) und Tel- . Tabelle 13.12 fasst die physikalischen Eigenschaften von Selen,
lurit (Na2TeO3) oxidiert und mit Schwefelsäure zu seleniger Säure Tellur und Polonium zusammen. Ionisierungsenergie und Elekt-
(H2SeO3) resp. Tellurdioxid (TeO2) neutralisiert. Abschließend ronegativität nehmen vom Selen zum Polonium hin ab. Selen und
wird durch Reduktion mit Schwefeldioxid (SO2) elementares Selen Tellur haben in einigen Modifikationen Halbleitereigenschaften,
resp. Tellur gewonnen (. Abb. 13.86). verhalten sich aber in chemischen Reaktionen wie Nichtmetalle.
Polonium ist ein äußerst seltenes Element. Es entsteht durch Polonium verhält sich wie ein klassisches Metall. Sämtliche Isotope
13 radioaktiven Zerfall von Uran, sodass es im Uranerz Pechblende des Poloniums sind radioaktive α-Strahler.
in geringsten Mengen (70 mg pro 1000 t Pechblende) angetroffen Zum Erreichen der Edelgaskonfiguration bilden die Elemente
wird. Bequemer kann Polonium durch Bestrahlen von Bismut mit entweder zwei kovalente Bindungen aus oder nehmen per Ionen-
hoher Neutronenflussdichte im Kernreaktor hergestellt werden. bindung zwei Elektronen auf. Mit stark elektronegativen Elemen-
Das resultierende 210Bi-Nuklid zerfällt mit einer Halbwerts- ten wie Fluor geben sie auch bis zu sechs Elektronen ab, sodass sie
zeit von fünf Tagen in Elektronen und 210Po (. Abb. 13.87). Das die Oxidationsstufe +VI aufweisen.
Se* Te Po
Kernladungszahl 34 52 84
Relative Atommasse [g/mol] 78,96 127,60 209,98
Elektronegativität 2,4 2,1 2,0
Kovalenzradius [pm] 120 138 168
Ionenradius [pm] 64 (+IV, 6), 184 (-II, 6) 111 (+IV, 6), 207 (-II, 6) 108 (+IV, 6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 941 869 812
Oxidationszahl −II, +IV, +VI −II, +II, +IV, +VI +II, +IV, +VI
Siedepunkt [°C] 685 1390 962
Schmelzpunkt [°C] 221 450 254
Dichte [g/cm3] 4,82 6,25 9,20
Entdecker Berzelius, 1818 Von Reichenstein, 1782 Curie, 1898
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 0,05 0,01 Geringste Spuren
*graues Selen
13.6 · Gruppe 16 – Selen, Tellur, Polonium
299 13
13.6.2.1 Selen
O O O O
> 315 °C 2+
Se Se Se Se 4 Se
– O –
O O O O O
. Abb. 13.90 Die Struktur von festem (links) und gasförmigen Selendioxid
(rechts)
. Abb. 13.88 Helicale Struktur des grauen, metallischen Selen . Abb. 13.91 Herstellung von Selendioxid und seleniger Säure
300 Kapitel 13 · Hauptgruppenmetalle – Metalle mit stark variierenden Eigenschaften
Selendioxidhaltige Shampoos wirken gegen starken Schup- 13.6.4 Verwendung – Photozellen, Legierungen,
penbefall. Tellurdioxid wird wegen seiner hohen Lichtbrechung Pigmente, Antistatika
für Lichtwellenleiter (Glasfasern) genutzt.
Selentrioxid (SeO3) resp. Tellurtrioxid (TeO3) können durch Das Gros von Selen wird in der Glasindustrie für die Herstellung
Entwässern von Selen- resp. Tellursäure (H 2EO 4 → EO3 + H 2O , von rotem Selenrubinglas verwendet. Etwa ein Viertel findet Ver-
E = Se, Te) hergestellt werden. wendung als Legierungsbestandteil zur Verbesserung der Ver-
Selentrioxid ist ein farbloser, stark hygroskopischer Feststoff arbeitungseigenschaften (Maschinengängigkeit) von Stahl. Selen
(Smp. 118 °C). Als starkes Oxidationsmittel zerfällt es leicht zu ist ein photoelektrischer Halbleiter, d. h. die Stromleitung ist direkt
Selendioxid und Sauerstoff (2 SeO3 → 2 SeO 2 + O 2). Bei Raum- proportional zur Intensität des einfallenden Sonnenlichts, weshalb
temperatur bildet es Ringe aus vier SeO3-Molekülen (. Abb. 13.92). Selen in Photozellen, Belichtungsmessern, Bildtrommeln von
Mit Wasser bildet Selentrioxid Selensäure (H2SeO4), ein Feststoff Kopiergeräten und Laserdruckern und dünnschichtigen Solar-
mit Schmelzpunkt 60 °C. Selensäure ist eine stark oxidierende zellen zum Einsatz kommt (. Abb. 13.94). Hitzefeste rote Farbpig-
Säure. Eine Mischung aus konzentrierter Selensäure und konzen- mente für Kunststoffe, Tinten und Emaille sowie Vulkanisierungs-
trierter Salzsäure löst wie Königswasser Gold. mittel für die Gummiproduktion basieren ebenfalls auf Selen.
Tellurtrioxid (Smp. 395 °C) wird durch Entwässern von Tel- Selen ist ein essenzielles Spurenelement, das über die Nahrung
lursäure bei 300 °C (Te(OH)6 → TeO3 + 3 H 2O) erhalten. Ober- (Rotbarsch, Eigelb, Hühnerfleisch, Knoblauch, Paranüsse) auf-
halb 400 °C zerfällt Tellurtrioxid in Tellurdioxid und Sauerstoff. genommen werden muss. Als Antioxidans schützt es den Körper
Tellursäure selbst wird aus Tellur mit starken Oxidationsmitteln vor freien Radikalen und somit vor Krankheiten wie Arthritis und
wie Wasserstoffperoxid oder Chromtrioxid erhalten. Es ist eine Krebs. Allerdings konnte ein durchschlagender therapeutischer
13 sechswertige Säure mit einem zentralen Telluratom, das von sechs oder prophylaktischer Effekt von Selenpräparaten bisher nicht
OH-Funktionen oktaedrisch umgeben ist. nachgewiesen werden.
Die Anwendungen von Tellur sind nahezu analog zu Selen,
aufgrund der kostenintensiven Herstellung jedoch seltener. Als
13.6.3.2 Wasserstoffverbindungen Legierungsbestandteil unter 1 % erhöht Tellur die Korrosionsbe-
Selen- und Tellurwasserstoff können aus den Elementen bzw. ständigkeit von Stahl, Kupfer und Blei. Tellur wird in optischen
durch Ansäuern von Kupferselenid resp. -tellurid des Ano- Speicherplatten, Glasfaserkabeln, Wärmebildkameras, zum
denschlamms der Kupferraffination hergestellt werden. Beim Färben von Glas und Keramik sowie zur Vulkanisierung von Kau-
Erwärmen zerfallen sie in Wasserstoff und das jeweilige Element tschuk eingesetzt.
(. Abb. 13.93).
Selenwasserstoff (H2Se) und Tellurwasserstoff (H2Te) sind
farblose, unangenehm riechende und sehr giftige Gase. Poloni-
umwasserstoff (H2Po) ist dagegen eine Flüssigkeit mit Siedepunkt
36 °C. Die Verbindungen weisen einen H-E-H-Winkel (E = Se,
Te, Po) von 90° auf, woraus geschlossen werden kann, dass keine
Hybridisierung der p-Orbitale mit dem chemisch inerten 6s-Or-
bital erfolgt.
13.6.3.3 Halogenide
Selen reagiert mit Halogenen (X2, X = F, Cl, Br, I) zu diversen
Selenhalogeniden wie Se2X2, SeX2 und SeX4. Mit Fluor ist auch
+ 2 HCl
E + H2 EH2 Cu2E E = Se , Te
T – 2 CuCl
. Abb. 13.94 Ältere Handbelichtungsmesser arbeiten mit einer Selenzelle
. Abb. 13.93 Herstellung von H2Se und H2Te aus den Elementen und als Lichtsensor (© Helmut Schütz – Minolta View Meter, https://commons.
Kupferchalkogenid wikimedia.org/wiki/File:Minolta_View_Meter_9.jpg)
13.6 · Gruppe 16 – Selen, Tellur, Polonium
301 13
? Verständnisfragen
Übung 1
Was sind Chalkogene? Woher stammt die Bezeichnung?
Welche Elemente der Chalkogengruppe sind Metalle?
Übung 2
Was ist der Ausgangsstoff für die kommerzielle Herstellung
von Selen und Tellur?
Übung 3
Wie wird Polonium hergestellt? Setzen Sie sich mit der
Reaktionsgleichung auseinander. Handelt es sich hierbei um
eine chemische Reaktion?
Übung 8
Exkurs 13.9 Was versteht man unter Photovoltaik? Führen Sie hierzu eine
Polonium – das stärkste Gift überhaupt Internetrecherche durch.
Das Nuklid Polonium 210 zerfällt unter Freisetzung hochenergetischer
α-Teilchen (Heliumkerne) zum Bleinuklid 206 (210 206 4
84 Po → 82 Pb + 2He). Übung 9
Die damit verbundene Radioaktivität ist harmlos, da die Reichweite Was ist ein photoelektrischer Halbleiter? Wofür findet dieser
von α-Strahlen in Luft nur wenige Zentimeter beträgt und
Effekt Verwendung?
durch Papier oder Textilien bereits abgeschirmt werden kann
(7 Abschn. 2.9.6). Somit kann Polonium problemlos in Glasflaschen
oder Blechbehältern transportiert werden. Selbst in die Haut dringt Übung 10
die α-Strahlung nur wenige Mikrometer tief ein. Was ist Totalreflexion? Weshalb sind Glasfasern mit einer
Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn 210Po mit der Nahrung in totalreflektierenden Ummantelung beschichtet? Aus
den Körper oder in die Blutbahn gerät. Bereits 100 ng (0,1 µ g,
welchem Material besteht diese Ummantelung?
d.h. ein Zehnmillionstel Gramm) können tödlich sein. Im Körper
„bombardieren“ die energiereichen α-Teilchen umliegende Zellen,
zertrümmern Zellkerne und schädigen das Erbgut. Besonders anfällig
sind Organe mit sich schnell teilenden Zellen wie Knochenmark,
Nieren, Leber und Milz. So soll Polonium – 210 für den Tod von
Staatspräsidenten und übergelaufenen Spionen verantwortlich sein.
13.6.5 Lernkontrolle
Nebengruppenmetalle – Metalle
von hohem kommerziellen
Interesse
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103Lr*
. Abb. 14.1 Die Nebengruppen- oder Übergangsmetalle werden auch als d-Block-Elemente bezeichnet
306 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
. Abb. 14.3 Geometrische Struktur von oktaedrischen, tetraedrischen und quadratisch planaren Komplexen
14.1 · Elektronenstruktur und Eigenschaften
307 14
14.1.4.1 Prinzip
Das Prinzip der Ligandenfeldtheorie wird am Beispiel eines okta-
Nomenklatur von Komplexverbindungen edrischen Komplexes (ML6, . Abb. 14.5) erklärt. Ohne Liganden-
In der chemischen Formelschreibweise wird die feld weisen die fünf d-Orbitale des zentralen Übergangsmetall-
Komplexeinheit in eckigen Klammern zusammengefasst, atoms (rote Kugel) die gleiche Energie auf (gelbe Kasten). Man
wobei das Zentralatom vor den Liganden geschrieben wird. sagt, die d-Orbitale sind energetisch entartet. Werden die sechs
Liegen unterschiedliche Liganden vor, so werden diese in Liganden L mit ihren freien Elektronenpaaren (grüne Kugeln)
alphabetischer Reihenfolge angegeben. vom positiv geladenen Zentralatom M angezogen, dann erfolgt
Soll der Name einer Komplexverbindung ausgeschrieben eine unterschiedliche elektrostatische Wechselwirkung der Ligan-
werden, ist wie folgt zu verfahren: denelektronen mit den fünf d-Orbitalen des Zentralatoms auf-
55Kationische Komplexe, z. B. [Cu(NH3)4]2+ SO42−: grund der unterschiedlichen geometrischen Orientierung der
–– Anzahl der Liganden (Mono, Di, Tri, Tetra, Penta, Hexa), d-Orbitale.
im Beispiel: Tetra,
–– Name des Liganden, wenn anionisch wird ein o
angehängt, z. B. acqua (H2O), ammin (NH3), carbonyl 14.1.4.2 Ligandenfeldaufspaltung
(CO), chloro (Cl−), im Beispiel: ammin, Die elektrostatische Wechselwirkung der annähernden Liganden
mit dem dz²- und dx²−y²-Orbital auf den Koordinatenachsen ist
308 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
. Abb. 14.5 Aufspaltung der fünf d-Valenzorbitale eines oktaedrischen Übergangsmetallkomplexes (ML6)
14.1.4.4 Magnetismus
14.1.4.3 Farbe Magnetismus und dessen Kräfte sind uns aus dem Alltag vertraut.
Über die Ligandenfeldaufspaltung, d. h. den Energieunterschied Polarlichter, Navigation, Elektromotoren, Supraleiter wären ohne
(ΔE) zwischen den d-Orbitalen, lässt sich die Farbe von Über- Magnetismus nicht denkbar. Generell wird zwischen Dia-, Para-
gangsmetallsalzen erklären, da der Energieunterschied ΔE zwi- und Ferromagnetismus unterschieden (7 Exkurs 14.1). Prinzipiell
schen den d-Orbitalen (d-d-Übergang) bereits durch optisches zeigt jede Materie diamagnetische Eigenschaften, die jedoch vom
Licht überbrückt werden kann. Para- oder Ferromagnetismus überlagert werden kann.
14.1 · Elektronenstruktur und Eigenschaften
309 14
a b
Exkurs 14.1
Um das magnetische Verhalten von oktaedrischen Über- ungepaarte Elektronen sich in den d-Orbitalen des Metallkations
gangsmetallkomplexen verstehen zu können, wird das Schema befinden.
der Ligandenfeldaufspaltung (. Abb. 14.8) benötigt, nach dem Am Beispiel der beiden Eisen(II)-Komplexe [Fe(H2O)6]Cl2
die Anzahl der Elektronen in den d-Orbitalen des Zentralmetall- und K4[Fe(CN)6] kann deren unterschiedliches magnetisches
kations auf die aufgespaltenen d-Orbitale verteilt wird (s. u.). All- Verhalten mithilfe der unterschiedlich starken Ligandenfeldauf-
gemein gilt, dass der Paramagnetismus umso stärker ist, je mehr spaltung erklärt werden. Eisen ist ein Element der achten Gruppe
310 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59Pr 60 Nd 61Pm* 62Sm 63Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97Bk* 98 Cf* 99Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103Lr*
. Abb. 14.9 Die Elemente der 3. Gruppe (Scandiumgruppe) weisen die Valenzelektronenkonfiguration s2d1 auf
312 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Alle Elemente der Scandiumgruppe sind weiche silbrigweiß glän- 14.2.3 Anwendungen – Leichtlegierungen,
zende Metalle und weisen in chemischen Verbindungen die Oxi- Farbstofflaser, Zündsteine
dationsstufe +III auf (. Tab. 14.1). Der elektropositive, metallische
Charakter nimmt von Scandium zu Lanthan zu. Die Metalle sind Aluminium-Scandium-Leichtmetalllegierungen sind leicht
reaktionsfreudig und in fein verteilter Form pyrophor. Zusammen (2,8 g/cm3), hart und formbar. Mit einem Scandiumgehalt von
mit den Lanthanoiden (7 Kap. 15) werden Scandium, Yttrium und maximal 2 % werden solche Legierungen in der Luft- und Raum-
Lanthan als Seltenerdmetalle bezeichnet. fahrtindustrie und für Fahrradrahmen (. Abb. 14.12) verwendet.
An Luft passivieren sich die Metalle. Erst bei höherer Tem- Yttrium erhöht die Standdauer von Elektroden von Zündker-
peratur oxidieren sie zu den dreiwertigen Oxiden (M2O3), wobei zen (. Abb. 14.13). Yttriumvanadat (YVO4) bildet den roten flu-
große Mengen Energie freigesetzt werden (exotherme Reaktion). oreszierenden Leuchtstoff für Monitore. Yttrium-Aluminium-
. Abbildung 14.11 zeigt typische Reaktionen der Elemente der Granat (YAG) ist die Matrix des aktiven Mediums von Feststoffla-
Scandiumgruppe. sern und findet Verwendung in weißen LED-Lichtern. Da Yttrium
Die Metalle sind gut löslich in nichtoxidierenden Säuren wie kaum mit Neutronen wechselwirkt, wird es als Mantelmaterial für
Salzsäure, aber unlöslich in oxidierenden Säuren wie Salpeter- Kernbrennstäbe verwendet. Yttrium ergibt mit Kupfer und Barium
säure, da Passivierung eintritt. Mit heißem Wasser reagieren die Phasen, die bis −180 °C supraleitfähig sind, also den elektrischen
Metalle zu den dreiwertigen Hydroxiden (M(OH)3) und Wasser- Strom ohne Widerstand leiten.
stoff. Der alkalische Charakter nimmt in der Reihenfolge Sc(OH)3 Lanthan wird zusammen mit Cobalt (LaCo5) zur Herstel-
< Y(OH)3 < La(OH)3 zu. Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom lung starker Permanentmagneten benötigt. Lanthan-Nickel-
und Iod bilden sich die dreiwertigen Halogenide (MX3). Die Chlo- Legierung (LaNi5) ist ein hervorragender Wasserstoffspeicher.
14 ride (MCl3) ergeben in Natriumchloridlösung die oktaedrischen Aus Titan-Lanthan-Legierungen werden gut sterilisierbare chi-
Komplexverbindungen Na3[MCl6] mit M = Sc, Y, La. rurgische Geräte mit geringer allergener Wirkung gefertigt.
. Tab. 14.1 Physikalische Eigenschaften von Scandium, Yttrium, Lanthan und Actinium
Element Sc Y La Ac
Kernladungszahl 21 39 57 89
Relative Atommasse [g/mol] 44,96 88,91 138,91 227,03
Elektronegativität 1,4 1,2 1,1 1,1
Metallradius [pm] 161 178 187 188
Ionenradius [pm] 89 (III,6) 104 (III,6) 117 (III,6) 81 (III,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 631 616 538 499
Oxidationszahl +III +III +III +III
Siedepunkt [°C] 2832 3337 3457 3200
Schmelzpunkt [°C] 1539 1523 921 1050
Dichte [g/cm3] 2,99 4,47 6,16 10,07
Entdecker Nilson, 1879 Gadolin, 1794 Mosander, 1839 Debieme, 1899
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 22 33 30 10−9
14.3 · Gruppe 14 – Titangruppe (Ti, Zr, Hf, Rf )
313 14
Sind diese wirklich so selten? Wenn nein, warum werden sie
als solche bezeichnet?
Übung 3
Bestimmen Sie die Elektronenkonfiguration von Scandium
nach dem Madelungschema.
Übung 4
Wie verhält sich der alkalische Charakter der Hydroxide
innerhalb der Scandiumgruppe?
Übung 5
Was sind die Hauptanwendungen des Metalls Yttrium?
. Abb. 14.12 Scandiumverstärkte Fahrradrahmen sind bei gleicher
Festigkeit 15 % leichter als reine Aluminiumrahmen (© Orchinnkov Vladimir/
Shutterstock)
14.3 Gruppe 14 – Titangruppe (Ti, Zr, Hf, Rf)
Titan ist ein häufig vorkommendes Element und hat einen Anteil
von 5,7 g/t an der Erdkruste. Zirconium (0,2 g/t) und Hafnium
. Abb. 14.13 Die Mittelelektroden von Zündkerzen haben dank Yttrium (0,004 g/t) sind weitaus seltener. Titandioxid (TiO2) ist in der
eine hohe Standfestigkeit (© pioneer111/Fotolia) Natur in Form von drei Mineralen, Anatas, Brookit und Rutil,
anzutreffen. Weitere Titanminerale von kommerzieller Bedeutung
sind Ilmenit (FeO · TiO2) und Perowskit (CaO · TiO2).
Lanthanoxidgläser weisen hohe Lichtbrechung auf und werden Zirkon (ZrSiO4) ist mit 4,4 Mrd. Jahren das älteste Mineral der
für hochwertige Kameralinsen und Brillengläser eingesetzt. Kom- Erde. Es ist das einzige Mineral, aus dem Zirconium kommerziell
merzielle Bedeutung hat Lanthan als Katalysatorzusatz für das hergestellt wird.
katalytische Cracken von Erdöl. Reine Hafniumminerale sind nicht bekannt. Hafnium
Actinium hat aufgrund seiner Radioaktivität und geringen kommt stets vergesellschaftet mit Zirconium vor. Der Hafnium-
Halbwertszeit kaum kommerzielle Anwendungen gefunden. anteil in Zirconiummineralen beträgt bis zu 5 % relativ zum
Zirconiumgehalt.
Die Elemente können nicht durch Reduktion der Metalloxide
14.2.4 Lernkontrolle mit Kohlenstoff hergestellt werden, da dabei die Metallcarbide (MC,
M = Ti, Zr, Hf) anfallen würden. Deshalb werden alle drei Elemente
durch Reduktion der Metallchloride mit Magnesium (Kroll-Prozess)
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: erzeugt und bei Bedarf nach dem Arkel-de-Boer-Verfahren gereinigt.
Vergesellschaftete Metalle, Seltenerdmetalle, Lanthanoide.
14.3.1.1 Kroll-Prozess
? Verständnisfragen Zur Herstellung von Titan gelangt insbesondere das Mineral
Übung 1 Ilmenit (FeTiO3) zum Einsatz. Im ersten Reaktionsschritt wird
Welche Elemente bilden die Scandiumgruppe? durch Schwefelsäureausschluss lösliches Ti2(SO4)3 und Eisensulfat
(FeSO4) erhalten. Beim Abkühlen kristallisiert das schwerer lösli-
Übung 2 che Eisensulfat aus. Aus der resultierenden Titansulfatlösung fällt
Welche Metalle zählen zu den Seltenerdmetallen? nach Hydrolyse (Wasserzugabe) weißes Titandioxid (TiO2) aus.
314 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59 Pr 60 Nd 61Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65Tb 66 Dy 67Ho 68 Er 69Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92 U* 93 Np* 94Pu* 95 Am* 96 Cm* 97Bk* 98 Cf* 99Es* 100 Fm* 101Md* 102No* 103 Lr*
. Abb. 14.14 Die Elemente der 4. Gruppe (Titangruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d2 auf
1000 °C 800 °C
TiO2 + 2 C + 2 Cl2 TiCl4 + 2 CO Ti + 2 I2 TiI4 ; ' HR = –376 kJ/mol TiI4
1200 °C
700 °C/Ar
TiCl4 + 2 Mg Ti + 2 MgCl2 . Abb. 14.16 Hochreines Titan hergestellt nach dem Van-Arkel-de-Boer-
Verfahren
. Abb. 14.15 Gewinnung von Titan durch Reduktion von Titantetrachlorid
mit Magnesium (Kroll-Prozess)
Element Ti Zr Hf
Kernladungszahl 22 40 72
Relative Atommasse [g/mol] 47,88 91,22 178,49
Elektronegativität 1,5 1,4 1,3
Metallradius [pm] 145 159 156
Ionenradius [pm] 75 (IV,6) 86 (IV,6) 85 (IV,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 659 640 659
Oxidationszahl +II, +III, +IV +I, +II, +III, +IV +I, +III, +IV
Siedepunkt [°C] 3285 4200 4450
Schmelzpunkt [°C] 1667 1857 2227
Dichte [g/cm3] 4,51 6,51 13,31
Entdecker Gregor, 1791 Klaproth, 1789 Coster, 1923
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 4400 165 3
nahezu identische Ionisierungsenergien und Ionenradien zurück- 14.3.2.1 Oxide – Titandioxid und Zircondioxid
zuführen ist. Insbesondere die Elemente Zirconium und Hafnium Titandioxid kommt in der Natur in den Kristallmodifikationen
haben aufgrund der Lanthanoidenkontraktion (. Abschn. 15.3.1.1) Rutil, Anatas und Brookit vor. Die Kristallstruktur von Rutil ist
nahezu identische Metall- und Ionenradien, sodass die beiden Ele- typisch für viele AB2-Verbindungen. Die Titanatome sind okta-
mente erst 1924 voneinander getrennt und als unterschiedliche edrisch von sechs Sauerstoffatomen umgeben, jedes Sauerstoff-
Elemente wahrgenommen werden konnten. atom von drei Titanatomen, die ein gleichseitiges Dreieck bilden
Alle drei Elemente sind hochschmelzende, harte, duktile, (. Abb. 14.18, Ti-grau, O-rot).
silbrig glänzende Metalle, die sich an Luft passivieren. Sie sind Titandioxid ist aufgrund seiner hohen Deckkraft und chemi-
unedel, aber trotzdem korrosionsbeständig, da sie sich an der schen Beständigkeit das kommerziell wichtigste Weißpigment und
Luft mit einer dünnen Passivschicht überziehen. Die Elemente wird z. B. in Farben, Kunststoffen, Papieren und bauchemischen
sind beständig gegen Wasser, Wasserdampf, Laugen und fast Produkten eingesetzt. Die jährliche Produktion von TiO2-Weiß-
alle Säuren. So wird Hafnium bei Raumtemperatur lediglich pigmenten beträgt ca. 5 Mio. Tonnen.
von Königswasser, Flusssäure und konzentrierter Schwefelsäure Da natürliche TiO2-Vorkommen Chrom und Eisen enthalten,
angegriffen. müssen diese farblich störenden Ionen für die Weißpigmenther-
Alle drei Elemente liegen in chemischen Verbindungen fast stellung über den TICl4-Umweg (TiCl4 + 2H 2O → TiO 2 + 4 HCl )
ausschließlich in der Oxidationsstufe +IV vor. Es gibt zwar auch entfernt werden.
Verbindungen mit der Oxidationsstufe +III, allerdings sind dies
starke Reduktionsmittel, sodass diese in Wasser unbeständig sind
und sich unter Wasserstoffentwicklung zersetzen (Ausnahme
Ti3+-Verbindungen).
Die Elemente sind bei Raumtemperatur gegen Sauerstoff und
Stickstoff beständig. Beim Erhitzen an Luft ergeben sie mit Sauer-
stoff das jeweilige Dioxid (MO2, M = Ti, Zr, Hf) und Nitrid (MN,
M = Ti, Zr, Hf).
Wie bereits erwähnt, sind die chemischen Eigenschaften von
Hafnium und Zirconium sehr ähnlich, weshalb sie erst 1924 von-
einander separiert werden konnten. Die Trennung erfolgte über
die unterschiedliche Löslichkeit von Hexafluorokomplexen. So
beträgt die Löslichkeit von Ammoniumhexafluridohafnat(IV),
(NH4)2[HfF6], etwa 460 g/l, während Ammoniumhexaflurido-
zirconat(IV), (NH4)2[ZrF6], lediglich zu 240 g/l Wasser löslich
ist. Durch wiederholte Kristallisation konnten schließlich die . Abb. 14.18 Rutilstruktur – typische Kristallstruktur vieler anorganischer
beiden Elemente mit großem Aufwand voneinander getrennt AB2-Verbindungen (© Ben Mills – Rutile-unit-cell-3D-balls, https://commons.
werden. wikimedia.org/wiki/File:Rutile-unit-cell-3D-balls.png)
316 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
14.3.2.3 Carbide
Titancarbid (TiC) und Zirconiumcarbid (ZrC) können durch
Reduktion der Metalldioxide mit Kohlenstoff bei 1000 °C gewon-
nen werden (MO 2 + 3 C → MC + 2 CO M = Ti, Zr, Hf ). Die
Carbide sind graue Pulver, die an Luft bis 800 °C stabil und in
Wasser unlöslich sind. Wegen ihrer hohen Härte und Temperatur-
beständigkeit werden die Werkstoffe in Fräs- und Schneidwerk-
zeugen und als hochfeuerfeste Materialien verwendet. So schmilzt
beispielsweise Hafniumcarbid (HfC) erst bei 3890 °C und ist somit
. Abb. 14.19 Lambdasonden regeln das Verhältnis von Verbrennungsluft einer der temperaturbeständigsten Werkstoffe überhaupt.
und Kraftstoffmenge im Benzinmotor (© stason4ik/Fotolia)
Übung 10
14.3.4 Lernkontrolle Warum bestehen die Hüllrohre von Kernbrennstäben aus
Zirconium?
Übung 3
Beschreiben Sie den Kroll-Prozess und das 14.4.1 Vorkommen und Herstellung – Reduktion
Van-Arkel-de-Boer-Verfahren. von Fluoriden
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.21 Die Elemente der 5. Gruppe (Vanadiumgruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d3 auf
Element V Nb Ta
Kernladungszahl 23 41 73
Relative Atommasse [g/mol] 50,94 92,91 180,95
Elektronegativität 1,6 1,6 1,5
Metallradius [pm] 131 143 143
Ionenradius [pm] 68 (V,6) 78 (V,6) 78 (V,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 651 652 761
Oxidationszahl +II, +III, +IV, +V +II, +IV, +V +IV, +V
Siedepunkt [°C] 3350 4758 5534
Schmelzpunkt [°C] 1915 2468 3000
Dichte [g/cm3] 6,09 8,58 16,68
Entdecker Del Rio, 1801 Hatchet, 1801 Ekeberg, 1802
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 135 20 2
14.4.2.1 Oxide
Vanadium bildet die stabilen Oxide Vanadiumpentaoxid (V2O5,
orangerot), Vanadiumdioxid (V2O4 = VO2, blauschwarz), Vana-
diumtrioxid (V2O3, schwarz) und Vanadiumoxid (VO, schwarz).
Niob und Tantal bilden bevorzugt weiße Pentoxide (M2O5) und
blauschwarze Dioxide (MO2).
Alle Pentoxide weisen sauren Charakter auf, wobei dieser
zum Tantal hin zunimmt. So reagiert Vanadiumpentoxid mit
starken Säuren noch zu Vanadylsalzen (VO2+), während Tantal
nur noch mit Alkalilaugen Vanadatsalze wie z. B. Na3VO4 ergibt.
Abbildung 14.24 zeigt typische Reaktionen der Vanadiummetalle.
.
2 M + 5 O2 M2O5 M = V, Nb, Ta Ferrovanadium verdoppeln bereits die Härte und Zähigkeit von
2 M + n X2 2 MXn n = 5, 4, 3, 2 Stahl (. Abb. 14.25a). Vanadiumpentaoxid wird als Heterogen-
katalysator für die Oxidation von Schwefeldioxid zu Schwefeltri-
M + C MC oxid bei der Schwefelsäureherstellung nach dem Kontaktverfahren
(7 Abschn. 12.6.2.4) verwendet.
. Abb. 14.24 Typisches Reaktionsverhalten der Vanadiummetalle
Temperaturstabile und chemisch widerstandsfähige Rohrlei-
tungen aus Niob sind zum Fördern flüssigen Natriums in Schnel-
len Brütern geeignet. Weiter Anwendungen von Niob sind als
– NbCl5 (gelb) – NbBr5 (orange) – NbI5 (braun) ist oft eine Farb- Legierungsbestandteil in elektrischen Supraleitern (Nb3Ge) zur
vertiefung feststellbar, was durch Lichtanregung eines Elektrons Erzeugung starker Magnetfelder. Außerdem enthalten 25-Euro-
aus einem besetzten Halogen- in ein unbesetztes d-Metallorbi- Münzen durch anodische Oxidation eingefärbte Kerne aus Niob
tal zustande kommt. Dieses Phänomen wird als Ligand-Metall- (. Abb. 14.25b).
Charge-Transfer-Übergang, also vollständige Ladungsübertra- Niob und Tantal ermöglichen auch das Design kleiner aber
gung vom Liganden auf das Metallatom, bezeichnet. leistungsfähiger Kondensatoren wie sie für Smartphones, Tablets
etc. benötigt werden (. Abb. 14.25c). Als Folge dessen stieg seit den
1990er Jahren die Nachfrage nach den beiden Übergangsmetallen
14.4.3 Anwendungen – Stahl, Supraleiter, auf über 100.000 Tonnen an.
Kondensatoren Tantal ist wie Titan mit Knochen gut verträglich, sodass daraus
Prothesen, Implantate und chirurgische Instrumente gefertigt
Vanadium wird in großen Mengen (80.000 t pro Jahr) zur werden.
Herstellung von Ferrovanadium, einer Legierung des Eisens Einige Legierungen aus Eisen, Cobalt, Nickel und Tantal
mit bis zu 80 % Vanadiumanteil, eingesetzt. Lediglich 0,2 % sind äußerst hart und korrosionsbeständig, so dass daraus
14
a b
. Abb. 14.25 a Werkzeug aus Vanadium-Stahl, b 25-Euro-Münze mit Niobkern, c Tantalkondensator für die Mikroelektronik (© Silvano Rebai/Fotolia,
© NobbiP – File:25 Euro Österreich 2012, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:25_Euro_%C3%96sterreich_2012_Bionik_a.jpg, ludodesign/Fotolia)
14.5 · Gruppe 6 – Chromgruppe (Cr, Mo, W, Sg)
321 14
beispielsweise Turbinenschaufeln für die Luftfahrt gefertigt 14.5 Gruppe 6 – Chromgruppe (Cr, Mo, W, Sg)
werden. Die hohe chemische Widerstandsfähigkeit selbst gegen
Chlor erlaubt außerdem den Einsatz von Tantal in der chemi-
schen Verfahrenstechnik selbst für die Verarbeitung aggressiver Die 6. Gruppe (4. Nebengruppe) des PSE (. Abb. 14.26), die nach
Chemikalien. dem Kopfelement auch als Chromgruppe bezeichnet wird, besteht
aus den natürlichen Elementen Chrom (Cr), Molybdän (Mo) und
Wolfram (W). Sie weisen die Valenzelektronenkonfiguration s²d4
14.4.4 Lernkontrolle auf. Das mit hohem Aufwand erstmals 1974 durch Kollision zweier
mittelschwerer Kerne hergestellte Seaborgium (Sg) hat aufgrund
seiner kurzen Halbwertszeit von wenigen Sekunden keine kom-
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein: merzielle Bedeutung.
Kroll-Prozess, Van-Arkel-de-Boer-Verfahren, Lanthanoi-
denkontraktion, Ferrovanadium, Superlegierung.
14.5.1 Vorkommen und Herstellung – Reduktion
von Oxiden mit Aluminium oder
? Verständnisfragen Wasserstoff
Übung 1
Welche Elemente gehören zur Vanadiumgruppe? Die Metalle kommen ausschließlich in gebundener Form vor.
Abbauwürdige Chromverbindungen sind insbesondere Chromit-
Übung 2 erze (Chromit, FeCr2O 4 ≡ FeO ⋅ Cr2O3 ) mit Chrom in der Oxida-
Geben Sie die Elektronenkonfiguration von Vanadium an. tionsstufe +III. Sechswertige Chromminerale wie das feuerrote
Rotbleierz (Krokoit, Bleichromat, PbCrO4, . Abb. 14.27) sind
Übung3 selten. In einer Tonne Gestein der Erdkruste sind durchschnitt-
Wie viele Valenzelektronen weisen die Vanadiummetalle lich 100 g Chrom enthalten. Jährlich werden etwa 30.000 t Chro-
auf? Was ist deren maximale Oxidationszahl? miterze abgebaut.
Da Molybdän und Wolfram aufgrund der Lanthanoidenkon-
Übung 4 traktion sich sehr ähnlich verhalten, kommen sie des Öfteren ver-
Stellen Sie die Reaktionsgleichung für die Reaktion von gesellschaftet vor. Allerdings gibt es auch Lagerstätten mit metall-
Vanadiumpentoxid mit Natronlauge zu Natriumvanadat auf. reinen Mineralen. Das kommerziell bedeutendste Molybdänerz ist
Molybdänit (Molybdänglanz, MoS2). Die wichtigsten Wolfram-
Übung 5 minerale sind Wolframit ((Fe,Mn)WO4) und Scheelit (CaWO4).
Was ist die Hauptanwendung von Vanadium? Welche Die wichtigste Rohstoffquelle für die Chromherstellung
Vorteile bringt es in dieser Anwendung? (. Abb. 14.28) ist Chromit. Im ersten Schritt wird das Erz mit
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102No* 103Lr*
. Abb. 14.26 Die Elemente der 6. Gruppe (Chromgruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d4 auf
322 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Element Cr Mo W
Kernladungszahl 24 42 74
Relative Atommasse [g/mol] 52,00 95,94 183,84
Elektronegativität 1,6 1,8 1,7
Metallradius [pm] 129 140 141
Ionenradius [pm] 58 (VI,6) 73 (VI,6) 74 (VI,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 653 684 770
Oxidationszahlen +II, +III, +IV, +VI +II, +III, +IV, +V, +VI +II, +III, +IV, +V, +VI
Siedepunkt [°C] 2640 4825 5700
Schmelzpunkt [°C] 1903 2620 3410
Dichte [g/cm3] 7,14 10,28 19,26
Entdecker Vauquelin, 1791 Scheele, 1778 Scheele, 1771
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 100 1,5 1,5
T pH = 2–6
4 M + 3 O2 2 M2O3 M = Cr, Mo, W 2 K2CrO4 + H2SO4 K2Cr2O7 + K2SO4 + H2O
T
2 M + N2 2 MN K2CrO4 + H2SO4 CrO3 + K2SO4 + H2O
20 °C
Cr + 6 HCl 2 CrCl3 + 3 H2 CrO3 + H2O H2CrO4
14.5.2.2.4 Carbide
Chromcarbid (Cr3C2), Molybdäncarbid (Mo2C) und Wolframcar-
bid (WC) sind generell harte und korrosionsbeständige sog. Car-
bidhartmetalle, die für Hartmetalllanwendungen benötigt werden.
Hartmetalle sind Verbundwerkstoffe, die hauptsächlich aus Car- . Abb. 14.35 Rückbindungsmodell von Metallcarbonylen
bidhartmetallen und Cobalt als Bindemittel (10 %) bestehen. So
wird bei Zusatz von 6 % Cobalt zu Wolframcarbid Widia® erhal-
ten, das nahezu so hart wie Diamant ist und deshalb für die Her- Die 18 Valenzelektronen der M(CO)6-Komplexe ergeben sich
stellung von hochverschleißfesten Werkzeugen für Bohr- und aus den sechs Valenzelektronen (s2d4) des Übergangsmetalls und
Schneidearbeiten Verwendung findet (. Abb. 14.33). Aufgrund den 12 Elektronen der freien Elektronenpaare der Kohlenstoff-
seiner Kratzbeständigkeit werden aus Wolframcarbid auch Arm- atome der sechs Kohlenstoffmonoxid-Liganden.
banduhren und Schmuck gefertigt. Die Bindung zwischen den CO-Liganden und dem Über-
gangsmetall wird über das sogenannte Rückbindungsmodell
14.5.2.2.5 Metallcarbonyle beschrieben (. Abb. 14.35). Kohlenstoffmonoxid dient dabei
Klassische Metallcarbonyle bestehen ausschließlich aus Metallato- sowohl als Elektronenpaardonator (σ-Hinbindung) als auch als
men und Kohlenstoffmonoxid als Liganden (. Abb. 14.34). Je nach Elektronenpaarakzeptor (π-Rückbindung).
Anzahl der Metallatome wird zwischen einkernigen und mehr- Die dative, rotationssymmetrische σ-Bindung vom Koh-
kernigen Metallcarbonylen unterschieden. lenstoffmoxid zum Metall (M ←| C ≡ O |) erfolgt durch das freie
Chrom, Molybdän und Wolfram bilden einkernige, oktaedri- Elektronenpaar des C-Atoms der CO-Liganden in ein leeres d-Or-
sche Carbonylverbindungen der allgemeinen Formel M(CO)6 mit bital des Metallatoms. Die nicht rotationssymmetrische π-Rück-
14 M = Cr, Mo, W. Die drei Hexacarbonyle sind weiße Feststoffe, die bindung vom Metall zum Kohlenstoffmonoxid (M →| C ≡ O |)
bei 150 °C schmelzen. Chromhexacarbonyl kann beispielsweise resultiert durch Elektronen in besetzten d-Orbitalen des Metalls
durch Reduktion von Chromtrichlorid mit Aluminium in Koh- in die leeren antibindenden π*-Orbitale der Kohlenstoffmonoxid-
lenstoffmonoxidatmosphäre hergestellt werden. Liganden. Durch die Besetzung des antibindenden π*-Orbitals
reduziert sich die Bindungsordnung zwischen Kohlenstoff und
Sauerstoff formal von 3 auf 2. Die Bindungsstärke zwischen Koh-
lenstoff- und Sauerstoffatom der CO-Liganden nimmt ab, sodass
sich die Resonanzbande der CO-Streckschwingung im IR–Spek-
trum von 2143 Wellenzahlen für freies Kohlenstoffmonoxid zu
2000 Wellenzahlen für komplexiertes Kohlenstoffmonoxid ver-
schiebt. Wellenzahl ist eine in der IR-Spektroskopie übliche Ener-
gieeinheit und entspricht der Anzahl an Wellenlängen der ver-
wendeten IR-Strahlung, die aneinandergereiht einen Zentimeter
ergeben. Je größer die Wellenzahl desto kurzwelliger resp. hoch-
frequenter und somit energiereicher ist die IR-Strahlung.
a b
. Abb. 14.36 (a) Glanzverchromte Sanitärarmatur, (b) Bleichromat war bis in die 80-er Jahre das Pigment für Postgelb (© Marina Lohrbach/Fotolia, Jürgen
Fälchle/Fotolia)
sodass sie als rostfrei bezeichnet werden. Der bekannte rostfreie temperaturbeständig und beispielsweise für die Verarbeitung von
V2A-Stahl besteht aus 71 % Eisen, 18 % Chrom und 10 % Nickel. flüssigem Zink geeignet.
Im Unterschied zu V2A-Stahl enthält V4A-Stahl noch 2 % Molyb- Aus 15 % des Molybdäns werden Pigmente und Katalysato-
dän. V4A-Stahl ist dauerhaft beständig gegen Salzsäure, Meer- ren zur Entschwefelung von schwefelhaltigen Erdölfraktionen
wasser und Chloridsalze und wird deshalb in Swimmingpools, eingesetzt. Eine weitere Anwendung ist der Einsatz von Molyb-
Meerwasseranlagen, in der Seefahrt, Medizin- und chemischen dändisulfid (MoS2) als Schmiermittel. Es kann in fester Form als
Verfahrenstechnik verwendet. Graphitersatz und in Suspension als Schmieröl insbesondere für
Unter Verchromung wird die galvanotechnische Oberflächen- Hochleistungsmotoren bis Temperaturen von 400 °C verwendet
beschichtung von Werkstücken verstanden (7 Abschn. 11.7.2.1). werden.
Beim dekorativen Hochglanzverchromen von Auspuffen, Felgen, Nitrogenasen sind Enzyme mit Molybdän im aktiven Zentrum
Radkappen, Stoßstangen etc. wird lediglich eine Schicht von 0,5 (7 Abschn. 20.6.2), die es z. B. Knöllchenbakterien ermöglichen, die
µm Chrom auf einer Unterschicht von Nickel elektrochemisch Dreifachbindung des atmosphärischen Stickstoffs (N º N ) auf-
abgeschieden (. Abb. 14.36a). Beim Hartverchromen werden zuknacken und diesen letztendlich in für Pflanzen verwertbares
Chromschichten bis zu mehreren Millimetern Dicke aufge- Ammoniak (NH3) überzuführen.
bracht, sodass korrosionsbeständige und verschleißfeste Werk-
stücke wie Wellen und Kolben erhalten werden, die lange Maschi-
nenlaufzeiten gewährleisten. Bei beiden Verfahren taucht das zu 14.5.3.3 Wolfram
beschichtende Werkstück als Kathode in ein schwefelsaures Bad Der Großteil des Wolframs wird zur Herstellung von Wolfram-
von Chromtrioxid (CrO3) resp. Chromsäure (H2CrO4) ein. carbid (WC) verwendet. So besteht Widia®, abgeleitet von „wie
Bleichromat (PbCrO4) wurde bis in die 1980er Jahre als inten- Diamant“, aus dem Hartmetall Wolframcarbid und 6 % Cobalt
sives Gelbpigment für Postgelb (RAL 1005 „honiggelb“) von der als Bindemittel. Widia® ist extrem hart und temperaturbestän-
Deutschen Bundespost verwendet (. Abb. 14.36b). Mit der Zeit dig, sodass es für mechanisch besonders beanspruchte Werkzeuge
wurde es aus ökologischen Gründen gegen toxikologisch unbe- wie schnelldrehende Schneidewerkzeuge, Bohrer, Sägeblätter etc.
denklichere Pigmente substituiert. verwendet wird.
Des Weiteren werden Chromsalze zum Gerben von Leder Glühfäden (. Abb. 14.37) in Glühlampen bestehen aus doppelt
(Chrom(III)-sulfat, Chrom(III)-oxid), zur Herstellung von Grün- gewendelten Wolframfäden oder einer Legierung von Osmium
gläsern (CrO3), und zur katalytischen Polymerisation von Ethylen und Wolfram. Übrigens, die Firmenbezeichnung der Fa. Osram
zu Polyethylen (Chrom(VI)-oxid auf Silicat) verwendet. leitet sich von den beiden Elementen ab. Durch elektrischen
Stromfluss heizt sich der Faden bis zur Glühtemperatur auf. Dabei
nimmt die Lichtausbeute mit zunehmender Temperatur des Glüh-
14.5.3.2 Molybdän fadens zu, sodass hohe Glühfadentemperaturen die Birne heller
Über 85 % des Molybdäns werden Stählen (Baustähle, Edelstähle, leuchten lassen. Um eine lange Betriebsdauer von Glühlampen
Werkzeugstähle, Gussstähle) zur Verbesserung der Zähigkeit, zu gewährleisten, muss der Abstand von Glühtemperatur und
Korrosionsbeständigkeit und Schweißbarkeit zulegiert. Werk- Schmelztemperatur des Glühfadens möglichst hoch sein. Wolfram
zeuge (Rührer, Rohre etc.) aus reinem Molybdän oder Molyb- und Wolfram-Osmium-Glühfäden vereinen sowohl hohe Hellig-
dän-Wolfram-Legierungen sind besonders korrosions- und keit als auch lange Betriebsdauer.
326 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
a b
. Abb. 14.37 Glühfäden aus Wolfram in Doppelwendelform ermöglichen eine hohe Lichtausbeute (© chones/Fotolia, © Heinz Voggenreiter/aerospace-lab)
Übung 6 Mangan kommt in der Natur so gut wie nur in gebundener Form
Warum korrodieren Chrommetalle nicht an Luft? vor. Große Manganlagerstätten befinden sich in den Ländern uum
das Schwarze Meer und Südafrika. Wichtige Manganminerale
Übung 7 sind Pyrolusit (MnO2), Manganit (MnO(OH)) und Hausmannit
Chrom und Wolfram können nach dem Van-Arkel-de-Boer- (Mn3O4 = MnO·Mn2O3). Manganknollen (. Abb. 14.39) kommen
Verfahren gereinigt werden. Beschreiben Sie das Verfahren. in großen Mengen am Meeresboden vor. So werden im Pazifik in
Meerestiefen von 4000 bis 6000 m pro Quadratmeter bis zu 60 kg
Übung 8 Manganknollen mit einem Durchmesser bis zu 20 cm angetroffen.
Wofür steht Widia®? Welche Eigenschaften hat es und wofür Neben Mangan (30 %) enthalten die Knollen weitere Elemente wie
wird es verwendet? Eisen (15 %), Kobalt, Zinn, Kupfer, Zink, Nickel etc.
14.6 · Gruppe 7 – Mangangruppe (Mn, Tc, Re, Bh)
327 14
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105Db* 106 Sg* 107Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58Ce 59Pr 60Nd 61Pm* 62 Sm 63 Eu 64Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90 Th* 91Pa* 92U* 93Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.38 Die Elemente der 7. Gruppe (Mangangruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d5 auf
Element Mn Tc Re
Kernladungszahl 25 43 75
Relative Atommasse [g/mol] 54,94 98,91 186,21
Elektronegativität 1,5 1,9 1,9
Metallradius [pm] 137 135 137
Ionenradius [pm] 60 (VII,6) 70 (VII,6) 67 (VII,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 717 702 760
Oxidationszahl +I, +II, +III, +IV, +VI, +VII +VII +VII
Siedepunkt [°C] 2030 4700 5870
Schmelzpunkt [°C] 1244 2172 3180
Dichte [g/cm3] 7,44 11,49 21,03
Entdecker Scheele, 1774 Perrier, 1937 Noddack, 1925
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 950 10−15 0,0004
Molybdän (Z = 42) und Ruthenium (Z = 44) stabil sind und die unter Wasserstoffbildung. Mit verdünnter Salzsäure bildet sich
Atommassen sämtlicher Technetiumisotope abdecken, muss unter Wasserstoffbildung Manganchlorid (MnCl2).
gemäß der Mattauchschen Regel Technetium (Z = 43 = 42 + 1 Technetium und Rhenium sind reaktionsträger und reagieren
= 44 − 1) radioaktiv sein. Rhenium, das nach dem Fluss Rhein bei Raumtemperatur weder mit Wasser oder Luft noch mit verdünn-
benannt ist, ist weiß glänzend, gut verform- und schweißbar und ten Säuren. Selbst konzentrierte Alkalilaugen greifen Technetium
hat mit 5870 °C den höchsten Siedepunkt sämtlicher Elemente. und Rhenium nicht an. Konzentrierte oxidierende Säuren wie Salpe-
tersäure und Alkalischmelzen ergeben Pertechnetat und Perrhenat.
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.46 Die Elemente der 8. Gruppe (Eisengruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d6 auf
Die 8. Gruppe (6. Nebengruppe) des PSE (. Abb. 14.46), die nach
dem Kopfelement auch als Eisengruppe bezeichnet wird, besteht
aus den Elementen Eisen (Fe), Ruthenium (Ru) und Osmium (Os).
Die Elemente weisen die Valenzelektronenkonfiguration s²d6 auf.
Das mit hohem Aufwand erstmals 1984 von der Gesellschaft
für Schwerionenforschung in Darmstadt durch Fusion von Blei-
und Eisenkernen hergestellte Hassium (Hs) hat keine kommer-
zielle Bedeutung, da bisher keine wägbaren Mengen hergestellt
werden konnten und sämtliche Nuklide Halbwertszeiten von nur
wenigen Sekunden aufweisen.
In der älteren Literatur werden unter der Bezeichnung Eisen-
gruppe die Elemente Eisen, Cobalt und Nickel zusammengefasst,
da diese sich in ihrem Reaktionsverhalten mehr ähneln als bei- . Abb. 14.47 Natürlicher Limonit mit seiner charakteristischen
rotbraunen Farbe (© Lebrac – La Palma Limonit, https://commons.wikimedia.
spielsweise das Element Eisen mit den schwereren Elementen der org/wiki/File:La_Palma_Limonit.jpg)
5. und 6. Periode Ruthenium und Osmium.
z Gicht, 200–500 °C
Ein klassischer Hochofen ist 35 m hoch und weist einen maxi- In der Gicht reicht die Temperatur zur Reduktion von Eisenoxi-
malen Durchmesser von 15 m auf. Die Stahlmantelwände des den nicht mehr aus, sodass das aufsteigende Gas Möller und Koks
Hochofens werden zur Wärmeisolation mit 1,5 m dicken feuer- lediglich trocknet. Letztendlich treten am oberen Ende des Hoch-
festen Schamottesteinen ausgemauert. Das Segment des Hoch- ofens die sog. Gichtgase mit einer Zusammensetzung von ca. 50 %
ofens mit dem größten Durchmesser wird als Kohlensack bezeich- Stickstoff (N2), 25 % Kohlenstoffmonoxid (CO), 20 % Kohlen-
net. Über den Kohlensack befindet sich der konisch zulaufende stoffdioxid (CO2) und 5 % Wasserstoff (H2) aus. Gichtgas verfügt
Schacht, der in der Gicht, den obersten Teil des Hochofens endet. über nutzbaren Heizwert und wird zum Erhitzen der in die Rast
Unter dem Kohlensack befindet sich die konisch zulaufende Rast, eingeblasenen Luft verwendet.
die in das zylindrische Gestell übergeht.
. Abb. 14.49 (a) Gießen von Gusseisenwerkstücken, (b) Stranggussverfahren für Stränge und Brammen (© zhu difeng/Fotolia, industrieblick/
Fotolia)
14.7.1.2 Stahlerzeugung
Da Roheisen einen zu hohen Kohlenstoffgehalt aufweist, ist es Legierungsbestandteile und deren Wirkung in Stahl
viel zu spröde, um mechanisch verformbar zu sein. Deshalb wird 55Chrom: Bessere Härtung beim Abschrecken, höhere
anschließend der Kohlenstoffgehalt unter 2,06 % abgesenkt. Dazu Zugfestigkeit, Zähigkeit und Korrosionsbeständigkeit.
wird das abgestochene noch flüssige Roheisen mit speziellen 55Kohlenstoff: Beeinflusst Härte, Schweißbarkeit,
Güterwaggons, den sog. Torpedos, vom Hochofen zum angren- Gießverhalten und Verformbarkeit.
zenden Stahlwerk transportiert. 55Mangan: Verbesserung der Härte, Schlagfestigkeit und
Im Stahlwerk wird das flüssige Roheisen in tiegelförmigen Tieftemperaturbeanspruchung.
Konvertern mit bis zu 400 t Fassungsvermögen durch viertel- 55Molybdän: Verbesserung von Anlassversprödung,
stündiges Aufblasen von reinem Sauerstoff auf die Oberfläche Temperaturbeständigkeit, Schweißbarkeit, Zähigkeit,
des flüssigen Roheisens vom Großteil des Kohlenstoffs befreit. Schneidbelastung und Korrosionsbeständigkeit.
Der Vorgang verläuft explosionsartig. Der resultierende Stahl 55Nickel: Verbesserung von Kerbschlagzähigkeit und
enthält weniger als 2,06 % Kohlenstoff und ist mechanisch gut Zugfestigkeit.
verformbar. 55Vanadium: Verbesserung von Verschleißfestigkeit und
Durch Neigen des Konverters wird abschließend die weiß- Temperaturbeständigkeit.
glühende Eisenschmelze in Gießpfannen gegossen, daraus 55Wolfram: Verbessert die Warmfestigkeit und Verschleiß-
werden überwiegend Stränge gezogen (. Abb. 14.49b). Stahl festigkeit, ideal für Schnellarbeitsstahl.
und seine Varianten werden insbesondere im Transportwesen,
in der Bauindustrie, im Maschinenbau und in der Energietech-
nik verwendet. 14.7.1.3 Reines Eisen
Werden Stähle mit besonderen Eigenschaften benötigt, werden Reines Eisen kann nicht nach dem Hochofenverfahren hergestellt
durch Zulegieren anderer Metalle wie Nickel, Chrom, Vanadium, werden, da damit lediglich Roheisen mit 5 % Kohlenstoff und 5 %
Niob oder Tantal zum flüssigen Stahl Edelstähle hergestellt. weiteren Begleitelementen erhalten wird. Eine Möglichkeit der
334 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Element Fe Ru Os
Kernladungszahl 26 44 76
Relative Atommasse [g/mol] 55,85 101,07 190,23
Elektronegativität 1,8 2,2 2,2
Metallradius [pm] 126 133 134
Ionenradius [pm] 73 (IV,6) 76 (IV,6) 77 (IV,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 763 710 840
Oxidationszahl +II, +III, +IV, +V, +VI +II, +III, +IV, +VI, +VIII −II, +II, +III, +IV, +VI, +VIII
Siedepunkt [°C] 3070 4150 5020
Schmelzpunkt [°C] 1535 2310 3045
Dichte [g/cm3] 7,87 12,45 22,61
Entdecker Altertum Claus, 1844 Tenant, 1803
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 50.200 0,001 0,0001
H2O
Fe + H2SO4 FeSO4 + H2
T
2 Fe + 2 NaOH + 2 H2O 2 NaFeO2 + 3 H2
. Abb. 14.55 Reaktion von elementarem Eisen mit Säuren und Laugen
. Abb. 14.53 Korrosion von Eisen an feuchter Luft (© weltreisenderj/ 14.7.2.2.2 Säuren und Laugen
Fotolia) Eisen eignet sich zur Lagerung konzentrierter Schwefel- und Sal-
petersäure, da diese dichte Passivschichten ausbilden. Dagegen
reagiert Eisen heftig mit verdünnter Schwefel- und Salpeter-
4 Fe + 3 O2 + 6 H2O 4 Fe(OH)3 Fe2O3 + 2 FeO(OH) + 5 H2O
säure und anderen nichtoxidierenden Säuren unter Wasserstoff-
T entwicklung zu zweiwertigen oder dreiwertigen Eisensalzen
3 Fe + 4 H2O Fe3O4 + 4 H2
(. Abb. 14.55).
. Abb. 14.54 Korrosion von Eisen an feuchter Luft bzw. mit heißem Ruthenium und Osmium sind bei Raumtemperatur stabil
Wasserdampf
gegen Säuren, selbst gegen Königswasser. Erst ab 100 °C gehen sie
mit Königswasser Reaktionen ein.
Eisen(III)-oxid (Fe 2O3). Diese braunen Oxidationsprodukte Eisen wird bei Raumtemperatur nicht von Laugen angegrif-
haben eine andere Dichte und morphologische Struktur als Eisen, fen, dagegen entstehen mit heißer Alkalilauge (MOH, M = Na, K)
sodass sie keine kompakte, dichte Oxidschicht auf der Eisenober- Ferrate (MFeO2) und Wasserstoff.
fläche bilden. Mit der Zeit blättern die Oxidationsprodukte vom Wässrige Laugen greifen Ruthenium und Osmium nicht
Eisen ab, wodurch auch tiefer liegende Schichten mit Wasser an. Sie können jedoch mit Alkalischmelze zu Ruthenaten(VI)
und Luftsauerstoff in Kontakt gelangen und dadurch die Korro- und Osmataten(VI) (Na 2MO 4, M = Ru, Os) aufgeschlossen
sion voranschreitet. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 4 % werden.
des Bruttosozialprodukts durch Korrosion vernichtet wird. Mit-
hilfe von Korrosionsschutz (Schutzlacke, metallische Überzüge, 14.7.2.2.3 Oxide und Halogenide
7 Abschn. 11.7.2.5) kann Eisen vor Rost geschützt werden. Fein verteiltes Eisenpulver verhält sich pyrophor, d. h. es entzün-
Heißes Eisen reagiert mit erhitztem Wasserdampf zu Magnet- det sich an Luft von selbst. Mit Sauerstoff bildet Eisen Magnetit
eisenstein (Fe3O4) und Wasserstoff (. Abb. 14.54). (Fe3O4), ein Eisen(II,III)-mischoxid (FeO·Fe2O3).
336 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
H H HO OH
OsO4, LM, 20 °C
C C + H2O2 C C
H H
H H H H
. Abb. 14.58 Carbonylkomplexe der Eisenmetalle: (a) M(CO)5, (b) M2(CO)9, (c) M3(CO)12; mit M = Ru, Os (© Ben Mills/benjah-bmm27 -Iron-pentacarbonyl,
Diiron-nonacarbonyl, Triruthenium-dodecacarbonyl, Wikimedia)
14.7 · Gruppe 8 – Eisengruppe (Fe, Ru, Os, Hs)
337 14
14.7.3.3 Osmium
Osmium und insbesondere Osmiumtetroxid sind nicht nur teuer,
sondern auch sehr giftig, sodass sie kaum kommerzielle Bedeu-
tung haben.
Osmiumlegierungen (. Abb. 14.60) finden aufgrund ihrer
Härte und Verschleißfestigkeit Verwendung in medizini-
schen Artikeln wie künstlichen Herzklappen und Spitzen von
Injektionsnadeln.
. Abb. 14.59 Der Eiffelturm, Symbol der Pariser Weltausstellung 1889, Früher wurde Osmium aufgrund seiner hohen Schmelztem-
besteht aus 18.000 Einzelteilen aus Gusseisen (© rdnzl/Fotolia) peratur von 3045 °C als Glühfaden für Glühbirnen verwendet,
bis es von dem weniger spröden und noch höher schmelzenden
Wolfram abgelöst wurde.
Aus Gusseisen (Kohlenstoffgehalt > 2 %) können wegen der im
Vergleich zu Stahl dünnflüssigeren Schmelze problemlos Form-
teile wie Maschinengehäuse, Brückenteile etc. gefertigt werden 14.7.4 Lernkontrolle
(. Abb. 14.59).
Eisenoxide sind auch heute noch die Basis von Katalysator-
systemen für die Ammoniaksynthese nach Haber-Bosch, d. h. der Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
Herstellung von pflanzenverträglichem Ammoniak aus den Ele- Hochofen, Möller, Roheisen, Stahl, Gangart, Hochofenschla-
menten Stickstoff und Wasserstoff (7 Abschn. 12.5.2.1). cke, Konverter, Bramme, Edelstahl, Gusseisen, Curie-Tempera-
Der menschliche Körper enthält ca. 5 g Eisen. 75 % davon sind tur, Ferromagnetismus, Korrosion, Passivierung, Stahlbeton.
im roten Blutfarbstoff Hämoglobin gebunden und für den Sauer-
stofftransport verantwortlich. Der Sauerstoff in den Lungenbläs-
chen bindet sich locker an das Eisenzentrum der Häm-Moleküle ? Verständnisfragen
in den roten Blutkörperchen und wird über den Blutkreislauf in Übung 1
die einzelnen Körperzellen befördert, wo er für die Zellatmung Welche Elemente umfasst die Eisengruppe? Warum ist die
verwendet wird. Eisenatome dienen quasi als „Sauerstoff-Shuttle“. Frage zweideutig?
Damit der Körper die Struktur der Eisenproteine aufrechterhalten
kann, beträgt der Tagesbedarf an Eisen 20 mg. Übung 2
Wie heißen die wichtigsten Eisenerze?
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62Sm 63Eu 64Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100Fm* 101Md* 102No* 103 Lr*
. Abb. 14.61 Die Elemente der 9. Gruppe (Cobaltgruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d7 auf
14.8 · Gruppe 9 – Cobaltgruppe (Co, Rh, Ir, Mt)
339 14
209
+ 58
o
266
Mt* + 1 Bei Raumtemperatur liegt es als hexagonal dichteste Kugelpa-
83 Bi 26 Fe 109 0n
ckung (Schichtfolge ABAB, 7 Abschn. 4.4.4) vor, die ab 417 °C
. Abb. 14.62 Beschleunigter Eisenkern verschmilzt mit einem Bismutkern in eine kubisch dichteste Kugelpackung (Schichtfolge ABCABC)
zu radioaktivem Meitneriumatom übergeht.
Rhodium ist ein silberweißes Metall mit hohem Oberflächen-
T glanz und einer Mohs-Härte von 7. Es lässt sich gut dehnen und
Co3O4 + 4 C 3 Co + 4 CO hämmern. Iridium ist noch etwas härter und spröder als Cobalt
. Abb. 14.63 Reduktion von Cobalt(II,III)-oxid mit Koks zu elementarem und nur schwer bearbeitbar. Iridium hat mit 22,7 kg/l die höchste
Cobalt Dichte aller Elemente. . Tabelle 14.8 fasst die physikalischen
Eigenschaften zusammen.
T
(NH4)2IrCl6 + 2 H2 Ir + 2 NH3 + 6 HCl
. Abb. 14.64 Reduktion von Ammoniumhexachloroiridat mit Wasserstoff 14.8.2.2 Chemisches Reaktionsverhalten
zu elementarem Iridium Generell betrachtet ist Cobalt reaktionsträger als Eisen. Die bevor-
zugte Oxidationsstufe von Cobalt in binären Verbindungen ist +II
und in Komplexverbindungen +III. Binäre Cobalt(II)-Verbindun-
(Ca(OH)2) selektiv Cobalthydroxid (Co(OH)2) ausgefällt. Der gen sind sehr stabil, während Co(III)-Verbindungen Oxidations-
Niederschlag wird zu Co3O4 calciniert, das dann mit Koks zu ele- mittel sind. So ist beispielsweise Cobalt(III)-fluorid (CoF3) ein
mentarem Cobalt reduziert wird (. Abb. 14.63). Fluorierungsmittel, das unter Fluorabgabe in stabiles Cobalt(II)-
Rhodium und Iridium werden durch eine Folge aufwendiger fluorid übergeht.
Löse- und Fällungsreaktionen von den anderen Edelmetallen wie Die Edelmetalle Rhodium und insbesondere Iridium sind
Platin, Palladium, Osmium und Ruthenium als Ammoniumhe- wesentlich reaktionsträger als Cobalt. Iridium ist das reaktions-
xachlorometallat-Komplexe abgetrennt. Im letzten Schritt werden trägste Metall überhaupt. In Verbindungen weisen diese Metalle
dann Ammoniumhexachlororhodat(III) ((NH4)3RhIIICl6) resp. bevorzugt die Oxidationsstufen +III und +IV auf, wobei Rhodium
Ammoniumhexachloroiridat(IV) ((NH4)2IrIVCl6) mit Wasser- die Oxidationszahl +III und Iridium +IV präferiert.
stoff zu den Metalle reduziert (. Abb. 14.64).
14.8.2.2.1 Luft und Wasser
Cobalt, Rhodium und Iridium reagieren bei Raumtemperatur
14.8.2 Physikalische Eigenschaften und weder mit trockener oder feuchter Luft noch mit Wasser. Ledig-
chemisches Reaktionsverhalten lich feinpulvriges Cobalt verhält sich pyrophor, d. h. es kann sich
an Luft spontan entzünden.
Element Co Rh Ir
Kernladungszahl 27 45 77
Relative Atommasse [g/mol] 58,93 102,91 192,22
Elektronegativität 1,8 2,2 2,2
Metallradius [pm] 125 135 136
Ionenradius [pm] 69 (III,6) 82 (III,6) 81 (III,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 760 720 880
Oxidationszahl +II, +III +I, +II, +III, +IV +I, +III, +IV
Siedepunkt [°C] 3100 3670 4530
Schmelzpunkt [°C] 1495 1966 2410
Dichte [g/cm3] 8,89 12,41 22,65
Entdecker Brandt, 1735 Wollaston, 1803 Tenant, 1803
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 25 0,05 0,001
340 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Co + 2 HNO3 Co(NO3)2 + H2
. Abb. 14.65 Aufschluss von Cobaltmetallen mit Säure, Lauge und Chlor
400 °C 1100 °C
6 Co + 4 O2 2 Co3O4 6 CoO + O2
600 °C + O2/1000 °C
4 Rh + 3 O2 2 Rh2O3 4 RhO2
2 M + 3 X2 2 MX3 M = Rh, Ir X = F, Cl, Br . Abb. 14.68 Thermochromes Verhalten von Cobalt(II)-chlorid bei 35 °C
(© Benjah-bmm27 – Cobalt(II)-chloride-hexahydrate, https://commons.
. Abb. 14.66 Reaktion der Cobaltmetalle mit Sauerstoff und Halogenen wikimedia.org/wiki/File:Cobalt(II)-chloride-hexahydrate-sample.jpg)
14.8 · Gruppe 9 – Cobaltgruppe (Co, Rh, Ir, Mt)
341 14
pink. Da Cobaltchlorid krebserregend ist, sind solche Gadgets Cobaltblau (CoO·Al2O3) wird bereits seit 1000 v. Chr. als
jedoch aus dem Alltag verschwunden. Blaupigment keramischen Glasuren und Gläsern zugesetzt
Rhodium und Iridium reagieren mit den Halogenen Fluor, (. Abb. 14.71). Es besticht durch seine Farbtiefe und seine Tem-
Chlor und Brom (. Abb. 14.66) zu dreiwertigen Metallhaloge- peratur- und Bewitterungsstabilität.
niden (M(III)X3, M = Rh, Ir). Die Umsetzung mit Fluor erfolgt Katalysatoren auf Cobaltbasis beschleunigen nicht nur
bei Raumtemperatur, für die schwereren Halogene muss Energie die Hydroformylierungsreaktion, sondern auch die Fischer-
zugeführt werden. Mit elementarem Fluor lassen sich unter Druck Tropsch-Synthese, d. h. die Verflüssigung von Kohle mit Synthe-
Rhodium und Iridium sukzessive bis zum sechswertigen Salz segas (CO/H2) zu flüssigen, benzinartigen Kohlenwasserstoffen
(MF6, M = Rh, Ir) fluorieren. Chloride und Bromide in Oxida- (7 Abschn. 12.2.4).
tionsstufen größer als +III konnten von Cobaltmetallen bisher In der Natur beschleunigen cobalthaltige Biomoleküle, wie
nicht charakterisiert werden. Vitamin B12, den Fettabbau und die Blutbildung. Vitamin B 12
ist essenziell und in tierischen Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch,
14.8.2.2.4 Komplexverbindungen Milch und Eiern enthalten.
Cobalt, Rhodium und Iridium bilden in der Oxidationsstufe +III In der Medizin wird das Radionuklid Cobalt-60 zur nuklear-
zahlreiche Komplexverbindungen, die auch in wässriger Lösung medizinischen Strahlentherapie bei Tumorerkrankungen ver-
stabil sind. So lassen sich die Metalle in Cyankalilösungen durch wendet. Dabei befindet sich das radioaktive Cobaltnuklid (Halb-
Lufteinblasen zu den Cyanidokomplexen (K3[M(CN)6], M = Co, wertszeit 5,3 Jahre) in einem Bleibehälter mit kleinen Bohrungen,
Rh, Ir) auflösen. Auch die kationischen, wasserlöslichen Hexaam- sodass nach Öffnen der Bohrungen energiereiche γ-Strahlung auf
minmetall(III)-komplexe ([MIII(NH3)6]Cl3) sind von allen drei den Tumor fokussiert und wuchernde Krebszellen zerstört werden
Cobaltmetallen bekannt. können. Cobalt-60 wird in industriellen Anwendungen auch zur
Bei der Umsetzung von zweiwertigen Cobaltsalzen mit Sterilisierung von Nahrungsmitteln und Gewürzen (kalte Pasteu-
Kohlenstoffmonoxid bildet sich unter hohem Druck oran- risierung) und zur zerstörungsfreien Prüfung von Metallteilen
gefarbenes, festes Dicobaltoctacarbonyl (Co2(CO)8), das mit verwendet.
Wasserstoff die gelbliche, stark saure Flüssigkeit Tetracarbo-
nylcobalthydrid ([HCo(CO)4]) ergibt. Tetracarbonylcobalt-
hydrid dient als Katalysator für die technisch bedeutsame
Hydroformylierungsreaktion ( . Abb. 14.69 ). Dabei werden
Alkene ( 7 Abschn. 16.2) mit Synthesegas (CO/H 2) zu Alde-
hyden ( 7 Abschn. 17.2) umgesetzt. Die resultierenden Alde-
hyde, die um ein C-Atom länger sind als die Ausgangsal-
kene, werden anschließend zu Tensiden, Weichmachern etc.
weiterverarbeitet.
Cobalt, Rhodium und Iridium bilden mit Kohlenstoffmono-
xid sowohl vierkernige, tetraedrische Tetrametalldodecacarbonyl-
komplexe (M4(CO)12, M = Co, Rh, Ir) als auch sechskernige, okta-
edrische Komplexe (M6(CO)16, M = Co, Rh, Ir). . Abbildung 14.70
zeigt die ästhetisch anspruchsvolle, symmetrische Struktur von
Tetrairidiumdodecacarbonyl.
14.8.3 Anwendungen – Salpetersäureherstellung, . Abb. 14.70 M4(CO)12 – die Metallatome formen einen tetraedrischen
Cluster (Rh, Ir = blau, C = schwarz, O = rot) (© Benjah-bmm27 – Tetrairidium-
Glasfärberei, Zündkerzen dodecacarbonyl, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tetrairidium-
dodecacarbonyl-from-xtal-3D-balls.png)
14.8.3.1 Cobalt
Cobaltstähle mit bis zu 15 % Cobalt sind hart, temperatur- und
korrosionsbeständig. Sie eignen sich zur Fertigung verschleißfes-
ter Meißel, Bohrer und Schneidewerkzeuge. Stähle mit bis zu 40 %
Cobaltanteil können aufgrund ihrer ferromagnetischen Eigen-
schaften für Permanentmagnete verwendet werden.
H H H O
[HCo(CO)4]
H C H + CO + H H C C
C C 2 C C H
H H
H H H H H
. Abb. 14.71 Kobaltglas besticht durch seine tiefblaue Farbe (© Carlos
. Abb. 14.69 Hydroformylierung am Beispiel Propen zu Butanal (rechts) Yudica/Fotolia)
342 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Rhodium ist ein katalytisch aktives Metall. 90 % des Weltver- Die herausragende Eigenschaft von Iridium ist dessen chemische
brauchs von ca. 20 t pro Jahr werden für Umweltkatalysatoren Reaktionsträgheit. Iridium-Platin-Legierungen sind äußerst hart
(Autoabgaskatalysator) und zur Beschleunigung chemischer und korrosionsbeständig. Nicht umsonst wurde 1889 das Urmeter
Reaktionen (Ostwald-Verfahren) verwendet. Rhodium bildet als Längenstandard und das Urkilogramm als Massenstandard
neben Palladium und Platin die aktiven Zentren des Dreiwege- aus Platin-Iridium-Legierung mit 10 % Iridiumanteil gefertigt
katalysators (7 Exkurs 14.2) für die Reinigung von Autoabgasen. (. Abb. 14.73).
Abgaskatalysatoren bestehen aus einem Keramikträger (Mono- Weitere Anwendungsbeispiele für Iridiumlegierungen sind
lith), der von parallel verlaufenden Kanälen (Querschnittsöff- Trauringe, Schreibkugeln für Kugelschreiberminen und chirurgi-
nung 1´1 mm , . Abb. 14.72) durchwoben ist. Zum Aufbringen sche Instrumente. Eine Bedampfung von hochwertigen Sport- und
der Edelmetalle wird der Monolith in verschiedene washcoats Sonnenbrillen mit Iridium schützt das Auge vor UV-Strahlung.
(Edelmetallsuspensionen) getaucht, sodass die Kanäle mit den Die Mittelelektroden hochwertiger Zündkerzen (. Abb. 14.74)
katalytisch aktiven Edelmetallen (. Abb. 14.72, Rhodium = rot, verfügen über einen aufgeschweißten Iridiumstift. Da Iridium
Palladium = blau) beladen werden. Das dadurch aufgebrachte gegen Funkenerosion resistent ist, braucht der Stift nur 0,6 mm
Rhodium reduziert giftiges Stickoxid (NO) in harmlosen Stick- dick ausgeführt werden, wodurch geringere Zündspannungen
stoff (N2). ausreichen, was den Zündvorgang optimiert, Verrußen und Fehl-
Als Bestandteil des Platinnetzkatalysators (10 % Rh) beschleu- zündungen verhindert und einen ruhigeren Motorlauf bei besse-
nigt es die Oxidation von Ammoniak zu Stickoxid (NO), einer ren Beschleunigungswerten gewährleistet.
wichtigen Zwischenstufe bei der industriellen Salpetersäureher-
stellung (Ostwald-Verfahren, . Abb. 12.86).
Platin-Rhodium-Legierungen sind äußerst hochtempera-
turstabil und korrosionsresistent und werden beispielsweise für
Spinndüsen zur Erzeugung von Glas- und Kunststofffasern und
für hochresistente Labortiegel verwendet.
Rhodium verfügt über ein ausgezeichnetes Reflexionsvermö-
gen, weshalb es zum Beschichten von hochwertigen Spiegeln wie
z. B. für Spiegelteleskope, Zahnarztspiegel, OP-Leuchten etc. ver-
wendet wird. Wegen der mechanischen und chemischen Bestän-
digkeit wird Rhodium auch zum galvanischen Beschichten (rho-
dinieren) von Schmuck, Uhrengehäusen, Brillengestellen, elekt-
rischen Kontakten etc. verwendet. Die Dicke der verschleißfesten
14 Schutzschicht beträgt dabei meist nur wenige Mikrometer.
. Abb. 14.72 Rhodium (rot) und Palladium (blau) selektiv auf den
Monolithkanälen (grau) eines Abgaskatalysators aufgebracht (© BASF SE, . Abb. 14.74 Hochleistungszündkerze (rechts) mit funkenresistenter
2016) Mittelelektrode aus Iridium (©stason4ik/Fotolia)
14.9 · Gruppe 10 – Nickelgruppe (Ni, Pd, Pt, Ds)
343 14
14.8.4 Lernkontrolle Übung 6
Welche Eigenschaft hat Tetracarbonylcobalthydrid? Wofür
wird es verwendet?
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
Spinellstruktur, Korundstruktur, Thermochromie, Hydro- Übung 7
formylierung, Kobaltblau, Dreiwegekatalysator, Urmeter, Welche Rolle spielt das Element Cobalt im menschlichen
Urkilogramm. Körper? Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch.
Übung 8
? Verständnisfragen Welche Funktion hat Rhodium in Dreiwegekatalysatoren
Übung 1 und bei der Salpetersäureherstellung?
Welche Elemente gehören der Cobaltgruppe an?
Übung 9
Übung 2 Warum wurden Urkilogramm und Urmeter aus Platin-Iri-
Geben Sie die komplette Elektronenkonfiguration dium-Legierung gefertigt?
von Rhodium an. Erklären Sie, warum die Cobaltgruppe
in der früheren Literatur als 7. Nebengruppe bezeichnet Übung 10
wurde. Was ist Rhodinieren?
Übung 3
Iridium ist ein Element der Superlative. Welche 14.9 Gruppe 10 – Nickelgruppe (Ni, Pd, Pt, Ds)
außergewöhnlichen Eigenschaften hat Iridium?
Die 10. Gruppe (8. Nebengruppe) des PSE (. Abb. 14.75), die nach
Übung 4 dem Kopfelement auch als Nickelgruppe bezeichnet wird, besteht
Erklären sie die Spinellstruktur. Welche Beziehung besteht aus den Elementen Nickel (Ni), Palladium (Pd) und Platin (Pt).
zu Cobaltblau? Die Elemente weisen die Valenzelektronenkonfiguration s²d8 auf
und verfügen somit über zehn Valenzelektronen.
Übung 5 Das mit hohem Aufwand erstmals 1994 von der Gesellschaft
Cobalt(II)-chlorid zeigt thermochromes Verhalten. Was für Schwerionenforschung in Darmstadt durch Fusion eines
versteht man darunter? Nickelkerns mit einem Bleikern hergestellte Darmstadtium (Ds)
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21Sc 22Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42Mo 43Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106Sg* 107Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91Pa* 92U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.75 Die Elemente der 10. Gruppe (Nickelgruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s2d8 auf
344 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
208
82 Pb + 62
28Ni
269
* 1
110Ds + 0n
14.9.2 Physikalische Eigenschaften und Palladium und Platin kommen sowohl in binären Verbindun-
chemisches Reaktionsverhalten gen als auch in Komplexverbindungen bevorzugt in den Oxida-
tionsstufen +II und +IV vor. Die maximale Oxidationsstufe der
beiden Edelmetalle beträgt +VI. Von sämtlichen Edelmetallen ist
14.9.2.1 Physikalische Eigenschaften Palladium das reaktivste.
Nickel ist ein silbrig glänzendes, relativ weiches Metall mit einer
Mohs-Härte von 3,8. Es kristallisiert in kubisch dichtester Git- 14.9.2.2.1 Luft und Wasser
terstruktur. Das Metall weist bis 100 °C ferromagnetische Eigen- Nickel, Palladium und Platin passivieren sich an Luft mit einer
schaften auf. dünnen Oxidschicht, sodass sie bei Raumtemperatur gegen Luft
Palladium und Platin sind silbrig-weiß glänzende Metalle mit und Wasser beständig sind. Platin reagiert auch bei hohen Tem-
kubisch flächenzentrierter Kristallstruktur. Palladium und Platin peraturen nicht mit Luft oder Wasser.
können aufgrund ihrer Duktilität zu extrem dünnen Folien ausge-
walzt werden. . Tabelle 14.9 fasst die physikalischen Eigenschaften 14.9.2.2.2 Säuren und Laugen
der Elemente der Nickelgruppe zusammen. Mit nichtoxidierenden und verdünnten oxidierenden Säuren
reagiert Nickel unter Wasserstoffentwicklung zu Nickel(II)-
salzen (. Abb. 14.80). Konzentrierte oxidierende Säuren und
14.9.2.2 Chemisches Reaktionsverhalten Flusssäure passivieren Nickel mit einer unlöslichen Oxid- resp.
Nickel bevorzugt in einfachen Verbindungen die Oxidationsstufe Fluoridschicht.
+II. Die Oxidationsstufe +III ist nur in NiF3 und Ni2O3 realisier- Palladium wird von den meisten Säuren nicht angegriffen,
bar. In Komplexverbindungen kann Nickel auch die Oxidations- allerdings löst es sich selbst in kompakter Form gut in Salzsäure,
stufen 0, +I, +III und +IV einnehmen. Salpetersäure und Königswasser unter Bildung von Pd(II)-salzen.
Platin ist resistenter gegen Säuren als Palladium. Es ist gegen
sämtliche Säuren inklusive Salpetersäure beständig, löst sich
jedoch relativ schnell in heißem Königswasser (. Abb. 14.80) zu
Hexachloroplatin(VI)-säure (H2PtCl6).
. Tab. 14.9 Physikalische Eigenschaften von Nickel, Palladium und Nickel, Palladium und Platin sind beständig gegen konzent-
Platin
rierte Alkalilaugen. Nickel wird im Gegensatz zu Palladium und
Element Ni Pd Pt Platin selbst von Alkalischmelzen nicht angegriffen, weshalb
Nickeltiegel zum alkalischen Aufschluss geeignet sind. Es sei noch-
Kernladungszahl 28 46 78 mals betont, dass Platin von geschmolzenen Alkalien und Peroxi-
Relative Atommasse 58,69 106,42 195,08 den gelöst wird, sodass in Platintiegeln keine alkalisch-oxidativen
[g/mol] Aufschlüsse durchgeführt werden können.
Elektronegativität 1,8 2,2 2,2
Metallradius [pm] 125 138 137 14.9.2.2.3 Oxide und Halogenide
Ionenradius [pm] 83 (II,6) 100 (II,6) 94 (II,6)
Bei Temperaturen ab 600 °C reagieren Nickel und Palladium
mit Sauerstoff (. Abb. 14.81) zu grünem Nickeloxid (NiO) resp.
Ionisierungsenergie 737 804 870
[kJ/mol]
grünschwarzem Palladiumoxid (PdO). Bei Temperaturen über
1000 °C und Sauerstoffdruck entsteht dreiwertiges (Ni2O3) und
Oxidationszahl +II +II, +IV +II, +IV, +VI
Siedepunkt [°C] 2730 2930 3830
Schmelzpunkt [°C] 1453 1554 1772 600 °C
2 M + O2 2 MO M = Ni, Pd, Pt
Dichte [g/cm3] 8,91 12,41 21,45
1000 °C + O2/1000 °C
Entdecker Cronstedt, Wollaston, Scaliger, 4 NiO + O2 2 Ni2O3 4 NiO2
1751 1803 1557
950 °C
Häufigkeit Erdhülle 75 0,01 0,01 2 PtO 2 Pt + O2
[ppm, g/t]
. Abb. 14.81 Reaktion der Nickelmetalle mit Sauerstoff
346 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
T
M + X2 MX2 M = Ni, Pd X = Cl, Br, I
vierwertiges Nickeloxid (NiO2). Platin reagiert nur bei Rotglut + X2/T
und hohem Sauerstoffdruck zu schwarzviolettem Platin(II)-oxid 2 Pt + 3 X2 PtX2 PtX4 2 PtX4
(PtO), das über 950 °C wieder in die Elemente zerfällt.
. Abb. 14.83 Reaktionen der Nickelmetalle mit Halogenen
Nickel ist eines der wenigen Elemente, die nicht bereitwil-
lig mit Fluor reagieren, da bei Raumtemperatur sich eine Pas-
sivschicht aus Fluorid bildet. Erst beim Erwärmen auf 600 °C
wird diese für Fluor durchlässig, sodass Nickel(II)-fluorid erhal- Palladium ist das Element, das die größten Mengen Was-
ten wird. Bei Fluorüberschuss erfolgt weitere Fluorierung zu serstoff adsorbiert. Selbst kompaktes Palladium adsorbiert
Nickel(III)-fluorid (NiF3) und Nickel(IV)-fluorid (NiF4). Mit bis zum 900fachen seines Eigenvolumens an Wasserstoff. Der
Chlor und Brom bildet Nickel ausschließlich die zweiwertigen Wasserstoffgehalt im gesättigten Palladium weist übrigens die
Halogenide Nickel(II)-chlorid (NiCl2) resp. Nickel(II)-bromid gleiche Konzentration auf wie im flüssigen Wasserstoff. Der
(NiBr2). adsorbierte Wasserstoff ist sehr reaktionsfähig (aktiviert), d. h.
Palladium reagiert mit Fluor beim Erwärmen zu Pd(IV)-flu- Wasserstoff liegt eher in atomarer als in molekularer Form vor.
orid und mit den höheren Halogenen Chlor, Brom, Iod lediglich Beim Erwärmen auf 500 °C gibt 1 l des Metalls 900 l Wasser-
zu den zweiwertigen Palladium(II)-halogeniden (PdX2, X = Cl, stoff ab, sodass Palladium als druckloser Wasserstoffspeicher
Br, I). Palladium(II)-chlorid wäre nur eine 12-Elektronen-Verbin- in Betracht gezogen wird. Da Palladium bei höheren Tempera-
dung. Um den Elektronenmangel der Palladiumatome abzupuf- turen Wasserstoff widerstandslos passieren lässt, können Pal-
fern, bilden die Palladiumdichloridmoleküle eine planare, poly- ladiummembranen zum Reinigen von Wasserstoff verwendet
mere Struktur (. Abb. 14.82) aus. Dadurch können zwei weitere werden.
nichtbindende Elektronenpaare der Chloridoliganden eine Kom- Platin löst bei Raumtemperatur so gut wie keinen Wasser-
plexbindung mit den Palladiumkationen eingehen. Letztendlich stoff, allerdings bei erhöhter Temperatur bis zum 100fachen seines
ergibt sich dadurch zwar nur eine 16-Elektronen-Verbindung, Eigenvolumens.
die jedoch wesentlich stabiler ist als das 12-Elektronen-Mono-
mer PdCl2. 14.9.2.2.5 Komplexverbindungen
14 Platin reagiert mit Fluor bei erhöhten Temperaturen zu Pla- Fein verteiltes Nickelpulver reagiert mit Kohlenstoffmonoxid
tin(IV)-fluorid und unter Druck sogar zu Platin(VI)-fluorid. bei 80 °C zu tetraedrischem Tetracarbonylnickel (Ni(CO)4). Die
Mit den restlichen Halogenen bildet Platin gemischte Halo- 18-Elektronen-Verbindung (Ni: 10 e−, 4 · CO: 4 · 2 e− = 8 e−) ist
genide (PtX2·PtX4, X = Cl, Br, I), was formal dreiwertigen Pla- eine hochgiftige, farblose Flüssigkeit, die bei 43 °C siedet und sich
tinhalogenidverbindungen entspricht. Diese Verbindungen über 100 °C in Kohlenstoffmonoxid und Nickel zersetzt, sodass
können mit weiterem Halogen zu PtX4 (X = Cl, Br, I) oxidiert es als Transportmedium bei der Herstellung hochreinen Nickels
werden. Platin(IV)-halogenide komplexieren mit Ammonium- dient (Mond-Verfahren, 7 Abschn. 14.9.1.2.1).
halogenid zu oktaedrischen Ammoniumhalogenidokomplexen Die Wassermoleküle im Nickelchlorid-Hexahydrat-Komplex
(2 NH 4X + PtX 4 → (NH 4) 2[PtX 6]). können leicht durch stärkere Lewisbasen wie Halogenidanio-
Platin(VI)-fluorid ist ein extrem starkes Oxidationsmittel, das nen oder Ammoniak resp. Amine verdrängt werden, wodurch
sogar Xenon Elektronen entreißt (oxidiert). So konnte 1962 als auf einfache Weise zahlreiche, farbige Nickelkomplexe erhalten
erste Edelgasverbindung überhaupt Xenon(+I)-hexafluoroplati- werden (. Abb. 14.84). So bildet sich beispielsweise bei Zugabe
nat(IV) (Xe+[PtF6]−) durch Oxidation von Xenon mit Platinhexa- von Natriumchlorid der tetraedrisch koordinierte Anionenkom-
fluorid hergestellt werden. . Abbildung 14.83 zeigt die Reaktionen plex Na2[NiCl4], während sich mit Ammoniak der oktaedrisch
der drei Metalle mit Halogenen im überblick. koordinierte, kationische Hexamminkomplex ([Ni(NH3)6]Cl2)
bildet.
14.9.2.2.4 Hydride Zum Nachweis von Nickel eignet sich Dimethylglyoxim, das in
Nickel, Palladium und Platin aktivieren Wasserstoff und verfügen ammoniakalischer Lösung einen Niederschlag von himbeerrotem
deshalb über katalytische Eigenschaften bei Hydrierungsreaktio- Bis(dimethylglyoxim)nickel(II)-komplex ergibt (. Abb. 14.85).
nen. Im Gegensatz zu Palladium adsorbieren Nickel und Platin Die beiden zweizähnigen Dimethylglyoxim-Chelatliganden
bei Raumtemperatur jedoch keine großen Mengen Wasserstoff. koordinieren zangenartig über die freien Elektronenpaare der
14.9 · Gruppe 10 – Nickelgruppe (Ni, Pd, Pt, Ds)
347 14
14.9.3 Anwendungen – Münzen, . Abb. 14.86 1-Euro-Münzen bestehen aus den Metallen Kupfer, Nickel
Dreiwegekatalysator, Krebstherapie und Zink (© coonlight/Fotolia)
H+
OH –
O O –
H2
C
H2 C CH2
H2 H H H2
Raney-Ni S C S
H2 S S + 2 H2 C C +
C CH3 H C C H
C H3C C H2
H2 H2
H3C C CH3
H2
14.9.3.3 Platin
Jährlich werden ca. 30 t Platin hergestellt. Mit Iridium ergibt Platin
temperaturstabile und sehr harte Legierungen, deren Anwendun- . Abb. 14.88 Platinnetze mit 5 % Rhodium katalysieren die
gen nur wegen des hohen Preises begrenzt sind. Es wurde bereits Ammonoxidation (Reaktionsschritt im Ostwald-Verfahren, © Heraeus)
erwähnt, dass aus einer Legierung von 90 % Platin und 10 %
Iridium 1889 die Referenzstandards Urmeter und Urkilogramm und thermischen Stabilität werden aus Platin auch Laborge-
hergestellt wurden (. Abb. 14.73). Das X-förmige Längennormal räte wie Schmelztiegel, Elektrolyseelektroden, Spinndüsen etc.
ist 102 cm lang und mit Strichgruppen versehen. Der Abstand der gefertigt.
Mittelstriche beträgt bei 0 °C genau ein Meter, mit einer maxima- Platin aktiviert Wasserstoff und findet als Kontaktkatalysa-
len Abweichung von 0,1 μm. tor (. Abb. 14.88) bei der industriellen Produktion von Salpeter-
14 Platin ist wegen seines Glanzes und hohen Wertes ein begehr- säure (Ostwald-Verfahren, 7 Abschn. 12.5.3.3), bei der Fetthärtung
tes Schmuckmetall. So werden Münzen, Ringe, Colliers, Ketten (7 Abschn. 20.4.2), dem Cracken von Erdöl und im Fahrzeugkata-
etc. daraus geschmiedet. Aufgrund seiner hohen chemischen lysator (7 Exkurs 14.2) Verwendung.
Exkurs 14.2
. Abb. 14.89 Ein 90 %iger Wirkungsgrad des Dreiwegekatalysators wird bei einem λ -Wert von 1 erreicht
a b
. Abb. 14.90 Cis-Diammindichloroplatin (Pt – violett, N – blau, Cl – grün, H – weißgrau) (a) komplexiert an die N7-Atome benachbarter Guaninbasen
(b) (© ATDBio Nucleic Acids Book – www.atdbio.com/nucleic-acids-book)
Cis-Diammindichloroplatin, kurz als Cisplatin bezeichnet, Dadurch ist die Replikation der DNA gehemmt. Weil Cisplatin
ist ein seit den 1970er Jahren etabliertes Zytostatikum. Es hemmt wegen deren höheren Aktivität bevorzugt an die replizierende
die unkontrollierte Zellteilung, sodass es in der Chemotherapie Tumor-DNA andockt, „sterben“ die Tumorzellen allmählich ab.
zur Behandlung von Tumoren eingesetzt wird. Nach Infusion Die cis-Anordnung der Chlorido- resp. Ammoniakliganden ist
der Cisplatinlösung in den Körper werden die Chloridliganden Voraussetzung für die Komplexierung des quadratisch-planaren
durch Wasser verdrängt und diese wiederum durch Komplex- Cisplatins an die Guaninmoleküle. Es konnte empirisch nachge-
bindung an Stickstoffatome zweier benachbarter Guaninbasen wiesen werden, dass Trans-Diammindichloroplatin als Zytosta-
eines DNA-Stranges (7 Abschn. 20.7) substituiert (. Abb. 14.90b). tikum unwirksam ist.
350 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Übung 2 Übung 10
Welche Valenzelektronenkonfiguration weisen die Elemente Erklären Sie das Prinzip des Dreiwegekatalysators.
der Nickelgruppe auf? Wie ist der Lambdawert definiert und welche Bedeutung
hat er?
Übung 3
Beschreiben Sie das Mond-Verfahren. Wozu wird es
verwendet? 14.10 Gruppe 11 – Kupfergruppe (Cu, Ag, Au, Rg)
Übung 4 Die 11. Gruppe (9. Nebengruppe) des PSE (. Abb. 14.91), die nach
Königswasser löst Platin. Formulieren Sie die Teil- und dem Kopfelement auch als Kupfergruppe bezeichnet wird, besteht
Gesamtgleichungen der Redoxreaktion. aus den Elementen Kupfer (Cu), Silber (Ag) und Gold (Au). Sie
verfügen formal über die Valenzelektronenkonfiguration s²d9. Da
Übung 5 eine vollbesetzte d-Schale aus Energiegründen bevorzugt wird,
Warum darf in Platintiegeln kein alkalischer Aufschluss wechselt ein Elektron aus dem s-Orbital in die d-Orbitale, sodass
durchgeführt werden? Welches Material ist für den die d-Orbitale komplettiert werden und die Elemente letztend-
alkalischen Aufschluss geeignet? lich die Elektronenkonfiguration ns1(n − 1)d10 (n = Perioden-
zahl) aufweisen.
Übung 6 Kupfer, Silber und Gold sind bereits seit dem Altertum
Welche Struktur hat Palladium(II)-chlorid? Bestimmen Sie die bekannt. So werden diese Metalle beispielsweise im 2. Buch Mose
Elektronenzahl von Palladium(II)-chlorid. „Auszug der Israeliten aus Ägypten“ ca. 1310 vor Christus an der
14
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90Th* 91 Pa* 92 U* 93Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.91 Die Elemente der 11. Gruppe (Kupfergruppe) weisen die Elektronenkonfiguration s1d10 auf
14.10 · Gruppe 11 – Kupfergruppe (Cu, Ag, Au, Rg)
351 14
209 64 272 1
Bi + 28Ni
83 Rg* + 0n
111
Stelle 31,1 erwähnt: „Der Herr sprach zu Mose: Siehe, ich habe
Bezalel, …, beim Namen gerufen und ihn mit dem Geist Gottes
erfüllt, mit Weisheit, mit Verstand und mit Kenntnis für jegliche
Arbeit: Pläne zu entwerfen und sie in Gold, Silber und Kupfer
auszuführen“.
Das mit hohem Aufwand erstmals 1994 von der Gesell-
schaft für Schwerionenforschung in Darmstadt durch Fusion
eines Nickel- mit einem Bismutkern hergestellte Roentgenium
(Rg) hat keine kommerzielle Bedeutung (. Abb. 14.92). Bisher
. Abb. 14.93 Aus Malachit werden Schmuck, Knöpfe, Perlen und
wurden nur wenige Atome hergestellt und die langlebigsten Pigmente gefertigt (© hapelena/Fotolia)
Roentgeniumnuklide weisen Halbwertszeiten von unter einer
Sekunde auf.
Da die Elemente der 11. Gruppe eine vollbesetzte (n-1)d10-
2 CuFeS2 + 4 O2 + 2 SiO2 Cu2S + 2 FeSiO3 + 3 SO2
Schale aufweisen und somit nur ein Elektron im s-Orbital der
n-ten Schale als Valenzelektron zur Verfügung steht, wurde die
Gruppe früher als 1. Nebengruppe bezeichnet. Allerdings unter- 2 Cu2S + 3 O2 2 Cu2O + 2 SO2
scheiden sich die chemischen Eigenschaften der Kupfermetalle
erheblich von den Alkalimetallen. Unter anderem gehen die Kup- Cu2S + 2 Cu2O 6 Cu + SO2
fermetalle Oxidationszahlen größer +I ein.
. Abb. 14.94 Rösten von Kupferkies zu Kupferstein und Reduktion zu
elementarem Kupfer
Alle drei Elemente sind in der Natur gediegen anzutreffen, weshalb Im nächsten Schritt wird das Sulfidkonzentrat zusammen mit
diese Metalle bereits seit über 5000 Jahren dem Menschen bekannt Kalk- und Sandzusatz unter Lufteinblasen geröstet. Da Eisen eine
sind. stärkere Bindung zu Sauerstoff eingeht als Kupfer, entsteht Kup-
fersulfid (Cu2S) und Eisensilicatschlacke (FeSiO3) (. Abb. 14.94).
Das flüssige Eisensilicat schwimmt auf dem flüssigen Kupfersulfid,
14.10.1.1 Kupfer sodass die beiden Produkte leicht voneinander getrennt werden
Zwar kommt Kupfer gediegen in großen Nuggets vor, allerdings können.
sehr selten, sodass die technische Nutzung kupferhaltiger Erze Das isolierte Kupfersulfid wird dann im Röstreaktionsver-
wesentlich ergiebiger ist. Die wichtigsten kommerziellen Kupfer- fahren zu Rohkupfer überführt. Dazu werden zwei Drittel des
erze sind Chalkopyrit (Kupferkies, CuFeS2), Chalkosin (Kupfer- Kupfersulfids (Cu2S) mit Luft zu Kupferoxid (Cu2O) geröstet, das
glanz, Cu2S), Bornit (Buntkupferkies, Cu5FeS4) und Cuprit (Rot- dann mit dem restlichen Drittel Kupfersulfid zu Rohkupfer mit
kupfererz, Cu2O). Ein bekanntes Kupfermineral ist der grüne einem Kupfergehalt von über 95 % reagiert. Die 5 % „Verunreini-
Malachit (Cu(OH)2 · CuCO3, . Abb. 14.93), der als Schmuckstein gungen“ bestehen aus den Edelmetallen Silber, Gold, Platin und
und grünes Pigment Verwendung findet. Große Kupfervorkom- den unedleren Metallen, Zink, Zinn, Arsen, Antimon, Cobalt,
men gibt es in der Atacamawüste in Nordchile. Nickel, etc.
Etwa die Hälfte des technisch benötigten Kupfers wird aus Nach weiteren Reinigungsschritten wird aus dem Rohkupfer
Kupferrohren, Armaturen, Warmwasserbehältern, elektrischen (95 % Cu) Anodenkupfer (99 % Cu) erhalten. Zur Herstellung von
Kabeln etc. durch Recycling (Sekundärkupfer) gewonnen. Elektrolytkupfer (99,95 % Cu) werden 3 cm dicke Anodenplatten
Die andere Hälfte (Primärkupfer) wird aus Eisenkupfersul- gegossen. Die Kupferanodenplatten werden in schwefelsaurem
fiden wie Chalkopyrit durch das Röstreaktionsverfahren her- Kupfer(II)-sulfatelektrolyten bei 50 °C und 0,3 V elektrolysiert
gestellt. Dazu wird im ersten Schritt das kupferhaltige Erz samt (Möbius-Verfahren, . Abb. 14.95). Als Ergebnis löst sich das Ano-
Gangart (Kupfergehalt 2 %) zerkleinert und durch Flotation denkupfer über Wochen und Monate auf und scheidet sich an der
(7 Abschn. 7.2.7) vom Großteil der Gangart getrennt, sodass Kathode als Reinkupfer ( Cu Anode(99 %) ® Cu Kathode(99, 95 %) )
im aufschwimmenden Sulfidkonzentrat der Kupfergehalt 25 % ab. Unedle Metalle wie Eisen verbleiben gelöst im Elektrolyten,
beträgt. während die im Vergleich zu Kupfer edleren Metalle wie Gold
352 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
. Abb. 14.98 (a) forty niner mit Waschpfanne und (b) das Objekt der Begierde, Nuggets (© L. C. McClure – Gullgraver 1850 California, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Gullgraver_1850_California.jpg, Rxc/Fotolia)
Die anfänglichen Goldsucher schlämmten goldhaltiges elektrolysiert. Verunreinigendes Silber fällt als schwerlösliches
Flusssediment in einer Waschpfanne auf. Durch die hohe Dichte Silberchlorid (AgCl) aus und sammelt sich mit Platin im Ano-
(ρ = 19,3 g/cm3) des Goldes setzt sich dieses schneller als Flusssand denschlamm. Das sich an der Kathode abscheidende Reinstgold
(ρ = 2,6 g/cm3) ab, sodass nach längerem Kreisen sich das Gold im hat einen Gehalt von mehr als 99,99 % Gold.
zugespitzten Teil der Waschpfanne ansammelte.
Das Schwerkraftverfahren ist mühsam und erzielt nur geringe
Ausbeuten, sodass für größeren Durchsatz das Gold mit Natrium- 14.10.2 Physikalische Eigenschaften und
cyanid ausgelaugt wird. In der Praxis wird die feingemahlene gold- chemisches Reaktionsverhalten
haltige Erde mit 0,1 %-iger Natriumcyanidlösung durchrieselt. Das
Filtrat enthält gelöstes Natriumdicyanoaurat(I) (Na[Au(CN)2]), Da Kupfermetalle weich sind und somit einfach mit dem Konterfei
das mit Zinkstaub zu Gold reduziert wird. Nachteil dieses Verfah- des jeweiligen Herrschers geprägt werden konnten, wurden sie seit
rens sind die cyanidhaltigen Schlammteiche. jeher als Münzmetalle verwendet. Alle drei Metalle kristallisieren
In einem weiteren Verfahren wird Gold mit Quecksilber aus in kubisch-flächenzentrierter Kugelpackung mit der Schichtfolge
dem goldhaltigen Gestein gelöst (Amalgamverfahren) und durch ABCABC (Cu-Typ, 7 Abschn. 4.4.4).
Verdampfen des Quecksilbers (Sdp. 357 °C) isoliert. Es versteht
sich von selbst, dass auch dieses Verfahren die Umwelt enorm
belastet. 14.10.2.1 Physikalische Eigenschaften
Zur Herstellung von Feingold wird analog dem Möbius- Kupfer ist ein weiches, zähes, dehnbares Metall mit charakteristi-
Verfahren für Kupfer das Rohgold (90 % Au) in Anodenplatten scher roter Farbe. Das hellrote Metall hat nach Silber die höchste
gegossen und in salzsaurer Gold(III)-trichloridlösung (AuCl3) elektrische und thermische Leitfähigkeit. Taucht man glühendes
354 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Element Cu Ag Au
Kernladungszahl 29 47 79
Relative Atom- 63,55 107,87 196,97
masse [g/mol]
Elektronegati- 1,9 1,9 2,4
vität
Metallradius 128 145 144
[pm]
Ionenradius [pm] 91 (I,6) 129 (I,6) 151 (I,6)
Ionisierungs- 746 731 890
energie [kJ/mol]
Oxidationszahl +I, +II +I, +II, +III −I, +I, +II, +III, +V
Siedepunkt [°C] 2595 2215 2660
Schmelzpunkt 1083 962 1064
[°C]
Dichte [g/cm3] 8,92 10,49 19,32
Entdecker Altertum Altertum Altertum
Häufigkeit Erd- 55 0,07 0,004
hülle [ppm, g/t]
Exkurs 14.3
Gold reagiert weder mit Luft noch mit Wasser, selbst bei können durch Erwärmen mit elementarem Kupferpulver stöchio-
hohen Temperaturen. Gold(I)-Verbindungen sind in Gegensatz metrisch in die einwertigen Cu(I)-halogenide überführt werden.
zu Gold(III)-verbindungen in wässriger Lösung instabil und dis- Kupfer(I)-halogenide lösen sich nicht in Wasser, Kupfer(II)-
proportionieren analog Kupfer(I)-Salzen zu elementarem Gold halogenide dagegen sehr gut.
und dreiwertigen Goldverbindungen. Silber wird von trockenem Chlor nicht angegriffen, da sich
sofort eine dünne Passivschicht aus Silberchlorid (AgCl) bildet,
14.10.2.2.2 Säuren und Laugen dagegen korrodiert feuchtes Chlor Silber komplett durch. Mit
Kupfer und Silber reagieren nicht mit Salzsäure, werden jedoch Chlor und Brom reagiert Silber erst bei Rotglut zu Silber(I)-halo-
von oxidierenden Säuren wie Salpetersäure oder Schwefelsäure geniden, während Fluor bereit bei Raumtemperatur zweiwertiges
unter Bildung von Nitraten (Cu(NO3)2, AgNO3) und Sulfaten Silberdifluorid (AgF2) ergibt. Silber(I)-halogenide sind allesamt
(CuSO4, Ag2SO4) aufgelöst. schwerlösliche Verbindungen. Die Farbe vertieft sich vom weißen
Gold wird selbst von warmer Salzsäure, Salpetersäure, Schwe- Silberchlorid über das hellgelbe Silberbromid zum gelben Silber-
felsäure, Flusssäure etc. nicht angegriffen. Lediglich die stark oxi- iodid (. Abb. 14.101a).
dierenden Chlorradikale (Cl·) und Nitrosylchlorid (NOCl) des Gold reagiert mit den Halogenen (X = Cl, Br, I) beim Erwär-
Königswassers lösen selbst den König der Edelmetalle unter men sowohl zu einwertigen (Au(I)X) als auch dreiwertigen Gold-
Bildung von gelb-kristalliner Tetrachloridogoldsäure (HAuCl 4) halogeniden (Au(III)X3). Fluor ergibt bei Raumtemperatur direkt
auf (. Abb. 14.100 und 12.148). gelbes Goldtrifluorid (AgF3), das mit überschüssigem Fluor zu
Gegen wässerige Laugen sind Kupfer, Silber und Gold rotem Goldpentafluorid (AuF5) oxidiert werden kann.
beständig. Kupfer bildet beim Erwärmen mit Schwefel eine schwarze
Patina aus Kupfer(I)- und Kupfer(II)-sulfid. Silber reagiert
14.10.2.2.3 Sauerstoff, Schwefel und Halogene bereitwillig mit Schwefel zu schwarzem Silbersulfid (Ag2S). Gold
Kupfer reagiert beim Erwärmen mit Sauerstoff zu schwarzem Kup- reagiert nicht mit Schwefel, allerdings kann durch Einleiten von
fer(I)-oxid (Cu2O). Silber und Gold reagieren selbst bei hohen Schwefelwasserstoff in Goldsalzlösungen Gold(I)-sulfid (Au2S)
Temperaturen nicht mit Sauerstoff zu Oxiden. Silber- und Gold- und Gold(III)-sulfid (Au2S3) erhalten werden.
oxide (Ag2O, Au2O, Au2O3), die über „chemische Umwege“ her-
gestellt werden können, sind nur bei Raumtemperatur stabil und 14.10.2.2.4 Komplexverbindungen
zerfallen beim Erwärmen wieder in die Elemente. Die kommerziell wichtigsten Komplexverbindungen von Silber
Kupfer reagiert bereit bei Raumtemperatur mit den Haloge- und Gold sind Natriumdicyanoargentat resp. -auratkomplexe. Sie
nen Fluor, Chlor und Brom zu zweiwertigen Kupfer(II)-haloge- werden durch Einwirkung von Natriumcyanidlösung bei gleich-
niden. Kupfer(II)-iodid ist nicht beständig und zerfällt sofort in zeitiger Luftdurchleitung aus den Elementen erhalten, was bei der
Kupfer(I)-iodid und elementares Iod (I2). Kupfer(II)-halogenide Silber- und Goldgewinnung ausgenutzt wird (. Abb. 14.96).
Kupfersalze wie Kupfersulfat (CuSO4) bilden in wässeriger
HNO3 + 3 HCl NOCl + 2 Cl + 2 H2O
Lösung den blauen Tetraaquakupferkomplex ([Cu(H 2O) 24+]SO 24− ,
. Abb. 14.101b). Wird zu einer Kupfer(II)-sulfatlösung Ammoniak
gegeben, bildet sich ein intensiv dunkelblauer Tetraamminkup-
2 Au + 2 NOCl + 6 Cl + 2 HNO3 2 HAuCl4 + 4 NO2
fer(II)-Komplex ([Cu(NH3) 42+]SO 24− ). Allgemein dient die inten-
. Abb. 14.100 Aufschluss von Gold mit Königswasser zu sive Blaufärbung des Tetraamminkupferkations als Nachweis für
Tetrachloridogoldsäure Kupferionen.
356 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
a b
. Abb. 14.101 (a) Silberhalogenide sind schwerlöslich (b) Blaue Kupfersulfatkristalle (© Rrausch1974 – Silberhalogenide, https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Silberhalogenide.jpg, jonnysek/Fotolia)
14
a b
. Abb. 14.102 (a) Fünfadriges Drehstromkabel, (b) Ankerwicklung und Kommutator eines Elektromotors aus Kupfer (© Mariusz szczygiel/Fotolia,
Synelnychenko Dmytro/Fotolia)
14.10.3 Anwendungen – Stromleitung, Fenster- und Kuppelverkleidungen mit Kupfer ausgeführt. Mit
Tafelsilber, Schmuck der Zeit bildet sich eine grüne Patina (. Abb. 14.103), die haupt-
sächlich aus basischem Kupfersulfat (Cu(OH)2·CuSO4) besteht.
14.10.3.1 Kupfer
Kupfer ist nach Eisen und Aluminium das kommerziell wichtigste Kupferlegierungen
Metall. Aufgrund seiner guten elektrischen und thermischen Leit- Kupfer bildet mit anderen Metallen zahlreiche Legierungen.
fähigkeit in Kombination mit der leichten Verformbarkeit und Beispiele bekannter Kupferlegierungen sind:
hohen Korrosionsbeständigkeit geht mehr als die Hälfte der glo- 55Messing, eine Legierung aus 60–90 % Kupfer
balen Kupferproduktion in die Elektroindustrie. Ohne Strom- und 10–40 % Zink. Messing wird zur Fertigung
leitungen aus Kupfer wäre ein Elektrizitätsnetz zur Beleuchtung von Badarmaturen, Rohren, Beschlägen, Steckver-
von Häusern, Straßen und Arbeitsplätzen sowie das Betreiben von bindungen, Klinken, Kunstgegenständen, etc.
Elektromotoren, Generatoren und Transformatoren nur schwer verwendet.
vorstellbar (. Abb. 14.102). Der weltweite Bedarf an Kupfer beträgt 55Monel (65 % Nickel, 33 % Kupfer und 2 % Eisen) ist
20 Mio. Tonnen jährlich, Tendenz steigend. gegen Meerwasser, Flusssäure, Fluor etc. stabil, sodass
Kupfer dient zur Herstellung von Gär- und Lagerkesseln fürs diese Legierung im Schiffsbau und in der chemischen
Bierbrauen und für Destillen zum Schnapsbrennen. Im Bausektor Verfahrenstechnik eingesetzt wird.
werden hochwertige Dachrinnen, Fallrohre, Dachabdeckungen,
14.10 · Gruppe 11 – Kupfergruppe (Cu, Ag, Au, Rg)
357 14
14
a b
. Abb. 14.106 (a) Goldringe als Symbol des ewigen Bundes (b) Totenmaske von Tutanchamun aus 11 kg massivem Gold (© psdesign1/Fotolia, Dieter
Hawlan/Fotolia)
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99Es* 100Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 14.107 Die Elemente der 12. Gruppe (Zinkgruppe) weisen die Valenzelektronenkonfiguration s2d10 auf
360 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
208
82
70
Pb + 30Zn
277 1
Cn* + 0n
112
14.11.1.2 Cadmium
. Abb. 14.108 Ein Zinkatom vereinigt sich mit einem Bleiatom zu
Cadmium kommt stets zusammen mit Zink, aber auch mit Blei
radioaktivem Copernicium
und Kupfer vor, sodass es als Beiprodukt bei der Gewinnung dieser
Metalle anfällt. Die wichtigsten in der Natur anzutreffenden Cad-
miumminerale sind Greenockit (CdS) und Otavit (CdCO3), die
Cadmium und Quecksilber keine Übergangsmetalle. Allerdings fast immer mit den entsprechenden Zinkminalen vergesellschaf-
wurde mittlerweile auch Quecksilbertetrafluorid (HgF4, OZ = tet sind.
+ IV) mit nicht vollbesetzten d-Orbitalen synthetisiert, was der Cadmium fällt bei der Zinkherstellung sowohl nach dem tro-
klassischen Definition von Übergangsmetallen entspricht. Somit ckenen (Verhüttung) als auch nach dem nassen Verfahren (Elekt-
können auch Übergangsmetalle der Zinkgruppe d-Elektronen in rolyse) an. Beim trockenen Verfahren kann es durch fraktionierte
den Bindungsaufbau einbringen. Destillation isoliert werden. Bereits nach einer weiteren Destilla-
tion liegt Feincadmium mit 99,5 % Reinheit vor.
Der beim nassen Verfahren anfallende Cadmiumschwamm
14.11.1 Vorkommen und Herstellung wird zuerst zu Cadmiumoxid oxidiert und dann in Schwefelsäure
aufgelöst und elektrolysiert, sodass Reincadmium von 99,8 %
erhalten wird.
14.11.1.1 Zink
Die wichtigsten Zinkerze sind Smithsonit (Zinkspat, ZnCO3) und
Sphalerit (Zinkblende, ZnS), die in der Regel von Kupfer, Blei, 14.11.1.3 Quecksilber
Eisen und Cadmium begleitet werden. In gediegener Form kommt Quecksilber ist ein sehr seltenes Element mit einem Anteil von
Zink in der Natur nicht vor, dafür ist es zu reaktiv. lediglich 0,08 ppm an der Erdhülle. Das mit Abstand wich-
Die Herstellung von jährlich ca. 12 Mio. Tonnen Zink erfolgt tigste Quecksilbermineral ist der rote Cinnarbarit (Zinnober,
insbesondere aus Smithsonit und Sphalerit. Zuerst werden die . Abb. 14.110, HgS). In einigen Lagerstätten liegt Zinnober sogar
Minerale durch Calcinieren (Smithsonit) oder Rösten (Spha- mit Tröpfchen von elementarem Quecksilber vor. Zinnober ist
lerit) in Zinkoxid überführt. Die Reduktion zu elementa- ungiftig, da es sich weder in Wasser noch in der Magensäure
rem Zink erfolgt anschließend mit Koks oder elektrochemisch löst. Zinnobererze sind nur dann zur Quecksilberherstellung
(. Abb. 14.109). geeignet, wenn sie einen Quecksilbergehalt von mehr als 0,5 %
Bei der trockenen Zinkgewinnung wird das Zinkoxid mit aufweisen.
Koks im elektrischen Ofen bei 1200 °C durch das über das Bou-
douard-Gleichgewicht (7 Abschn. 12.4.4.1) gebildete Kohlenstoff-
monoxid reduziert. Das bei dieser Temperatur gasförmig vorlie-
14 gende Zink wird in sog. Vorstecktuten in einer Reinheit von 97 %
auskondensiert. Die Verunreinigung besteht aus Cadmium (Sdp.
767 °C), Blei (Sdp. 1750 °C) und Eisen (Sdp. 3070 °C). Durch frak-
tionierte Destillation wird Zink (Sdp. 909 °C) in 99,99 % Rein-
heit erhalten.
Bei der elektrolytischen Zinkgewinnung wird zunächst
Zinkoxid in Schwefelsäure als Zinksulfat (ZnSO4) gelöst. Nach
Zugabe von Zinkpulver fallen evtl. vorhandene Cadmiumver-
unreinigungen als Schwamm aus. Die gefilterte Zinksulfatlö-
sung wird anschließend elektrochemisch reduziert, wobei sich
Zink mit einer Reinheit von 99,99 % an Aluminiumkathoden
abscheidet.
T
ZnCO3 + CO Zn + CO2
– CO2
ZnO
350 °C 350 °C
Hg + 1/2 O2 HgO HgO HgCl2 + 2 NaOH
– 2 NaCl - H2O
rot gelb
. Abb. 14.113 Synthese von Quecksilberoxid aus den Elementen (links) und durch Neutralisation von HgCl2
14.11 · Gruppe 12 – Zinkgruppe (Zn, Cd, Hg, Cn)
363 14
14.11.3 Anwendung – Dachabdeckungen,
Lagerbuchsen, Energiesparlampen
14.11.3.1 Zink
Elementares Zink wird wegen seiner Langlebigkeit zu Dachabde-
ckungen, Dachrinnen und Fenstersimse verarbeitet. Das Gros des
weltweit produzierten Zinks von 12 Mio. Tonnen wird als passiver
Korrosionsschutz zum Beschichten von Eisen und Stahl verwen-
det. Das Verzinken kann durch Eintauchen des zu verzinkenden
Gegenstandes in flüssiges Zink (Feuerverzinken) oder durch elekt-
rochemisches Abscheiden von Zink auf den kathodisch geschalte-
ten Gegenstand in einem Zinkbad (galvanisches Verzinken) erfol-
gen. Zink ist zwar unedler als Eisen und reagiert mit Sauerstoff der
Luft, allerdings bildet sich sofort eine sehr dichte Zinkoxidschicht,
die das Zink und somit auch das darunter befindliche Eisen vor
weiterer Korrosion schützt (. Abb. 14.115).
Selbst wenn der Zinküberzug beschädigt wird, fängt das dar-
. Abb. 14.114 Wurtzitstruktur – Zn-Kationen (grau) sind von vier unterliegende Eisen nicht zu rosten an, da sich Lokalelemente
S-Anionen (gelb) tetraedrisch umgeben und vice versa (© Solid State – ausbilden (7 Abschn. 11.7.2.3), wodurch sich das unedlere Zink
Wurtzite polyhedra, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wurtzite_
auflöst. Nach dem gleichen Prinzip verhindern Opferanoden aus
polyhedra.png)
Zink das Rosten von Schiffrümpfen aus Eisen (. Abb. 11.27).
Aus Zink können mittels Druckgussverfahren Teile mit
anspruchsvoller Geometrie wie Vergaser, Gehäuse, Beschläge etc.
den Grignard-Verbindungen (7 Abschn. 13.2.4). Dadurch dass die in einem kontinuierlichen Prozess gefertigt werden. Dazu wird
dem Zinkatom benachbarten Kohlenstoffatome negativ polari- geschmolzene Zamak-Legierung (93 % Zn, 4 % Al, 3 % Cu, 0,05 %
siert sind, können metallorganische Zinkverbindungen gezielt Mg) unter hohem Druck in das Werkzeug (Gussform) gedrückt.
zum Aufbau von Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen eingesetzt Durch die relativ niedrige Schmelztemperatur der Zamak-Legie-
werden. rung von 390 °C ist das Verfahren kostengünstig und schonend.
Exkurs 14.5
Messing ( . Abb. 14.116 ) ist eine Legierung aus Kupfer . Abb. 14.117 Lagerbuchsen (gelb) aus cadmiumhaltigen Lagermetall
garantieren einen reibungslosen Lauf (© Danis Designs/Fotolia)
(95–55 %) und Zink (5–45 %). Messing ist härter als Kupfer, aber
weicher als Bronze. Mit steigendem Kupferanteil intensiviert sich
die Farbe des Messings zu goldrot. Aus Messing werden Drähte,
Bleche, Rohre, Platten, Stäbe, Winkel und Profile gefertigt, die Woodsches Metall ist eine Legierung, die aus 50 % Bismut,
für Trinkwasserinstallationen, Zapfanlagen, Leuchten und in der 25 % Blei, 12,5 % Zinn und 12,5 % Cadmium besteht und bereits
Möbelindustrie verwendet werden. bei 60 °C schmilzt. Aufgrund des niedrigen Schmelzpunktes
Zink ist ein lebenswichtiges Spurenelement, ohne das zahl- wird Woodsches Metall als Schmelzsicherung für Sprinkleran-
reiche Enzyme und somit der Stoffwechsel nicht funktionieren lagen (. Abb. 13.83) und Feuermeldesysteme, als Weichlot zum
würden. Zinkmangel kann zu Haarausfall, Wachstumsstörun- Löten wärmempfindlicher Teile und als Gussform für Kunststoff-
gen, Müdigkeit und geschwächter Immunabwehr führen. Da teile verwendet.
der Körper Zink nicht speichern kann, muss es mit der täglichen
Nahrung zugeführt werden. Zinkhaltige Nahrungsmittel sind ins-
besondere Austern, aber auch Fisch, Rindfleisch, Milchprodukte 14.11.3.3 Quecksilber
14 und Ölsaaten. Aufgrund seiner Toxizität wird heute auf Quecksilber und dessen
Wichtige Zinkverbindungen sind das Weißpigment Zinkoxid Verbindungen wenn möglich verzichtet. Da Quecksilber über
(ZnO) und Zinkchlorid (ZnCl2). Zinkchlorid wird zum Konser- einen großen Temperaturbereich und bei Raumtemperatur
vieren von Holz, als Flussmittel beim Löten und zum Konservie- flüssig ist und über einen großen thermischen Ausdehnungsko-
ren von Büchern verwendet. Zinkoxid wirkt antiseptisch und ist effizienten verfügt, wurde es lange Zeit in Thermometern und Fie-
als Wirkstoff in Zinsalben enthalten, die zur Wunddesinfektion berthermometern verwendet (. Abb. 14.118). Zur Messung des
und gegen Hautausschläge aufgetragen werden.
14.11.3.2 Cadmium
Aufgrund der Toxizität von Cadmium (Knochendeformationen)
haben die prächtigen gelben Cadmiumpigmente in Farben und
Lacken und leistungsfähige Nickel-Cadmium-Akkumulatoren
kaum noch Praxisbedeutung. Zum Einfärben von Gläsern dürfen
Cadmiumchalkogenide verwendet werden, da diese fest in die
Glasmatrix eingebettet werden. Die Farbe des Glases verändert
sich von Cadmiumsulfid (CdS) über Cadmiumselenid (CdSe) zu
Cadmiumtellurid (CdTe) von gelb über orange nach rot.
Radialgleitlager enthalten „weiche“ Lagerbuchsen, die aus
Lagermetall, einer Legierung aus 90 % Blei, 9 % Zinn und einem
Prozent Cadmium, gefertigt werden (. Abb. 14.117). Die Lager-
buchse garantiert beispielsweise den reibungsarmen Lauf eines
Waggonrades auf einer gehärteten Achse. Bei Verschleiß muss . Abb. 14.118 Fieberthermometer mit Quecksilberreservoir
lediglich die Lagerbuchse ausgetauscht werden. (© alexaphotoua/Fotolia)
14.11 · Gruppe 12 – Zinkgruppe (Zn, Cd, Hg, Cn)
365 14
Luft- und Blutdruckes nutzte man die hohe Dichte von Queck- Zur Goldgewinnung werden geschürfte, goldhaltige Erze meist
silber. So halten 760 mm resp. 120 mm Quecksilbersäule dem nach der ersten Ausbeutung mit Quecksilber „gewaschen“. Die
Atmosphärendruck bzw. Blutdruck die Waage. Obwohl diese Goldspuren ergeben mit dem Quecksilber Goldamalgam, das auf-
Instrumente mehr und mehr von umweltverträglicheren Tech- grund des flüssigen Aggregatszustandes und der hohen Dichte
nologien abgelöst werden, sind nach wie vor Quecksilbergeräte leicht vom restlichen Gestein abgetrennt werden kann. Durch ein-
im Einsatz. faches Erhitzen wird anschließend das Quecksilber verdampft,
Quecksilber bildet mit Silber flüssiges Silberamalgam (Hg- sodass Rohgold zurückbleibt (7 Abschn. 14.10.1.3). Da dies meist
Gehalt bis zu 50 %), das nach ca. 10 Minuten fest wird. Da Silber- ohne Schutzvorkehrungen erfolgt und zur Gewinnung von einem
amalgam sich feinsten Hohlräumen anschmiegt, wird es in der Gramm Gold ein Kilogramm Quecksilber benötigt wird, gelangen
Dentaltechnik mit der sog. Amalgampistole in von Karies befreite dadurch große Mengen Quecksilber in die Umwelt.
Zahnlöcher zum Plombieren eingebracht. 7 Exkurs 14.5.
Exkurs 14.6
Eine weitere wichtige Anwendung von Quecksilber ist als 14.11.4 Lernkontrolle
Flüssigkathode in elektrolytischen Verfahren. So werden die
Grundchemikalien Chlor, Wasserstoff und Natronlauge aus Nat-
riumchlorid (NaCl) nach dem sogenannten Amalgamverfahren Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
großtechnisch produziert (7 Abschn. 12.7.1.3.1). Dabei bilden 4 t Zinnober, relativistischer Effekt, Wurtzitstruktur, metallor-
Quecksilber pro Elektrolysezelle die Flüssigkathode. Das an der ganische Verbindungen, Feuerverzinken, Lokalelement,
Kathode entstehende Natrium legiert mit Quecksilber zu Nat- Korrosion, Messing, Amalgamverfahren, Energiesparlampe.
riumamalgam, das mit Wasser zu Natronlauge und Wasserstoff
reagiert. Das dabei freigesetzte Quecksilber wird der Kathode
wieder zugeführt. Aus ökologischen Gründen steigt man aus der
Amalgamtechnologie zur Herstellung von Natronlauge und Chlor ? Verständnisfragen
aus, sodass weltweit keine Neuanlagen mehr nach dem Amalgam- Übung 1
verfahren in Betrieb genommen werden. Welche Metalle bilden die Zinkgruppe?
366 Kapitel 14 · Nebengruppenmetalle – Metalle von hohem kommerziellen Interesse
Übung 2
Geben Sie die Valenzelektronenkonfiguration der
Zinkmetalle an. Warum gibt es einen Diskurs darüber, ob
Zinkmetalle zu den Übergangsmetallen zu zählen sind?
Welche Rolle spielt dabei HgF4?
Übung 3
Beschreiben Sie die Herstellung von Zink aus Zinkspat.
Übung 4
Quecksilber ist toxisch. Welche Symptome treten bei
Quecksilbervergiftungen auf? Warum kann gerade
elementares Quecksilber im Haushalt ein Problem
darstellen?
Übung 5
Warum ist Quecksilber trotz seiner hohen Ordnungszahl
eine Flüssigkeit?
Übung 6
Zeigen Sie die abnehmende Reaktivität der Zinkmetalle
mit zunehmender Ordnungszahl anhand deren Reaktivität
gegenüber Sauerstoff und verdünnten Säuren.
Übung 7
Beschreiben Sie die Wurtzit-Kristallstruktur.
Übung 8
Was ist Feuerverzinken und wofür wird es verwendet?
Übung 9
Welche Funktion hat Quecksilber in Energiesparlampen?
14
Übung 10
Der Einsatz von Amalgamplomben als Zahnfüllungen ist
heutzutage sehr umstritten. Führen Sie hierzu eine Internet-
recherche durch.
367 15
. Abb. 15.1 Oxide der Lanthanoide und Lanthanoxid in all ihrer Farbenpracht (© Thomas Juestel-Fachhochschule Münster)
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21 Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35 Br 36 Kr
5 37 Rb 38 Sr 39 Y 40 Zr 41 Nb 42 Mo 43 Tc* 44 Ru 45 Rh 46 Pd 47 Ag 48 Cd 49 In 50 Sn 51 Sb 52 Te 53 I 54 Xe
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75 Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 15.2 Periodensystem – Elemente des s-Blocks (gelb), p-Blocks (orange), d-Blocks (grün) und f-Blocks (blau)
Gruppenzahl
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1 1H 2 He
2 3 Li 4 Be 5B 6C 7N 8O 9F 10 Ne
3 11 Na 12 Mg 13 Al 14 Si 15 P 16 S 17 Cl 18 Ar
Periodenzahl
4 19 K 20 Ca 21Sc 22 Ti 23 V 24 Cr 25 Mn 26 Fe 27 Co 28 Ni 29 Cu 30 Zn 31 Ga 32 Ge 33 As 34 Se 35Br 36 Kr
1
6 55 Cs 56 Ba 57 La 72 Hf 73 Ta 74 W 75Re 76 Os 77 Ir 78 Pt 79 Au 80 Hg 81 Tl 82 Pb 83 Bi* 84 Po* 85 At* 86 Rn*
2
7 87 Fr* 88 Ra* 89 Ac* 104 Rf* 105 Db* 106 Sg* 107 Bh* 108 Hs* 109 Mt* 110 Ds* 111 Rg* 112 Cn* 113 Nh* 114 Fl* 115 Mc* 116 Lv* 117 Ts* 118 Og*
1
Lanthanoide 58 Ce 59 Pr 60 Nd 61 Pm* 62 Sm 63 Eu 64 Gd 65 Tb 66 Dy 67 Ho 68 Er 69 Tm 70 Yb 71 Lu
2
Actinoide 90 Th* 91 Pa* 92 U* 93 Np* 94 Pu* 95 Am* 96 Cm* 97 Bk* 98 Cf* 99 Es* 100 Fm* 101 Md* 102 No* 103 Lr*
. Abb. 15.3 Die f-Block-Metalle (Lanthanoide, Actinoide) werden aus Platzgründen meist separat aufgeführt
voll besetzten d-Orbitalen (p-Block-Elemente, Gruppe 13–18, Das Auffüllen der Orbitale der f-Block-Elemente erfolgt nach
. Abb. 15.2, orange) voneinander trennen. Sie werden deshalb dem in 7 Abschn. 3.3 erläuterten Aufbauprinzip (Madelung-Regel,
auch als Übergangsmetalle bezeichnet. . Abb. 3.6). Somit nimmt die Energie der Orbitale der Lanthanoide
Die f-Block-Elemente ( . Abb. 15.3 ) verfügen als iso- in der Reihenfolge ns < (n − 2) f < (n −1) d (n = 6, Lanthanoide;
lierte Atome über die allgemeine Elektronenkonfiguration n = 7, Actinoide) zu. Die ns-Orbitale aller Lanthanoide (n = 6)
ns 2(n − 2)f 1−14(n −1)d1 (n = 6, 7) . D. h., es werden die sieben und Actinoide (n = 7) sind energieärmer als die (n − 2)f-Orbi-
f-Orbitale der drittäußersten Schale sukzessive mit bis zu 14 Elek- tale und stets mit zwei Elektronen gefüllt (ns2), weshalb im PSE
tronen aufgefüllt, was die 14 Lanthanoidenelemente (n = 6) resp. die Hauptgruppen 1 und 2 sich links von den f-Block-Metallen
Actinoidenelemente (n = 7) erklärt. Diese sogenannten inneren befinden. Da die leeren (n-1) d-Orbitale etwas energieärmer sind
Übergangselemente schieben sich zwischen die 3. und 4. Neben- als die (n-2)f-Orbitale, wird zuerst ein Elektron im d-Orbital des
gruppe und schließen sich den Elementen Lanthan resp. Acti- Lanthans (6d1) resp. Actiniums (7d1) platziert.
nium an. Aus Platzgründen werden sie meist separat unterhalb Anschließend werden die entsprechenden f-Orbitale suk-
des PSE aufgeführt. zessive mit Elektronen aufgefüllt wurde. Da jedoch die 4f- und
370 Kapitel 15 · Lanthanoide und Actinoide – Metalle mit außergewöhnlichen Eigenschaften
5f-Orbitale nach wie vor gleiche Energie aufweisen wie die 5d- resp. werden auf 5 Mio. Tonnen geschätzt, die Ressourcen auf 15 Mio.
6d-Orbitale, treten dabei Unregelmäßigkeiten auf, insbesondere Tonnen. Derzeit beträgt die jährliche globale Uranförderung ca.
wenn halbgefüllte (f 7) oder volle (f14) f-Orbitale eine Option dar- 50.000 t.
stellen. So weist beispielsweise Europium statt einer 6s24f 65d1- eine Transurane kommen nicht natürlich vor, sondern müssen
6s24f 75d0-Elektronenkonfiguration auf, da dies einem insgesamt durch Kernverschmelzung, künstlich erzeugt werden (7 Abschn.
energieärmeren Zustand gleichkommt. 1.4). Beispielsweise entstehen Neptunium und Plutonium in
Leichtwasserreaktoren oder Schnellen Brütern durch Neutronen-
einfang aus 238U. Durch Wiederaufbereitung der abgebrannten
15.2 Vorkommen, Gewinnung, Marktsituation Brennstäbe können beide Elemente isoliert werden.
a b
. Abb. 15.5 Elementares Uran (links) und Yellow Cake (U3O8) (a © U.S.-DOE - HEUranium, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HEUranium.jpg,
b © Kristina Postnikova/Shutterstock)
372 Kapitel 15 · Lanthanoide und Actinoide – Metalle mit außergewöhnlichen Eigenschaften
600 °C
2 U3O8 + O2 6 UO3
300 °C
UF4 + F2 UF6
. Abb. 15.8 Syntheseweg zu Uranhexafluorid aus Urandioxid . Abb. 15.10 Plutoniumlösungen unterschiedlicher Oxidationsstufen mit
charakteristischen Farben (© David L. Clark, Los Alamos National Laboratory –
Plutonium in solution, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Plutonium_
in_solution.jpg)
Eine weitere Möglichkeit ist die Hydrolyse von Uranhexafluo-
rid (UF6, siehe unten) bei gleichzeitiger Reduktion zu Urandioxid,
das dann zu Pellets gepresst wird.
Lanthanoide und insbesondere Actinoide gehen wechselnde Oxi-
15.2.4.1.4 Uranhexafluorid dationszahlen ein und bilden farbige Ionenlösungen, z. B. Pu(III)
Uranhexafluorid wird in großen Mengen für die Anreicherung blauviolett, Pu(IV) goldbraun, Pu(V) hellrosa, Pu(VI) goldfarben,
des Isotops 235Uran (7 Abschn. 15.4.2.7) benötigt, sodass letztend- Pu(VII) grünbraun (. Abb. 15.10), Eigenschaften, die sonst nur
lich angereicherte UO2-Pellets gefertigt werden können. Zur Her- bei Schwermetallen anzutreffen sind.
stellung von Uranhexafluorid wird zuerst Urandioxid mit Fluor- Aufgrund der relativ niedrigen Ionisierungsenergien
wasserstoff zu Urantetrafluorid umgesetzt, das dann bei 300 °C (. Tab. 15.1) sind fast alle Lanthanoiden- und Actinoidenver-
mit Fluor zu Uranhexafluorid oxidiert wird (. Abb. 15.8). Uran- bindungen ionisch. Für dreiwertige Salze (Ln3+) sind die s- und
hexafluorid ist ein farbloser, sehr giftiger Feststoff, der einen d-Orbitale leer und die restlichen Elektronen befinden sich in den
Dampfdruck von 0,15 bar aufweist und bei Erwärmen auf 56 °C f-Orbitalen (Elektronenkonfiguration 4f 1−145d06s0).
sublimiert.
15 15.3.1.1 Lanthanoidenkontraktion
15.2.4.2 Plutonium Lanthanoidenkontraktion bezeichnet das Phänomen, dass inner-
Plutonium fällt in beträchtlichen Mengen in Leichtwasserre- halb der 4f-Block-Elemente mit steigender Kernladungszahl der
aktoren an oder wird gezielt im Schnellen Brüter hergestellt Radius der Elemente und der Radius der dreiwertigen Ionen kon-
(. Abb. 15.9). Durch Wiederaufbereitung der Pellets kann 239Pu tinuierlich abnehmen. So reduziert sich der Ionenradius dreiwerti-
extrahiert werden, sodass es in Schnellen Brütern oder in Leicht- ger, sechsfach koordinierter Lanthanoidionen langsam aber stetig
wasserreaktoren als Kernbrennstoff eingesetzt werden kann. Die von 115 pm für Cer zu 100 pm für Lutetium (. Tab. 15.1, und
globalen Plutoniumbestände werden auf ca. 2500 t geschätzt. . Abb. 15.11). Die kaum unterschiedlichen Ionenradien der ein-
zelnen Elemente sind dafür verantwortlich, dass Seltenerdmetalle
immer vergesellschaftet vorkommen und sich nur schwer vonei-
15.3 Physikalische Eigenschaften und nander trennen lassen.
chemisches Reaktionsverhalten Der tiefere Grund für die Kontraktion der Elektronenbahnen
bei steigender Protonenzahl der Lanthanoide liegt darin, dass
15.3.1 Eigenschaften – Lanthanoide die sieben 4f-Orbitale (7 Abschn. 2.6, . Abb. 2.12) nicht kugel-
förmig, sondern keulenförmig strukturiert sind. Dadurch schir-
Alle Lanthanoide und Actinoide sind weiche, silberfarbene, reak- men die f-Elektronen die steigende Kernladung nicht kugelför-
tionsfreudige Metalle, die sich im chemischen Verhalten noch mig ab, wodurch der positive Kern stärker auf die Elektronen-
mehr ähneln als die Nebengruppenelemente untereinander. bahnen wirken kann als bei s-Orbitalen, sodass die Elektronen
238U
92 + 01n o 239U
92
239U
92 o 239Np
93 + 0
–1e WH = 23,5 Minuten 239Np
93 o 239Pu + 0e
94 –1 WH = 2,35 Tage
. Abb. 15.9 Brutreaktion – 239Pu entsteht durch Neutroneneinfang von 238U und anschließendem zweifachen β-Zerfall
15.3 · Physikalische Eigenschaften und chemisches Reaktionsverhalten
373 15
Element Ce Pr Nd Pm Sm Eu Gd Tb Dy Ho Er Tm Yb Lu
Kernladung 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Relative 140,1 140,9 144,2 144,9 150,4 152,0 157,3 158,9 162,5 164,9 167,3 168,9 173,0 175,0
Atommasse
[g/mol]
Elektronegativität 1,12 1,13 1,14 1,15 1,17 1,20 1,20 1,21 1,22 1,23 1,24 1,25 1,26 1,27
Metallradius [pm] 183 182 181 181 180 200 179 176 175 174 173 172 194 172
Ionenradius [pm] 115 113 112 111 110 109 108 106 105 104 103 102 101 100
(III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6) (III,6)
Ionisierungsener- 534 527 533 540 545 547 593 566 573 581 589 597 603 523
gie [kJ/mol]
Ordnungszahl III, IV III, IV III III II, III II, III III III, IV III III III II, III II, III III
Siedepunkt [°C] 3426 3350 3068 2730 1791 1597 3266 3123 2562 2695 2900 1947 1194 3395
Schmelzpunkt [°C] 799 931 1021 1168 1077 822 1313 1356 1412 1474 1497 1545 819 1663
Dichte [g/cm3] 6,77 6,48 7,0 7,22 7,54 5,25 7,89 8,25 8,56 8,78 9,05 9,32 6,97 9,84
Häufigkeit 43 5,2 22 10−15 6 0,1 5,9 0,9 4,3 1,1 2 0,2 2,5 0,7
Erdhülle
[ppm, g/t]
Element Ac Th Pa U Np Pu
Kernladungszahl 89 90 91 92 93 94
Relative Atommasse 227,03 232,04 231,04 238,03 237,05 244,06
Elektronegativität 1,1 1,3 1,5 1,38 1,36 1,28
Metallradius [pm] 188 180 164 154 150 152
Ionenradius [pm] 126 (III,6) 122 (III,6) 118 (III,6) 117 (III,6) 115 (III,6) 114 (III,6)
Ionisierungsenergie [kJ/mol] 665 1107 568 598 605 585
Oxidationszahl +III +IV +IV, +V +III,+IV,+V,+VI +III,+IV,+V,+VI +III,+IV,+V,+VI
Siedepunkt [°C] 3200 4790 4027 3818 3902 3332
Schmelzpunkt [°C] 1050 1750 1600 1132 640 641
Dichte [g/cm3] 10,07 11,72 15,37 18,97 20,48 19,74
Häufigkeit Erdhülle [ppm, g/t] 10−9 10 10−6 3 10−13 10−15
. Tab. 15.3 Anwendungsbeispiele einzelner Lanthanoidenmetalle . Tab. 15.4 Anwendungsbeispiele einzelner Actinoidenelemente
Cer Katalysatoren für das Cracken von Thorium Gläser hoher Lichtbrechung, Glühstrümpfe,
Erdöl, Zündsteine, optische Gläser mit Funkenstabilisierung von Schweißelektroden,
hoher Lichtbrechung, Poliermittel in der Kernbrennstoff für Hochtemperaturreaktoren,
Glasindustrie, Lambdasonde zur Steuerung des Hochtemperaturschmelztiegel
Dreiwegekatalysators, Akkumulatoren
Uran Kernbrennstoff, Kernkraftwerke, Kernwaffen,
Praseodym Grünfärbung von Glas, Laserkristalle, Supraleiter panzerbrechende Munition
Neodym Feststofflaser, Supermagnete für medizinische Plutonium Kernbrennstoff für Leichtwasserreaktoren,
Magnetresonanzgeräte, Stereoanlagen, Handys, Radionuklidbatterien, Kernwaffen
CD-Player und Windturbinen, Brennstoffzellen,
Americium Ionisationsrauchmelder, Neutronenquelle in
Farbfilter zur Kontraststeigerung von Monitoren,
der Radiologie, Radionuklidbatterie, „Starter“
blaugraue Glasfärbung, Gläser für Schweiß- und
(Neutronenquelle) zum Hochfahren von
Sonnenbrillen
Kernreaktoren
Promethium Wärmequellen für Satelliten, Dickenmesser,
Curium Radionuklidbatterie
Leuchtziffern von Uhren, farbige Gläser
Californium Neutronenquelle zum Hochfahren von
Samarium Permanentmagnete für
Kernreaktoren
Hochtemperaturanwendungen,
Neutronenabsorberstäbe für Kernkraftwerke,
Laserkristalle, infrarotabsorbierende Gläser,
Strahlenmedizin
Europium Neutronenabsorberstäbe für Kernkraftwerke,
roter und blauer Leuchtstoff für Farbmonitore, 143 elektrisch neutralen Neutronen. Eigentlich müssten die
LEDs, LCDs und Plasmabildschirme, Dotierung von Kerne sofort auseinanderstoben, da sich gleich geladene Proto-
Halbleitern nen elektrisch abstoßen (Coulomb-Abstoßung), wäre da nicht
Gadolinium Speicherchips, elektrische Supraleiter, die wesentlich stärkere Kernkraft, auch als starke Wechselwir-
Neutronenkontrollstäbe für Kernreaktoren, kung bezeichnet, die benachbarte Neutronen und Protonen
Kontrastmittel in der Kernspintomographie
zusammenhält.
Terbium Datenspeicherchips, grüner Leuchtstoff für Mit zunehmender Nucleonenzahl wirken starke Kernkraft
Farbmonitore, Hochleistungsmagnete und Coulomb-Kraft gegenläufig:
Dysprosium Neutronenabsorberstäbe in Kernkraftwerken, 44Einerseits nimmt gerade bei kleinen Atomkernen mit
korrosionsfeste Supermagnete, korrosionsstabile zunehmender Protonenzahl die Summe der starken
Werkstoffe, Laserelemente
Wechselswirkungskräfte (starke Kernkraft) zu, da der
Holmium Stahllegierungen, Hochleistungsmagnete, relative Anteil von Nukleonen an der Kernoberfläche
medizinische Laser, Neutronenmoderatorstäbe
abnimmt, sodass ein größerer Anteil an Nukleonen
Erbium Infrarotabsorbierende Gläser, Farbpigmente, Kernkräfte in alle Richtungen ausüben kann und Verluste
Laserkristalle, Magnete, Lichtwellenleiter
an Kernkraftwirkung durch Kernrandeffekte prozentual
Thulium Neutronenabsorberstäbe für Kernkraftwerke, gesehen abnehmen.
mobile Röntgengeräte
44Mit zunehmender Protonenzahl nehmen die
Ytterbium Mobile Röntgengeräte, Laserkristalle, rostfreie Coulomb-Abstoßungskräfte zu. Wegen der größeren
Edelstähle, Dauermagneten
Reichweite der Coulomb-Kräfte im Vergleich zur starken
Lutetium Polymerisationskatalysator, supraleitende Kernkraft ist der Anstieg der Coulomb-Kräfte relativ
Legierungen, rostfreie Stahllegierungen, LED-
gesehen größer als der Anstieg der starken Wechselwir-
Leuchtstoffe, Laserkristalle
kungskräfte. Kerne mit hoher Protonenzahl werden dadurch
instabil. Durch spontane Abgabe von α-, β- oder γ-Strahlung
(radioaktive Strahlung) zerfallen instabile Kerne in stabilere
wir aufgrund der kommerziellen Bedeutung des Elements (Stand (7 Abschn. 2.9).
2016: 450 Kernkraftwerke weltweit mit einer Gesamtleistung von 44Die Gesamtbindungsenergie (EB) eines Atomkerns ergibt
400 GW) und der Tatsache, dass das benötigte Uran mithilfe auf- sich aus der Addition der positiven Kernkräfte und der
wendiger chemischer Verfahren hergestellt wird, auf die Grund- negativen Coulomb-Kräfte. Dividiert man die Gesamt-
lagen der Kernenergie und Anreicherung des Nuklids 235Uran bindungsenergie durch die Nucleonenzahl (Z+N) des
genauer eingehen. Atomkerns, so wird die mittlere Bindungsenergie pro
Nukleon (EB/Nu) erhalten.
44Die mittlere Bindungsenergie nimmt von Wasserstoff zum
15.4.2.1 Kernenergie Eisen hin zu (Abnahme der Randeffekte) und fällt dann mit
Die Kerne, der am häufigsten vorkommenden Uranisotope, zunehmender Nucleonenzahl ab (Zunahme der Coulomb-
bestehen aus 92 elektrisch positiv geladenen Protonen und Kräfte, vgl. . Abb. 15.15).
376 Kapitel 15 · Lanthanoide und Actinoide – Metalle mit außergewöhnlichen Eigenschaften
235
92 U + 01n o 236
92 U o 144
56 Ba + 89
36 Kr + 3 10n + 188 MeV
. Abb. 15.14 Spaltung des Nuklids 235U durch ein thermisches Neutron
(Z) der beiden Trümmerkerne muss 92 erkennen. und schließlich unter Freisetzung immenser Menge Energie in
Da aus einem instabilen Urankern mit relativ kleiner mitt- zwei mittelschwere Atomkerne wie z. B. 144Ba und 89Kr und drei
leren Bindungsenergie pro Nukleon (7,591 MeV) die Spaltpro- freien Neutronen zerfällt (. Abb. 15.14). Da die freien Neutronen
dukte Krypton und Barium mit höherer mittlerer Bindungs- erneut drei weitere 235U-Kerne spalten können, fächert die Kern-
energie pro Nukleon (Ba: 8,265 MeV, Kr: 8,617 MeV) entste- spaltung immer mehr auf, sodass man von einer Kettenreaktion
hen, wird bei der Kernspaltung Bindungsenergie freigesetzt spricht (. Abb. 15.16).
(. Abb. 15.15). Die freigesetzte Bindungsenergie errechnet sich Da die durch die Kernspaltung freigesetzten Neutronen viel
15 für den in . Abb. 15.14 dargestellten Fall zu144·(8, 265 − 7, 591) zu energiereich (10.000 km/s) sind, um mit 235U-Kernen wech-
MeV + 89(8, 617 − 7, 591) MeV = 188, 4 MeV äquivalent zu 18.180 selwirken zu können, müssen diese auf sogenannte thermische
GJ/mol. Energie (10 km/s, thermische Neutronen) abgebremst werden.
Somit werden bei der Spaltung von einem Mol 235U (235 g) Die Bezeichnung thermisch veranschaulicht, dass die Geschwin-
18.180 GJ Energie freigesetzt. Gemäß der Einsteinschen Energie- digkeit der Neutronen in der Größenordnung von Wasserstoff-
Masse-Äquivalenz entspricht die Energie von 18.180 GJ einem molekülen bei gleicher Temperatur liegt. Das Abbremsen der
Massendefekt (Dm) von ca. 0,2 g. Neutronen erfolgt am besten durch Kollision mit Atomen, die
möglichst die gleiche Masse haben wie Neutronen, da dann nach
18.180 ⋅109 J der elastischen Stoßtheorie die Energieübertragung am effek-
E = ∆m·c 2 → ∆m = E / c 2 → ∆m =
tivsten ist. Deshalb wird als Neutronenmoderator „normales“
(3 ⋅108 m/s)
2
Wasser eingesetzt (Leichtwasserreaktoren), da die Masse der
= 0,000202 kg ≈ 0,2 g Wasserstoffatome und Neutronen nahezu identisch ist.
Damit die Neutronenfreisetzung nicht wie in einer Atom-
Somit werden bei der Spaltung von 235 g 235U-Kernen 0,2 g bombe innerhalb weniger Sekunden lawinenartig anwächst, wird
Masse nach der Einsteinschen Masse-Energie-Beziehung direkt die Anzahl an freien Neutronen in Atomreaktoren über Neutro-
in Energie umgewandelt, was dem Heizwert von 520.000 l Heizöl nenabsorberstäbe aus Cadmium, Gadolinium oder Borcarbid so
entspricht. geregelt, dass die effektive Neutronenzahl pro Kernspaltung eins
Die immense Energiefreisetzung bei der Kernspaltung im Ver- beträgt. Durch mehr oder weniger tiefes Einfahren der Steuerstäbe
gleich zur Verbrennungsenergie fossiler Brennstoffe ist auf die zwischen die Brennelemente (. Abb. 15.17c) werden Überschuss-
wesentlich stärkeren Kernkräfte zwischen den Nukleonen zurück- neutronen abgefangen, sodass der Reaktor über die Zeit kons-
zuführen, während bei chemischen Reaktionen die schwächeren tante Energie liefert. Durch vollständiges Einfahren der Steuer-
Bindungen zwischen Atomen (Wechselwirkung von Valenzelek- stäbe kann der Kernreaktor gezielt heruntergefahren, durch Her-
tronen) involviert sind. ausfahren wieder hochgefahren werden.
15.4 · Anwendungen – Windkraftwerke, Elektromobilität, Kommunikationstechnik, Kernenergie
377 15
. Abb. 15.16 Spaltung des Nuklids 235U durch ein thermisches Neutron und Andeutung der Kettenreaktion (© Peter Hermes Furian/Fotolia)
a b
c d
. Abb. 15.17 a Uranoxidpellets, b Brennstäbe, c hexagonales Brennelement, d Turbinenläufer (© a und b Bernhard Ludewig 2016, c frog/Fotolia, d Wilfried
Wittkowsky, Turbinenläufer, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Niederdruck-TurbinenL%C3%A4ufer.jpg)
15
a b
. Abb. 15.18 a Leichtwasserreaktor mit Containment und Kühlturm, b Blick in einen Reaktorkern: (© fototrm12/Fotolia, © Argonne Nationa Laboratory –
Advanced Test Reactor, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Advanced_Test_Reactor.jpg)
15.4 · Anwendungen – Windkraftwerke, Elektromobilität, Kommunikationstechnik, Kernenergie
379 15
. Abb. 15.19 Schematischer Aufbau eines Druckwasserreaktors (© San Jose/Niabot – Druckwasserreaktor, https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:Kernkraftwerk_mit_Druckwasserreaktor.png)
Kernkraftwerken zwischenlagern, bis nach Jahrzehnten die Nach- Das Kühlwasser des Primarkreislaufs steht unter 160 bar
zerfallswärme so weit abgeklungen ist, dass sie in ein Endlager Druck. Es bremst die schnellen Neutronen auf thermische
gebracht werden können. Ein solches steht allerdings in der Bun- Geschwindigkeit ab und transportiert die Reaktorwärme (Pri-
desrepublik noch nicht zur Verfügung. märkreislauf) zum Wärmetauscher (Sekundärkreislauf). Dort
wird das Wasser des Primärkreislaufs von 320 °C auf 285 °C abge-
15.4.2.4.1 Druckwasserreaktor kühlt und mit der übertragenden Wärmeenergie Wasserdampf im
Leichtwasserreaktoren können als Siedewasserreaktor oder Sekundärkreislauf erzeugt (. Abb. 15.19). Der Wasserdampf treibt
Druckwasserreaktor ausgeführt werden. Der weltweit häufigste eine Turbine an, die zur Stromerzeugung genutzt wird. Abschlie-
Typ ist der Druckwasserreaktor. Er besteht im Wesentlichen aus ßend wird der Wasserdampf mit Flusswasser oder/und Kühltür-
folgenden Komponenten: men abgekühlt und kondensiert (Kühlkreislauf), sodass es als flüs-
44Reaktorkern: Kernspaltung in Brennstäben erzeugt Energie siges Wasser wieder dem Dampferzeuger zugeführt werden kann.
und schnelle Neutronen,
44Primärkreislauf: Leichtes Wasser bremst die schnellen
Neutronen ab und transportiert die Wärme vom 15.4.2.5 Schwerwasserreaktor
Reaktorkern zum Dampferzeuger, Schwerwasserreaktoren nutzen als Moderator und Kühlmittel des
44Sekundärkreislauf: Wärmetauscher produziert Wasser- Reaktorkerns schweres Wasser (Deuteriumoxid, D2O, 7 Abschn.
dampf, der die Energie zur Turbine transportiert, 12.2.3.2). Deuteriumoxid ist zwar wesentlich teurer als leichtes
44Turbine: Umwandlung von heißem Wasserdampf in Wasser (H2O) absorbiert aber auch wesentlich weniger Neutro-
elektrischen Strom, nen, sodass der Reaktor mit nur geringfügig angereichertem Uran-
44Kühlturm: Kondensation des Wasserdampfs nach der Turbine, oxid (ca. 1,3 % 235UO2) oder sogar mit Natururanoxidpellets aus
sodass dem Dampferzeuger wieder Wasser zugeführt wird. natürlichem Uran (0,72 % 235UO2) betrieben werden kann.
239 239
238
92U + 10n o 92U 92U o 239
93Np + −10e 239
93Np o 239
94Pu + 0
−1e
55 17.12.1938 Den deutschen Otto Hahn 55 16.09.1942 Start des Manhatten-Projektes 55 09.08.1945 Abwurf der 239Plutonium-
und Fritz Straßmann gelingt die erste in Los Alamos mit der Zielsetzung Bombe „Fat Man“ mit einer Sprengkraft von
Kernspaltung im Labor. eine Atombombe zu bauen, unter 20.000 t TNT auf Nagasaki, Japan.
55 06.01.1939 Hahn und Straßmann der wissenschaftlichen Leitung von 55 02.09.1945 Kapitulation Japans, Ende des II.
publizieren in der Zeitschrift Die Naturwis- Oppenheimer, dem bis zu 120.000 Weltkrieges.
senschaften unter dem Titel „Über die Mitarbeiter zur Verfügung standen. 55 29.08.1949 Zündung der ersten
bei der Bestrahlung des Urans mittels 55 02.12.1942 Fermi nimmt an der Universität sowjetischen Atombombe mit einer
Neutronen entstehenden Erdalkalimetalle“ Chicago den ersten Prototyp eines Sprengkraft von 20.000 t TNT.
über ihre Ergebnisse. Im Gegensatz zu Hahn Kernreaktors mit einer Leistung von 200 W 55 01.11.1952 Erste amerikanische
war den international bekannten Physikern in Betrieb. Wasserstoffbombe, Sprengkraft 10 Mio
Bohr und Fermi sofort bewusst, dass sich die 55 08.05.1945 Nazi-Deutschland kapituliert, Tonnen TNT.
Kernspaltung für eine Bombe nutzen lässt. Ende des II. Weltkrieges in Europa. 55 12.08.1953 Erste sowjetische
Es wächst die Furcht, dass das III. Reich eine 55 16.07.1945 Zündung der ersten Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft
Atombombe bauen könnte. Atombombe „Gadget“ in der Wüste von von 400.000 t TNT.
55 02.08.1939 Der in die USA emigrierte New Mexico mit einer Sprengkraft von 20 kt 55 30.10.1961 Die sowjetische
Einstein schreibt an den amerikanischen TNT (Trinity-Projekt). Wasserstoffbombe „Zar“ ist mit einer
Präsidenten Roosevelt einen Brief, in dem er 55 06.08.1945 Zündung der 235Uran- Sprengkraft von 57 Mio Tonnen TNT die
vor einer deutschen Atombombe warnt und Bombe „Little Boy“ mit einer Sprengkraft stärkste je gezündete Kernwaffe.
ein entsprechendes amerikanisches Projekt von 15.000 t TNT über Hiroshima,
einfordert (Einstein-Letter). Japan.
382 Kapitel 15 · Lanthanoide und Actinoide – Metalle mit außergewöhnlichen Eigenschaften
? Verständnisfragen
Übung 1
Warum werden Lanthanoide und Actinoide auch als
f-Block-Elemente bezeichnet? Welche Elemente zählen zu
den Seltenerdmetallen? Lanthanoide können mithilfe des
Ionenaustauschverfahrens in die Reinelemente aufgetrennt
werden. Erklären Sie das Verfahren.
Übung 2
Beschreiben Sie die Herstellung von Uranhexafluorid aus
Uranpechblende. Für was wird Uranhexafluorid benötigt?
Übung 3
Wie wird das Transuran Plutonium hergestellt? Was sind
Transurane?
Übung 4
Was versteht man unter Lanthanoidenkontraktion?
15
Übung 5
Was sind die Hauptanwendungen der Lanthanoidenmetalle?
Übung 6
Was ist eine Kernspaltung? Was ist der Grund für die enorme
Energiefreisetzung bei der Kernspaltung? Was ist eine
Kettenreaktion? Erklären Sie den Begriff Massendefekt.
Übung 7
Was ist der zentrale Unterschied zwischen Leichtwasser- und
Schwerwasserreaktor? Beschreiben Sie die wesentlichen
Vor- und Nachteile der beiden Kernkraftwerkstypen?
Übung 8
Was sind die Hauptkomponenten eines Druckwasser-
reaktors? Warum erfolgt die Wärmeübertragung über zwei
gekoppelte Kühlkreisläufe?
Übung 9
Was versteht man unter Urananreicherung? Erklären Sie das
Gaszentrifugenverfahren. Wofür wird es benötigt? Warum
383 III
Organische Chemie
Kohlenwasserstoffe –
Grundbausteine der organischen
Chemie
. Abb. 16.2 Kohlenwasserstoffe untergliedern sich in aliphatische und aromatische Verbindungsklassen, typische Vertreter der jeweiligen
Verbindungsklasse ( rechts)
. Abb. 16.4 Ein Kohlenstoffatom und vier Wasserstoffatome ergeben Methan (CH4)
Methan CH4 H
H C H
H
Ethan C 2H 6
H H
H C C H
H H
Propan C 3H 8 H H H
H C C C H
H H H
Butan C4H10
H H H H
H C C C C H
H H H H
Pentan C5H12
H H H H H
H C C C C C H
H H H H H
Hexan C6H14
H H H H H H
H C C C C C C H
H H H H H H
Heptan C7H16
H H H H H H H
H C C C C C C C H
H H H H H H H
Octan C8H18
H H H H H H H H
H C C C C C C C C H
H H H H H H H H
Nonan C9H20
H H H H H H H H H
H C C C C C C C C C H
H H H H H H H H H
Decan C10H22 H H H H H H H H H H
H C C C C C C C C C C H
H H H H H H H H H H
390 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
. Abb. 16.5 Das 2s-Orbital und die drei 2p-Orbitale bilden vier sp3-Hybridorbitale
Die allgemeine Summenformel für Alkane lautet CnH2n+2, wobei ungepaarte Elektronen (px, py) für die Ausbildung von Kohlen-
n für die Anzahl der Kohlenstoffatome steht. Die allgemeine Sum- stoff-Wasserstoff-Bindungen zur Verfügung. Außerdem würde der
menformel eines Alkans kann auch so gedeutet werden, dass ein H-C-H-Bindungswinkel 90° betragen, da p-Orbitale rechtwinklig
Alkan aus n CH2-Einheiten und je einem Wasserstoffatom am zueinander angeordnet sind.
Molekülanfang und -ende besteht. Hybridisierung, d.h. die Verschmelzung des 2s- und der drei
2p-Orbitale zu vier gleichwertigen Hybridorbitalen führt aus dem
Dilemma. Was hat man sich darunter vorzustellen? Der Energie-
16.1.1 Nomenklatur, Bindungsverhältnisse, unterschied zwischen dem 2s und den 2p-Orbitalen ist relativ
Struktur klein, sodass durch geringen Energieaufwand ein Elektron aus
dem 2s- in das leere 2pz-Orbital promoviert wird. Jetzt stehen zwar
vier einfach besetzte Orbitale bereit (. Abb. 16.5, Mitte), allerdings
16.1.1.1 Nomenklatur von unterschiedlicher Gestalt (s-, p-Orbitale). Im zweiten Schritt,
Die systematische Namensgebung von chemischen Verbindun- der Hybridisierung, vermischen sich das kugelförmige s-Orbi-
gen mit internationaler Gültigkeit wird als Nomenklatur bezeich- tal und die drei hantelformigen p-Orbitale zu vier sp3-Hybridor-
net. Die Richtlinien hierfür wurden von der IUPAC, der Interna- bitalen. Die mit je einem Elektron halb gefüllten Hybridorbitale
tional Union of Pure and Applied Chemistry erarbeitet und pub- stoßen sich wechselseitig ab und nehmen dadurch im dreidimen-
liziert. Gemäß IUPAC wurden für die ersten vier Alkane deren sionalen Raum den größtmöglichen Abstand zueinander ein. Die
Trivialnamen Methan, Ethan, Propan und Butan beibehalten. Die großen Orbitallappen zeigen deshalb in die Ecken eines Tetraeders
Namen der höheren Alkane Pentan, Hexan, Heptan etc. setzen (griech. für Vierflächner, . Abb. 16.6, links). Überlappung der vier
sich dagegen aus dem jeweiligen griechischen Zahlenwort für die halb gefüllten Hybridorbitale mit den halb gefüllten s-Orbitalen
16 Anzahl der Kohlenstoffatome und der Endung -an zusammen. der Wasserstoffatome ergeben vier mit je zwei Elektronen gesät-
Namen, Summen- (7 Abschn. 5.5.2) und Strukturformel sind tigte Molekülorbitale (. Abb. 16.6, Mitte). Das Ergebnis ist ein Tet-
in . Tab. 16.1 explizit aufgeführt. Während die Strukturformel raeder mit vier Wasserstoffatomen an den Ecken und dem C-Atom
(7 Abschn. 16.1.1.3) die Verkettung der einzelnen Atome wieder- in der Mitte (. Abb. 16.6 rechts).
gibt, berücksichtigen die Kugel-Stab-Modelle zusätzlich die drei- Der Energieaufwand für die Hybridisierung der Orbitale des
dimensionale Anordnung (Konformation) der Atome. Kohlenstoffs ist weitaus geringer als der Energiegewinn, der durch
die Ausbildung von vier anstatt von zwei C-H-Kovalenzbindun-
gen auftritt. Das ,,hybridisierte“ Methanmolekül stellt somit einen
16.1.1.2 Bindungsverhältnisse energetisch günstigen Zustand dar.
Kohlenstoff und Wasserstoff bilden aufgrund ähnlicher Elektro-
negativitäten (ΔEN = 0,4) nahezu unpolare Bindungen aus. Koh-
lenstoff als Element der 4. Hauptgruppe benötigt vier Kovalenz-
bindungen, Wasserstoff dagegen nur eine, um die stabile Edelgas-
konfiguration zu erreichen (. Abb. 16.4). Im Schalenmodell lassen
sich die Bindungsverhältnisse von Methan anschaulich darstel-
len. Während das Schalenmodell H-C-H-Bindungswinkel von 90°
nahelegt, bestätigt das Orbitalmodell die Befunde der Neutronen-
beugung, dass alle vier Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen einen
H-C-H-Bindungswinkel von 109,5° einschließen.
Die Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffatoms im Grund- . Abb. 16.6 Die sp³-Hybridorbitale des Kohlenstoffs überlappen mit den
zustand ist 1s22s22p2 (. Abb. 16.5, links). Somit stünden nur zwei 1s-Orbitalen der H-Atome zu Methan
16.1 · Alkane – Kohlenwasserstoffe, die ausschließlich Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen aufweisen
391 16
H Die zweidimensionale Strukturformel oder Valenzstrichformel von z. B. 2-Methylbutan mit allen Wasser-
H stoffatomen wiederzugeben, ist auf Dauer nicht nur mühsam, sondern kann auch unübersichtlich sein. Die
H C HH
H H dreidimensionale Struktur (Stereochemie) des Moleküls kann nicht erkannt werden.
C C
C C H
H
HH H
H Die Keilstrichformel oder Keilstrichschreibweise ist eine Modifikation der Strukturformel. Sie zeigt nicht
H nur, welche Atome miteinander verbunden sind, sondern verdeutlicht auch die räumliche Anordnung der
H C
H H einzelnen Atome. Gefüllte Keile (blau) weisen aus der Papierebene heraus, d. h. die Atome liegen vor der
H
H C C Papierebene. Gestrichelte Keile (grün) weisen hinter die Papierebene. Atome, die mit einfachen Strichen (rot)
C C H verbunden sind, liegen in der Papierebene. Die Keilstrichschreibweise wird gerne auch in Verbindung mit der
H H H H Skelettformel angewandt.
CH3 Übersichtlicher ist da die Halbstrukturformel. Das Kohlenstoffgerüst ist gut erkennbar und der Schreibauf-
wand hält sich in Grenzen. Allerdings ist die Verkettung der Wasserstoffatome mit den Kohlenstoffatomen
CH CH3 nicht so explizit widergegeben wie in der Strukturformel.
CH3 C
H2
Die Linienformel oder Skelettformel ist quasi die Stenographie des organischen Chemikers. Die Formel gibt
ausschließlich das Kohlenstoffgerüst der Verbindung wieder. Striche stellen C-C-Einfachbindungen dar, Ecken
und Enden stehen für Kohlenstoffatome. Wasserstoffatome werden nicht gezeichnet. Von jedem Kohlenstoff-
atom, jeder Ecke müssen vier Bindungen ausgehen, somit kann auf die Anzahl der Wasserstoffatome, die mit
den einzelnen Kohlenstoffatomen verbunden sind, leicht geschlossen werden. Heteroatome (O, Cl, N, …)
müssen in Linienformeln angegeben werden.
Bei der Newman-Projektion oder dem Newman-Modell wird eine C-C-Einfachbindung senkrecht zur Papier-
ebene gestellt. Das vordere Kohlenstoffatom wird als Punkt, das hintere als Kreis dargestellt. Die Bindungen
des vorderen Kohlenstoffatoms gehen somit vom Punkt aus, die Bindungen des hinteren Kohlenstoffatoms
beginnen am Kreis. Diese Darstellung eignet sich insbesondere zur Darstellung von Konformeren, wie das
gestaffelte und das ekliptische Ethan (. Abb. 16.8).
16 Dreidimensionale Modelle oder 3D-Modelle zeichnen sich durch zeichnen. Es gibt jedoch leistungsfähige Software – oft sogar als
ihre plastische Visualisierung der Atomanordnungen aus. Auf Freeware im Internet erhältlich – mit der aus einer Skelettformel
einen Blick entsteht ein Gefühl für die Struktur und Größe eines durch ein paar Mausklicks publizierfähige, dreidimensionale
Moleküls. Allerdings sind diese Darstellungen nur mühsam zu Moleküldarstellungen generiert werden können.
Das Stäbchen-- oder Zylindermodell erlaubt eine sehr plastische Darstellung der Stereochemie,
d. h. der räumlichen Atomverknüpfungen. Bindungen oder Atome werden in Form von Stäben resp.
Zylindern simuliert. Beim Stäbchenmodell werden stets alle Atome inklusiv der Wasserstoffatome
dargestellt. Bindungslängen und Bindungswinkel entsprechen den proportionalen Verhältnissen im
Molekül. Da die einzelnen Atome in der gleichen Stärke wie die Bindungen dargestellt werden, ist das
Stäbchenmodell sehr übersichtlich und setzt den Fokus auf das Skelett der chemischen Verbindung.
Im Kugel-Stab-Modell oder Ball & Sticks-Modell werden die Atome durch Kugeln und die Bindungen
durch Stäbe wiedergegeben. Es ist eine sehr plastische Darstellung des Moleküls, da sowohl Kohlen-
stoffgerüst als auch weiter entfernte Strukturen auf einen Blick erfasst werden können. Das Kugel-
Stab-Modell ist ein Übergang vom Stäbchen- zum Kalottenmodell. Es erlaubt Aussagen über räum-
liche Strukturen und vermittelt eine Vorstellung über den Raumbedarf eines Moleküls.
16.1 · Alkane – Kohlenwasserstoffe, die ausschließlich Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen aufweisen
393 16
H2 CH3
C CH3
H3C C CH
H2 H3C CH3
a b
. Abb. 16.10 Die beiden Konstitutionsisomere des Butans
16.1.2.1 IUPAC-Nomenklatur
Prinzipiell setzt sich nach der IUPAC-Nomenklatur der Name
einer organischen Verbindung aus drei Komponenten zusammen:
dem Präfix, der die Substituenten spezifiziert, dem Stamm, der
angibt wie viele C-Atome der Stamm beinhaltet und dem Suffix,
der die Produktfamilie charakterisiert:
44Präfix: Welche Substituenten?
44Stamm: Wie viele Kohlenstoffatome? . Abb. 16.12 Methylradikal (CH3·) mit einfach besetztem pz-Orbital des
44Suffix: Welche Produktfamilie? Kohlenstoffatoms
394 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
Organische Molekülfragmente, denen ein Elektron zur Ach- 16.1.3 Vorkommen, physikalische Eigenschaften,
terschale fehlt, sind hochreaktiv, weshalb sie auch als Radikale Verwendung
bezeichnet werden und nicht isoliert werden können.
Von einigen Alkylresten wie z. B. Isopropyl sind nach wie vor
die Trivialnamen gebräuchlich. . Tab. 16.4 gibt einige häufige 16.1.3.1 Vorkommen
Alkylreste wieder.
Nehmen wir z. B. die Verbindung 2-Methylbutan (. Tab. 16.3), Die zweifelsfrei wichtigsten Quellen für Alkane sind Erdgas und
dann ist 2-Methyl der Präfix, but (Butan, 4 C-Atome) die Stamm- Erdöl. Nordsee-Erdgas enthält 89 % Methan, 8 % Ethan, Propan,
bezeichnung und -an steht für die Produktfamilie der Alkane. Die Butan und 3 % Stickstoff. Russisches Erdgas weist sogar einen
Hauptregeln für die systematische IUPAC-Bezeichnung von Koh- Methangehalt von bis zu 99 % auf. Methan wird in großen Mengen
lenwasserstoffen werden an der Verbindung 4-Ethyl-2,2-dimethyl- als Biogas durch Vergärung von Biomasse wie Mist, Gülle, Klär-
hexan erklärt (. Tab. 16.2). schlamm, Pflanzen etc. erhalten. Die Erdatmosphäre enthält etwa
. Tab. 16.2 Die wichtigsten IUPAC-Regeln zur Bezeichnung von substituierten Alkanen am Beispiel von 4-Ethyl-2,2-dimethylhexan
2 4 6
1 3 5 7
Substituentenpositionen werden durch vorangestellte Ziffern gekennzeichnet 2-Methyl, 4-Ethyl
2 4 6
1 3 5 7
Treten Substituenten mehrfach auf, werden griechische Zahlenwörter vorgestellt: 2,2-Dimethyl
di = 2, tri = 3, tetra = 4, penta = 5, hexa = 6
und die Substituentenposition entsprechend oft wiederholt 2 4 6
1 3 5 7
16 Der Name des Alkans wird so geschrieben, dass die Substituenten mit Anknüp- 4-Ethyl-2,2-dimethylheptan
fungspunkt alphabetisch aufgelistet werden und dann der Name des Kohlen-
wasserstoffs folgt. Das griechische Zahlenwort fällt nicht unter die alphabetische
2 4 6
Betrachtung. 1 3 5 7
. Tab. 16.3 Konstitutionsisomere des Pentans. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
Skelettformel
Methyl CH3· ·
CH3
Ethyl C 2H 5· ·
HC3 CH2
Propyl C 3H 7· H2
C ·
H3C CH2
H3C C·
H
Butyl C 4H 9· H2 ·
C CH2
H3C C
H2
H3C C·
CH3
Pentyl C5H11· H2 H2
C C ·
H3C C CH2
H2
CH3
2 ppm Methan, Tendenz steigend – problematisch, da Methan ein 16.1.3.2 Physikalische Eigenschaften
25-mal stärkeres Treibhausgas als Kohlendioxid ist und somit ganz
erheblich zur Klimaerwärmung beiträgt. In gefrorenem Wasser Die C-H-Bindungen in Alkanen sind unpolar, sodass keiner-
eingelagertes Methan, sogenanntes Methanhydrat, lagert in lei Dipol-Dipol-Kräfte vorliegen und die zwischenmolekula-
großen Mengen auf dem Meeresgrund und in arktischen Perma- ren Wechselwirkungen ausschließlich über die schwachen Van-
frostböden. Die Vorkommen übersteigen bei weitem alle bekann- der-Waals-Kräfte erfolgen (7 Abschn. 6.1.3). Van-der-Waals-
ten Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorkommen. Bisher können diese Kräfte nehmen mit steigender Kettenlänge und zunehmender
nicht kommerziell ausgebeutet werden (7 Abschn. 16.6.6). Moleküloberfläche zu, sodass mit zunehmender Kohlenstoffan-
Erdöl ist ein Gemisch aus Hunderten Kohlenwasserstoffen. zahl Schmelz- und Siedepunkt ansteigen (. Abb. 16.13). Da ver-
Die Zusammensetzung ist von Fundort zu Fundort verschieden zweigte Alkane kompakter sind und somit weniger Molekül-
(7 Abschn. 16.6.1). In Raffinerien wird Erdöl in 50 m hohen Destilla- oberfläche aufweisen, besitzen sie einen geringeren Siedepunkt
tionskolonnen in Fraktionen unterschiedlicher Siedepunkte aufge- als unverzweigte Alkane. So fällt beispielsweise der Siedepunkt
spalten. Die wichtigsten Fraktionen sind Flüssiggas (Methan, Ethan von n-Pentan (36 °C) über 2-Methylbutan (28 °C) zu 2,2-Dime-
Propan, Butan, C1–C4), Petrolether mit fünf bis sechs Kohlenstoff- thylpropan (10 °C) bei gleicher Summenformel (C 5H12) und
atomen (C5–C6), Benzin (C6–C10), Kerosin (C11–C16), Dieselöl somit gleicher molarer Masse (M = 72,15 g/mol). Für die n-Al-
(C14–C20), Paraffin (C20–C28), Schweröl (C20–C30) und Bitumen kane Methan, Ethan, Propan und Butan liegt der Siedepunkt unter
(C>30) (7 Abschn. 16.6.5.1). Durch weitere Reinigungsprozesse wie 0 °C, sodass diese bei Normalbedingungen gasförmig sind. Die
Destillation und Filtration über Molekularsiebe können aus den physikalischen Eigenschaften wichtiger Alkane sind in . Tab. 16.5
einzelnen Fraktionen reine Alkane isoliert werden. Langkettige zusammengestellt.
Alkane müssen synthetisch hergestellt werden, da sie nur geringe Der Schmelzpunkt der n-Alkane weist keinen so steti-
Unterschiede in den physikalischen Eigenschaften aufweisen. gen Verlauf auf wie der der Siedepunkte ( . Abb. 16.13). Die
396 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
16.1.3.3 Verwendung
. Tab. 16.5 Physikalische Eigenschaften von Alkanen Daten aus: PubChem-Open Chemistry Database
. Abb. 16.16 Zapfsäulen für Benzin (C6–C10) und Diesel (C14–C20) (© ARAL)
für die Klopffestigkeit eines Ottokraftstoffes (7 Abschn. 16.6.5.4). antikorrosive Wirkung auf, da aufgrund ihrer hydrophoben
Kraftstoffe mit hoher Oktanzahl verhindern eine vorzeitige Ent- Natur Metalle vor Wasserangriff geschützt werden. Paraffinöle
zündung des Kraftstoff-/Luft-Gemisches bei der Verdichtung im und Paraffine – geradkettige Alkangemische mit 18–32 Kohlen-
Kolbenraum, was einen geringeren Wirkungsgrad des Motors zur stoffatomen – weisen je nach Anzahl an Kohlenstoffatomen flüs-
16 Folge hätte. sige oder feste Konsistenz auf. Von Weichparaffin über Tafelpar-
Alkane von Nonan bis Hexadecan sind klare Flüssigkeiten affin hin zum Hartparaffin steigt die Erweichungstemperatur von
mit zunehmender Viskosität und Hauptbestandteil von Kerosin 40 auf 60 °C an. Sie finden in Haushaltsreinigern, Wachsmalstif-
und Diesel. Kerosin dient als Flugzeugtreibstoff (. Abb. 16.17); es ten, Schuhcremes, Möbelpolituren und kosmetischen Produkten
siedet bei 175–280 °C, Diesel bei 200–350 °C. Der Flammpunkt – zur Verbesserung der Glanzbildung (Gloss, . Abb. 16.18) und
die niedrigste Temperatur, bei der sich über einem Stoff ein ent- in Salben (Vaseline) Verwendung. Eine Paraffinschicht schützt
flammbares Gasgemisch bildet – steigt von Benzin (−25 °C) über Käsesorten wie z. B. Bonbel® vor dem Austrocknen. Die Haupt-
Kerosin (50 °C) zu Diesel (80 °C) an. Während sich Benzin bei anwendung für Paraffine ist jedoch Kerzenwachs wie z. B. für
Zimmertemperatur leicht entzündet, ist Kerosin nur schwer und Teelichter.
Diesel so gut wie gar nicht entzündbar. Bitumen ist ein Gemisch von Kohlenwasserstoffen, deren
Bei Dieselkraftstoffen wird zwischen Winterdiesel und Som- Moleküle aus mehr als 30 Kohlenstoffatomen bestehen. Bitumen
merdiesel unterschieden. Sommerdiesel beinhaltet einen relativ verbleibt als Rückstand der Erdöldestillation. Es weist keinen defi-
hohen Anteil langkettiger Alkane, die bereits bei −10 °C auskristal- nierten Schmelzpunkt auf und seine Viskosität ist stark tempera-
lisieren, sodass bei tiefen Temperaturen der gesamte Dieseltreib- turabhängig. In Deutschland wurden 2010 ca. 3,4 Mio. Tonnen
stoff versulzt und Kraftstoffleitungen, -pumpe und -filter verstop- Bitumen produziert. Bitumen wird in großen Mengen im Stra-
fen. Ab Mitte November bis Ende Februar stellen dehalb in den ßenbau in Abmischungen mit Split und Kunststoff zum Asphaltie-
deutschsprachigen Ländern die Tankstellen auf Winterdiesel um, ren von Straßen verwendet. In Wasser emulgiertes Bitumen lässt
das erst unter −22 °C versulzt. Winterdiesel enthält höhere Anteile sich im Gegensatz zu Straßenbitumen kalt verarbeiten. Kunst-
an Alkanen im kurzkettigen Bereich (C10–C12) als Sommerdiesel. stoffmodifizierte Bitumenemulsionen werden beispielsweise
Alkane ab 18 Kohlenstoffatome sind Feststoffe. Sie sind zur Abdichtung von Kelleraußenwänden gegen Wassereintritt
Bestandteile von Schmierölen und -fetten. Sie weisen eine eingesetzt.
16.1 · Alkane – Kohlenwasserstoffe, die ausschließlich Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen aufweisen
399 16
16.1.4.1 Oxidation
Alkane verbrennen mit Luftsauerstoff nach erfolgter Initialzündung
unter starker Wärmeentwicklung. Die freigesetzte Energie wird
zum Heizen von Gebäuden, zum Antrieb von Fahrzeugen und zur
Erzeugung von elektrischer Energie in Erdgaskraftwerken genutzt.
. Abb. 16.18 Paraffinöle verleihen Lippenstiften außergewöhnlichen Bei der vollständigen Verbrennung von Alkanen mit Luft-
Glanz (© sergeylay/Fotolia)
sauerstoff werden stöchiometrische Mengen an Kohlendioxid
und Wasser freigesetzt. So reagiert ein Molekül Methan mit zwei
Molekülen Sauerstoff unter Freisetzung von 883 kJ/mol Verbren-
16.1.4 Chemisches Reaktionsverhalten – nungswärme zu zwei Molekülen Wasser und einem Molekül
Oxidation, Pyrolyse, Halogenierung Kohlendioxid.
Aufgrund ihres unpolaren Charakters und der energiearmen Ein- CH 4 + 2 O 2 → CO 2 + 2 H 2O + 883 kJ/mol
fachbindungen sind Alkane reaktionsträge. Nicht umsonst leitet
sich der Ausdruck Paraffine, den wir heute für C18 bis C32-Al- C2H 6 + 3, 5 O 2 → 2 CO 2 + 6 H 2O + 1.542 kJ/mol
kane verwenden, von dem lateinischen Ausdruck parum affinis
für wenig reaktionsfähig ab. Diesem Umstand haben wir es zu
verdanken, dass sich Erdgas und Erdöl über zig Mio. Jahre im C8H18 + 12, 5 O 2 → 8 CO 2 + 9 H 2O + 5.470 kJ/mol
Erdinneren konserviert haben. Selbst mit starken Laugen, Säuren
und Oxidationsmitteln wie Kaliumpermanganat reagieren Alkane Pro Mol Ethan werden bei der vollständigen Verbrennung 1542 kJ
bei Raumtemperatur nicht. Erst bei höheren Temperaturen oder freigesetzt. Generell gilt, dass pro Mol oxidierter CH2-Gruppe
400 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
H H H H H H
H C + C H
H H H H H H
1 2 3
H H H H H H H H H H H H
H H H C + C H
H H H H H H H H H H H H
H H H H H H
H C + C H
H H H H H H
ca. 650 kJ Wärme entstehen. Für die Oxidation der endständigen schwingen. Bei etwa 500 °C werden die Vibrationen so stark, dass
Wasserstoffatome sind nochmals 250 kJ/mol hinzuzuaddieren. So erste C-C-Einfachbindungen auseinanderbrechen oder cracken
ergibt sich für Octan eine rechnerische Verbrennungswärme von (engl. für spalten). Die Bindungsspaltung erfolgt symmetrisch,
8 ⋅ 650 kJ/mol + 250 kJ/mol = 5.450 kJ/mol , was nahezu identisch sodass je Spaltfragment ein Bindungselektron erhalten bleibt.
mit dem empirischen Wert von 5470 kJ/mol ist. Dieses ungepaarte Elektron wird am C-Atom mit einem Punkt
Die allgemeine Gleichung für die vollständige Verbrennung symbolisiert. Der Energiebetrag, der für eine homolytische (sym-
von Alkanen (CnH2n+2, n = Anzahl Kohlenstoffatome) lautet: metrische) Spaltung aufgebracht werden muss, wird als Dissozia-
tionsenergie bezeichnet. n-Hexan kann an drei verschiedenen
CnH 2n +2 + (1, 5 ⋅ n + 0, 5) O 2 → Stellen auseinanderbrechen (. Abb. 16.19): An Stelle 1 erfolgt die
n CO 2 + (n + 1) H 2O + (n ⋅ 650 + 250) kJ Spaltung in ein Methyl- und ein Pentylradikal, an Stelle 2 in ein
Ethyl- und ein Butylradikal; erfolgt der Bruch in der Molekülmitte
16.1.4.2 Pyrolyse (Stelle 3), werden zwei Propylradikale erhalten.
Intuitiv würde man eine Spaltung in der Molekülmitte (Stelle
Pyrolyse ist die thermische Zersetzung von organischen Ver- 3) erwarten. Nüchtern betrachtet, erfolgt der Pyrolysebruch
bindungen unter Sauerstoffausschluss in kleinere Molekülfrag- bevorzugt an der Einfachbindung, für die die geringste Dissozia-
mente. Durch Erwärmen beginnen C-C-Einfachbindungen zu tionsenergie aufzuwenden ist. Ein Blick in . Tab. 16.6 zeigt, dass
. Tab. 16.6 Dissoziationsenergien für C-H- und C-C-Einfachbindungen. Daten aus: S. J. Blanskby, G. B. Ellison, Bond Dissociation Energies of
16 Organic Molecules, Acc. Chem. Res. 36 (4), S. 255–263.
H 439 kJ/mol H H 377 kJ/mol
H C H
H C C H
H
H H
H 423 kJ/mol H H 368 kJ/mol
H H H
H 413 kJ/mol H H 358 kJ/mol
. Abb. 16.22 Die Stabilität von Radikalen nimmt mit zunehmender Substitation zu
402 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
Cl Cl 2 Cl
H H
H C H + Cl H C + H Cl
H H
H H
H C + Cl Cl H C Cl + Cl
H H
überlappen, sodass das ungepaarte Elektron mehr und mehr einem Wasserstoffatom des Methans unter Bildung von Chlor-
wenigstens zum Teil delokalisiert wird. Durch zunehmende Delo- wasserstoff (HCl) und einem Methylradikal (CH3·). Im nächs-
kalisation – erkennbar an der zunehmenden Größe der blauen ten Schritt reagiert das Methylradikal mit Chlor (Cl2) unter
Fläche in . Abb. 16.24 – sind die Radikale energieärmer, stabiler Bildung von Chlormethan (CH3Cl) und einem Chlorradikal (Cl·),
und bilden sich leichter. Die Stabilisierung eines einfach besetzten wodurch der Kreislauf geschlossen wird (. Abb. 16.26).
16 p-Orbitals durch Wechselwirkung mit benachbarten sp³-Hybrid- Wird entsprechend viel Chlor zugeführt, dann entstehen auch
orbitalen, wird als Hyperkonjugation bezeichnet. die mehrfach chlorierten Moleküle Methylenchlorid (CH2Cl2),
Chloroform (CHCl3) und Tetrachlorkohlenstoff (CCl4). Wenn
sämtliche H-Atome eines Alkans durch Chlor substituiert wurden,
16.1.4.4 Halogenierung spricht man von einem perchlorierten Alkan.
Die Gase Methan und Chlor reagieren bei Raumtemperatur nicht.
Wird dagegen mit UV-Licht bestrahlt oder auf 300 °C erhitzt, wird
ein Wasserstoffatom des Methans durch ein Chloratom unter
Bildung von Chlorwasserstoff substituiert (lat. für ersetzen). Die Halogenierung von Alkanen
Reaktion läuft radikalisch ab. Da die Chlor-Chlor-Bindung am fra- Generell gelten für die Halogenierung von Alkanen folgende
gilsten ist (Dissoziationsenergie 242 kJ/mol), entstehen im ersten Zusammenhänge:
Elementarschritt durch homolytische Spaltung der Chlor-Chlor- 55Fluorierungen verlaufen wesentlich schneller als
Bindung zwei Chlorradikale (. Abb. 16.26, oben). Die Halbpfeile Chlorierungen und diese schneller als Bromierungen.
symbolisieren, dass je ein Bindungselektron bei beiden Chlorato- 55Die Substitution tertiärer Wasserstoffatome erfolgt
men verbleibt. Anschließend verbindet sich das Chlorradikal mit schneller als die von sekundären H-Atomen und
die wiederum schneller als die von primären
H H Wasserstoffatomen (Regioselektivität) (. Tab. 16.7).
300 °C oder UV 55Die Regioselektivität nimmt mit zunehmender Reaktivität
H C H + Cl Cl H C Cl + H Cl
des Halogens, also von Iod über Brom und Chlor zu Fluor
H H
hin ab.
. Abb. 16.25 Chlorierung von Methan zu Chlormethan
16.1 · Alkane – Kohlenwasserstoffe, die ausschließlich Kohlenstoff-Kohlenstoff-Einfachbindungen aufweisen
403 16
2-Methylbutan verfügt über neun primäre H- und ein tertiäres
. Tab. 16.7 Relative Substitutionsgeschwindigkeiten bei H-Atom. Die Abschätzung der prozentualen Ausbeute der Halo-
der Halogenierung von primären, sekundären und tertiären genisomere erfolgt in . Abb. 16.27.
H-Atomen- Daten aus R. T. Morrison, R. N. Boyd, Lehrbuch
der Organischen Chemie, 2. Auflage (1978) Verlag Chemie,
Das Beispiel zeigt, dass die direkte Bromierung meist zu reinen
S. 111–112.
Bromalkanen mit vorhersagbaren Ausbeuten führt. Die direkte
H H CH3 Chlorierung liefert dagegen ein Isomerengemisch, das nur
C H3C
schwer auftrennbar ist, da die Siedepunkte der Isomeren nah
H3C C H H3C H C H
beieinanderliegen. Da Chloralkane oft als Lösemittel eingesetzt
CH3 CH3
H werden, ist jedoch eine Auftrennung meist nicht erforderlich,
Ethan Propan 2-Methylpropan da die einzelnen Isomere nahezu gleiche Löseeigenschaften
aufweisen.
H-Typ primär sekundär tertiär
Fluor 1 1,2 1,4
Chlor 1 3,8 5,0 16.1.5 Halogenalkane
Brom 1 250 6.300
Halogenalkane sind wegen der hohen Elektronegativität der Halo-
gene leicht polar und üben deshalb stärkere Wechselwirkungen
untereinander aus als unsubstituierte Alkane. Die Siedepunkte
der Halogenalkane sind dadurch höher als die der entsprechen-
Liegen in einem Molekül gleichzeitig primäre, sekundäre und den Alkane.
tertiäre H-Atome vor, muss neben der Reaktivität des Halogens Generell sind Halogenalkane hervorragende Lösemittel für
noch die Häufigkeit der einzelnen Wasserstoffarten berücksich- unpolare Stoffe wie Fette, Wachse und Öle. Seit den 1980er Jahren
tigt werden. So weist beispielsweise 2-Methylpropan ein tertiäres werden sie jedoch immer mehr durch andere Stoffe ersetzt, da
H-Atom, aber auch neun primäre H-Atome auf. einige Halogenalkane wie 1,2-Dichlorethan (ClCH2CH 2Cl)
Dichlormethan (CH2Cl2) und Chloroform (CHCl3) im Verdacht
Beispiel – Halogenierung von 2-Methylpropan stehen, krebserregend und schädlich für Leber und Niere zu sein.
2-Methylpropan wird mit Chlor resp. Brom umgesetzt. Wie sind Trotzdem sind Halogenkohlenwasserstoffe nach wie vor aufgrund
die zu erwartenden Mengen an 1-Halogen-2-mehylpropan und ihrer Polarisierung und der damit einhergehenden Reaktivität
2-Halogen-2-methylpropan (. Abb. 16.27)? Das Verhältnis der Iso- unverzichtbare Intermediate (Zwischenstoffe) für die industrielle
mere ergibt sich aus dem Produkt der jeweiligen Wahrscheinlich- Chemie. Aus Halogenalkanen können gezielt Alkohole, Amine,
keiten (Anzahl H-Atome eines Typs) und den Regioselektivitäten. Nitrile und Monomere für die Polymerisation hergestellt werden.
H CH3
Cl C 1-Chlor-2-methylpropan
C CH3
H2 64 %, Sdp. 69 °C
+ Cl2 Cl CH3
C 2-Chlor-2-methylpropan
H3C CH3 36 %, Sdp. 5 °C
– HCl
H CH3
C
H3C CH3
+ Br2 H CH3
Br C 1-Brom-2-methylpropan
– HBr C CH3 0,1 %, Sdp. 92 °C
H2
Br CH3
C 2-Brom-2-methylpropan
H3C CH3 99,9 %, Sdp. 72°C
16.1.6 Lernkontrolle
? Verständnisfragen
Übung 1
Was versteht man unter organischer Chemie? Was sind
Heteroatome?
. Abb. 16.28 Chloroform – eine farblose Flüssigkeit mit Sdp.
61 °C – wirkt anästhesierend (© Duncan Flockhart – Chloroform, https:// Übung 2
commons.wikimedia.org/wiki/File:Bottle_of_chloroform,_United_
Erklären Sie die Bindungsverhältnisse des Methans mithilfe
Kingdom,_1896-1945_Wellcome_L0058271.jpg)
des Hybridisierungmodells.
Übung 3
16.1.5.1 Chloroform Was sind Konstitutions- und Konformationsisomere?
Chloroform (IUPAC-Bezeichnung: Trichlormethan, . Abb. 16.28) Zeichnen Sie die Skelettformeln der Konstitutionsisomere
wurde erstmals 1848 von dem schottischen Arzt Simpson als des Hexans.
16 Betäubungsmittel verwendet – ein Segen für die peingeplagten
Patienten. Vorher mussten Operationen bei vollem Bewusstsein Übung 4
des Patienten durchgeführt werden. Wegen seiner organschädigen- Was sind Substituenten? Was sind Alkylradikale?
den Wirkung wurde Chloroform in den 1950er Jahren von Halot-
han (2-Brom-2-chlor-1,1,1-trifluorethan, CF3CHBrCl) abgelöst. Übung 5
Benennen Sie die Konstitutionsisomere des Hexans gemäß
der IUPAC-Nomenklatur.
16.1.5.2 Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW)
FCKW oder CFKW (Fluorchlor- bzw Chlorfluorkohlenwasser- Übung 6
stoffe) sind Alkane, bei denen H-Atome durch Fluor- und Chlor- Erklären Sie den Unterschied von Liquified Natural Gas (LNG)
atome substituiert wurden. FCKW wie Trichlorfluormethan und Liquified Petroleum Gas (LPG). Warum setzt sich Ihrer
(CCl3F, Frigen 11) oder Dichlordifluormethan (CCl2F2, Frigen Meinung nach derzeit LPG als Autokraftsoff nicht durch,
12) wurden in großen Mengen als Kühlmittel für Kühlschränke, obwohl es wesentlich billiger ist als Benzin oder Diesel?
Gefriertruhen, Klimaanlagen, Kältemaschinen zur Luftverflüssi- Vergleichen Sie Preis und Verbrennungsenergie von 1 kg
gung etc. verwendet. Da FCKW ungiftig, unbrennbar und geruch- LPG, Benzin und Diesel. Warum erfolgt der Vergleich auf
los sind, eignen sie sich auch als Treibmittel in Sprühdosen für z. B. Kilogramm- und nicht auf Literbasis?
Deodorants, Parfüms, Rasierschaum, Farblacke etc.
FCKW sind zwar prinzipiell reaktionsträge, wurden Übung 7
aber in den 1980er Jahren als Ursache für den Ozonabbau Zeichnen Sie die Skelettformeln von
(7 Abschn. 12.6.1.1.5) in der Stratosphäre (15 bis 30 km Höhe) 2,2,4-Trimethylpentan, 1,1,2,2-Tetrachlorethan,
erkannt. Die Ozonschicht schützt das Leben auf der Erde 2-Brom-2-chlor-5-ethyl-4-methylnonan.
16.2 · Alkene – Kohlenwasserstoffe mit mindestens einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung
405 16
Übung 8 16.2 Alkene – Kohlenwasserstoffe mit
2,2,4-Trimethylpentan weist eine Oktanzahl von 100 auf. mindestens einer Kohlenstoff-
Machen Sie eine Internetrecherche zur Bedeutung der Kohlenstoff-Doppelbindung
Oktanzahl. Formulieren Sie die chemische Gleichung der
vollständigen Verbrennung von 2,2,4-Trimethyloctan. Wie Während das Kohlenstoffgerüst von Alkanen ausschließlich aus
viel Verbrennungsenergie wird pro Mol 2,2,4-Trimethyloctan C-C-Einfachbindungen besteht, verfügen Alkene über mindes-
freigesetzt? tens eine C=C-Doppelbindung. Alkene werden manchmal noch
nach dem alten Namen für Ethen („Ölbildner“, frz. oléfiant) als
Übung 9 Olefine bezeichnet.
Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) sind sehr Das einfachste Alken ist Ethen mit der Summenformel C2H4.
reaktionsträge und wurden deshalb bis in die 1980er Jahre Da Kohlenstoffatome vierbindig sind und in Ethen mit je zwei
als Treibgase und Kältemittel eingesetzt. Heute sind FCKW Wasserstoffatomen Bindungen eingehen, muss zwischen den
verboten; weshalb? Kohlenstoffatomen des Ethens eine Doppelbindung vorhanden
sein. Alkene gehören dadurch zu den ungesättigten Kohlenwas-
Übung 10 serstoffen. Die nächsthöheren Alkene Propen, Buten, Penten
2-Methylbutan wird mit einem Mol Chlor resp. etc. leiten sich von Ethen durch sukzessives Einschieben einer
Brom halogeniert. Erklären Sie den Begriff Methyleneinheit (-CH2-) ab und formen somit eine homologe
Regioselektivität. Welche Isomere entstehen mit welcher Reihe (. Tab. 16.8). Die Doppelbindung des Alkens muss nicht
Ausbeute? endständig sein, sondern kann an jeder beliebigen Stelle des
. Tab. 16.8 Die homologe Reihe der Alkene. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
H H
But-1-en C 4H 8 −185 −6
H H
H
H H
H
H H
6 4 2
7 5 3 1
Die Positionsziffer des Kohlenstoffatoms, auf das die Doppelbindung folgt, wird -hept-3-en
direkt vor der Familienbezeichnung en angegeben
6 4 2
7 5 3 1
Benennung der Substituenten wie bei den Alkanen. Die Positionsnummern der 4-Ethyl-6-methyl-hept-
Substituenten richten sich nach der Position der Doppelbindung 3-en
6 4 2
7 5 3 1
Bei mehrfach substituierten Alkenen wird die absolute Position der Substi- (E)-4-Ethyl-6-methyl-
tuenten an der Doppelbindung als cis-/trans- oder Z-/E-Isomer angegeben hept-3-en
(7 Abschn. 16.2.2)
6 4 2
7 5 3 1
Alkene mit mehreren Doppelbindungen werden als Dien, Trien, etc. bezeichnet. Buta-1,3-dien
Die Positionen der Doppelbindungen wird durch mehrere Positionsnummern vor
1 3
2 4
dem Suffix -en angegeben.
16 16.2.1.1 Nomenklatur Polyene (Diene, Triene, …) sind Moleküle mit mehreren Dop-
Die systematische IUPAC-Namensgebung erfolgt analog zu den pelbindungen. Direkt benachbarte Doppelbindungen, werden
Alkanen (. Tab. 16.9). Die Stammnamen Eth-, Prop-, But- etc. als kumulierte Doppelbindungen bezeichnet. Das einfachste
sind identisch mit denen der Alkane. Die Doppelbindung als Molekül mit kumulierter Doppelbindung ist Propadien mit dem
charakteristische Funktion der Alkene wird durch das Suffix -en Trivialnamen Allen (. Abb. 16.29a). Propadien hat die Summen-
ausgedrückt. formel C3H4. Die CH2-Enden des Moleküls sind um 90° verdreht.
Bei konjugierten Doppelbindungen wie z. B. in Buta-1,3-dien
Benennung von Alkenen (. Abb. 16.29b) oder Vitamin A (. Abb. 16.41) liegen abwechselnd
Propen
C=C-Doppelbindungen und C-C-Einfachbindungen vor. Befin-
Prop-1-en, Angabe der Positionsziffer nicht erforderlich, den sich wie bei Penta-1,4-dien (. Abb. 16.29c) mehrere C-C-Ein-
da es für Propen keine andere Möglichkeit der Doppel- fachbindungen zwischen den Doppelbindungen, sind diese isoliert
bindungspositionierung gibt. voneinander zu betrachten, während kumulierte und konjugierte
Generell wird für terminale (endständige) Alkene Doppelbindungen Wechselwirkungen eingehen.
die Positionsziffer 1 für die Doppelbindung nicht
angegeben.
a b c
. Abb. 16.29 Kumulierte (a), konjugierte (b) und isolierte Doppelbindungen (c)
H H H H
Pd-Kat.
C C + H2 H C C H
H H H H
Typischer Vertreter H H
H H H
C C C C
H H H
H H
a b
. Abb. 16.35 Elektronendichteverteilung von Ethan (a) und Ethen (b). Die Elektronendichte nimmt von den weißen Regionen (H) über die blauen (C) zu der
grünen Region (π-Bindung) zu.
CH3
H Br
H H2C CH2
C C
C C
H3C Cl
H3C Cl
a b
12 10 10
1 OH 1 OH
12
hohe Wirkung geringe Wirkung
a b
. Abb. 16.39 Die Wirkung von Pheromonen ist strukturabhängig (a) Das 10-trans-12-cis-Isomer von Bombykol wirkt milliardenfach stärker als das 10-cis-12-
trans-Isomer (b)
16.2.3.1 Vorkommen
Alkene kommen nur in geringen Mengen in Erdöl vor. Da die
Abtrennung zu mühsam und die Vorkommen zu gering sind, . Abb. 16.40 Limonen – Aromastoff von Südfrüchten
erfolgt die technische Herstellung im Großmaßstab in der Raffi-
nerie durch katalytisches Cracken von Erdöl (7 Abschn. 16.6.5.2). und der Verweilzeit des Erdöls im Cracker wird die Reaktion in Rich-
In der Natur benutzen Insekten Alkohole mit Doppelbindun- tung Ethen, Propen, Buten etc. gelenkt. Mittels Destillation können
gen, sog. Pheromone, zum Anlocken des Sexualpartners oder dann die Alkene isoliert und gereinigt werden.
zum Markieren von Futterquellen. Labortests ergaben, dass die Im Labor können Alkene gezielt durch Eliminierung (Abspal-
Wirkung eines Pheromons sehr stark von der Z/E-Isomerie der tung) von Halogenwasserstoff, Wasser oder Halogenen aus Halo-
Doppelbindung bestimmt wird. So hat beispielsweise das Sexual- genalkanen oder Alkoholen dargestellt werden (. Abb. 16.42).
pheromon Bombykol (10-trans-12-cis-Hexadecadien-1-ol,
. Abb. 16.39a) des männlichen Seidenspinners eine milliardenfach
stärkere Wirkung als das 10-cis-12-trans-Isomer (. Abb. 16.39b). 16.2.3.3 Eigenschaften
Zitrusfrüchte produzieren Limonen, den Aromastoff von Zit- Alkene bis Buten sind gasförmig und ab Penten bis Pentadecen
ronen und Limetten, die nicht nur angenehm schmecken, sondern (C15H30) flüssig. Die Siedepunkte von Alkenen liegen generell
die Frucht auch vor Bakterienbefall schützen (. Abb. 16.40). unter den Siedepunkten der Alkane, da aufgrund der starren C=C-
β-Carotin kommt in Karotten vor. Es ist die Vorstufe von Retinol Doppelbindung die Kohlenstoffketten sich nicht so eng aneinan-
(Vitamin A), das für das Wachstum von Säugetieren und die Sehkraft derschmiegen können wie die flexibleren Alkan-C-Ketten und
des Menschen unentbehrlich ist. Trifft Licht auf das Auge, so wandelt die damit ausgeübten Van-der-Waals-Kräfte kleiner sind. Da die
sich die cis-Form des Vitamin A exotherm in die trans-Form um. Die U-förmige Struktur von cis-Alkenen keine so dichte Packung
16 dabei freigesetzte Energie verursacht einen elektrischen Impuls, der zulässt wie die von trans-Alkenen, schmelzen cis-Alkene tiefer. So
über den Sehnerv an das Gehirn weitergeleitet wird (. Abb. 16.41). beträgt der Schmelzpunkt von trans-2-Buten –106 °C und der von
cis-2-Buten –129 °C; der von trans-3-Hexen –115 °C und der von
cis-3-Hexen –138 °C. Alkene sind geringfügig polarer als Alkane
16.2.3.2 Herstellung (7 Abschn. 16.1), aber immer noch hydrophob und lipophil. Somit
Generell werden Alkene wie Ethen, Propen, Buten, Butadien etc. in sind auch Alkene wie Alkane kaum wasserlöslich, aber sehr gut
großen Tonnagen durch katalytisches Cracken von Erdöl in Raffi- löslich in unpolaren Lösemitteln wie Benzin.
nerien hergestellt. Durch Erwärmen auf 500 °C bei 20 bar Druck Generell sind Alkene reaktionsfreudiger als Alkane. Da der
in Gegenwart von Aluminiumoxidkatalysator zerfallen langkettige Kohlenstoffgehalt von Alkenen höher ist als der von Alkanen
Alkane in zwei Radikalhälften, die anschließend in kurzkettige Alkane (CHexen = 85,6 %, CHexan = 83,6 %), rußen Alkene bei der Ver-
und Alkene abreagieren. Durch Steuerung der Reaktionsbedingungen brennung stärker.
6
Licht 1 H
6
1
H O
. Abb. 16.41 Sehvorgang – Licht wandelt die cis-Form (links) des Vitamin A in die trans-Form (rechts) um
16.2 · Alkene – Kohlenwasserstoffe mit mindestens einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung
411 16
H CH3 CH3 CH2
H3C
H3C CH3 + KOH + H3C + KBr + HOH
CH3 CH3
H Br
27 % 73 %
CH3 H H
Säure, 50 °C H3C
H3C H + HOH
OH H 3C H
H
H Br R2
H
R1 R2 + Zn + Zn Br2
Br R1 H
H
16.2.4 Wichtige Vertreter etwa 0,12 Gramm Gas. Ethen schmilzt bei –169 °C und siedet bei
–104 °C. Global werden jährlich über 160 Mio. Tonnen Ethen pro-
duziert, wovon die Hälfte für die Produktion von Polyethylen (PE)
16.2.4.1 Ethen und weitere 25 % zur Herstellung anderer Polymere wie Polyvi-
Die Alkene Ethen, Propen und Buten sind wichtige Primärchemi- nylchlorid (PVC), Polystyrol etc. Verwendung finden. Ethen dient
kalien in der chemischen Industrie. Wegen der großen kommer- auch als Ausgangsstoff für Industriechemikalien wie Ethylenoxid,
ziellen Bedeutung der Olefinchemie werden die einzelnen Reprä- Ethanol, Acetaldehyd und Halogenethane.
sentanten näher beschrieben. Ethen ist auch ein Pflanzenhormon, das die Fruchtreife stimu-
Ethen (Trivialname Ethylen) ist ein brennbares Gas mit süß- liert. Dies wird in der Lebensmitteltechnologie weithin genutzt
lichem, aber unangenehmen Geruch. Pro Liter Wasser lösen sich (7 Exkurs 16.2).
Exkurs 16.2
. Abb. 16.43 Perfekt mithilfe von Ethen gereifte Bananen der Reifestufe 4 (gelbe Früchte mit grünen Spitzen, © Hyrma/Fotolia)
412 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
H2 (Pd) H H
H H Ethan
H H
O
O2 (Ag)
Ethanal
(Acetaldehyd)
H
O
O2 (PdCl2)
Oxiran
(Ethylenoxid)
H O H (H+)
OH Ethanol
H H
H H Cl2 – HCl
Chlorethen
Cl (Vinylchlorid)
HCl
Chlorethan
Cl (Ethylchlorid)
Br
. Abb. 16.44 Polypropylen-Kunststoffgranulat wird aus Propen Br2
hergestellt (© lowtech24/Fotolia) 1,2-Dibromethan
Br
CH2=CH2 H H
Polyethen, PE
16.2.4.2 Propen (Polyethylen)
H H n
Propen (Propylen) ist ebenfalls ein brennbares, aber geruchloses
Gas. Es schmilzt bei –185 °C und siedet bei –48 °C. Propen ist gut . Abb. 16.45 Typische Reaktionen von Alkenen am Beispiel von Ethen
löslich in Ethanol und Ether. Weltweit werden jährlich ca. 80 Mio.
Tonnen hergestellt. Der Großteil des Propens wird zu Polypropy-
len (PP) polymerisiert (. Abb. 16.44). Industriechemikalien, die Palladium und Nickel katalysieren die Spaltung von Wasserstoff-
aus Propen hergestellt werden, sind z. B. Propanol, Acrylsäure, molekülen zu Atomen und deren stufenweise Addition an die
Acrylnitril oder Aceton. Doppelbindung des Alkens. Die Reaktion verläuft unter gerin-
gem Wasserstoffdruck quantitativ und kann über das verbrauchte
Volumen Wasserstoff verfolgt werden. Die Reaktion verläuft exo-
16.2.4.3 Butenisomere therm, da die Bindungsenergie der beiden entstehenden C-H-
Die Isomere But-1-en, cis-But-2-en, trans-But-2-en und 2-Methyl- σ-Bindungen größer (2·439 kJ/mol) ist als die der zu spaltenden
propen weisen wie Propen eine größere Dichte als Luft auf. Sie H-H-σ-Bindung (436 kJ/mol) und der zu öffnenden C=C-π-Bi-
fallen als Nebenprodukte bei der Herstellung von Ethen an. Da ndung (260 kJ/mol).
die Siedepunkte der vier Isomere im Bereich von –7 bis +4 °C
16 liegen, können sie nur mit erheblichem Aufwand sortenrein
16.2.5.2 Addition von Halogenwasserstoff
aufgetrennt werden. Butenisomere dienen als Ausgangsstoffe
für Butanol, Butanon, Buta-1,3-dien und zur Herstellung von Wird gasförmiger Halogenwasserstoff (HCl, HBr, HI) in die
Synthesekautschuk. Lösung eines Alkens eingeleitet, erfolgt elektrophile Addition
von Halogenwasserstoff an die C=C-Doppelbindung. Im ersten
Schritt addiert sich das elektrophile (elektronenliebende) positiv
16.2.5 Chemisches Reaktionsverhalten – polarisierte Wasserstoffatom an ein C-Atom der Doppelbindung
Hydrierung, Halogenierung, unter Bildung eines positiv geladenen Carbeniumions. Im zweiten
Polymerisation Schritt addiert sich das nucleophile (kernliebende, positive Ladung
liebende) Anion (Cl–, Br–, I–) aus räumlichen Gründen von der
Die erhöhte Elektronendichte an der C=C-Doppelbindung und Rückseite an das Carbeniumion. Die elektrophile Addition von
die leicht zu öffnende π-Bindung sind verantwortlich für die hohe Bromwasserstoff an Ethen ist in . Abb. 16.46 gezeigt.
Reaktivität von Alkenen. . Abbildung 16.45 zeigt typische Reaktio- Erfolgt die Addition von Halogenwasserstoffen oder Wasser
nen von Alkenen am Beispiel von Ethen. Zu den klassischen Reak- an ein unsymmetrisches Alken, dann addiert sich das elektro-
tionen von Alkenen zählen Additionsreaktionen und die radikali- phile Proton (H+) an das Doppelbindung-C-Atom, dass die
sche Polymerisation. größere Anzahl von H-Substituenten aufweist. Dieser Zusam-
menhang wurde erstmals 1869 von dem russischen Chemiker
Markownikow formuliert (Markownikow-Regel). Im Falle von
16.2.5.1 Addition von Wasserstoff Propen entsteht somit bei der Reaktion mit Bromwasserstoff aus-
Die Addition von Wasserstoff (Hydrogenierung) bedarf eines schließlich 2-Brompropan (. Abb. 16.47, grün hinterlegt) und kein
Katalysators zur Aktivierung des Wasserstoffs. Metalle wie Platin, 1-Brompropan.
16.2 · Alkene – Kohlenwasserstoffe mit mindestens einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung
413 16
Br
H Br
–
δ+
Br
H H H H
H δ– H H H 1. + H 2. H
C C C C C C C C
H H H H H H H
H H Br
H H H
H + H 3C
C C C C
H 3C H H
H Br H Br H
+
H H
C C
H3C H
H H H
+ H H
C C C C
H H H
H 3C H3C Br
Der tiefere Grund der regioselektiven Addition von unsym- eine blaue Bindung) über das sekundäre zum tertiären Carbe-
metrischen Molekülen an unsymmetrisch substituierte Alkene niumion (. Abb. 16.48 rechts, drei blaue Bindungen) zu. Die Sta-
nach Markownikow ist die Stabilität des intermediär auftreten- bilisierung durch den +I-Effekt erfolgt wie beim Alkylradikal
den Carbeniumions. Carbeniumionen sind positiv geladen, ent- (7 Abschn. 16.1.4.3) durch Überlappen (Hyperkonjugation) des
halten ein Kohlenstoffatom mit sechs Elektronen und sind deshalb 2pz-Orbitals mit den angrenzenden sp3-C-H-Hybridorbitalen,
hochreaktiv. Das positiv geladene C-Atom des Carbeniumions wodurch Elektronendichte in das leere pz-Orbital gelangt und
ist sp²-hybridisiert und geht somit drei Bindungen mit planarer die positive Ladung des Carbenium-C-Atoms abgeschwächt wird
Struktur ein. Das nichthybridisierte pz-Orbital ist leer, weist also (. Abb. 16.24).
kein Elektron auf. Generell gilt, dass die Stabilität von Carbeniu- Die Markownikow-Regel besagt letztendlich, dass die Addi-
mionen mit der Anzahl an Alkylgruppen am Carbenium-C-Atom tion eines unsymmetrischen Reagenz an unsymmetrische Alkene
zunimmt. Durch den im Vergleich zu H-Atomen elektronendrü- über den Übergangszustand des stabileren, weniger energierei-
ckenden Effekt (positiver induktiver Effekt, +I-Effekt) von Alkyl- chen Carbeniumions verläuft.
gruppen, schieben Alkylgruppen dem positiv geladenem Carbe-
nium-C-Atom Elektronendichte zu und stabilisieren dadurch das
Carbenium-C-Atom. 16.2.5.3 Addition von Halogenen
Die kleinen Pfeilspitzen in . Abb. 16.48 geben an, in welche Die Anlagerung von Halogenen (Cl2, Br2) an Alkene erfolgt analog
Richtung Elektronendichte verschoben wird. Je mehr Alkyl- dem Mechanismus der elektrophilen Addition. Die Elektronen-
gruppen am Carbenium-C-Atom vorhanden sind, desto stärker wolke der π-Bindung schiebt die freien Elektronenpaare des
ist der stabilisierende induktive Effekt. Somit nimmt die Stabi- zugewandten Bromatoms in Richtung des abgewandten Brom-
lität vom Methylkation über das primäre ( . Abb. 16.48 links, atoms. Das positiv polarisierte Bromatom bildet dann im ersten
Schritt mit der π-Bindung der Doppelbindung ein Carbeniu-
mion (. Abb. 16.49). Das freigesetzte Bromidanion nähert sich
Br
–
Br
Br
Br Br H
H H 1. + 2. H
C C C C C C
H H H H H
H H H Br
. Abb. 16.48 Alkylsubstituenten stabilisieren Carbeniumionen durch den
+I-Effekt . Abb. 16.49 Elektrophile Addition von Brom an Ethen
414 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
H H H H H H H H H H
C C C C C C C C C C Monomere
H R H R H R H R H R
H H H H H H H H H H
C C C C C C C C C C
H R H R H R H R H R
Polymerisation
H H H H H H H H H H
C C C C C C C C C C Polymer
H R H R H R H R H R
? Verständnisfragen
16.2.5.5 Bildung von Polymeren Übung 1
Alkene können sich zu langen Kettenmolekülen, sog. Polyme- Beschreiben Sie den wesentlichen Unterschied von Alkenen
ren (poly, griech für viel und méros, griech. für Teilchen) ver- und Alkanen.
knüpfen. Da der Start dieser Reaktion mit Radikalbildnern
erfolgt, wird diese Reaktion radikalische Polymerisation genannt Übung 2
(7 Abschn. 22.1.1). Warum werden Alkene auch als ungesättigte Verbindungen
Formal wird dabei die π-Bindung der C=C-Doppelbindung bezeichnet?
homolytisch aufgespalten (. Abb. 16.51, rote Halbpfeile), sodass
die C-Atome der vormaligen C=C-Doppelbindungen je ein radi- Übung 3
kalisches Elektron tragen. Zur Verkettung verbindet sich ein Elek- Beschreiben Sie die Doppelbindung von Alkenen mit dem
tron eines Monomers (7 Abschn. 21.2.1) mit einem einsamen Elek- Hybridisierungsmodell.
tron eines anderen Monomers zu einer C-C-σ-Bindung. Da eine
C-C-σ-Bindung stabiler ist als eine C=C-π-Bindung, verlaufen Übung 4
radikalische Polymerisationen exotherm. Nach erfolgter Polyme- Zeichnen Sie die Strukturformeln von 2,4–Dimethyl-
risation sind die endständigen C-Atome der Polymerkette noch hept-1-en, trans- 3,4-Dimethylpent-2-en, Z-2-Brombut-
radikalisch und können weitere Monomermoleküle anlagern. Die 2-en.
16.3 · Alkine – Kohlenwasserstoffe mit mindestens einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Dreifachbindung
415 16
Übung 5 Übung 9
Benennen Sie gemäß den IUPAC-Regeln folgende Was sind Carbeniumionen? Erklären Sie, warum die
Strukturformeln: Stabilität vom primären über sekundärem hin zum
Cl tertiären Carbeniumion ansteigt? Benutzen Sie hierfür das
Hyperkonjugationsmodell.
Übung 10
Übung 6 Was besagt die Markownikow-Regel? Welches Produkt
Formulieren Sie die Reaktionsgleichung für die Synthese von entsteht bei der Addition von Chlorwasserstoff (HCl) an
Propen aus 2-Chlorpropan und 1,2-Dibrompropan. 2-Methylpropen?
Übung 7
Wird eine rote Bromlösung zu einer Lösung von But-2-en 16.3 Alkine – Kohlenwasserstoffe mit
getropft, dann entfärbt sich anfänglich die Bromlösung, bis mindestens einer Kohlenstoff-
sämtliches But-2-en aufgebraucht wird. Formulieren Sie die Kohlenstoff-Dreifachbindung
Reaktionsgleichung.
Alkine sind Kohlenwasserstoffe, die mindestens eine C≡C-Drei-
Übung 8 fachbindung enthalten. Die Alkinfunktion, d. h. die C≡C-Drei-
Was versteht man unter dem induktiven Effekt (I-Effekt)? fachbindung, kann im Molekül endständig oder innenstän-
Welchen Einfluss hat ein positiver induktiver Effekt dig sein. Generell weisen Alkine die Summenformel C nH2n–2
(+I-Effekt) bzw. ein negativer induktiver Effekt (–I-Effekt) auf auf mit n = Anzahl der C-Atome. Das einfachste Alkin ist
die positive Ladung des Carbenium-C-Atoms? Ethin mit dem Trivialnamen Acetylen und der Summenformel
. Tab. 16.11 Die homologe Reihe der Alkine. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
But-1-in C 4H 6 −126 +8 H
H
H
H
H H
C2H2 (n = 2). Die höheren Alkine Propin, Butin, Pentin etc. leiten
sich von Ethin durch sukzessives Einschieben einer Methylen-
einheit (-CH2-) ab und formen die homologe Reihe der Alkine
(. Tab. 16.11). Polyine (Diine, Triine, …) sind Moleküle mit meh-
reren Dreifachbindungen.
16.3.1.1 Nomenklatur
Die systematische IUPAC-Namensgebung erfolgt analog zu den 16.3.1.2 Bindungsverhältnisse
Alkanen und Alkenen (7 Abschn. 16.1.1 und 16.2.1). Die Stamm- Alkine weisen eine lineare Geometrie auf. Im Falle von Ethin als
namen Eth-, Prop-, But- etc. sind identisch. Die Dreifachbindung einfachstem Vertreter der Alkinreihe befinden sich alle vier Atome
als charakteristische Funktion der Alkine wird durch das Suffix – auf einer Geraden, d. h. der Bindungswinkel CºC-H beträgt 180°
in ausgedrückt. (. Abb. 16.52).
Einige Beispiele zeigt die folgende Übersicht. Die beiden Kohlenstoffatome des Ethins weisen in Summe
acht Valenzen (Außenelektronen) auf und gehen somit acht Bin-
dungen ein. Aus der Summenformel C2H2 folgt, dass zwei Bin-
dungen zwischen C- und H-Atomen bestehen. Die noch rest-
HC C CH3 Propin lichen sechs Elektronen ergeben eine Dreifachbindung zwi-
Prop-1-in; die Angabe der Posi-
schen den beiden C-Atomen. Ein Alkin verfügt somit über eine
tionsziffer ist nicht erforderlich,
da es für Propin keine weitere CºC-Dreifachbindung und zwei C-H-Einfachbindungen. Jedes
Möglichkeit der Dreifachbin- Atom des Ethinmoleküls weist dadurch Edelgaskonfiguration (C:
dungspositionierung gibt. Oktett, H: Dublett) auf.
Generell wird bei terminalen Die Dreifachbindung verleiht Alkinen einen quasi doppelt
(endständigen) Alkinen die
ungesättigten Charakter. Addition von zwei Molekülen Wasserstoff
Positionsziffer 1 für die Dreifach-
bindung meist weggelassen. (Hydrierung) ergibt die entsprechenden Alkane (. Abb. 16.53).
H3C C C CH3 But-2-in Die Struktur der linearen Dreifachbindung der Alkine lässt
Internes Alkin mit einer Ketten- sich wieder anschaulich mit dem Orbitalmodell erklären. Die
länge von vier C-Atomen. Die beiden C-Atome der Alkin-Dreifachbindung sind sp-hybridisiert.
Dreifachbindung beginnt am
Das 2s- und 2px-Orbital der beiden C-Atome verschmelzen zu
zweiten C-Atom.
Penta-1,4-diin je zwei gleichwertigen sp-Hybridorbitalen (. Abb. 16.54, rechts).
HC C CH2
Die Positionsnummern der Drei- Die wechselseitige Abstoßung der sp-Orbitale ergibt die lineare
C fachbindungen sind wichtig, da Konfiguration der Alkine. Das 2px- und 2pz-Orbital nehmen an
CH es auch Penta-1,3-diin gibt. Das der Hybridisierung nicht teil. In allen vier Orbitalen befindet sich
Fugen-a nach „Pent“ wird wieder
16 aus sprachlichen Gründen
je ein ungepaartes Elektron (weißer Pfeil, . Abb. 16.54, rechts).
eingefügt. . Abbildung 16.55 zeigt, wie sich aus den zwei sp-hybridi-
H3C 3-Methylbut-1-in sierten C-Atomen und zwei H-Atomen ein Ethinmolekül formt.
Die Stammkette besteht aus Je ein sp-Hybridorbital der beiden C-Atome überlappt mit dem
H C C CH
vier C-Atomen. Die Positions- anderen zu einer C-C-Einfachbindung. Entlang der Bindungs-
H3C nummer des Substituenten
achse ist diese rotationssymmetrisch und wird deshalb als σ-Bi-
richtet sich nach der Position
der Dreifachbindung. ndung bezeichnet. Außerdem überlappen die restlichen zwei sp-
C C Non-1-en-7-in Hybridorbitale und die s-Orbitale der beiden Wasserstoffatome zu
C C
C C C Die Stammkette besteht aus zwei rotationssymmetrischen C-H-σ-Bindungen. Dadurch liegen
C C
neun C-Atomen und enthält alle vier Atome des Ethins auf der x-Koordinate. Je C-Atom sind
sowohl eine Alken- als auch
noch die beiden nichthybridisierten, orthogonal (senkrecht) zuei-
eine Alkinfunktion. Beide Funk-
tionen sind nach IUPAC gleich- nander angeordneten, halb besetzten py- und pz-Orbitale vorhan-
rangig. Die Positionsnummer den (. Abb. 16.55, grüne Orbitale). Da durch die C-C-σ-Bindung
richtet sich nach der Mehrfach- eine räumliche Nähe der py- und pz-Orbitale der beiden C-Atome
bindung, die am nächsten erzwungen wird (. Abb. 16.55, Mitte), überlappen diese seitlich
zum Kettenende ist, also in
diesem Fall nach der Doppelbin-
dung. Die Funktionen -en H H
Pd-Kat.
und –in werden alphabetisch R C C R' + 2 H2 R C C R'
mit den Positionsnummern
aufgelistet. H H
. Tab. 16.12 Vergleich der Strukturelemente von Alkanen, Alkenen und Alkinen
Typischer Vertreter H H
H H
C C H C C H C
H H H C
H H H
H H R R'
R C C R' + KOH C C + KBr + HOH
Br Br Br H
R R'
NH3, fl.
C C + NaNH2 R C C R' + NaBr + H NH2
Br H
. Abb. 16.61 Synthese von Alkinen durch zweifache Eliminierung von Bromwasserstoff aus vicinalen Dibromalkanen
16.3.2.3 Eigenschaften
Alkine sind wie Alkene und Alkane wenig polare Kohlenwasser-
stoffe. Sie sind in Wasser nahezu unlöslich, dagegen in organi-
schen Lösemitteln wie Hexan, Ether, Toluol etc. sehr gut löslich.
Ethin, Propin und Butin sind bei Normalbedingungen gasförmig.
Generell gilt, dass Siedepunkte, Schmelzpunkte, Dichten und Lös-
lichkeiten denen von Alkenen entsprechen. Von wirtschaftlicher
Bedeutung ist insbesondere Ethin.
R
Katalysator
H H + R OH Vinylierung
OH
O
R
Katalysator
H H H Ethinylierung
R H
OH
Katalysator O
H H + CO + H 2O Hydrocarboxylierung
OH
Katalysator
3 H H Cyclisierung
16.3.3 Chemisches Reaktionsverhalten – Reppe- des Katalysators kurzzeitig fixiert. Die Wasserstoff-Wasserstoff-
Chemie und Additionsreaktionen Bindung wird gelockert und die mobilen Wasserstoffatome gehen
dann mit dem Alkin die Additionsreaktion ein. Erst wenn beide
. Abbildung 16.63 zeigt grundlegende Reppe-Reaktionen mit π-Bindungen des Alkins mit Wasserstoff abreagiert haben, wird
Ethin. das Alkan von der Katalysatoroberfläche freigesetzt (. Abb. 16.66).
Alkine gehen wie Alkene elektrophile Additionsreaktionen an
den π-Bindungen ein. Allerdings verlaufen sie langsamer als bei z Stereoselektive Hydrierung zu cis-Alkenen
Alkenen, da die entstehenden Carbeniumionen weniger reaktiv Da die zweite π-Bindung reaktionsträger ist als die erste, ist auch
sind als im Falle der Alkene. eine partielle, stereoselektive Hydrierung des Alkins zum cis-
. Abbildung 16.64 zeigt typische Reaktionen von Ethin. Alken möglich. Um die Stereoselektivität zu steuern, werden
weniger aktive Katalysatoren als Ni, Pd oder Rh benötigt. Lind-
lar-Katalysator (. Abb. 16.65) besteht aus Calciumcarbonat als
16.3.3.1 Hydrierung (Addition von Wasserstoff) Trägermaterial und Palladium als katalytische Komponente. Zur
Verminderung der Aktivität wird der Katalysator mit Bleiacetat
z Hydrierung zu Alkanen und Chinolin gezielt „vergiftet“. Nach Anlagerung von zwei Was-
Die Hydrierung oder Hydrogenierung von Alkinen ergibt mit Pd-, serstoffatomen an dieselbe Seite des Alkinmoleküls setzt der „ver-
16 Pt-, Rh- oder Ni-dotierten Festkörperkatalysatoren Alkane. Dabei giftete“ Katalysator cis-Alken frei (. Abb. 16.66).
werden Wasserstoff und Ethin an der katalytischen Oberfläche Im ersten Schritt wird das Alkin über die Dreifachbindung
an den katalytischen Zentren des Lindlar-Katalysators fixiert und
2 H2
H H das Wasserstoffmolekül aktiviert, d. h. in H-Atome gespalten.
H C C H Ethan
Danach lagert sich eines der auf der Katalysatoroberfläche mobilen
H H
H-Atome an eine π-Bindung des Acetylens unter Bildung einer
H H
H2 noch fixierten Vinylgruppe (-CH=CH2) an. Im dritten Schritt
C C Ethen
H H
addiert das zweite H-Atom in cis-Position an die Vinylstruktur
und das resultierende cis-Alken wird von der Katalysatorober-
H H
HCl
C C Vinylchlorid
fläche freigesetzt.
H Cl
H C C H z Stereoselektive Hydrierung zu trans-Alkenen
2 Br2 Br Br
H C C H 1,1,2,2-Tetrabromethan
Wird die Reduktion von But-2-in mit Wasserstoff im flüssigen
Br Br Ammoniak und darin gelöstem Natrium durchgeführt, dann
H O
entsteht stereoselektiv trans-But-2-en (. Abb. 16.67). Das in
H2O
H C C Ethanal, Acetaldehyd
H 3C CH3
H H 1 bar H2 /
H3C C C CH3 + H2 C C
Lindlar-Katalysator
NaNH2 H H
H C C – Na + Natriumacetylid
– NH3
. Abb. 16.65 cis-Hydrierung von But-2-in zu cis-But-2-en mit Lindlar-
. Abb. 16.64 Typische Reaktionen von Ethin Katalysator
16.3 · Alkine – Kohlenwasserstoffe mit mindestens einer Kohlenstoff-Kohlenstoff-Dreifachbindung
421 16
. Abb. 16.66 Stereoselektive Hydrierung von Alkinen zu cis-Alkenen nucleophile, negative geladene Chloridanion in trans-Position
an das positiv geladene C-Atom der ehemaligen Dreifachbin-
dung, . Abb. 16.69). Im Unterschied zu Alkenen können Alkine
H3C H
flüssiges NH3/Na zwei Moleküle H-Hal addieren. Durch entsprechende Wahl der
H3C C C CH3 + H2 C C
Reaktionsbedingungen kann die Reaktion auf der ersten Addi-
H CH3 tionsstufe abgefangen werden. Die Addition verläuft nach der
Markownikow-Regel (7 Abschn. 16.2.5.2). Bei terminalen Alkinen
. Abb. 16.67 trans-Hydrierung von But-2-in zu trans-But-2-en mit in
Ammoniak gelöstem Natrium addieren sich somit bis zu zwei H-Atome an das endständige
C-Atom.
Cl
–
H Cl Cl
δ+
H H H H H
δ–
H C C H H C C H C C C C
+
H H Cl
H H H H
H2SO4/HgSO4 Tautomerie
H C C H + H2O C C H C C
H O H O
H
Vinylalkohol Acetaldehyd
Enol-Struktur Keto-Struktur
ist auch die C-H-Bindung leicht polarisiert. Wasserstoff (EN = Allerdings reagieren die Vinylprotonen des Polyethins an Luft
2,2) trägt eine geringe positive und Kohlenstoff (EN = 2,6) eine mit Sauerstoff unter Ausbildung von Peroxiden und Carbonylen,
geringe negative Partialladung. Insbesondere terminalen (end- so dass die Anordnung der konjugierten Doppelbindungen und
ständigen) Alkinen wird in etherischer Lösung das terminale die elektrische Leitfähigkeit verloren gehen, wodurch dotiertes
H-Atom als H+ von starken Basen wie Natriumamid (Na +NH− 2) Polyethin als elektrischer Leiter keine kommerzielle Bedeutung
entrissen (. Abb. 16.71). Terminale Alkine weisen somit acide hat.
Eigenschaften auf. Ein Maß für die Säurestärke ist der pKS-Wert
(7 Abschn. 10.4.2). Je kleiner der pKS-Wert, desto saurer ist eine
Verbindung. Wasser hat einen pKS-Wert von 16, Ammoniak von 16.3.4 Lernkontrolle
35. Die pKS-Werte für Alkane, Alkene und Alkine betragen 60, 44
und 25. Somit ist Wasser saurer als Ethin und dieses wiederum
saurer als Ammoniak. Oder anders ausgedrückt: Die starke Base Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
NH- 2 hält ein Proton stärker fest als die etwas schwächere Base, das Alkin, Dreifachbindung, sp-Hybridisierung, vicinal, Vinyl-
Acetylidanion (H-C≡C− ). halogenid, Ethin (Acetylen), stereoselektive Hydrierung,
Acetylidanionen sind nützliche Synthesebausteine und Hydratation, Hydrogenierung, Keto-Enol-Tautomerie, auto-
können z. B. Bromidionen in Bromalkanen nucleophil ver- genes Schweißen, Calciumcarbid
drängen, wodurch langkettige interne Alkine aufgebaut werden
können (. Abb. 16.72).
? Verständnisfragen
Übung 1
16.3.3.6 Polymerisation Was sind die wesentlichen Strukturmerkmale von Alkinen?
Ethin lässt sich bei −78 °C in Toluol mithilfe von Katalysatoren
zu Polyethin polymerisieren. Polyethin weist eine Kettenstruktur Übung 2
mit konjugierten Doppelbindungen auf (. Abb. 16.73). Die Subs- Beschreiben Sie die Dreifachbindung von Alkinen mithilfe
tanz selbst ist trotz der konjugierten Doppelbindungen ein elek- des Hybridisierungsmodells.
trischer Isolator von geringer Leitfähigkeit von 10–10 S/m. Nach
16 partieller Oxidation des Polyethins mit Halogenen oder partieller Übung 3
Reduktion mit Natrium nimmt die elektrische Leitfähigkeit auf Warum gibt es an der Dreifachbindung keine geometrische
105 S/m – vergleichbar mit Metallen – zu. Isomerie?
Übung 4
Ether
R C C H + NaNH2 R C C– Na+ + H NH2 Benennen Sie nach den IUPAC-Regeln folgende Strukturformel.
H2
C C
R C C– Na + + Br C 3H 7 C CH 3 + NaBr
R C
H2 Übung 5
Berechnen Sie die Elementarzusammensetzungen von
. Abb. 16.72 Nucleophile Substitution eines Bromidions durch ein
Ethin, Ethen und Ethan. Bringen Sie den Begriff „ungesättigt“
Acetylidion
damit in Zusammenhang.
H Übung 6
Toluol/Kat./–78 °C C CH3
n HC CH H3C C Was versteht man unter autogenem Schweißen? Erklären Sie
H n
insbesondere den Begriff autogen in diesem Zusammenhang.
. Abb. 16.73 Polymerisation von Ethin zu Polyethin mit konjugierten Formulieren Sie die chemische Gleichung für das autogene
Doppelbindungen Schweißen. Führen Sie dazu eine Internetrecherche durch.
16.4 · Cyclische Kohlenwasserstoffe – Polygone aus Kohlenstoffatomen
423 16
Übung 7
C C
Erklären Sie den Unterschied zwischen Hydrierung C
und Hydratation und zwischen Halogenierung und C C
C
Hydrohalogenierung.
. Abb. 16.74 Cyclische Kohlenwasserstoffe – Cyclopentan (links),
Cyclohexen (Mitte) und Cyclooctin (rechts)
Übung 8
Erklären Sie den Begriff Stereoselektivität. Warum bleibt bei
der stereoselektiven Hydrierung von Alkinen die Reaktion
auf der Alkenstufe stehen, ohne weitere Wasserstoffaddition C
C C
bis zum Alkan? C
C
. Tab. 16.13 Eigenschaften cyclischer Kohlenwasserstoffe. Daten aus PubChem – Open Chemistry Database:
16.4.1.1 Nomenklatur
. Abb. 16.81 trans-1,2-Dimethylcyclohexan (a) ist energetisch stabiler als cis-1,2-Dimethylcyclohexan (b)
. Tab. 16.14 Ringspannung in Cycloalkanen. Daten aus: Skript Cycloalkane von Roland Micura, http://rna.micura.at/teaching/OC_Pharm/
Unterlagen/ocphkap6.pdf
Cycloalkan
Cyclopropan Cyclobutan
Cyclopentan
Cyclohexan Cycloheptan Cyclooctan
Bindungswinkel bei ebener Geometrie 60° 90° 108° 120° 129° 135°
Reale Abweichung vom Tetraederwinkel 49,5° 19,5° 0° 0° 0° 0°
Winkelspannung 78 71 0 0 0 0
(Baeyer-Spannung) [kJ/mol]
Empirische Ringspannung pro Molekül [kJ/mol] 115 110 27 0,4 27 42
CH2-Gruppen im Molekül 3 4 5 6 7 8
Ringspannung pro CH2-Gruppe [kJ/mol] 38,3 27,5 5,4 0,1 3,9 5,2
16.4 · Cyclische Kohlenwasserstoffe – Polygone aus Kohlenstoffatomen
427 16
und einer Dichte von 0,75 g/ml. Cyclopentan findet Anwendung
als Lösemittel organischer Stoffe und als Treibmittel zur Herstel-
lung von Polyurethan- und Polystyrolhartschäumen.
Cyclohexan ist ebenfalls Bestandteil des Erdöls. Es ist mit
Abstand das kommerziell bedeutendste Cycloalkan. Cyclohexan
ist eine farblose Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 81 °C und
einer Dichte von 0,78 g/ml und hat einen benzinartigen Geruch.
90 % des Cyclohexans wird zur Herstellung der Kunstfaser Nylon®
eingesetzt. Außerdem findet es als Lösemittel in Lacken und
Harzen Verwendung.
16.4.2.2 Eigenschaften
Cycloalkane weisen höhere Dichten, Schmelz- und Siedepunkte
auf als die offenkettigen Alkane mit gleicher Kohlenstoffzahl. Als
Kohlenwasserstoffe sind sie gute Lösemittel für organische Subs-
. Abb. 16.83 Ringspannung pro Methyleneinheit als Funktion der tanzen und hydrophob. Mit Sauerstoff verbrennen sie zu Kohlen-
Ringgröße
dioxid und Wasser.
Im Vergleich zu n-Alkanen reagieren Cycloalkane aufgrund
es Tabak zugegeben, um dem Rauch die Schärfe zu nehmen. Cho- der vorhandenen Ringspannung heftiger und setzen beispielsweise
lesterin, auch Cholesterol genannt (. Abb. 16.84b), besteht aus drei bei der vollständigen Verbrennung mit Sauerstoff zu Kohlendi-
anellierten Sechsringen und einem Cyclopentanring. Cholesterin oxid und Wasser pro Methylengruppe (-CH2-) mehr Energie frei
wird für die Stabilisierung der Zellwände benötigt und ist darüber als offenkettige Alkane.
hinaus eine wichtige Komponente für die Vitamin-D-Synthese.
Erhöhte Cholesterinspiegel können durch Ablagerung zur Veren-
gung von Arterien (Arteriosklerose) führen. Campher ist ein Bei- 16.4.2.3 Herstellung
spiel für ein verbrücktes bicyclisches Ringsystem. Der Bestandteil Weltweit werden in Großanlagen durch Hydrierung von Benzol
des in Asien beheimateten Kampferbaums wirkt schleimlösend über drei Millionen Tonnen Cyclohexan in hoher Ausbeute und
und fördert die Durchblutung (. Abb. 16.84c). Reinheit hergestellt (. Abb. 16.85).
Cyclopentan ist Bestandteil des Naphthas. Es ist eine leicht ent- Im Labor lässt sich Cyclopropan gezielt durch Reaktion von
zündliche, farblose Flüssigkeit mit einem Siedepunkt von 49 °C 1,3-Dichlorpropan mit Zink herstellen (. Abb. 16.86).
a b c
O
HO
HO
. Abb. 16.84 Naturstoffe mit Ringstrukturen – Mentholkristalle und Struktur (a), Cholesterin mit Modell eines verstopften Blutgefäßes (b) und
Kampferbaum und Campherstruktur (c) (© Debeo Morium-Menthol Crystals, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Menthol_Crystals_close_up.jpg,
decade3d – anatomy online/Shutterstock, Periptus – Cinnamomum camphora, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cinnamomum_camphora_-_
Botanic_Gardens.jpg)
428 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
H 150 °C
H H Propen
H H
H H
Ni, 200 °C, 25 bar H H
+ 3 H2
H H
H H H
H H H2
H H H H Propan
H H H
H H H
. Abb. 16.85 Großtechnische Darstellung von Cyclohexan durch
Hydrierung von Benzol
H H H
H Br
H Br 1-Brompropan
H2
C Cl H H H
H2C + Zn + ZnCl2
C Cl
H2 H H H
Br2
Br Br 1,3-Dibrompropan
. Abb. 16.86 Synthese von Cyclopropan aus 1,3-Dichlorpropan
H H H
R1 O R1
. Abb. 16.88 Typische Reaktionen gespannter Ringverbindungen am
O
Beispiel von Cyclopropan
R2 R2
H H
Übung 7
Erklären Sie die Sesselkonformation von Cyclohexan. Kaminfeuer eingenickt war. „Wieder gaukelten die Atome vor meinen
Unterscheiden Sie zwischen äquatorialen und axialen Augen. … Lange Reihen, vielfach dichter zusammengefügt; alles in
Substituenten. Veranschaulichen Sie sich, warum durch den Bewegung, schlangenartig sich windend und drehend. Und siehe, was
war das? Eine der Schlangen erfasste den eigenen Schwanz und höhnisch
Ring-Flip äquatoriale in axiale Positionen übergehen und
wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl
vice versa. erwachte ich und verbrachte den Rest der Nacht, um die Konsequenzen
der Hypothese auszuarbeiten.“ (Aus: Ber. Dtsch. Chem. Ges. 23 (1890),
Übung 8 1306). So gab der begnadete Rhetoriker Kekulé es wenigstens 1890
Die Diels-Alder-Reaktion dient zum Aufbau von auf einem zu seinen Ehren abgehaltenen Symposium der Deutschen
Chemischen Gesellschaft zum Besten. Wahrheit oder Fiktion?
Ringmolekülen. Machen Sie zu diesem Reaktionstyp eine
Niemand weiß es.
Literatur-Recherche.
Übung 9
Der Enthalpieunterschied zwischen axialer und äquatorialer Die Strukturformel von Kekulé warf aber auch Fragen auf:
Anordnung von tert-Butylcyclohexan beträgt 22,8 kJ/mol. 44Warum ist Benzol so reaktionsträge? Obwohl das Molekül
Berechnen Sie das Isomerenverhältnis bei Raumtemperatur. drei Doppelbindungen aufweist, spricht der klassische
Nachweis auf Alkene – die Entfärbung von Bromwasser
Übung 10 (. Abb. 16.50) – nicht an!
Folgende Strukturformeln haben die IUPAC-Namen 44Warum sind alle sechs C-C-Bindungen (139 ppm) des
Spiro-[4,4]-nonan und Spiro-[3,5]-nonan (rechtes Molekül). Benzols gleich lang, obwohl C=C-Doppelbindungen
Stellen Sie eine allgemeine Regel für die Bezeichnung von (134 pm) kürzer sind als C-C-Einfachbindungen (154 pm)?
Spiranen auf. 44Warum existiert nur eine Form von 1,2-Dibrombenzol,
obwohl zwei Isomere denkbar sind, je nachdem, ob sich die
Bromatome an einer kürzeren Doppelbindung oder an einer
längeren Einfachbindung befinden?
H H H
Exkurs 16.2
H C H H C H H C H
C C C C C C
1834 bestimmte Mitscherlich die richtige C/H-und Summenformel Mesomerie
(C6H6) von Benzol. Das Lösen der Strukturformel bereitete jedoch C C C C C C
lange Zeit Probleme, bis 1865 der deutsche Chemiker Friedrich H C H H C H H C H
August Kekulé eine ringförmige Anordnung der sechs C-Atome mit H H H
konjugierten C=C-Doppelbindungen vorschlug (. Abb. 16.89).
Angeblich kam Kekulé dieser Gedanke, als er eines Abends vor dem . Abb. 16.90 Mesomeriegleichgewicht der Kekulé-Formeln (links und
Mitte); Robinson-Formel (rechts)
430 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
16.5.1.1 Definition
+ H2 + 120 kJ/mol
+ 2 H2 + 232 kJ/mol
+ 3 H2 + 208 kJ/mol
. Abb. 16.91 σ- Gerüst (grau) und pz-Orbitale (grün) des Benzolrings, . Abb. 16.93 Reaktionswärmen für die Hydrierung von Cyclohexen,
H-Atome (rot) Cyclohexa-1,3-dien und Benzol
16.5 · Aromatische Kohlenwasserstoffe – Benzolring als Grundeinheit
431 16
. Tab. 16.15 IUPAC-Namen, Trivialnamen, Strukturformeln und Eigenschaften wichtiger aromatischer Verbindungen. Daten aus: GESTIS-
Stoffdatenbank des IFA
NO2
432 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
. Tab. 16.15 Fortsetzung
H C H H C H
H C H C H H
C C
= = C6H5 ˙ = Ph˙ = = C6H5CH2˙ = Bz ˙
C C
H C H H H
H H
a b
. Abb. 16.95 Phenyl- (a) und Benzylradikal (b) als Beispiele aromatischer Substituenten
16.5 · Aromatische Kohlenwasserstoffe – Benzolring als Grundeinheit
433 16
a b c
O
H OH H
O
HO N
CH3
HO N
O H CH3 N
OH O
H
. Abb. 16.96 Naturstoffe mit aromatischer Struktur – Vanillin (a), Adrenalin (b) und Indigo (c) (© Valentina R./Fotolia, freefly/Fotolia, David Stroe – Indigo
cake, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Indigo_cake.jpg)
z Benzol z Verwendung
Benzol, eine stark lichtbrechende Flüssigkeit geringer Viskosität, BTX (Abkürzung für Benzol, Toluol, Xylol) finden als Lösemittel
bildet bereits bei Raumtemperatur entzündliche Dämpfe, die mit in der chemischen Industrie Verwendung. Das krebserregende
stark rußender Flamme brennen. Benzoldämpfe riechen süßlich Benzol mit immer noch 40 Mio. Tonnen globaler Jahresproduk-
und sind giftig, da sie über Haut und Lunge aufgenommen werden tion wurde in den letzten Jahrzehnten nach Möglichkeit durch
und Knochenmark, Leber und Blutbildung schädigen. Benzol ist die weniger flüchtigen Toluol und Xylol ersetzt. Benzol wird als
in die Kategorie A1 der krebserzeugenden Stoffe eingruppiert – Ausgansstoff für substituierte Aromaten wie Nitrobenzol, Anilin,
d. h. es gibt hinreichende Anhaltspunkte, dass Benzol beim Men- Phenol und Styrol benötigt. Daraus können dann Phenolharze
schen Krebs auslöst. (Bakelit®), Farbstoffe, Arzneimittel, Kunststoffe und Riechstoffe
434 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
hergestellt werden. Außerdem wird es trotz seiner Giftigkeit Xylole dienen als großindustrielle Rohstoffe für Terephthal-
(Totenkopf-Kennzeichnung) bis zu 1 % Ottokraftstoffen zur Ver- säure und Phthalsäure, die als Monomere für Polyester (7 Abschn.
besserung der Klopffestigkeit zugesetzt (7 Abschn. 16.6.5.4). 22.2.8 ) und Weichmacher große wirtschaftliche Bedeutung
Toluol wird nicht nur als Lösemittel, sondern auch als Aus- haben.
gangsstoff für die Herstellung von Benzaldehyd, Benzoesäure und Ein anderer Aromat, das Insektizid DDT, hat vor einigen Jahr-
Trinitrotoluol (TNT) eingesetzt. zehnten die öffentliche Diskussion beherrscht (7 Exkurs 16.3).
Exkurs 16.3
DDT (4,4′-Dichlordiphenyltrichlorethan)
Die insektizide Wirkung von DDT (. Abb. 16.97) Carson in ihrem Roman Silent Spring (Stummer Akute Vergiftungserscheinungen (Krämpfe,
wurde erstmals von dem Schweizer Chemiker Frühling) die Risiken des DDT-Einsatzes Verwirrtheit, Gleichgewichtsstörungen)
Paul Müller 1939 erkannt, wofür er 1948 den thematisierte. DDT reduzierte den Bestand treten ab Mengen von zwei Gramm auf. Über
Nobelpreis für Medizin verliehen bekam. DDT der Singvögel; der Chor der Vogelstimmen chronische Vergiftungen beim Menschen ist in
entwickelte sich schnell zum „Wunderpestizid“, im Frühling (silent spring) blieb aus. Anstelle der Literatur nichts bekannt.
das z. B. während des zweiten Weltkriegs völlig des Begriffs Pestizid verwendete Carson Die fettlöslichen Eigenschaften des DDT
bedenkenlos zum Entlausen von Soldaten und die Bezeichnung Biozid, was in breiten führen jedoch zu einer Anreicherung in der
Zivilisten eingesetzt wurde. Bevölkerungsschichten die Furcht schürte, dass Nahrungskette Plankton ® Fisch ® Vogel.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde es zur DDT alles Lebende abtöte. Bei Vögeln greift DDT in den Kalkhaushalt ein,
Bekämpfung der Anopheles-Mücke (Erreger von Als DDT aus ökologischen Gründen abgesetzt sodass die Eierschalen dünn und zerbrechlich
Malaria und Gelbfieber) und der Tse-Tse-Fliege wurde, nahmen in Ceylon innerhalb weniger werden und die Brut nicht mehr aufgezogen
(Erreger der Schlafkrankheit) insbesondere Jahre die Malariatodesfälle wieder auf über werden kann. Heute gibt es Hinweise,
in tropischen Ländern großflächig versprüht. 2 Mio. jährlich zu. Mittlerweile wird DDT in dass nicht 4,4′-DDT, sondern 2,4′-DDT (an
Dadurch konnten die Insekten, die die Erreger tropischen Ländern wieder zur Bekämpfung einem Phenylring ist der Chlorsubstituent
übertragen, fast völlig eingedämmt werden. der Malaria verwendet. In den Industriestaaten nicht in para-, sondern in ortho-Position)
Starben in Ceylon (heute Sri Lanka) vor dem ist der Einsatz seit Anfang der 1970er Jahre dafür verantwortlich ist. Es entsteht bei
Einsatz von DDT jährlich über 2 Mio. Menschen verboten. der Herstellung von 4,4′-DDT zu 20 % als
an Malaria, waren es Anfang der 1960er Jahre DDT (M 354,5 g/mol), ein weißes Pulver mit Nebenprodukt und weist keine insektizide
nur noch ein paar Dutzend. Schmelzpunkt 109 °C, ist für Haustiere und Wirkung auf.
Die Situation änderte sich grundlegend, Mensch relativ harmlos. So schaden 0,5 g DDT
als 1962 die amerikanische Biologin Rachel dem Menschen bei oraler Einnahme nicht.
16
. Abb. 16.97 Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) – ein hochwirksames Antimalariamittel mit ernsten ökologischen Folgen
16.5.3 Chemisches Reaktionsverhalten – Halogenen an das π-System des Benzolrings bei Raumtemperatur.
Elektrophile aromatische Substitution Bei der Addition von Brom an Toluol würde nämlich Dibrommet-
hylcyclohexadien entstehen, sodass das energiearme aromatische
Aufgrund der Stabilisierung des Benzolrings durch Delokalisation Ringsystem verloren ginge.
der formal drei Doppelbindungen entfärbt z.B. Toluol Bromwasser Bei Bestrahlung mit UV-Licht oder Erwärmung einer
nicht. Es erfolgt keine elektrophile Addition (7 Abschn. 16.4.5) von braunen Toluol/Brom-Lösung erfolgt stattdessen Substitution
16.5 · Aromatische Kohlenwasserstoffe – Benzolring als Grundeinheit
435 16
H
H C H
H C H
RT/Br2 C C
keine Additionseaktion
C C
H C H
H
H Br
H C H H C H
H C H H C H SSS-Regel
C C T/h•ν/Br2 C C
Siedetemperatur, Sonnenlicht, Seitenkette
C C –HBr C C Benzylbromid
H C H H C H
H H
Toluen
H
H C H
RT/AlBr3/Br2 H C H KKK-Regel
C C
Kälte, Katalysator, Kern
–HBr 4-Bromtoluen
C C
H C H
Br
δ+ δ–
am Methylsubstituenten zu Benzylbromid (. Abb. 16.98). Addi-
+ Br Br Br Br
tion von Brom an den aromatischen Ring wird nicht beobachtet.
Als Eselsbrücke dient die SSS-Regel, d. h. Halogensubstitution
an der Seitenkette von Aromaten erfolgt unter Siedetemperatur . Abb. 16.99 Polarisierung von Brom und Bildung eines Benzol-Brom-π-
Komplexes
oder Sonnenlicht.
Der Mechanismus verläuft analog zur radikalischen Substitu-
tion von Alkanen (7 Abschn. 16.1.4.4).
Die Substitution von H-Atomen durch Halogene am Kern Bromatom partiell positiv und das andere Bromatom partiell
des Aromaten erfolgt in Gegenwart eines Katalysators bereits bei negativ polarisiert wird (. Abb. 16.99). Als Folge resultiert zwi-
Kälte, wobei die Seitenkette nicht angegriffen wird (KKK-Regel). So schen dem positiv polarisierten Bromatom und dem elektro-
tritt bei Raumtemperatur Entfärbung der braunen Toluol/Brom- nenreichen Benzolring eine Wechselwirkung, die als π-Komplex
Lösung unter Bildung von 4-Bromtoluol ein, wenn Aluminium- bezeichnet wird.
bromid als Katalysator zugesetzt wird. Schritt 2 : Heterolytische Spaltung des Elektrophils und
Die elektrophile Substitution am Kern ist die wichtigste und Formung eines σ-Komplexes
häufige Reaktion von Aromaten. Der Mechanismus dieser elek- Im zweiten Schritt erhöht der Katalysator Aluminiumbromid
trophilen aromatischen Substitution (SE) besteht aus drei Ein- (AlBr3) die Polarisierung der Brom-Brom-Bindung. Durch hete-
zelschritten und wird für die Bromierung von Benzol explizit rolytische Spaltung entsteht ein stark elektronenliebendes (elek-
erklärt. trophiles) Bromkation (Br+), das sich elektrophil an ein C-Atom
des Benzolrings addiert unter Bildung eines positiv geladenen
Carbeniumions, das σ-Komplex genannt wird (. Abb. 16.100).
Mechanismus der elektrophilen
16.5.3.1 Ferner entsteht ein Tetrabromaluminat-Anion.
aromatischen Substitution Schritt 3: Deprotonierung des σ-Komplexes
Schritt 1: Addition des Elektrophils an den Aromatenkern unter Im dritten Schritt bildet sich durch Abspaltung eines Protons
Bildung eines π-Komplexes (H+) aus dem σ-Komplex ein stabiler aromatischer Kern zurück
Im ersten Schritt wird die Brom-Brom-Bindung durch (. Abb. 16.101). Das Proton neutralisiert sich mit einem Bromi-
die π-Elektronenwolke des Aromaten polarisiert, sodass ein danion (Base) des Tetrabromaluminat-Anions unter Bildung von
436 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
δ+ δ– Br + H
Br
–
Aluminiumbromid und Bromwasserstoff. Der Katalysator Alu-
Br Br Al Br C + Br Al Br miniumbromid geht somit unverändert aus der Reaktion hervor.
Br
Br Br Summa summarum bildet sich aus Benzol und Brom Brombenzol
. Abb. 16.100 Elektrophile Addition von Br+ an Benzol unter Bildung und Bromwasserstoff.
eines σ-Komplexes Die Reaktivität der Halogene bei der elektrophilen aroma-
tischen Substitution nimmt von Fluor zu Iod ab, da die Bin-
dungsenergie der resultierenden C-Hal-Bindung in dieser Rei-
Br Br
+ H – henfolge ebenfalls abnimmt. . Tabelle 16.16 zählt Reaktionstyp,
C + Br Al Br Br + HBr + Al Br
Br Br
elektrophiles Reagenz, Katalysator, Elektrophil und Reaktions-
Br
produkt wichtiger elektrophiler aromatischer Substitutionen an
. Abb. 16.101 Stabilisierung des σ-Komplexes durch Umwandlung in Benzol auf.
einen Aromaten
16
X X X X
NO2
+ HNO3/H2SO4
+ +
–H2O
NO2
NO2
6% 93% 1%
. Abb. 16.102 Regioselektivität bei der elektrophilen Zweitsubstitution (Nitrierung) an einem substituiertem Benzolring
a b c
O
OH OH
O
OH
O N
O H
. Abb. 16.103 Aspirin®, Ibuprofen®, Paracetamol® – Schmerzmittel hergestellt durch elektrophile Zweitsubstitution (© Bayer Vital GmbH, Lighthouse–
fotodesign, ratiopharm)
438 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
. Abb. 16.104 Naphthalin (links), Anthracen (Mitte links), Phenanthren (Mitte rechts) und Benzo[a]pyren (rechts)
Kondensierte Kohlenwasserstoffe enthalten mindestens zwei sogenannte BAY-Region, (bay, engl. für Bucht) aus (. Abb. 16.104,
Benzolringe, die zwei C-Atome miteinander teilen. Der ein- rote Bindungsregion). Dieses Strukturelement ist charakteristisch
fachste PAK ist Naphthalin mit zwei kondensierten Benzolrin- für viele krebserregende Verbindungen.
gen (. Abb. 16.104). PAKs sind farblose, kristalline Feststoffe, die Benzo[a]pyren ist eine gelbliche, krebserregende Substanz mit
so gut wie wasserunlöslich sind, sich aber dafür umso besser in aromatischem Geruch. Es entsteht bei unvollständiger Verbren-
Fett lösen. Die Flüchtigkeit von PAK ist mit Ausnahme von Naph- nung organischer Substanzen und ist in großen Mengen im Teer
thalin (IUPAC: Naphthalen) sehr gering. enthalten.
Einige wichtige PAK sind in . Abb. 16.104 dargestellt. Naph- PAK bilden sich als Nebenprodukte bei der unvollständigen
thalin schmilzt bei 80 °C und weist einen teerähnlichen Geruch Verbrennung von fossilen Brennstoffen (Erdöl, Kohle, Holz) insbe-
auf. Aus Naphthalin wurden früher Mottenkugeln gefertigt. Heute sondere bei tieferen Temperaturen und bei der Pyrolyse (thermi-
ist es Ausgangsstoff für Weichmacher, Kunststoffe und waschak- scher Zersetzung) organischer Substanzen unter Luftausschluss.
tive Substanzen. Anthracen ist ebenfalls ein farbloser Feststoff Dabei können Hunderte unterschiedlicher PAK gleichzeitig ent-
und Bestandteil des Steinkohlenteers. Es ist Ausgangsstoff für stehen. Bedeutende PAK-Quellen sind Kokereien, die petroche-
Anthrachinonfarbstoffe. Anthracen besteht aus drei linear anel- mische Industrie, Hausfeuerungsanlagen und Dieselmotorabgase
lierten (kondensierten) Benzolringen. In Phenanthren sind die (LKW, Schiffe, Autos). Teer, der bei der Verkokung von Steinkohle
drei Benzolringe gewinkelt kondensiert. Phenanthren bildet eine zurückbleibt, weist hohe PAK-Gehalte auf (7 Exkurs 16.4).
Exkurs 16.4
. Abb. 16.105 Grillen – abtropfendes Fett als Ursache für polyaromatische Kohlenwasserstoffe (© Jag cz/Fotolia)
16.6 · Erdöl – fossiler Brennstoff und Rohstoffbasis für die chemische Industrie
439 16
16.5.5 Lernkontrolle oder am aromatischen Kern stattfinden. Wie müssen die
Reaktionsbedingungen gewählt werden und welche
Reaktionsprodukte entstehen?
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
Aromat, aromatischer Charakter, Hückel-Regel, Mesomerie- Übung 10
gleichgewicht, Resonanzenergie, BTX, MAK-Wert, Pestizid, Was sind polyaromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)? Warum
elektrophile aromatische Substitution, polyaromatische entsteht das kanzerogene Benzo[a]pyren beim Rauchen und
Kohlenwasserstoffe (PAK) beim Grillen?
Übung 6
Zeichnen Sie die Strukturformeln von 2,6-Dibrom-4-
chlortoluol und 2-Phenylpropan
Übung 7
Erklären Sie den Mechanismus der elektrophilen
aromatischen Substitution. Warum verläuft die Zweitsubs-
titution von Toluol schneller als von Brombenzol?
Übung 8
Friedel-Crafts-Reaktionen sind wichtige Synthesestrategien
für das Einführen von Substituenten am aromatischen
Kern. Welche grundsätzlichen Verbindungsklassen können
dadurch synthetisiert werden? Führen Sie zu diesem Thema
eine Internetrecherche durch.
Übung 9
Durch entsprechende Wahl der Reaktionsbedingungen . Abb. 16.106 Steigerung des globalen Erdölkonsums seit ca. 1900. Der
kann die Halogenierung von Ethylbenzol an der Seitenkette globale Erdölkonsum beträgt derzeit 4 Mrd. Jahrestonnen
440 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
Alltagsmobilität, Freizeitaktivitäten und Fernreisen sind Ölsee vor, sondern befindet sich – bildlich gesprochen– in einem
weitere energieintensive Bedürfnisse des Menschen. Kommuni- steinernen Schwamm. Anzahl und Größenverteilung der Poren
kation, Datenaustausch, Navigationssysteme etc. sind technische und Kapillaren dieses Schwammes, der aus Sand- oder Kalkstein
Errungenschaften, die nur durch intensiven Energieeinsatz betrie- besteht, entscheiden darüber, bis zu welchem Maße eine Lager-
ben werden können. Last but not least sorgt der Wunsch des Men- stätte rentabel entölt werden kann. . Abbildung 16.107 zeigt die
schen nach Anerkennung, Erfolg und hohem sozialem Status für sog. Troll-Plattform in der Nordsee.
weiteren Energieverbrauch. Das soziale Ansehen steigt mit der Besonders günstig scheinen die Verhältnisse zur Bildung von
Möglichkeit, möglichst (energie-)aufwändig zu leben. Nur so ist Erdöl im heutigen Mittleren Osten gewesen zu sein, da zwei Drittel
der Drang nach möglichst großen Autos, repräsentativen Woh- der heute bekannten Erdölvorkommen (230 Mrd. Tonnen) dort
nungen, etc. zu verstehen. lagern.
15 % des deutschen Ölbedarfs geht in die Petrochemie, d. h.
der erdölbasierten Chemieproduktion. 90 % davon dienen als
Rohstoff und 10 % zur Energieerzeugung. Erdöl ist Ausgangs- 16.6.2 Exploration – rotierender Bohrmeißel
stoff für so praktische Dinge wie Kunststoffe, Verpackungsmate- frisst sich tief in die Erde
rialien, Lösemittel, Synthesekautschuk, Textilien, Isoliermateria-
lien, Lacke, Arzneimittel etc. Im Fachjargon wird die Suche nach Erdöl als Exploration bezeich-
net. Da bestimmte geologische Strukturen, sog. Fallen, vorhanden
Erdöl macht reich sein müssen, damit sich Öl oder Gas anreichert, müssen zuerst
Der Einfluss des Erdöls auf den materiellen Wohlstand lässt sich einmal die Geologen ran. Diese grenzen mithilfe von Satelliten-
eindrucksvoll am Beispiel Norwegens demonstrieren. 1971 er- und Luftaufnahmen, durch Studien von Kartenmaterial und
folgte die erste Öllieferung aus der Nordsee (Ekofisk-Feld). 2012 mittels Gesteinsanalysen Regionen mit möglichen Erdölvorkom-
förderte Norwegen ca. 100 Mio. Tonnen Erdöl pro Jahr, was einem men ein.
Wert von ca. 60 Mrd. Euro entspricht. Die Öl- und Gasexporte Nor- Hat man schließlich eine Region, wo Erdöl vermutet wird,
wegens tragen ca. 20 % zum Bruttoinlandsexport bei und mach- identifiziert, so werden geophysikalische Messungen durchge-
ten aus dem Agrarland Norwegen eines der reichsten Länder der führt. Als leistungsfähigstes Explorationswerkzeug hat sich über
Welt. die Jahre die Reflexionsseismik, vergleichbar mit einer Ultraschall-
untersuchung, herauskristallisiert. Durch kleine Sprengladun-
Um den gewaltigen Öldurst der Menschheit zu löschen, muss gen werden Erschütterungswellen auf der Erdoberfläche erzeugt.
die Erdölindustrie immense Anstrengungen unternehmen. Diese Druckwellen wandern von der Erdoberfläche ins Erdin-
Schließlich gilt es jährlich 4 Mrd. Tonnen Erdöl zu fördern und nere, wo sie an den Grenzen unterschiedlicher Gesteinsformatio-
zu raffinieren. nen als Echo zur Erdoberfläche zurückreflektiert werden. Diese
Reflexionen werden an der Erdoberfläche mittels Spezialmikro-
fonen, sogenannter Geophone, aufgezeichnet und der Computer-
16.6.1 Erdöl – vor über 100 Millionen Jahren aus auswertung zugeführt. Da die Laufzeit einer reflektierten Schock-
Biomasse entstanden welle im Bereich von zwei Sekunden liegt, muss die Genauigkeit
der Messung auf ein Tausendstel einer Sekunde genau sein, damit
16 Die Geologen gehen davon aus, dass sich Erdöl vor 100 bis 200 Rückschlüsse auf geologische Strukturen in der Erde getroffen
Mio. Jahren aus mikroskopisch kleinen Pflanzen und Tieren, werden können.
dem Plankton, gebildet hat. Abgestorbene Meeresalgen und -tiere Um absolute Gewissheit zu erlangen, ist es trotz allen Fort-
lagerten sich in den Sedimentbecken der urzeitlichen Meere in schritts der Geophysik und Computertechnologie unumgäng-
Küstennähe ab und wurden über Jahrmillionen mit sedimentier- lich, eine Versuchsbohrung vorzunehmen. Dazu muss auf einem
ten Tonen luftdicht überschichtet, sodass das Plankton nicht ver- etwa fußballplatzgroßen Feld ein Bohrturm aufgebaut werden. Im
weste. Das Gewicht der Sedimentschichten übte hohen Druck, Bohrturm befinden sich das Bohrgestänge und ein Drehtisch zur
einhergehend mit Temperaturen von 60 bis 120 °C, auf die orga- Rotation des Bohrgestänges (Rotary-Verfahren). Ein Bohrgestän-
nischen Materialien aus. Mithilfe von Bakterien wurden die bio- geabschnitt ist 9 m lang, sodass alle neun Meter Tiefengewinn die
chemischen Substanzen (Proteine, Kohlenhydrate, Fette) in kurz- Bohrung unterbrochen und ein neues Bohrgestänge eingeschraubt
kettige, flüssige oder gasförmige Kohlenwasserstoffe (Erdöl bzw. werden muss. Am unteren Ende des Bohrgestänges befindet sich
Erdgas) umgewandelt. Da sich im Laufe der Zeit immer mehr ein Bohrmeißel, der je nach Härte der zu durchbohrenden Forma-
Sedimentgesteine anhäuften, erhöhte sich der Formationsdruck tion, mit Schneideinsätzen aus Stahl, Wolframcarbid oder aus PDC
auf die Bildungsstätte der Kohlenwasserstoffe. Schließlich war der (polycristalline diamond compacts) versehen ist (. Abb. 16.108).
Druck so hoch, dass das spezifisch leichtere Öl und Gas aus dem Zur Kühlung des rotierenden Bohrmeißels wird Bohrspülung,
Muttergestein durch die mit Wasser gefüllten Gesteinsporen Rich- eine Schlämme bestehend aus Bentonit (quellfähiges Tonmine-
tung Erdoberfläche wanderte, bis sogenannte Fallen, hutförmig ral) und Wasser, durch den Bohrstrang zum Bohrmeißel gepumpt,
gefaltete, undurchlässige Stein-, Ton- oder Salzformationen eine wo sie über Düsen austritt und über das Bohrloch wieder nach
weitere Migration verhinderten und sich Öl und Gas darunter zu oben steigt. Die im Kreislauf geführte Bohrspülung stabilisiert das
ausbeutbaren Vorkommen sammelten. Erdgas befindet sich dabei Bohrloch gegen Einsturz und transportiert das durch den Bohr-
als Gaskappe über dem Öl. Das gefangene Erdöl liegt nicht als meißel zerkleinerte Gestein (Bohrklein) über den Ringraum zur
16.6 · Erdöl – fossiler Brennstoff und Rohstoffbasis für die chemische Industrie
441 16
. Abb. 16.107 Troll A – Die größte Gasförderplattform in der Nordsee (© Øyvind Hagen - Statoil ASA „[email protected]“ )
Der massive Preisverfall des Erdöls in den 1980er Jahren war (6 bis 600 m) abgelenkt, sodass sich der Bohrmeißel parallel zur
Ausgangspunkt zahlreicher Innovationen im Explorationsbereich. Erdoberfläche in der Lagerstätte vorwärtsfrisst. Dadurch wird ein
Durch die enorme Zunahme der Computerkapazitäten konnte deutlich größerer Lagerstättenbereich erschlossen, sodass eine bis
3D-Seismik durchgeführt werden, wodurch sich die Trefferquote zu 20-fache Förderkapazität im Vergleich zur Vertikalbohrung
von Explorationsbohrungen von 1:12 auf 1:6 erhöhte. Bei der her- erhalten wird. Die horizontalen Bohrsegmente können sich über
kömmlichen 2D-Seismik werden Schockwellen im äquidistanten 10 km erstrecken. Durch technisch ausgereifte Navigationssys-
Abstand entlang einer Linie durch kleine Sprengladungen erzeugt. teme kann dabei der Bohrmeißel in einen Zielwürfel von wenigen
Die Auswertung der reflektierten Wellen ergibt den Untergrund- Metern Kantenlänge gesteuert werden.
aufbau einer zweidimensionalen Scheibe (Tiefe, Länge) senkrecht Da die leicht zugänglichen Vorkommen zuerst erschlossen
zur Erdoberfläche. Bei der 3D-Seismik werden die Druckwellen wurden, bohrt man heute in immer weiterer Entfernung von
in einem engmaschigen Netzmuster „geschossen“, wodurch ein der Küste in immer größeren Wassertiefen und in Gegenden mit
komplexes Druckwelleninterferenzmuster anfällt, das über zahl- zunehmend schwierigeren Wetterverhältnissen wie in der Nordsee
reiche Geophone aufgefangen und anschließend mit superschnel- oder im Golf von Mexiko. Der Aufwand, der dafür betrieben wird,
len Computern visualisiert wird. Im Prinzip werden viele 2D-Seis- kostet bis zu 500.000 € pro Tag. So wurde zum Erschließen des
mikmessungen simultan durchgeführt. Das Resultat, die dreidi- größten Gas- und Ölfelds Norwegens Troll das größte je von Men-
mensionale Abbildung (Tiefe, Länge, Breite) des Untergrundes schenhand bewegte Bauwerk erstellt (. Abb. 16.107). Das riesige
und hoffentlich auch eines Kohlenwasserstoffreservoirs, entsteht Betonfundament ist insgesamt 370 m hoch und ragt 30 m aus
durch Addition zahlreicher paralleler senkrechter Scheiben. der schäumenden Nordsee. Diese „Bodenfreiheit“ ist notwendig,
Ein weiterer, ganz entscheidender Innovationsschub für die damit selbst Jahrhundertwellen mit bis zu 30 m Wellenhöhe dem
Ausbeutung von Erdölreservoirs war die Entwicklung der Hori- Koloss nichts anhaben können. Darauf ist die Bohrplattform mit
zontalbohrtechnik. Kohlenwasserstofflagerstätten verlaufen meist einer Gesamthöhe von ca. 100 m aufgesetzt. Sie beherbergt den
parallel zur Erdoberfläche. Die flächenmäßige Ausdehnung kann Bohrturm, Hubschrauberlandeplatz, Wohnmodul, Überlebens-
sich über zig Kilometer erstrecken, während die Mächtigkeit eines einrichtungen, Krankenstation, Werkstätten etc.
Reservoirs lediglich wenige Meter betragen kann. Da bis Mitte Im Durchschnitt werden ca. 35 % des Erdöls eines Reser-
der 1980er Jahre Bohrlöcher ausschließlich senkrecht abgeteuft voirs gefördert. In der ersten Phase strömt dünnflüssiges Öl ohne
wurden, konnte durch eine Einzelbohrung lediglich ein relativ weiteres Zutun aufgrund des natürlichen Lagerstättendrucks
kleines radiales Segment des Reservoirs entölt werden. Es mussten (ca. 250 bar in 2500 m Tiefe) von selbst bzw. mithilfe von sog.
manchmal Hunderte von Bohrungen zur vollständigen Ausbeu- Plungerpumpen zur Erdoberfläche (primäre Förderung). Der
tung der Lagerstätte abgeteuft werden, was zu ganzen Wäldern Antrieb dieser Pumpen, langsam auf- und abwippende „Pferde-
von Bohrtürmen führte. Bei der Horizontalbohrtechnik wird köpfe“ (. Abb. 16.109), ist an allen Ölförderstätten vorhanden.
zuerst eine Bohrung vertikal abgeteuft. Kurz vor dem Erreichen Der Entölungsgrad der Primärförderung beträgt ca. 18 %. Durch
des Reservoirs wird die Bohrung mit einem definierten Radius die stetige Ölentnahme fällt mit der Zeit der Lagerstättendruck
16
Die gewinnbaren Erdölvorkommen wurden in den 1970er Jahren 16.6.4 Rohöl – ein Gemisch aus Hunderten
auf 85 Mrd. Tonnen geschätzt. Nicht zuletzt auf die Studien des Kohlenwasserstoffen
Club of Rome gestützt, wurde prognostiziert, dass der letzte Liter
Benzin um die Jahrtausendwende in einem Ottomotor verbrannt Erdöl und das daraus gewonnene Rohöl enthält Hunderte ver-
werde. In Wirklichkeit betrugen jedoch die sicher gewinnbaren schiedener Kohlenwasserstoffe, die sich in Struktur (unverzweigt,
Reserven an Erdöl im Jahr 2012 230 Mrd. Tonnen. Beim derzei- verzweigt, ringförmig, gesättigt, ungesättigt, aromatisch), molarer
tigem Verbrauch von 4 Mrd. Tonnen jährlich reicht diese Menge Masse (Anzahl der Kohlenstoffatome) und somit auch in den phy-
für die nächsten 57 Jahre. Außerdem sind noch über 300 Mrd. sikalischen Eigenschaften wie Siedepunkt, Dichte etc. unterschei-
Tonnen Ressourcen an Erdöl bekannt. Ressourcen sind nachge- den. Da Erdöl aus biologischem Material wie Proteinen und Koh-
wiesene Erdölquellen, die jedoch zum heutigen Erdölpreis nicht lenhydraten entstanden ist, enthält es auch Schwefel, Stickstoff und
wirtschaftlich gefördert werden können. Trotz des momentanen Sauerstoff in kleineren Mengen.
Überflusses ist nicht zu verkennen, dass die Zeit des „easy oil“ Die Hauptanteile der Kohlenwasserstoffe gehören zur Gruppe
früher oder später zu Ende gehen wird und größere Probleme hin- der Paraffine, Naphthene und Aromaten. Paraffine sind che-
sichtlich der Energieversorgung auf die Menschheit zukommen misch ausgedrückt gesättigte Kohlenwasserstoffe, also unver-
werden. Zum einen steigt die Nachfrage nach wie vor ungebremst zweigte (Normalparaffine) oder verzweigte Alkane (Isoparaffine,
und zum anderen haben viele Erdöllagerstätten ihr Maximum an 7 Abschn. 16.1). Bei den Naphthenen handelt es sich um Cycloal-
Förderung (peak oil) bereits überschritten (. Abb. 16.110). kane mit Ringen von fünf bis sieben Kohlenstoffatomen (Cyclo-
In den letzten Jahren konnten nichtkonventionelle Erdölquel- paraffine, 7 Abschn. 16.4).
len wie Ölschiefer, Ölsande und Schiefergas technisch erschlossen Aromatische Kohlenwasserstoffe leiten sich von Benzol als
werden. Die weltweit größten Vorkommen an Ölsanden befinden Grundstruktur ab. Sie erhöhen die Klopffestigkeit von Benzin
sich in der kanadischen Provinz Alberta, wo sie bereits kommer- und sind begehrte Rohstoffe der Petrochemie (7 Abschn. 16.5).
ziell genutzt werden. Ölsande sind eine Mischung aus Bitumen, Alkene (7 Abschn. 16.2) kommen in Erdöl praktisch nicht vor. Sie
Sand und Ton. In riesigen Anlagen wird das Bitumen aus dem werden in der Raffinerie durch Steamcracken (s. u.) von Leicht-
Sand gewaschen und dieser dann wieder in der ursprünglichen destillaten hergestellt.
444 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
In Raffinerien werden aus Rohöl gebrauchsfertige Produkte . Abb. 16.111 Destillationstürme einer Erdölraffinerie (© Luigi Chiesa
wie Benzin, Diesel, Heizöl, Schmierfette, Bitumen etc. gefertigt – Colonne distillazione, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Colonne_
(. Abb. 16.111). Die dafür notwendigen Verfahrensschritte sind: distillazione.jpg)
16.6.5.2 Cracken
Die Nachfrage an leichtsiedenden Fraktionen übersteigt bei weitem
die durch atmosphärische Destillation gewonnenen Mengen an
Benzin, Kerosin und Diesel. Schweres Heizöl und Rückstand
. Abb. 16.113 Motorenöl verringert die Reibung zwischen Kolben und fallen dagegen in größeren Mengen an als benötigt. Somit müssen
Zylinderwand (© sergojpg/Fotolia) hochsiedende Fraktionen in leichtere, niedrigsiedende Destillate
446 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
16.6.5.3 Entschwefelung
Aus den Rohdestillaten Benzin, Diesel, Kerosin etc. muss aus
ökologischen Gründen und zum Schutz von Motoren der natür- als unverzweigte Alkane. Mit normierten Prüfmotoren wird die
lich enthaltene Schwefel entfernt werden. Je nach Herkunft vari- Klopffestigkeit von Treibstoffen ermittelt. Als Kalibrierpunkte
iert der Schwefelgehalt von 0,2 (Nordsee) bis 3 % (Südamerika, wurden iso-Octan (2,2,4-Trimethylpentan), Oktanzahl 100 und
Russland). Die schwefelhaltigen Destillate werden mit Wasser- n-Heptan, Oktanzahl 0 festgelegt. Eine Benzinsorte mit der Oktan-
stoff beaufschlagt, auf 350 °C erhitzt und katalytisch in Schwefel- zahl 95 hat die gleiche Klopffestigkeit wie ein Gemisch aus 95%
wasserstoff überführt. Dieser wird abgetrennt und letztendlich iso-Octan und 5 % n-Heptan.
via Claus-Prozess (. Abb. 12.119) zu Schwefel reduziert, der von Sehr hohe Oktanzahlen haben aromatische Verbindungen
der Düngemittelindustrie und zum Vulkanisieren von Autoreifen wie Benzol (100), Toluol (124) und p-Xylol (146). Deshalb wird
(Goodyear-Verfahren) nachgefragt wird. Benzol trotz seiner Giftigkeit (Totenkopf-Kennzeichnung) bis zu
1 % Ottokraftstoffen zugesetzt. Typischerweise werden Normal-
benzine mit einer Oktanzahl von 91, Superbenzine mit 95 und
16.6.5.4 Reforming Superplusbenzine mit 98 in den Handel gebracht.
Die Benzin- und Dieselfraktion, die bei der atmosphärischen Da Rohbenzin aus der atmosphärischen Destillation ledig-
Destillation anfallen, verfügen nicht über die für moderne lich eine Oktanzahl von 50 aufweist, muss dessen Klopffestigkeit
Motoren erforderliche Klopffestigkeit. Im Verbrennungsmo- durch katalytisches Reformieren verbessert werden. In der Refor-
16 tor wird über das Einlassventil ein Treibstoff/Luft-Gemisch in ming- und Isomerisationseinheit wird an einem Platinkatalysa-
den Verbrennungsraum vernebelt (. Abb. 16.115). Dieses wird tor der Anteil an verzweigten und aromatischen Kohlenwasser-
durch die Aufwärtsbewegung des Kolbens komprimiert und soll stoffen so weit erhöht, dass die Klopffestigkeit über 90 ansteigt
sich genau am oberen Totpunkt der Kolbenbewegung zum Zeit- (. Abb. 16.116).
punkt der größten Kompression und wenn der Zündfunke ein-
setzt entzünden, sodass die Explosionsenergie des Treibstoff/
Luft-Gemisches optimal auf die dann folgende Abwärtsbewe-
gung des Kolbens übertragen wird. Erfolgt die Zündung etwas
zu frühzeitig, also bevor der Zündfunke einsetzt und der Kolben OZ = 0 OZ = 100
sich noch in der Aufwärtsbewegung befindet, dann äußert sich
das in einem klopfenden Geräusch des Motors, das an Hammer-
schläge erinnert. Die frühzeitige Entzündung des Treibstoffge- + H2
misches ist schädlich für Kolben, Pleuelstange und Kurbelwelle,
da die Druckwellen des entzündeten Treibstoff/Luft-Gemisches OZ = 25 OZ = 83
auf den noch in einer kraftvollen Aufwärtsbewegung befinden-
den Kolben treffen.
+ 3 H2
Der Zündzeitpunkt des Treibstoff/Luft-Gemisches hängt ins-
besondere von der Struktur der Kohlenwasserstoffe ab. Je stabi-
ler die bei der Verbrennung entstehenden Radikale, desto klopf- OZ = 83 OZ = 100
fester der Treibstoff. So sind aromatische Kohlenwasserstoffe . Abb. 16.116 Reforming-Reaktionen erhöhen die Klopffestigkeit (OZ:
klopffester als verzweigte KW und diese wiederum klopffester Oktanzahl)
16.6 · Erdöl – fossiler Brennstoff und Rohstoffbasis für die chemische Industrie
447 16
16.6.5.5 Blending Neben Druck, Temperatur und Wasser muss auch genügend
Methan vorhanden sein, damit sich Methanclathrate bilden.
Um die richtigen Eigenschaften zu erhalten, werden einzelne Des- Solche Bedingungen sind in großen Meerestiefen, insbesondere
tillate miteinander verschnitten. Außerdem werden Treibstoffen an den Kontinentalhängen (500–3000 m Tiefe) und in Permafrost-
bis zu 7 % Biodiesel oder Bioethanol beigemischt. Der Vorgang gebieten (200–1000 m Tiefe, z. B. in Sibirien oder Alaska) gegeben.
des Verschneidens heißt in der Fachsprache Blending (engl. für Insbesondere an den Kontinentalrändern wird sedimentierendes
beimischen). Plankton von Bakterien zu Methan fermentiert, sodass schließ-
lich alle Komponenten der Methanhydratbildung zusammenkom-
men. Aufsteigende Methanblasen sind quasi Kristallisationskeime
16.6.6 Clathrate – Hoffnung für ausreichend für die eisförmigen Methanhydrate. An die Oberfläche gebrachte
fossile Energie in der Zukunft? Methanclathrate zersetzen sich schnell, da der zur Stabilisierung
notwendige Druck nicht mehr gegeben ist.
Eine potenzielle Energiequelle großen Umfangs sind Methanhy- . Abbildung 16.118 gibt das Stabilitätsverhalten von Methan-
drate, auch Clathrate (clatratus, lat. für eingekapselt) oder Ein- hydrat wieder. Die blaue Kurve entspricht dem Temperaturverlauf
schlussverbindungen genannt. Bereits in den 1930er Jahren beob- des Meeres mit zunehmender Tiefe. Die grüne Linie beschreibt
achtete man, dass in Wintermonaten Gaspipelines verstopften, die Druck- und Temperaturverhältnisse, bei denen Methanhyd-
wenn bestimmte Drücke überschritten wurden. Damals wurde rate prinzipiell stabil sind (unterer Bereich des grünen Kurvenver-
das Phänomen als gefrorenes Wasser mit zufällig damitausgefro- laufs). In 480 Metern Tiefe kreuzen sich Phasengrenze und Tem-
renem Erdgas abgetan. peraturverlauf. Oberhalb ist das Wasser zu warm und der hydro-
Heute weiß man, dass Wassermoleküle mit Methan bei statische Druck zu klein, sodass keine Clathrate existieren können
Drucken über 50 bar und Temperaturen von wenigen Grad (erste gestrichelte schwarze Linie).
Celsius „Eiskäfige“ mit einem zentral eingekapselten Methan- In 800 Metern Tiefe befindet sich der Meeresboden. Da im
molekül bilden. Die häufigste Käfigstruktur ist der Dodecae- Meeresboden die Temperatur um 3 °C pro 100 m zunimmt, steigt
der (Zwölfflächner), die von zwölf gleichen Fünfecken begrenzt die Temperatur schnell an (rote Linie) und schneidet die grüne
wird (. Abb. 16.117). Die Eckpunkte des Dodecaeders werden Phasengrenze bei ca. 950 Metern Tiefe resp. 150 m unterhalb
von Wassermolekülen belegt. Acht Dodecaedergerüste lagern des Meeresbodens. Unterhalb der zweiten gestrichelten Linie
sich zu größeren Aggregaten zusammen, sodass letztendlich sind deshalb Methanhydrate aus Temperaturgründen ebenfalls
bei maximaler Beladung ein stöchiometrisches Verhältnis von nicht mehr stabil. Letztendlich können im gewählten Beispiel
Methan zu Wasser von 1:5,75 entsteht (CH4 · 5,75 H2O). Aller- Methanhydrate im Bereich von ca. 480 Metern Meerestiefe (erste
dings hängt der Füllgrad der Eiskäfige vom Methanangebot gestrichelte Linie) bis ca. 150 Meter unterhalb des Meeresbodens
und Umgebungsdruck ab, sodass die Beladung auch geringer auftreten.
sein kann. Methanhydrate enthalten hohe Mengen an Methan. So zer-
fällt 1 l festes Methanclathrat (Dichte 0,9 kg/l) an der Erdoberflä-
che zu 0,8 Litern Wasser und 164 Litern Methangas. . Abb. 16.119
zeigt brennendes Methanclathrat. Überschlägige Betrachtungen
ergeben, dass Methanclathrate ca. die Hälfte des auf der Erde vor-
kommenden organischen Kohlenstoffs binden. Realistischerweise
. Abb. 16.117 Clathrate – Dodecaederkäfig aus Wassermolekülen mit . Abb. 16.118 Methanclathrate sind nur in einem definierten
zentralem Methanmolekül Tiefenintervall stabil
448 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
? Verständnisfragen
Übung 1
Was versteht man unter Primärenergie? Welche
Energiequellen decken den Primärenergieverbrauch? Wie
hoch ist der Anteil an Erdöl, an fossilen Brennstoffen, an
erneuerbaren Energien?
Übung 2
Wie hat sich Erdöl gebildet? Warum enthält Erdöl auch
Schwefel und Stickstoff? Was ist der Unterschied zwischen
Erdöl und Rohöl?
Übung 3
Beschreiben Sie die wesentlichen Teilschritte der
Erdölexploration. Welche Funktionen kommen der
Bohrspülung zu?
. Abb. 16.119 Brennendes Methanclathrat (© US-DOE)
Übung 4
Was wird unter Horizontalbohrung verstanden? Welche
sind davon 10 % kommerziell nutzbar. So ist es nicht verwun- Vorteile bietet das Horizontalbohrverfahren?
derlich, dass sich viele Nationen mit dem kommerziellen Abbau
von Methanhydrat beschäftigen, zumal energiearme Länder wie Übung 5
Japan dadurch ihre Abhängigkeit von konventionellen fossilen Fracking oder Fracturing erhöht den Entölungsgrad von
Brennstoffen verringern könnten. Derzeit wird in Nordwestsibi- Lagerstätten erheblich. Wie wird es durchgeführt? Welche
rien (Krasnojarsk) im Messojachska-Feld Methanhydrat bereits Gefahren können davon ausgehen? Führen Sie dazu eine
kommerziell abgebaut. Zuerst wurde dort das unter der Methan- Internetrecherche durch.
hydratschicht gefangene Erdgas ausgebeutet, bis bemerkt wurde,
dass die darüberliegenden gasdichten Schichten aus Methanhydrat Übung 6
bestehen. Um das Methan zu befreien und an die Erdoberfläche Erklären Sie das atmosphärische Destillationsverfahren
zu fördern, müssen die Clathratkäfige mit heißem Wasserdampf, von Kohlenwasserstoffen? Wie ist der Temperaturverlauf in
Lösemittel oder Druckabsenkung zerstört werden. einer Destillationssäule? Wo kondensieren die leichteren
Bevor eine breite kommerzielle Nutzung der Methanhydratla- Bestandteile des Erdöls? Welche Hauptfraktionen
gerstätten möglich ist, gilt es jedoch noch viele technische Fragen werden durch die atmosphärische Destillation von Rohöl
zu beantworten. Das direkte Anbohren solcher Reservoirs könnte gewonnen?
zur schlagartigen Freisetzung großer Mengen an Methan führen,
was für die Bohr-Crew lebensgefährlich wäre. Der Abbau der Cla- Übung 7
16 thrate kann die Stabilität von Kontinentalhängen gefährden, was Rohöl enthält weit weniger leichte Bestandteile als benötigt.
zu massiven Abrutschungen führen könnte, wie es im Roman Der Durch welches Verfahren kann der Anteil an leichten
Schwarm von Frank Schätzing thematisiert wurde. Bestandteilen (Benzin, Kerosin, Diesel) erhöht werden?
Des Weiteren ist Methan ein hocheffizientes Treibhausgas, das
das Klima nachhaltig verändern könnte. Experten glauben, dass Übung 8
vor 55 Mio. Jahren sich über 1 Mrd. Tonne Methanhydrat in einem Weshalb ist die Oktanzahl von Benzin von Bedeutung?
Zeitraum von 20.000 Jahren zersetzt hat, was eine Klimaerwär- Wie kann die Oktanzahl von Leichtdestillaten erhöht
mung von 8 °C zur Folge hatte. werden? Was ist der Unterschied zwischen Rohbenzin und
veredeltem Tankstellenbenzin?
16.7.3.2 Konfigurationsisomerie
16.7.3 Stereoisomerie – gleiche Bei der Konfigurationsisomerie wird zwischen Z/E-Isomeren und
Atomverknüpfungen, aber Enantiomeren resp. Diastereomeren unterschieden.
unterschiedliche räumliche Anordnung Die Z/E-Isomerie, auch als cis/trans- oder geometrische Iso-
merie bezeichnet, ist uns bereits bei den Alkenen (7 Abschn. 16.2.2)
Stereoisomere weisen im Gegensatz zu Konstitutionsisomeren die begegnet. Da eine freie Rotation um die C=C-Doppelbindungs-
gleiche Konnektivität, also das gleiche Bindungsmuster auf, unter- achse nicht gegeben ist, tritt bei mehrfach substituierten Alkenen
scheiden sich jedoch in der dreidimensionalen Anordnung der geometrische Isomerie auf. Weitere Voraussetzung ist, dass keine
Atome zueinander. Stereoisomere lassen sich in Konformations- zwei identischen Substituenten an einem Doppelbindungs-Koh-
und Konfigurationsisomere unterscheiden. lenstoffatom vorhanden sein dürfen. Bei (Z)-But-2-en (Z für
zusammen) befinden sich beide Methylsubstituenten (rot) auf
der gleichen Seite der C=C-Bindungsachse (. Abb. 16.124a). In
16.7.3.1 Konformationsisomerie (E)-But-2-en (E für entgegen) dagegen sind die beiden Methyl-
Konformationsisomere lassen sich durch Rotation um eine C-C- substituenten auf unterschiedlichen Seiten der C=C-Bindungs-
Einfachbindung ineinander überführen. So können sich die achse positioniert (. Abb. 16.124b).
beiden CH3-Gruppen des Ethans beliebig um die C-C-Einfachbin- Für die Z/E-Zuordnung müssen die Substituenten an den
16 dung gegeneinander verdrehen (. Abb. 16.123). Theoretisch gibt beiden Doppelbindungs-C-Atomen priorisiert werden: Vorrang
es unendlich viele Konformationsisomere, abhängig vom Rota- erhalten die mit der Doppelbindung verbundenen Atome höherer
tionswinkel, der auch als Dreh- oder Diederwinkel bezeichnet Ordnungszahl. Brom (Ordnungszahl Z = 35) hat eine höhere Prio-
wird. Im energetischen Grundzustand, der gestaffelten Konforma- rität als Chlor (Z = 17), dieses wiederum eine höhere als Kohlen-
tion stehen die Wasserstoffatome auf Lücke (staggered Konforma- stoff (Z = 6) und diesem ist der Vorrang vor Wasserstoff (Z = 1) zu
tion). Es bedarf nur eines geringen Energieaufwands von 12,5 kJ/ geben. Kommen die höherrangigen Substituenten auf der gleichen
mol, um die Wasserstoffatome in die ekliptische Konformation Seite der C=C-Doppelbindung zu liegen, wird es als (Z)-Isomer
(H-Atome auf Deckung) überzuführen. Beim Drehen einer CH3- bezeichnet, bei entgegengesetzter Position als (E)-Isomer.
Gruppe um die C-C-Einfachbindung werden bei einem Rotations- Bei 3-Chlorhex-2-en (. Abb. 16.124c) ist am linken Doppel-
winkel von 60°, 180° und 300° die ekliptische Konformation und bindungs-C-Atom dem Methylsubstituenten (rot) der Vorrang
bei 0°, 120°, 240° und 360° die gestaffelte Konformation erhalten gegenüber Wasserstoff und am rechten Doppelbindungs-C-Atom
(. Abb. 16.123). dem Chlorsubstituenten (rot) der Vorrang gegenüber Propyl zu
Cl
Cl
CH CH3 CH3
CH3 3
CH3
a b
a b
. Abb. 16.126 Chiralität–schematische Illustration (a) und am Beispiel von Aminosäuren (b) (b © NASA/Perhelion – Chirality with hands, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Chirality_with_hands.svg)
452 Kapitel 16 · Kohlenwasserstoffe – Grundbausteine der organischen Chemie
z Optische Aktivität C C
Bei der Messung der optischen Aktivität wird mithilfe eines Pola-
risationsfilters aus diffusem Natriumlicht linear polarisiertes Licht
(S)-(–)-Limonen (R)-(+)-Limonen
erzeugt, Licht, dessen elektromagnetische Wellen nur in einer riecht nach Kiefern riecht nach Zitronen
Ebene schwingen (. Abb. 16.127, Doppelpfeil nach Polarisations-
Phenylalanin O O
filter). Trifft solch linear polarisiertes Licht auf eine Küvette mit H2N
H 2N
enantiomerenreiner Lösung, d. h. einer Lösung deren Moleküle
C OH C OH
alle den gleich Chiralitätssinn aufweisen, dann wird die Schwin-
H H
gungsebene gedreht. Dabei dreht das rechtsdrehende Enantio-
mer die Schwingungsebene des linear polarisierten Lichts nach
rechts, was mit einem Pluszeichen in Klammern (+) symbolisiert
wird. Das andere Enantiomer (Spiegelbild, linksdrehende Form)
dagegen dreht die Schwingungsebene um den gleichen Betrag (S)-Phenylalanin (R)-Phenylalanin
nach links (–). Liegen beide Enantiomere in gleicher Konzent- süßer Geschmack bitterer Geschmack
ration vor, handelt es sich um ein Racemat, das den Drehwinkel Penicillamin O OH O OH
nicht verändert und somit optisch inaktiv ist.
Der Drehwinkel (α) hängt vom Enantiomer selbst, der Kon- H C NH2 H C NH2
16 zentration der Enantiomerenlösung (c) und der Küvettenlänge (d)
SH SH
ab. Um die Ergebnisse international vergleichen zu können, wird
die „spezifische Aktivität“ [α]20
D für eine Enantiomerenkonzentra-
tion von c = 1 g/100 cm3 und einer Küvettenläge von d = 10 cm mit (S)-Penicillamin (R)-Penicillamin
schleust Schwermetalle sehr giftig
linear polarisiertem Natriumlicht (589,6 nm, Natrium-D-Linie)
aus
bei 20 °C gemessen bzw. mit folgender Gleichung berechnet.
3,4-Dihyd- O O
roxyphenyl- H2N H2N
α
[α]20
D = alanin C OH C OH
c⋅d
(DOPA) H H
[α]20
D : spezifischer Aktivität, °
α: beobachteter Drehwert, °
c: Konzentration, g/100 cm³ HO HO
d: Küvettenlänge, dm OH OH
N O
N
O O H
H
O O
H
N * O N * O
N H N
O O H O O H
(–)-(S)-Thalidomid (+)-(R)-Thalidomid
S
Beispiel: absolute Konfiguration der Aminosäure Alanin
(. Abb. 16.131)
Schritt 1: Festlegung der Substituentenprioritäten O 2 OH
Die höchste Priorität erhält die Aminofunktion (-NH2), da Stickstoff
(N, Z = 7) die höchste Ordnungszahl aufweist. Die zweithöchste 3 1
H 3C NH2
Priorität kommt der Säurefunktion (-COOH) zu, da das C-Atom in H
4
zweiter Sphäre mit zwei Sauerstoffatomen (Z = 8) verknüpft ist,
während die Methylgruppe (-CH3) in zweiter Sphäre nur mit drei . Abb. 16.132 Bestimmung der absoluten Konfiguration am
H-Atomen (Z = 1) verbunden ist. Die geringste Priorität hat der asymmetrischen C-Atom von Alanin gemäß den CIP-Regeln
Wasserstoffsubstituent (Z = 1).
Schritt 2: Drehen des Moleküls, bis der H-Substituent hinter dem Molekül mehrere Chiralitätszentren vorhanden, dann muss für
C-Atom zu liegen kommt jedes Chiralitätszentrum die absolute Konfiguration gemäß den
In . Abb. 16.131 ragt der H-Substituent aus der Papierebene he- CIP-Regeln bestimmt werden.
raus. Also muss das Molekül um 180° gedreht werden, damit er
hinter die Papierebene zeigt. Der Methyl- und der Aminosubsti- z Fischer-Nomenklatur
16 tuent wechseln durch die 180°-Drehung die Plätze. Die Fischer-Nomenklatur gab es bereits vor den CIP-Regeln und
Schritt 3: Drehsinn der Substituenten mit Priorität 1, 2 und 3 hat breiten Einzug in die Literatur für Zuckermoleküle und Ami-
feststellen nosäuren gefunden. Am Beispiel von Alanin werden die Grund-
regeln der Fischer-Nomenklatur hinsichtlich der Konfiguration
Die Aminofunktion (Priorität 1), die Säurefunktion (Priorität 2) des Aminosubstituenten (-NH2) erklärt.
und die Methylgruppe (Priorität 3) sind im Gegenuhrzeigersinn
(roter Pfeil in . Abb. 16.132) angeordnet. Somit handelt es sich um
das (S)-Enantiomer von Alanin.
Wichtig: Die (R/S)-Bezeichnung lässt keine Rückschlüsse auf Fischer-Nomenklatur am Beispiel von Alanin
die optische Aktivität eines Enantiomers zu: Sowohl (R)- als auch Schritt 1: Zuerst wird die längste Kohlenstoffkette des
(S)-Enantiomer können links- oder rechtsdrehend sein. Im kon- Moleküls senkrecht gestellt. Das höchstoxidierte C-Atom
kreten Beispiel ist (S)-Alanin rechtsdrehend (+). Sind in einem (7 Abschn. 11.1) muss oben stehen. Die Oxidationszahl der
C-Atome funktionaler Substituenten steigt in folgender
O 2 OH Reihenfolge an -CH3 < -C2H5 < -CH2OH < -CHO < -COOH.
Die tetraedrische Konfiguration um das Chiralitätszentrum
1 3
H 2N C (rotes-C-Atom in . Abb. 16.133) wird dabei so gedreht,
CH3
H dass die waagrechten Substituenten (-NH2, -H) vor die
4
Papierebene und die beiden senkrechten Substituenten
. Abb. 16.131 Räumliche Struktur der Aminosäure Alanin mit der hinter die Papierebene zeigen.
tetraedrischen Umgebung des asymmetrischen Zentrums
16.7 · Stereochemie – die räumliche Anordnung der Atome ist entscheidend
455 16
Diastereomere
Schritt 2: Im zweiten Schritt wird das Molekül flachgedrückt,
d. h. von einer 3D-Projektion in eine zweidimensionale
Formel übergeführt (. Abb. 16.133, rechts).
Kommt der waagrechte Substituent, in unserem Beispiel
O OH HO O O OH HO O
-NH2, links zu liegen, dann wird das Enantiomer mit l (l für
laevus, lat. links) bezeichnet; steht dieser rechts, dann
H C NH2 H2N C H H C NH2 H2N H
handelt es sich um das d-Enantiomer (d für dexter, lat.
rechts). In unserem Fall ist die Bezeichnung nach Fischer HO C H H C OH H C OH HO H
l-(+)-Alanin. CH3 CH3 CH3 CH3
D-Threonin L-Threonin D-Allothreonin L-Allothreonin
Übung 4
Was sind asymmetrische C-Atome? Zeichnen Sie Bild und
Spiegelbild von Butan-2-ol.
OH
Übung 5
Cahn, Ingold und Prelog führten in den 1960er Jahren Regeln
für die absolute Konfiguration von Enantiomeren ein. Wie
lauten diese? Benennen Sie Milchsäure nach den CIP-Regeln.
COOH
OH
H3C
H
Übung 6
Zeichnen Sie die Fischer-Projektion von d-Alanin.
Übung 7
Entspricht das (R)-Enantiomer der d-Fischer-Projektion von
Alanin? Sind (R)-Enantiomere stets rechtsdrehend?
. Abb. 16.135 Racemattrennung durch chirale Chromatographie
Übung 8
Was sind Diastereomere? Was ist Grundvoraussetzung für
Während die „rechten Hände“ nicht in die linken Handschuhe Diastereomere? Können sich Diastereomere wie Bild und
passen und somit die Chromatographiesäule schnell passieren, Spiegelbild verhalten?
passen die „linken Hände“ sehr gut in die „linken Handschuhe“
des Säulenmaterials und verbleiben sehr viel länger auf der Säule, Übung 9
bis sie vom Lösemittel ausgespült werden. Was wird unter Racematspaltung verstanden? Wie
funktioniert die chirale Chromatographie?
? Verständnisfragen
Übung 1
Was wird unter Stereochemie verstanden?
Übung 2
Erklären Sie den Unterschied von Konstitution,
Konfiguration und Konformation eines Moleküls
Übung 3
Geben Sie die Grundregeln für die Bezeichnung von
Z/E-Isomeren an. Zeichnen Sie die Strukturformel zu
(Z)-2-Ethyl-3-Methylbut-2-en.
457 17
Organische
Sauerstoffverbindungen –
Sauerstoff erhöht die
Molekülvielfalt
Ägypter und Griechen stellten bereits 3000 v. Chr. Wein, Bier und
Met her. So beschreibt z. B. der griechische Philosoph Homer in
der Odysee ausschweifende Weinfeste zu Ehren des Weingottes
Dionysos. Alkoholische Getränke fanden damals aber nicht nur
als Genussmittel, sondern auch als spirituelle Opfergaben und als
Heilungsmittel Verwendung. Paracelsus führte den Begriff Alkohol
im Sinne für das Allerfeinste als „Essenz des Weines“ oder „Wein-
geist“ ein, das durch Destillation aus vergärtem Obst gewonnen
werden kann. Chemisch betrachtet sind Alkohole eine Stoffklasse
organischer Verbindungen, die mindestens eine Hydroxygruppe
(-OH) enthalten. Umgangssprachlich wird unter Alkohol der
Trinkalkohol (Ethanol) verstanden.
a b
Generell lautet der IUPAC-Name für Alkohole Alkanole. Die Ist die Hydroxygruppe direkt mit einem Benzolring verknüpft,
Regeln zur Bezeichnung der Alkanole sind völlig analog zu denen, werden die Verbindungen als Phenole bezeichnet. Liegen mehrere
die wir bereits für Alkane kennengelernt haben: OH-Gruppen am Benzolring vor, handelt es sich um mehrwer-
tige Phenole. Beispiele für zweiwertige aromatische Alkohole sind
1,2-Dihydroxybenzol (Trivialname Brenzcatechin), 1,3-Dihydro-
Benennung von Alkanolen xybenzol (Resorcin) und 1,4-Dihydroxybenzol (Hydrochinon).
55Bestimmung der längsten fortlaufenden . Abbildung 17.6 zeigt einige Beispiele aromatischer Alkohole.
Kohlenstoffkette, die die Hydroxygruppe trägt.
55Dem Namen des Alkans, von dem sich der Alkohol
ableitet, wird die Endung -ol angehängt. 17.1.2 Physikalische Eigenschaften
55Die Stellung der Hydroxyfunktion wird durch die
Positionsnummer des tragenden C-Atoms präzisiert. Die physikalischen Eigenschaften von Alkanolen werden sowohl
Dabei wird so gezählt, dass die Positionsnummer von der polaren, wasserlöslichen Hydroxyfunktion als auch vom
möglichst klein ist. Bei endständiger Hydroxyfunktion unpolaren organischen Rest beeinflusst. Aufgrund der polari-
wird die Positionsnummer 1 weggelassen. sierten Hydroxyfunktion bilden Alkoholmoleküle untereinan-
55Bei mehrwertigen Alkoholen, also Alkoholen mit mehr als der Wasserstoffbrücken (. Abb. 17.7) aus. Die Wasserstoffbrü-
einer OH-Funktion, werden mehrere Positionsnummern ckenbindungen erschweren das Verdampfen von Alkoholmo-
und die entsprechenden griechischen Zahlenwörter (di, lekülen aus der Flüssigphase, was die relativ hohen Siedepunkte
tri, tetra, …) vor die Endung -ol gesetzt. und die gute Löslichkeit von Alkoholen in polaren Lösemitteln
55In cyclischen Alkanolen wird dem C-Atom, das wie Wasser erklärt. Je länger der lipophile (lat. für fettlöslich)
die Hydroxygruppe trägt, die Positionsnummer 1 Alkylrest, desto mehr nähern sich Löslichkeit und Siedepunkte
zugeordnet. von Alkanolen unpolaren Alkanen an, da der Einfluss der Hyd-
roxyfunktion zurückgedrängt wird. Je kürzer der Alkylrest, umso
dominanter wird die Hydroxyfunktion und umso besser wasser-
. Abbildung 17.3 zeigt die korrekte Benennung für ein Alkanol löslich ist der entsprechende Alkohol. So sind Methanol, Ethanol
mit vier C-Atomen.
Je nachdem, ob das C-Atom, das die Hydroxygruppe trägt,
noch mit einem, zwei oder drei C-Atomen direkt verbunden ist,
werden die Verbindungen als primäre, sekundäre oder tertiäre
Alkohole bezeichnet (. Abb. 17.4).
Enthalten Moleküle mehrere Hydroxygruppen, dann werden
diese als mehrwertige Alkohole bezeichnet. Allerdings sind mehr-
wertige Alkohole nur stabil, wenn ein C-Atom nicht mehr als eine
Hydroxygruppe trägt (Erlenmeyer-Regel). Bekannte Beispiele für
mehrwertige Alkohole sind Ethandiol (Trivialname Glycol), Pro-
a b c
pantriol (Glycerin) und Hexanhexanol (Sorbit) (. Abb. 17.5).
. Abb. 17.6 Phenol (a), 4-Methylphenol (p-Kresol, b) und
1,2-Dihydroxybenzol (Brenzcatechin, c) (C – anthrazit, H – grauweiß, O – rot)
OH
17
. Abb. 17.3 Die korrekte IUPAC-Bezeichnung ist Butan-2-ol (Trivialname
sec-Butanol)
OH
OH
OH
OH OH OH
HO
HO OH
HO OH
OH OH OH
. Abb. 17.5 Ethandiol (Glycol), Propantriol (Glycerin), Hexanhexanol . Abb. 17.7 Wasserstoffbrückenbindungen zwischen
(Sorbit) als Beispiele mehrwertiger Alkanole Methanolmolekülen
17.1 · Alkanole (Alkohole) und Phenole
461 17
. Tab. 17.1 Typische Alkohole – Verwendung, molare Masse, Siedepunkt und Schmelzpunkt. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
Einige wichtige Alkohole sind in . Abb. 17.8 zusammengestellt. . Abb. 17.9 Industrielle Herstellung von Methanol aus Synthesegas
462 Kapitel 17 · Organische Sauerstoffverbindungen – Sauerstoff erhöht die Molekülvielfalt
H H H H
300 °C/70 bar/H3PO4
+ H2O H OH
H H H H
. Abb. 17.11 Industrielle Synthese von Ethanol aus Ethen und Wasser
Ethen und Wasser bei 300 °C und 70 bar Druck als Gasgemisch über
einen mit Phosphorsäure imprägnierten Silicatträger geleitet. Die
Reaktion erfolgt in der Gasphase mit lediglich 5 % Umsatz per Umlauf,
. Abb. 17.10 Wodka, Bier und Cocktails – Ethanol als Genussmittel (© bezogen auf die eingesetzte Ethenmenge. Anschließend wird Ethanol
stockphoto-graf/Fotolia) abgetrennt und die nicht umgesetzten Rohstoffe im Kreislauf geführt.
H H O H H
200 °C/10 bar/Ag-Kat. + H2O/200 °C/20 bar
+ 1/2 O2 HO OH
H H
H H H H H H
17.1.3.4 Glycerin (C3H5(OH)3) Wasser (8 g/100 ml). Phenol ist giftig und kann zur Nieren- und
Glycerin oder Propantriol ist der einfachste dreiwertige Alkohol. Herz-Kreislauf-Versagen führen.
Aufgrund der drei Hydroxyfunktionen bildet die farblose Flüs- Phenol wird für die Herstellung von Kunstharzen, Klebstoffen,
sigkeit vermehrt Wasserstoffbrückenbindungen aus, wodurch Photochemikalien, Sprengstoffen, Arzneimittel und Farbstoffen
Siedepunkt (290 °C), Viskosität 1.480 mPa·s und Dichte (1,26 g/ benötigt. Darüber hinaus wird es als Desinfektions- und Konser-
ml) im Vergleich zu Glycol (197 °C/40 mPa·s/1,11 g/ml) und vierungsmittel eingesetzt. Der weltweite Jahresbedarf beträgt 10
Ethanol (78 °C/1,2 mPa·s/0,79 g/ml) stark erhöht sind. Glycerin Mio. Tonnen.
schmeckt süßlich, hat sirupartige Konsistenz und ist hygrosko- Phenol ist giftig und wirkt stark ätzend. Da Phenol über die
pisch (wasseranziehend). Haut resorbiert wird, ist Hautkontakt unbedingt zu vermei-
Glycerin wird als Bremsflüssigkeit und Frostschutzmittel ein- den. Werden mehr als 100 cm² der Haut kontaminiert, besteht
gesetzt. Es dient als Feuchthaltemittel für Cremes und Tabakwa- bereits Lebensgefahr. Phenol weist einen merkbaren Dampfdruck
ren. Mit Nitriersäure (HNO3 + H2SO4) kann aus Glycerin der (0,2 hPa) auf; deshalb darf damit nur im Abzug gearbeitet werden.
Explosivstoff Nitroglycerin (. Abb. 17.18) hergestellt werden, der
die Basis für den Sprengstoff Dynamit bildet.
Große Mengen an Glycerin fallen bei der Umesterung von 17.1.4 Chemisches Reaktionsverhalten –
Pflanzenölen mit Methanol zur Herstellung von Biodiesel an. Etherbildung, Oxidation, Veresterung
Dabei werden pflanzliche Fettsäuretriglycerinester wie z. B. Rapsöl
bei 60 °C mit einem Überschuss an Methanol im alkalischen Durch die Polarisierung der Hydroxyfunktion sind Alkanole
Milieu innerhalb von mehreren Stunden in Fettsäuremethylester hochreaktive Moleküle, die vielfältige Möglichkeiten zum Aufbau
und Glycerin umgesetzt. Nach erfolgter Reaktion schwimmen die organischer Verbindungen ermöglichen. . Abbildung 17.15 zeigt
Fettsäuremethylester obenauf, während das spezifisch schwerere fünf grundlegende Reaktionen von Alkoholen.
Glycerin die untere Phase bildet.
R2 CH3
+ H2SO4/180 °C
Dehydratation
– H2O
R1 H
R2 CH3 CH3 R2
+ H2SO4/140 °C
R1 O R1 Etherbildung
– H 2O
H H H H
R2 CH3 R2 CH3
+ KMnO4 oder Na2Cr2O7
R1 H Oxidation
– H2
H OH R1 O
Alkanol O
R
R2 CH3 O
HO
R1 O Veresterung
– H2O
H H R
R2 CH3
+ NaNH2
R1 H Säure-Base-Reaktion
– NH3
H ONa
(. Abb. 17.15) wird bevorzugt das H-Atom des „linken“ zweifach sich um eine Kondensationsreaktion zwischen einem Molekül
substituierten C-Atoms eliminiert und nicht ein H-Atom der Alkohol und einem Molekül Säure unter Abspaltung von Wasser
Methylgruppe. (. Abb. 17.17). Durch Ausschleppen des Wassers aus dem Reak-
tionsmedium mit einem Lösemittel wird gemäß dem Prinzip des
kleinsten Zwanges nach Le Chatelier das Gleichgewicht in Rich-
17.1.4.2 Etherbildung tung Ester verschoben (7 Abschn. 8.5.2). Als Säuren kommen orga-
Wird dagegen Alkohol in Gegenwart von konzentrierter Schwefel- nische Säuren wie Essigsäure, Ameisensäure, Fettsäuren etc. sowie
säure nur auf 140 °C erwärmt, dann erfolgt die Wasserabspaltung anorganische Säuren wie z. B. Phosphorsäure, Salpetersäure oder
durch Reaktion zweier Hydroxygruppen und es entstehen Ether Kohlensäure in Betracht.
mit einer C-O-C-Bindung. So wird beispielsweise Nitroglycerin durch Veresterung von
wasserfreiem Propantriol (Glycerin) mit Nitriersäure, einer
Mischung aus Salpetersäure (HNO3) und Schwefelsäure (H2SO4),
17.1.4.3 Oxidation hergestellt (. Abb. 17.18).
17 Oxidation ist gleichbedeutend mit der Entfernung von Wasserstoff Der Dreifachester Nitroglycerin ist eine ölige, gelbliche Flüs-
aus dem Alkoholmolekül und einer Erhöhung der Oxidations- sigkeit, die sich kaum in Wasser löst und einen Schmelzpunkt von
zahl (7 Abschn. 11.2) des C-Atoms, das die Hydroxygruppe trägt. 13 °C aufweist. Nitroglycerin ist äußerst empfindlich gegen Stoß,
In . Abb. 17.15 weist das hydroxytragende C-Atom eine Oxida-
tionszahl von 0 auf. Nach der Oxidation mit Kaliumpermanganat
O
(KMnO4) oder Natriumdichromat (Na2Cr2O7) werden Ketone –I [O]
R CH2 OH R C +I Aldehyd
mit Carbonylfunktion (C=O) erhalten. Die Oxidationszahl des
Carbonyl-C-Atoms beträgt +II, ist also um zwei Einheiten höher. H
Das bedeutet, dass das C-Atom zwei Elektronen abgegeben hat.
Oxidation von primären Alkoholen ergibt Aldehyde, die OH O
0 [O] +II
zu Carbonsäuren weiter oxidiert werden. Sekundäre Alkohole R C R' R C R' Keton
ergeben nach der Oxidation Ketone. Tertiäre Alkohole können H
nicht oxidiert werden, da dem hydroxygruppentragenden C-Atom
kein Wasserstoff entzogen werden kann (. Abb. 17.16). OH
[O]
R C R' Keine Reaktion
Eine grundlegende Reaktion in der organischen Chemie stellt . Abb. 17.16 Oxidationsprodukte von primären, sekundären, tertiären
die Veresterung von Alkoholen mit Säuren dar. Dabei handelt es Alkoholen. [O] steht für Oxidation
17.2 · Alkanale (Aldehyde)
465 17
O O R–OH + H2O H3O+ + RO–
HO + H2O
OH O . Abb. 17.19 Alkohole sind schwache Säuren
. Abb. 17.20 Reaktion von Alkoholen mit starken Basen ergibt Alkoxy-
Anionen
OH + HONO2 O NO2
H2SO4
OH + HONO2 O NO2 + 3 H2O Alkohole spalten insbesondere im alkalischen Milieu Proto-
nen ab (. Abb. 17.20). Bei der Reaktion starker Basen wie Nat-
OH + HONO2 O NO2 riumamid (NaNH2) oder Natriumhydrid (NaH) mit Alkoholen
verschiebt sich das Gleichgewicht komplett auf die Seite des Alko-
. Abb. 17.18 Nitrierung von Glycerin zu Nitroglycerin xids, zumal die Nebenprodukte Ammoniak (NH3) und Wasser-
stoff (H2) gasförmig sind und somit dem Gleichgewicht entzo-
gen werden.
was in den Anfangsjahren zu verheerenden Explosionen führte.
Erst nach Anteigen mit Kieselgur ist es stoßunempfindlich und als
Dynamit problemlos handhabbar. 17.2 Alkanale (Aldehyde)
a b c
O H
O H H
O
OH
. Abb. 17.21 Aldehyde sind Bestandteile von Früchten und Nüssen (© atoss/Fotolia, Valentina R./Fotolia, Valery 121283/Fotolia)
466 Kapitel 17 · Organische Sauerstoffverbindungen – Sauerstoff erhöht die Molekülvielfalt
. Tab. 17.2 Verwendung und Eigenschaften wichtiger Aldehyde. Daten aus: GESTATIS-Stoffdatenbank des IFA
Methanal Formaldehyd Grundchemikalie für Harze, Kunststoffe, Kleber, Düngemittel, 30,0 −19/−117
Desinfektionsmittel
Ethanal Acetaldehyd Ausgangsstoff für Essigsäure 44,1 20/−123
Propanal Propionaldehyd Zwischenprodukt für Pharmazeutika, Schädlingsbekämpfungsmittel, 58,1 49/−81
Riechstoffe und Kunststoffe
Benzaldehyd Formylbenzol Intermediat für Aromastoffe, Duftstoffe, Arzneimittel, Farbstoffe 106,1 179/−26
17.2 · Alkanale (Aldehyde)
467 17
Weltweit werden mehr als 30 Mio. Tonnen Formaldehyd jährlich H H H O
PdCl2/Cu(I)Cl-Kat.
produziert. Großtechnisch wird Formaldehyd durch oxidative Dehy- + 1/2 O2 H
drierung von Methanol an einem Silberkatalysator bei 650 °C her- H H H H
gestellt. Die Oxidationszahl (OZ) des C-Atoms nimmt dabei von –II
. Abb. 17.26 Industrielle Erzeugung von Acetaldehyd nach dem Wacker-
(Berechnung : 4 ⋅ (+I) + (−II) + OZc = 0 → OZc = −II ) in Metha- Hoechst-Verfahren
nol auf 0 (2 ⋅ (+I) + (−II) + OZc = 0 → OZc = 0 ) in Formaldehyd
zu (. Abb. 17.24).
H Nu H+ + Nu–
– – H H
O O O O O
H+
R R R R
Nu Nu Nu Nu
R H H H H H
eines Nucleophils zu einem chiralen Carbonyl-C-Atom führen. zu Ethylalkohol. Die Hydrierung entspricht einer Reduktion, da
Im Regelfall ist die Wahrscheinlichkeit der Addition des Nucleo- die Oxidationszahl des Kohlenstoffatoms der Aldehydfunktion
phils für beide Seiten (. Abb. 17.29, linke Formel) gleich, sodass von +I um zwei Einheiten auf −I in Ethanol abnimmt.
ein racemisches Gemisch (Enantiomerenverhältnis 50:50) erhal-
ten wird.
Im zweiten Schritt lagert sich ein Elektrophil – meist ein 17.2.4.2 Oxidation
Proton – an das negativ geladene Sauerstoffanion an, wodurch Bereits Luftsauerstoff reicht aus, um Acetaldehyd zu Essigsäure zu
eine neutrale Alkoholfunktion entsteht. oxidieren. Dabei steigt die Oxidationszahl des Carbonyl-C-Atoms
von +I auf +III an. Dieser autooxidative Prozess wird nicht nur
zur Herstellung von Essigsäure verwendet, sondern kann auch
17.2.4.1 Hydrierung Weine zum gefürchteten „Umkippen“ bringen. Durch schadhafte
Aldehyde reagieren mit elementarem Wasserstoff in Gegenwart Korken dringt Luftsauerstoff in die Flasche und oxidiert Ethanol
metallischer Katalysatoren wie Platin zu primären Alkoholen. (OZ = −I ) über die Zwischenstufe Ethanal (OZ = +I ) bis zur
. Abbildung 17.30 zeigt exemplarisch die Reduktion von Ethanal Essigsäure (OZ = +III ), was den Wein ungenießbar macht.
H
+ H2/Pt
H3C OH Hydrierung
H
O
+ 1/2 O2
H3C Oxidation
OH
OH
17 + HCN
H3C CN Addition
O H
H3C
H OH OR'
+ R'-OH/H+
Ethanal + R'-OH/H+
H 3C H H3C H
Acetaldehyd –H2O
OR' OR'
Halbacetal Acetal
+ CH3-CHO/OH– HO O
H3C Aldoladdition
H H
O
Oligomerisation Cyclisierung
O O
Bei der Hydrocyanierung, also der Reaktion von Aldehyden mit Drei Moleküle Aldehyd können durch Dipol-Dipol-Wechselwir-
Blausäure (HCN), entstehen Nitrile, organische Verbindung mit kung der positiv polarisierten Carbonyl-C-Atome mit dem negativ
-Cº N-Dreifachbindung (7 Abschn. 18.3). Das Nitrilanion der polarisierten O-Atom anderer Aldehydmoleküle ring- und ketten-
Blausäure addiert sich an das positiv polarisierte C-Atom der Car- förmige Strukturen ausbilden. Im Falle von Methanal (Formalde-
bonylfunktion des Aldehyds. Im zweiten Schritt addiert sich das hyd) entsteht beim Eindampfen einer wässrigen Lösung (Forma-
Proton (H+) an das nucleophile, also negativ polarisierte O-Atom. lin) ein weißer Feststoff, das sogenannte Paraformaldehyd, das eine
kettenförmige Polymerstruktur (-CH2O-)n aufweist. Bei höheren
Alkanalen trimerisieren drei Moleküle zu einem Sauerstoff-Hete-
17.2.4.4 Acetalbildung rocyclus. Ethanal kann in Abhängigkeit der Reaktionstemperatur
Aldehyde reagieren mit Alkohol in einer Gleichgewichtsreaktion cyclische Trimere (20 °C) oder Tetramere (0 °C) bilden. Diese Oli-
zu Halbacetalen. Diese reagieren bei Überschuss an Alkohol unter gomerisationsreaktionen (Addition weniger, gleichartiger Mole-
Säurekatalyse und Wasserabspaltung zu Acetalen weiter. Um das küle) werden durch Säuren beschleunigt.
Gleichgewicht in Richtung Acetal zu verschieben, wird das ent-
stehende Wasser der Reaktionsmischung mit Benzol oder Toluol
durch azeotrope Destillation (7 Abschn. 7.1.1.5) ausgeschleppt. 17.3 Alkanone (Ketone)
OH –
H O O
– H2O
H H C
H H H H
Carbanion
G–
H O
H
G+
H O– H O H OH H O
H H + H2O – OH–
H H
O H H H H H H H H
H C Aldol-Anion Aldol-Verbindung
H H E-Hydroxyaldehyd
a b c
O O
HO O
. Abb. 17.32 Ketone geben Pflanzen und Früchten einen charakteristischen Geruch, (© Vitalina Ribakova/Fotolia, Tim UR/Fotolia, sommai/Fotolia)
. Tab. 17.3 Physikalische Eigenschaften und Verwendung wichtiger Ketone. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
OH
O
OH
. Abb. 17.37 Kalottenmodell von Cyclohexanon
O
+ O2 +
O OH
17.3.4.1 Imine
Imine haben die allgemeine Strukturformel RR ¢C=N-R ¢¢ ,
weisen also eine Kohlenstoff-Stickstoff-Doppelbindung auf.
Die Substituenten R, R′ und R″ können aliphatischer oder
aromatischer Natur oder auch Wasserstoff sein. Für den Fall
R″ ungleich eines Wasserstoffatoms werden Imine auch als
Schiffsche Basen bezeichnet. Imine entstehen durch nucleo-
phile Addition von Aminen (H2N-R″, 7 Abschn. 18.1) über das
freie Elektronenpaar des Stickstoffs an das Carbonyl-C-Atom
und anschließender Abspaltung eines Wassermoleküls. Bei der
Addition von Ammoniak ( R ′′ = H ) an einen Aldehyd oder ein
Keton, wird das resultierende Imin als Aldimin resp. Ketimin
. Abb. 17.39 Kalottenmodell von Acetophenon (C – anthrazit, bezeichnet.
H – grauweiß, O – rot )
17.3.4.2 Grignard-Reaktion
17.3.3.3 1-Phenylethanon (Acetophenon) Grignard-Verbindungen (R-MgX, X = Cl , Br) sind metallorgani-
Acetophenon (. Abb. 17.39) ist ein unsymmetrisches Keton, da sche Verbindungen mit einem negativ polarisierten (nucleophi-
es über zwei unterschiedliche organische Reste (Methyl, Phenyl) len) Kohlenstoffatom. Da die negative Polarisierung stark ausge-
verfügt. Es ist eine leicht gelbliche, ölige Flüssigkeit von mandel- prägt ist und das Reaktionsverhalten von Grignard-Verbindun-
artigem, leicht stechendem Geruch. gen dem eines negativ geladenen Alkylrestes entspricht, werden
Acetophenon dient als Ausgangsstoff für Aromastoffe. Duft- solche nucleophilen C-Atome auch als Carbanionen bezeichnet.
noten wie Flieder, Heugeruch und Mandel werden damit kreiert. Das nucleophile C-Atom der Grignard-Verbindung addiert sich
Es wird als preisgünstiger, industrieller Geruchstoff für Schmier- an das positiv polarisierte C-Atom der Ketofunktion von Alde-
öle, Seifen und Haushaltsprodukte eingesetzt. Als hochsiedendes hyden und Ketonen, sodass nach Hydrolyse ein tertiärer Alkohol
Lösemittel kann es Lacke, Schellack, Nitrocellulose und Vinyl- entsteht.
harze auflösen. Acetophenon ist außerdem Ausgangsstoff für Arz-
neimittel und Kunstharze.
Acetophenon kann durch Friedel-Crafts-Acylierung aus 17.4 Carbonsäuren und Ester
Benzol und Essigsäurechlorid unter Abspaltung von Chlorwas-
serstoff hergestellt werden (. Abb. 17.40, 7 Abschn. 16.5.3.1). Carbonsäuren sind uns aus Natur und Alltag vertraut. Aceto
Balsamico wird als hochwertiger Speiseessig für das Abschme-
cken von Salaten und Saucen verwendet (. Abb. 17.42). Frucht-
17 17.3.4 Chemisches Reaktionsverhalten – säuren wie Äpfelsäure, Citronensäure, Weinsäure etc. verleihen
Aldoladdition, Aldolkondensation, Früchten und Pflanzen ihren spezifischen Geschmack. Gesät-
Ketalbildung tigte und ungesättigte Fettsäuren sind Bestandteil von Tierfet-
ten, Olivenöl, Kokosfett etc. Darüber hinaus hat wahrscheinlich
Die klassische und bevorzugte Reaktion von Ketonen ist die nuc- jeder schon die brennende Erfahrung gemacht, dass Ameisen
leophile Addition an das positiv polarisierte Kohlenstoffatom, sich durch Versprühen von Ameisensäure vor Zudringlichkei-
ten schützen.
OH
+ HCN
H 3C CH3 Addition
CN
+ CH3-CHO/OH– HO O
Aldoladdition
H3C
CH3 H
O
H H H
HO
H3C CH3 O H3C O
H3C
– H2O
CH3 CH3 CH3 CH3
Aldolkondensation
17.4.3.1 Ameisensäure
Ameisensäure ist die einfachste Carbonsäure und wurde erstmals
im 17. Jahrhundert durch Destillation von Ameisen gewonnen.
Reine Ameisensäure ist eine farblose, rauchende, stechend rie-
. Abb. 17.43 Strukturparameter von Ameisensäure (Methansäure), chende Flüssigkeit. Sie löst sich in jedem Verhältnis in Wasser und
(C – anthrazit, H – grauweiß, O – rot) bildet mit Laugen Salze (Formiate).
Die Anwendungen von Ameisensäure sind vielfältig. So wird
es zum Gerben von Leder, zum Fixieren von Textilfarben und zum
17.4.2 Physikalische Eigenschaften Ausfällen von Latex verwendet. Ameisensäure wird außerdem zur
Konservierung von Futtermittelsilage eingesetzt. Kaliumformiat
Kurzkettige Carbonsäuren (C1 bis C4) wie Ameisensäure, Essig- ist ein biologisch gut abbaubares und hocheffizientes Enteisungs-
säure etc. sind bei Raumtemperatur flüssig und von stechendem mittel für Straßen und Flughafenlandebahnen. Außerdem dienen
Geruch. Aufgrund der starken Polarisierung der Carboxyfunktion Formiate bei der Erdölexploration zur Erhöhung des spezifischen
sind kurzkettige Carbonsäuren in jedem Verhältnis mit Wasser Gewichts von Bohrspülungen, um Bohrlöcher gegen Einsturz zu
mischbar. Carbonsäuren bilden durch Wasserstoffbrückenbin- stabilisieren.
dungen Dimere aus (. Abb. 17.47), sodass ihre Siedepunkte noch Das großtechnische Verfahren zur Herstellung von Amei-
höher sind als die der korrelierenden Alkohole. Carbonsäuren mit sensäure umfasst zwei Schritte (. Abb. 17.49). Zuerst wird Nat-
mehr als zehn Kohlenstoffatomen sind weiße Feststoffe. ronlauge mit Kohlenmonoxid zu Natriumformiat umgesetzt, aus
Elektronenziehende Substituenten (−I-Effekt) wie Chlor am dem dann mit Schwefelsäure die Ameisensäure freigesetzt wird.
benachbarten Kohlenstoffatom erhöhen die Acidität, da sie die Die Weltjahresproduktion von Ameisensäure beträgt ca. 750.000
Elektronendichte am Carboxylation erniedrigen und dadurch die Tonnen.
Abspaltung des Protons erleichtern. So nimmt die Säurestärke von
Essigsäure (pKS = 4, 8 , 7 Abschn. 10.4) über Monochloressigsäure
(pKS = 2, 9 ) hin zur Dichloressigsäure (pKS =1, 3 ) und Trichlor- 17.4.3.2 Essigsäure
essigsäure (pKS = 0, 7 ) zu. Reine Essigsäure, die als Eisessig bezeichnet wird, ist eine farb-
Da Alkylreste die Elektronendichte an der Carboxygruppe lose, stechend riechende Flüssigkeit, die bei 16 °C erstarrt. Aller-
erhöhen (+I-Effekt), wird die Abdissoziation des Protons erschwert dings ist meist ein Unterkühlen auf 0 °C notwendig, bis Kristallisa-
und folgerichtig nimmt die Acidität in der Reihe Ameisensäure tion eintritt. Unterkühlte Essigsäure kristallisiert beim Öffnen der
(pKS = 3, 8), Essigsäure (pKS = 4, 8 ), Propansäure (pKS = 4, 9 ) ab. Vorratsflasche schlagartig aus, da Staubkörner die Kristallisation
In wässriger Lösung reagieren Carbonsäuren sauer, d. h. sie einleiten. Essigsäure kann mit Wasser, Ethanol, Diethylether und
geben Protonen an Wasser unter Bildung von Oxoniumionen Chloroform in jedem Verhältnis vermischt werden. Die Salze der
(H3O+) ab (. Abb. 17.48). Das resultierende Carboxylatanion Essigsäure werden als Acetate bezeichnet.
17 stabilisiert sich durch Resonanz, was die Abspaltung des Protons Ein geringer Teil der Essigsäure wird als Speiseessig verwen-
erleichtert und den sauren Charakter verstärkt. det (. Abb. 17.50). Essig konserviert außerdem Lebensmittel
O O O O O
H H H H H
H O H3C O H3C O H31C15 O H35C17 O
. Abb. 17.44 Von links nach rechts: Methansäure (Ameisensäure), Ethansäure (Essigsäure), Butansäure (Buttersäure), Hexadecansäure (Palmitinsäure),
Octadecansäure (Stearinsäure).
O O O O OH O OH
O O
O O
HO OH HO HO
HO OH
OH OH OH OH
OH
. Abb. 17.45 Von links nach rechts: Ethandisäure (Oxalsäure), 2-Hydroxybutan-1,4-disäure (Äpfelsäure), 2,3-Dihydroxbutan-1,4-disäure (Weinsäure),
3-Carboxy-3-Hydroxypentan-1,5-dicarbonsäure (Citronensäure)
17.4 · Carbonsäuren und Ester
475 17
O O + H2SO4 O
10 bar/130 °C
2 CO + 2 NaOH 2H 2H
O O O –Na2SO4
OH ONa OH
OH
OH HO OH . Abb. 17.49 Industrielle Herstellung von Ameisensäure aus
Kohlenmonoxid
O
O O O–
R + H2O R R + H3O+
O H O– O
wie Gurken, Kürbis, Senf, Ketchup etc., da es Bakterien und . Abb. 17.50 Essigessenz (25 %) mit vier Teilen Wasser ergibt Speiseessig
(© Speyer & Grund GmbH & Co)
Pilze abtötet. Der überwiegende Teil der Essigsäure wird jedoch
zu Vinylacetat umgesetzt, das als Grundstoff für die Polyvinyl-
acetatproduktion benötigt wird. Ein bedeutender Anteil Essig- O
säure wird als Reaktionsmedium zur Herstellung von Tereph- 50 bar/200 °C/Rh
CO + H3C – OH H3C
thalsäure verwendet. In der pharmazeutischen Industrie ist
OH
Essigsäure Zwischenstoff für Schmerzmittel wie Aspirin und
Paracetamol (. Abb. 16.103). . Abb. 17.51 Monsanto-Prozess zur Herstellung von Essigsäure
Seit jeher wird Essigsäure biochemisch durch Oxidation von
Ethanol mit Luftsauerstoff hergestellt. Dabei lässt man Ethanol
über Buchenholzspäne mit Essigsäurebakterien rieseln. Heute und 50 bar Druck mit Methanol in Gegenwart von Rhodiumka-
wird Essigsäure großindustriell nach dem Monsanto-Verfahren talysatoren direkt zu Essigsäure umgesetzt. Der weltweite Bedarf
hergestellt (. Abb. 17.51). Dabei wird Kohlenmonoxid bei 200 °C an Essigsäure beträgt ca. 15 Mio. Tonnen jährlich.
. Tab. 17.4 Repräsentative Carbonsäuren – Name, Verwendung, physikalische Eigenschaften. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
O O O O
R + R' + HCl
Cl HO R O R'
Carbonsäurechlorid Carbonsäureanhydrid
O O
OH T
O + H2O
OH
O O
Phthalsäure Phthalsäureanhydrid
. Abb. 17.53 Olivenöl – Quelle ungesättigter Fettsäuren (© Luis Carlos
Jiménez/Fotolia) . Abb. 17.54 Typische Reaktionen von Carbonsäuren
17.5 · Alkoxyalkane (Ether)
477 17
17.5 Alkoxyalkane (Ether)
O O
O O O
R R R R R H R H H H
Alkoxyalkane (Trivialname Ether) mit der allgemeinen Struktur-
formel R-O-R′ können als Disubstitutionsprodukte von Wasser . Abb. 17.58 Anzahl möglicher Wasserstoffbrückenbindungen
aufgefasst werden. Das Sauerstoffatom teilt quasi eine Kohlen-
stoffkette in zwei Alkylreste. Prinzipiell wird zwischen sym-
metrischen (R = R′ ) und unsymmetrischen ( R ≠ R′ ) Ethern
unterschieden. Der klassische Ether schlechthin ist Diethylether 17.5.2 Physikalische Eigenschaften
(IUPAC-Name Ethoxyethan), der umgangssprachlich einfach als
Ether bezeichnet wird. Ether können untereinander keine Wasserstoffbrückenbindun-
gen ausbilden, sodass Siedepunkte und Wasserlöslichkeit geringer
sind als die von Alkoholen vergleichbarer molarer Masse. Gene-
17.5.1 Funktionelle Gruppe und Nomenklatur rell gilt, dass Löslichkeit und Siedepunkt mit der Anzahl an Was-
serstoffbrückenbindungen zunimmt, die ein Molekül eingehen
Die funktionelle Gruppe der Ether besteht aus einem sp³-hyb- kann (. Abb. 17.58). So nimmt tendenziell der Siedepunkt in der
ridisierten O-Atom, das zwei Einfachbindungen zu C-Atomen Reihe Methoxyethan (7 °C), Propanon (56 °C), Propanal (49 °C),
aufweist. Die organischen Reste können aliphatischer oder aro- Propanol (97 °C), Wasser (100 °C) zu.
matischer Natur sein. Der C-O-C-Bindungswinkel ist mit 112° In polaren Lösemitteln wie Wasser sind nur Ether mit vier
etwas größer als der ideale Tetraederwinkel von 109,5°, aufgrund und weniger C-Atomen leicht löslich. In organischen unpolaren
des räumlichen Anspruchs der zwei Alkylreste. Die Kohlenstoff- Lösemitteln sind sie dagegen gut löslich. Viele Ether, insbesondere
Sauerstoff-Einfachbindung weist eine Länge von 143 pm auf und Diethylether, wirken narkotisierend. Eigenschaften und Verwen-
ist deutlich länger als dieC=O-Doppelbindung in Carbonylverbin- dung wichtiger Ether sind in . Tab. 17.5 beschrieben.
dungen (Aldehyde, Ketone) mit 121 pm. Strukturparameter von
Methoxymethan (Dimethylether) zeigt . Abb. 17.55.
Prinzipiell besteht ein Ether aus einem Alkoxysubstituenten 17.5.3 Typische Vertreter – Diethylether,
(RO-), der mit einer Alkylgruppe verknüpft ist. Gemäß IUPAC- Ethylenoxid, MTBE, THF, Kronenether
Nomenklatur wird der Name des Alkoxysubstituenten vor dem
Namen des Kohlenwasserstoffs genannt. Die Trivialnamen offen- Eine klassische Route zu Ethern stellt die Williamson-Ethersyn-
kettiger Ether setzen sich aus den beiden Alkylresten und dem these dar. Im ersten Schritt wird Alkohol mit Natrium zu Natrium-
Suffix -ether zusammen (. Abb. 17.56). alkoholat umgesetzt, das dann mit Alkylhalogenid zu Alkoxyalkan
Die Etherfunktion kann auch integrierter Teil cyclischer Ver- und Natriumhalogenid weiter reagiert (. Abb. 17.59).
bindungen sein. Bekannte cyclische Ether sind Ethylenoxid, Tetra-
hydrofuran (THF), Furan und 1,4-Dioxan (. Abb. 17.57). Nach
IUPAC-Nomenklatur wird dem Namen des Cycloalkans der Präfix 17.5.3.1 Diethylether (Ethoxyethan)
Oxa- vorgesetzt Ethoxyethan ist der kommerziell bedeutendste Ether. Diethylet-
her ist eine wasserklare, stark flüchtige Flüssigkeit mit einem Sie-
depunkt von 35 °C. Er wird wie andere symmetrische Ether durch
Erwärmen von Ethanol mit konzentrierter Schwefelsäure auf
130 °C unter Wasserabspaltung hergestellt (. Abb. 17.60 und 17.61).
Im Umgang mit Diethylether ist Vorsicht geboten. Diethylet-
her muss von Zündquellen ferngehalten werden, da seine Dämpfe
über größere Distanzen auf der Laborbank „kriechen“ und „fern-
gezündet“ werden können. Besondere Gefahr geht auch bei länge-
. Abb. 17.55 Strukturparameter von Dimethylether rer Lagerung von Diethylether aus. Mit Luftsauerstoff bildet sich
Etherperoxid, das höchst explosiv ist. Insbesondere die Destilla-
tion von Diethylether ist nur von fachkundigem Personal durch-
O zuführen, da sich das höher siedende Peroxid im Destillations-
O
sumpf anreichert, was zu heftigsten Detonationen führen kann.
O
Die Bildung von Peroxiden kann durch Lagerung des Ethers in
. Abb. 17.56 Ethoxyethan, Methoxybutan, Ethoxybenzol braunen Flaschen (Sonnenlicht begünstigt die Peroxidbildung)
über Natriumhydroxid verhindert werden.
O Werden Diethyletherdämpfe eingeatmet, tritt Narkose ein.
O Bewusstsein, Muskelreflexe und Schmerzempfinden schwin-
O O den, sodass bereits 1846 der Zahnarzt William Morton Diethy-
O
lether als Narkotikum verwendete. Allerdings erfolgt aufgrund
. Abb. 17.57 Ethylenoxid, Tetrahydrofuran (THF), Furan, Dioxan der geringen Fett- zu Blutkonzentrationen des Diethylethers das
478 Kapitel 17 · Organische Sauerstoffverbindungen – Sauerstoff erhöht die Molekülvielfalt
. Tab. 17.5 Eigenschaften wichtiger Ether. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
R OH + Na R OH–Na+
– 1/2 H2
R O R'
– NaBr
R' Br
H2SO4/130 °C
+ + H 2O
OH HO O
. Abb. 17.62 1,2-Epoxyethan (Ethylenoxid)
. Abb. 17.60 Herstellung symmetrischer Ether durch Dehydratisierung
von Alkoholen
H H
O
Ag/2 bar/250 °C
2 + O2 2
H H
H H H H
Da MTBE keine Peroxide bildet, wird es auch verstärkt als die korrekte IUPAC-Namensgebung umständlich ist, hat sich
Ersatz für Diethylether und Tetrahydrofuran als Lösemittel für Kronenether eine eigene Nomenklatur etabliert. Beispiels-
eingesetzt. weise besteht der Kronenether 12-Krone-4 aus 12 Ringatomen
Insbesondere in den USA wurde die Grundwassergefährdung und 4 Ethoxyeinheiten (-CH 2CH2O-). Der IUPAC-Name ist
durch MTBE heftig diskutiert, was zum Verbot von MTBE in 1,4,7,10-Tetraoxacyclododecan.
einigen Staaten, z. B.in Kalifornien führte. Der Grenzwert für die Durch die kronenartige dreidimensionale Konfiguration
Grundwasserkonzentration beträgt in der BRD 15 μg/l (Schweiz weisen Kronenether einen hydrophoben äußeren Perimeter und
2 μg/l). In Deutschland wurde mittlerweile MTBE fast vollstän- einen polaren, hydrophilen Innenbereich auf. Je nach Ringgröße
dig durch Ethyl-tert-butylether (ETBE) ersetzt, da ETBE aus Bio- und Anzahl der Sauerstoffatome komplexieren Kronenether über
ethanol produziert werden kann und somit von der Mineralöl- die freien Elektronenpaare der O-Atome selektiv Metallionen,
steuer befreit ist. vorausgesetzt diese passen in den Innenraum des Kronenethers
Industriell wird MTBE durch säurekatalysierte Umset- (. Abb. 17.67). So löst 12-Krone-4 Lithiumsalze, 15-Krone-5 Nat-
zung von Methanol und 2-Methylpropen (Isobuten) hergestellt riumsalze und 18-Krone-6 Kaliumsalze (. Abb. 13.18).
(. Abb. 17.65). Mithilfe von Kronenethern können anorganische Salze in
organische Lösemittel transferiert werden. So ist beispielsweise
Kaliumpermanganat in Chloroform unlöslich, kann jedoch mit-
17.5.3.4 1,4-Epoxybutan (Tetrahydrofuran) hilfe von 18-Krone-6 in Lösung gebracht werden.
Tetrahydrofuran (THF C4H8O, . Abb. 17.66) ist eine leicht ent-
zündliche, farblose, flüchtige Flüssigkeit mit acetonartigem
Geruch. Es löst sich in Wasser und in organischen Lösemitteln.
Da es bereits bei Raumtemperatur mit Luft Hydroperoxide bildet,
wird es mit Hydrochinon stabilisiert.
THF wird als Lösemittel für PVC, Polyacrylate, Polystyrol etc.
und als Reaktionsmedium für die Herstellung metallorganischer
Verbindungen, z. B. Grignard-Verbindungen verwendet. Außer-
dem ist THF Zwischenprodukt von Polytetrahydrofuran, das zur
Produktion hochelastischer Fasern benötigt wird.
17.5.3.5 Kronenether
Cyclische Polyethoxyether werden aufgrund ihrer gezackten Koh-
lenstoffkette als Kronenether oder Coronanden bezeichnet. Da
[H+]
+ HO CH3 O
. Abb. 17.67 18-Krone-6 – die hydrophilen Sauerstoffatome befinden
. Abb. 17.65 Großindustrielle Produktion von Methyl-tert-butylether sich im inneren Bereich
480 Kapitel 17 · Organische Sauerstoffverbindungen – Sauerstoff erhöht die Molekülvielfalt
O
O H
O + O2 O Autoxidation
O
n + H2O H O CH2 CH2 OH Polymerisation
n
[H +] OH
O
+ R OH Nucleophile Addition
RO
Aufgrund dieser Charakteristik werden in der Chemie Kro- ist temperaturlabil, sodass Peroxide reaktive chemische Verbin-
nenether als Phasentransferkatalysatoren eingesetzt. Dabei wird dungen sind. Im Wesentlichen kann zwischen Hydroperoxiden,
ein wasserlöslicher Katalysator mithilfe eines Kronenethers in die Dialkylperoxiden, Peroxysäuren, Peroxyestern und Diacylperoxi-
organische Phase geschleppt, wo er dann die gewünschte Reak- den unterschieden werden (. Abb. 17.69).
tion katalysiert.
O O
O
O O O
O O O O O
O H H
O
O
. Abb. 17.69 Organische Peroxide – Hydroperoxide, Dialkylperoxide, Peroxysäuren, Peroxyester, Diacylperoxide (von links nach rechts)
17.6 · Organische Peroxide
481 17
. Tab. 17.6 Lager-, Halbwertszeit- und SADT-Temperaturen organischer Peroxide. Daten aus: Initiators and Reactor Additives for Thermoplastics,
AkzoNobel (2010) S. 12ff
Di-tert-butylperoxid
tert-Butylperoxyacetat
40 71 91 132 80 wasser-feuchtes
O
Pulver
O
O
O
Dibenzoylperoxid
482 Kapitel 17 · Organische Sauerstoffverbindungen – Sauerstoff erhöht die Molekülvielfalt
O
O Cl
+ O H + + 2 HCl
O O O
H
Cl O
O
O O
O O
+ O O + H Baeyer-Villiger Oxidation
O H O
O
O
T
O O 2
O•
O Startreaktion
radikalische Polymerisation
O
H H H H
O O C•
+ H
H
O•
Übung 7
? Verständnisfragen Was versteht man unter Fettsäuren? Was ist der
Übung 1 Unterschied zwischen gesättigten und ungesättigten
Geben Sie einen Überblick über organische Sauerstoffver- Fettsäuren?
bindungen und deren funktionelle Gruppen. Was ist eine
funktionelle Gruppe? Welche Arten an Bindungen kann Übung 8
Sauerstoff mit Kohlenstoff eingehen? Beschreiben Sie zwei Synthesewege zur Herstellung von
Ethern! Warum dürfen Diethylether, Diisopropylether und
Übung 2 Tetrahydrofuran nicht destilliert werden?
Was sind primäre, sekundäre, tertiäre Alkohole? Wie
verhalten sich diese bei Oxidation mit Luft? Übung 9
Peroxide sind temperaturlabile Verbindungen?
Übung 3 Was ist die SADT-Temperatur und warum darf diese
Die nucleophile Addition an Carbonylverbindungen ist beim Lagern von Peroxiden keinesfalls überschritten
ein wichtiger Reaktionstyp in der organischen Chemie. werden?
Beschreiben Sie den Mechanismus!
Übung 10
Übung 4 Mit der Baeyer-Villiger-Oxidation können Ketone
Was ist der Unterschied zwischen Aldoladdition und Aldolkon- in Ester transformiert werden. Formulieren Sie die
densation? Führen Sie hierzu eine Internetrecherche durch. Reaktionsgleichung!
485 18
Organische
Stickstoffverbindungen –
Stickstoff steigert die Reaktivität
H
NH2 H2N
H3C N N
H NH2 NH2
Methanamin N-Ethyl-N-methylpropanamin Butan-2-amin Butanamin Butan-1,3-diamin
H
N
+ N
N Cl –
N N
H
. Abb. 18.4 Tetraedrische Struktur von Trimethylamin (C – anthrazit, Es gibt zahlreiche Syntheserouten zu Aminen (. Abb. 18.5).
H – grauweiß, N – blau)
Umsetzung von Ammoniak mit Bromkohlenwasserstoffen (R-Br)
ergibt im ersten Schritt ein primäres Amin. Da das entstandene
Das freie Elektronenpaar verleiht Aminen basischen und nuc- Amin ebenfalls ein nucleophiles nichtbindendes Elektronenpaar
leophilen Charakter. Protonen können sich an das freie Elektro- aufweist, erfolgt weitere Alkylierung des Amins, sodass nach
nenpaar addieren, wodurch Ammoniumsalze entstehen. Der basi- diesem Verfahren ein Gemisch von primären, sekundären und
sche Charakter ist umso stärker ausgeprägt, je höher die Elektro- tertiären Aminen sowie quartäres Ammoniumverbindungen ent-
nendichte am N-Atom ist. Somit steigt die Basizität in der Rei- steht. Die Reaktion wird unter Druck in alkoholischer Lösung
henfolge Ammoniak, Methylamin, Dimethylamin zu Trimethyl- durchgeführt. Durch Destillation und Kristallisation kann das
amin hin an. Reaktionsgemisch aufgetrennt werden.
. Tab. 18.1 Typische Amine – Verwendung, Basizität, molare Masse, Siedepunkt und Schmelzpunkt. Daten aus: GESTIS Stoffdatenbank des IFA
Methanamin Zwischenprodukt für Farbstoffe, Pharmazeutika und Lösemittel 3,4 31,1 −6/−94
(Methylamin)
N-Methylmethanamin Zwischenprodukt für Detergenzien und Pflanzenschutzmittel 3,3 45,1 7/−92
(Dimethylamin)
N,N-Dimethylmethanamin Ausgangsprodukt für quartäre Ammoniumsalze z. B. für 4,2 59,1 3/−117
(Trimethylamin) Ionenaustauscher
N,N-Diethylethanamin Lösemittel, Raketentreibstoff, Katalysator, Grundstoff für Farben 3,2 101,2 89/−115
(Triethylamin)
Tetramethylammoniumchlorid Fracking-Hilfsstoff, Detergenzien n.z. 109,6 420 (Zers.)
Anilin Grundstoff für Farben und Kunstfasern 9,4 93,1 184/−6
Pyridin Lösemittel, Cokatalysator, Zwischenprodukt für Pharmazeutika 8,8 79,1 115/−42
und Pflanzenschutzmittel
18.1 · Amine – Derivate des Ammoniaks
489 18
R Br + 2 NH3 R NH2 + NH4Br
H
LiAlH4/H2O
R C N R NH2
H
H2/Pt
NO2 NH2
O H R'
LiAlH4/H2O
R' R N
R N
H R''
R'' . Abb. 18.7 Pyridin – eine heteroaromatische Verbindung
F
+ –
N N B F
F
F
. Abb. 18.6 Anilin – einfachstes aromatisches Amin (C – anthrazit, . Abb. 18.8 Butylmethylimidazolium-tetrafluoroborat – sperrige Ionen
H – grauweiß, N – blau) verhindern die Kristallisation bei Raumtemperatur
490 Kapitel 18 · Organische Stickstoffverbindungen – Stickstoff steigert die Reaktivität
CH3 O
N CH3
O O
CH3 CH3 H 3C N N
H3C O
N
N
H3C
N N O O
O N N
H 3C
CH3
N
H
. Abb. 18.10 (Von links nach rechts) Nicotin, Coffein, Cocain, Lysergsäurediethylamid (LSD) – Alkaloide mit z. T. hohem Suchtpotenzial
18.1 · Amine – Derivate des Ammoniaks
491 18
. Abb. 18.11 Was Wilhelm Busch bereits wusste – Tabakslauge wirkt gegen Hundeflöhe
+
H
R NH2 + H2O R N H OH –
H
H +
R NH2 + HCl R N H Cl –
H
O +
O H
2 R NH2 + + R N H Cl –
R N
Cl H
H
+
H
R N H Cl – + NaOH R NH2 + NaCl + H2O
H
. Abb. 18.12 Das chemische Reaktionsverhalten von Aminen wird von deren basischen Charakter bestimmt
492 Kapitel 18 · Organische Stickstoffverbindungen – Stickstoff steigert die Reaktivität
18.2 Carbonsäureamide – formales . Abb. 18.14 Planare Struktur von N,N-Dimethylethanamid (C – schwarz,
Neutralisationsprodukt von Carbonsäure H – grauweiß, N – blau, O – rot)
und Amin
–
Carbonsäureamide entstehen bei der Reaktion von Carbonsäure- O O
chloriden oder Carbonsäureanhydriden mit Ammoniak, primä- C R' C + R'
ren oder sekundären Aminen. Die Reste R können Wasserstoff, R N R N
aliphatische oder aromatische Substituenten sein. Weist das Amin R'' R''
einen Phenylrest auf (z. B. R ¢=C6H5 ) spricht man von Carbonsäu-
reaniliden (. Abb. 18.13). . Abb. 18.15 Mesomeriestabilisierung der Carbonsäureamidgruppe
Carbonsäureamide haben große pharmakologische und bio- verringert die Basizität des N-Atoms
18
18.2.2.1 Dimethylformamid
O
O R'
R
N,N-Dimethylformamid (DMF) ist eine farblose, klare Flüssig-
R + H N + HCl keit mit einem Siedepunkt von 155 °C und aminartigem Geruch.
N R'
Cl R'' Die Dämpfe sind schwerer als Luft und können explosionsfähige
R''
Gemische bilden. DMF ist gut in polaren Lösemitteln wie Wasser
O löslich.
O Hauptsächlich wird DMF als Koagulationsmittel zur Herstel-
R R'
R lung von Polyurethan-Kunstlederprodukten eingesetzt. Außer-
O + 2 H N 2 + H2O
N R' dem dient es als Extraktionssolvens für Benzol und Butadien in der
R R''
R'' Petrochemie. Dimethylformamid ist außerdem ein gutes Lösemit-
O tel für Kunststoffe wie PVC, Polyurethane, Polyamide und Epoxid-
. Abb. 18.13 Herstellung von Carbonsäureamiden aus harze. Dimethylformamid reizt Haut, Augen und Atemwege. Es
Carbonsäurechlorid oder Carbonsäureanhydrid wird über die Haut aufgenommen und wirkt als Lebergift.
18.2 · Carbonsäureamide – formales Neutralisationsprodukt von Carbonsäure und Amin
493 18
H
O O O N
O S CH3
CH3 H H O
H N N N H 2C N H N
NH2 CH3
CH3 H H O
OH
O
. Abb. 18.16 N,N-Dimethylformamid (DMF), Harnstoff, Acrylamid, ε-Caprolactam, Penicillin G (von links nach rechts)
18.2.2.2 Harnstoff hilft der Haut, Feuchtigkeit zu binden und wird deshalb in Cremes
Harnstoff (IUPAC-Name Kohlensäurediamid) ist ein farbloser, (1–2 %) als Feuchtigkeitsspender verwendet. In erhöhter Konzen-
geruchloser, kristalliner Feststoff mit einem Schmelzpunkt von tration werden Harnstoffcremes zur Behandlung von Schuppen-
133 °C (. Abb. 18.17) Chemisch gesehen ist es ein zweifaches Amid flechte und Neurodermitis eingesetzt.
(Diamid) der Kohlensäure (H2CO3). Harnstoff löst sich gut in
polaren Lösemitteln wie Wasser und Methanol, aber nicht in apo-
laren Lösemitteln wie Hexan. 18.2.2.3 Caprolactam
Harnstoff (Stickstoffgehalt ca. 47 %) ist der weltweit bedeu- Moleküle, die sowohl eine Säurefunktion (-COOH) als auch eine
tendste Stickstoffdünger. So wurden 2011 ca. 175 Mio. Tonnen Aminfunktion aufweisen, können intramolekulare Säureamide,
Harnstoffdünger aber nur 100 Mio. Tonnen Nitratdünger auf sogenannte Lactame bilden.
Feldern und Wiesen ausgebracht. Weltweit werden ca. 200 Mio. Caprolactam ist ein schneeweißer, kristalliner Feststoff mit
Tonnen Harnstoff durch Umsetzung von Ammoniak mit Kohlen- einem Schmelzpunkt von 69 °C. Es ist hygroskopisch und gut
dioxid produziert (. Abb. 18.18). in Wasser löslich. ε-Caprolactam wird aus Cyclohexanon durch
Kondensation von Harnstoff mit Formaldehyd ergibt Harn- Umsetzung mit Hydroxylamin zu Cyclohexanoxim und anschlie-
stoff-Formaldehydharze (Melaminharze), die z. B. als Bindemittel ßender Umlagerung unter drastisch sauren Bedingungen (Oleum,
für Spanholzplatten, Furniere, Lackharze etc. Verwendung finden. rauchende Schwefelsäure) erhalten (. Abb. 18.19). Der griechische
Harnstoff ist Endprodukt des Proteinstoffwechsels. So scheidet Buchstabe ε ist der fünfte Buchstabe des griechischen Alphabets
der Mensch ca. 20 g Harnstoff pro Tag über den Urin aus. Harnstoff und indiziert, dass die Aminfunktion mit dem fünften C-Atom
relativ zur Carboxylfunktion verknüpft ist.
Die weltweite Produktion von ε-Caprolactam (. Abb. 18.20)
beträgt ca. 5 Mio. Tonnen jährlich. 70 % des Caprolactams werden
für die Herstellung von Polyamidfasern (Kleider, Teppiche, Indus-
triefasern) verwendet. Die anderen 30 % gehen in Gusspolyamid-
teile wie z. B. Ansaugrohre für Automotoren.
OH
O N OH O
H
N N
+ NH2OH Oleum
– H2O
. Abb. 18.19 Herstellung von ε-Caprolactam aus Cyclohexanon über Cyclohexanoxim und Ringerweiterung
Sowohl das C- als auch das N-Atom der Nitrilfunktion sind sp-
hybridisiert. Die Nitrilfunktion und das α -ständige Kohlen-
stoffatom des Substituenten sind deshalb linear angeordnet. Die
Cº N-Dreifachbindungslange ist mit 116 pm deutlich kürzer als
die C-N-Einfachbindung in Aminen (147 pm). Die C-C-Einfach-
bindung in Acetonitril beträgt 146 pm und ist somit kürzer als eine
C-C-Einfachbindung in Alkanen (154 pm), aber deutlich länger
als C=C-Doppelbindungen (134 pm) (. Abb. 18.22).
Verbindungen mit endständiger Nitrilfunktion werden durch
Anhängen der Nachsilbe -nitril an den Stammnamen bezeichnet.
Dabei wird das C-Atom der Nitrilfunktion zum Stamm dazuge-
zählt. Ist die Nitrilfunktion von untergeordneter Priorität, dann
wird diese als Cyansubstituent mit Positionsnummer im Molekül-
namen aufgeführt. Einige Beispiele für Nitrile mit ihren Benen-
nungen sind in . Abb. 18.23 gezeigt.
. Abb. 18.20 Kugel-Stab-Modell von ε-Caprolactam (C – anthrazit,
H – grauweiß, N – blau, O – rot)
18.3.2 Physikalische Eigenschaften
O O H R'
> 100 °C N Nitrile können untereinander keine Wasserstoffbrückenbindun-
R + NaOH R +
R'' gen ausbilden, da kein H-Atom in direkter Bindung zu einem
NR'R'' ONa
elektronegativen Atom vorhanden ist. Jedoch ist die Polarisie-
O O H + rung der Nitrilfunktion aufgrund der hohen Elektronegativi-
> 100 °C
R + H2O + HCl R + H N R' Cl – tät des N-Atoms sehr stark, sodass die Siedepunkte von Nitrilen
NR'R'' OH R'' sogar noch etwas höher liegen als die von Alkoholen vergleich-
barer molarer Masse.
O H R' Nitrile bilden Wasserstoffbrückenbindungen mit Wassermo-
Pt/H2 oder LiAlH4
R R C N + H2O lekülen aus. So löst sich Acetonitril in jedem Verhältnis in Wasser.
NR'R'' H R''
18
. Abb. 18.21 Hydrolyse und Reduktion (letzte Gleichung) von
Carbonsäureamiden
. Abb. 18.23 Von links nach rechts: Ethannitril (Acetonitril), Prop-2-ennitril (Acrylnitril), 1,6-Hexandinitril, Benzonitril, 4-Cyanbutansäure
Mit zunehmender C-Anzahl des organischen Rests (R) nimmt der Kohlenstoffkette des resultierenden Nitrils ist um ein C-Atom
hydrophobe Charakter zu und die Wasserlöslichkeit ab. länger als die des Halogenalkans.
Säureamid und Phosphorpentoxid (P 2O5) reagieren beim
Erwärmen unter Wasserabspaltung zu Nitrilen, die durch Des-
18.3.3 Herstellung und typische Vertreter – tillation aus dem Reaktionsgemisch abgetrennt werden können.
Acetonitril, Acrylnitril Carbonylverbindungen wie Aldehyde und Ketone addieren im
sauren Milieu (pH = 4) Blausäure unter Bildung von a -Hydro-
Wichtige Nitrile mit einen Eigenschaften sind in . Tab. 18.2 xynitrilen (. Abb. 18.24, unten).
aufgelistet.
18.3.3.2 Acetonitril
18.3.3.1 Herstellung Acetonitril (IUPAC-Name Ethannitril) ist eine farblose, leicht-
Werden Halogenalkane und Kaliumcyanid in Ethanol gelöst unter flüchtige Flüssigkeit von angenehmem aromatischem Geruch.
Rückfluss erwärmt, erfolgt nucleophile Substitution des Halogens Acetonitril ist in Wasser und den meisten organischen Lösemit-
durch das Cyanidanion (. Abb. 18.24, oberste Gleichung). Die teln gut löslich.
. Tab. 18.2 Wichtige organische Nitrile – Verwendung, Dichte, Wasserlöslichkeit, Siede- und Schmelzpunkte. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank
des IFA
Ethannitril Lösemittel, Extraktionssolves für Fettsäuren und Butadien 0,78 vollständig 82/−45
(CH3-CN)
Propannitril Chemischer Synthesebaustein 0,78 10,3 97/−92
(C2H5-CN)
Acrylnitril Ausgangsstoff für Acrylsäure, Monomer für Kunststoffe 0,81 7,3 77/−82
(HC = CH–CN)
1,6-Hexandinitril Vorstufe von Hexamethylendiamin 0,95 5 295/2
(NC-(CH2)4-CN)
Benzonitril Zwischenprodukt für Pestizide, Pharmazeutika, Lösemittel 1,01 1 191/−13
(Ph-CN)
N
Br + 2 KCN C
Br C + 2 KBr
N
O
+ P2 O 5
C H3C C N
H3C NH2 – H2O
O
OH
C pH = 4
CH3 + H–CN C C N
CH3
Acetonitril wird als Lösemittel für Fettsäuren verwendet. Es 400 °C/2 bar/ C N
+ NH 3 + 1,5 O2 + 3 H2O
löst Kunststoffe und Gummi an. In analytischen Labors kommt Bi/Mo-Kat.
es als mobile Phase in der HPLC-Chromatographie zum Einsatz. . Abb. 18.25 Herstellung von Acrylnitril nach dem SOHIO-Verfahren
Beim Verbrennen von Acetonitril entstehen hochgiftige Gase
wie Cyanwasserstoff (HCN) und Stickoxide. Dämpfe von Aceto-
nitril sind schwerer als Luft und können sich am Boden ausbrei-
ten, sodass Fernzündung möglich ist. Der MAK-Wert von Ace-
tonitril beträgt 40 ppm.
18.3.3.3 Acrylnitril
Acrylnitril (IUPAC-Name Prop-2-ennitril) ist eine klare, leicht
gelbliche, brennbare Flüssigkeit von schwach stechendem Geruch
und einem Siedepunkt von 77 °C. Acrylnitril löst sich gut in orga-
nischen Lösemitteln, aber nur mäßig in Wasser.
Acrylnitril wird durch katalytische Oxidation von Propen und
Ammoniak hergestellt (. Abb. 18.25) Das Verfahren wurde in den
1950-er Jahren durch die Firma Standard Oil of Ohio etabliert und
ist als SOHIO-Verfahren bekannt.
Acrylnitril (. Abb. 18.26) ist ein wichtiges Monomer für die
Produktion von Acrylfasern, Kunststoffen und synthetischem
Kautschuk. Acrylnitrilpolymere werden zur Herstellung von
. Abb. 18.26 Kugel-Stab-Modell von Acrylnitril (C – anthrazit, N –Blau,
Kleidung, Verpackungen etc. verwendet und im Automobilbau
H – grauweiß)
eingesetzt. Der weltweite Bedarf an Acrylnitril beträgt ca. 6 Mio.
Tonnen pro Jahr.
Acrylnitril führt zu Augen- und Schleimhautreizungen. Es neutralisiert die resultierende Carbonsäure zum Natriumsalz
besteht Verdacht auf kanzerogene Wirkung beim Menschen. (. Abb. 18.27, 2.Gleichung).
Organische Nitrile, gelöst in Diethylether, können mit
Lithiumaluminiumhydrid (LiAlH4) oder durch katalytische Hyd-
18.3.4 Chemisches Reaktionsverhalten – rierung zu primären Aminen reduziert werden. Dabei erniedrigt
Reduktion zu Aminen sich die Oxidationszahl des Nitril-C-Atoms von +III auf –I im pri-
mären Amin (. Abb. 18.27, letzte Gleichung).
Typische Reaktionen von Nitrilen sind in . Abb. 18.27 darge-
stellt. Werden Nitrile mit verdünnter Salzsäure oder Natronlauge
unter Rückfluss erwärmt, tritt Hydrolyse der Nitrilfunktion ein. 18.4 Isocyanate – hochreaktive Verbindungen
Bei saurer Hydrolyse setzt die starke Säure (HCl) die schwache für die Kunststoffindustrie
Carbonsäure frei und neutralisiert den entstehenden Ammoniak
zu Ammoniumchlorid. Im Falle der alkalischen Hydrolyse setzt Isocyanate weisen die funktionelle Gruppe -N=C=O auf. Sie
die starke Base (NaOH) die schwache Base Ammoniak frei und haben hohe kommerzielle Bedeutung als Härterkomponente für
18 O
N
C C OH
C + 4 H2O + 2 HCl C + 2 NH4Cl
HO
N
O
O
C N + H2O + NaOH C + NH3
O – Na +
H
+III Pd-Kat. –I
H3C C N + 2 H2 H3C C NH2
H
z Toluoldiisocyanat (TDI)
die Herstellung von Polyurethanen. Moleküle können eine oder TDI ist eine leicht gelbliche, sehr giftige Flüssigkeit von stark ste-
mehrere Isocyanatgruppen enthalten. chendem Geruch. TDI wird meist als Gemisch von 80 % 2,4-Tolu-
oldiisocyanat und 20 % 2,6-Toluoldiisocyanat zur Herstellung
von PU-Weichschäumen für die Automobil- und Möbelbranche,
18.4.1 Funktionelle Gruppe Lacken und Beschichtungen eingesetzt. Der weltweite Jahresbe-
darf beträgt 1,5 Mio. Tonnen.
Formal sind Isocyanate (R-N=C=O ) Ester der Isocyansäure
(H-N=C=O ). Das C-Atom der Isocyanatfunktion ist sp-hybri- z Methylendiphenyldiisocyanat (MDI)
disiert, sodass die drei Atome der funktionellen Gruppe linear Kommerziell eingesetztes MDI ist ein Gemisch aus 4,4′-Methy-
angeordnet sind. Der organische Rest R bildet einen 120°-Winkel lendiphenyldiisocyanat und 2,4′-Methylendiphenyldiisocyanat
mit der Isocyanatfunktion, da das N-Atom sp²-hybridisiert ist und (. Abb. 18.30), ein kristalliner, weißer Feststoff mit niedrigem
somit trigonale Geometrie aufweist (. Abb. 18.28). Dampfdruck. Polyurethane auf MDI-Basis vergilben bei Sonnen-
Sowohl das Stickstoff- (blau) als auch das Sauerstoffatom (rot) einstrahlung und sind somit nicht als Decklacke oder -beschich-
ist negativ polarisiert (7 Abschn. 4.3.1). Das C-Atom (grau) der Iso- tungen im optisch ansprechenden Bereich geeignet. Verwendung
cyanateinheit dagegen ist stark positiv polarisiert (. Abb. 18.31). finden MDI-basierte Polyurethane als Hartschäume für Isolierun-
gen, Autositze und Schuhsohlen. Weltweit werden ca. 5 Mio. Jah-
restonnen MDI verbraucht.
18.4.2 Physikalische Eigenschaften
z 1,6-Hexamethylendiisocyanat (HDI)
Verwendung und Eigenschaften wichtiger Iscyanate sind in HDI und Isophorondiisocyanat (IPDI) sind aliphatische Isocya-
. Tab. 18.3 zusammengestellt. nate, die zur Herstellung UV-stabiler Polyurethane (Kleber, Lacke)
und als Zwischenprodukte für Unkrautbekämpfungsmittel und
Bindemittel Verwendung finden.
18.4.3 Herstellung und typische Vertreter – TDI,
MDI, HDI
18.4.4 Chemisches Reaktionsverhalten –
Die Hauptanwendung von Isocyanaten ist die Herstellung von Poly- Urethanbildung und Dimerisierung
urethanen (7 Abschn. 22.2.10). Durch Variation der Basiskompo-
nente (Alkandiol) und des Vernetzers (Diisocyanat) können harte, Die Reaktivität der Isocyanate wird geprägt durch den elekt-
weiche, lichtechte, wetterfeste etc. Polyurethane, hergestellt werden. rophilen Charakter des C-Atoms der Isocyanatfunktion. Die
. Tab. 18.3 Verwendung und Eigenschaften kommerziell wichtiger Isocyanate. Daten aus: GESTIS-Stoffdatenbank des IFA
O H O
T N C O
H3C NH2 + Cl C N C
– HCl – HCl H 3C
Cl H 3C Cl
. Abb. 18.29 Herstellung von Methylisocyanat aus Methanamin und Phosgen via Carbamoylchlorid
CH3 O O
C H C
N
C N O N C N
O
H C C H
C N O
N H 3C
C H
O O
H3C C
N
N H3C
O C
C O
N N C O
H
H
R N C O R N C O R N C O
R N + O C O
H O H O O
H H H
H
+ N C H 3C
R' R Temp.
+ N N C C• + N2
2 N
N N C N N– N N Cl –
C N CH3
R R
. Abb. 18.34 Allgemeine Strukturformeln für Azo- (links), Diazo- (Mitte) . Abb. 18.36 Thermischer Zerfall von AIBN in Stickstoff und
und Diazoniumverbindungen (rechts) Isobutyronitril-Radikale
500 Kapitel 18 · Organische Stickstoffverbindungen – Stickstoff steigert die Reaktivität
NH2
N SO3H
NaO3S N
N N
N N
HO3S N
H2N
a b
. Abb. 18.37 Methylorange (a) und Kongorot (b) als Beispiele für Azofarbstoffe
18.5.3.3 Diazomethan
Diazomethan (CH2N2, . Abb. 18.40) darf wegen seiner Giftigkeit 18.5.4.1 Methylierung mit Diazomethan
und Explosivität nur unter Aufsicht erfahrener Chemiker herge- Diazomethan eignet sich als Methylierungsmittel für organi-
stellt werden. Diazomethan ist ein gelbes Gas (Sdp. 23 °C), das sche Verbindungen mit acidem H-Atom. So ergibt die Umset-
zung von Phenol mit Diazomethan Methylphenylether. Carbon-
18 säuren, gelöst in einer Ether-Methanol-Lösung (9:1), reagieren
mit Diazomethan zu Carbonsäuremethylestern und Stickstoff
(. Abb. 18.41).
18.5.4.2 Sandmeyer-Reaktion
Mithilfe der Sandmeyer-Reaktion werden aus primären, aro-
matischen Aminen Arylhalogenide synthetisiert (. Abb. 18.42).
Im ersten Reaktionsschritt werden die aromatischen Amine
mit Natriumnitrit (NaNO2) bei 0 °C in saurer Lösung (HX,
X = Cl , Br, -CN, -NO 2) zum Aryldiazoniumsalz umgesetzt
O O
+ CH2N2 + N2
CH3
OH O
. Abb. 18.39 Azofarbstoffe decken das gesamte Regenbogenspektrum
ab (© BASF SE, 2016) . Abb. 18.41 Methylierung von Butansäure zu Butansäuremethylester
18.6 · Nitroverbindungen – je mehr Nitrogruppen, desto explosiver
501 18
+
+ NaNO2 + 2 HX/0 °C Cu-Kat/60 °C
R NH2 R N N X– R X + N2
– NaX – 2 H2O
+
NaO3S N
NaO3S N N X– + N + HX
N N
. Abb. 18.43 Kopplung eines Diazoniumsalzes mit N,N-Dimethylanilin zum Azofarbstoff Methylorange
(Diazotierungsreaktion). Unter 5 °C sind Aryldiazoniumsalze Nitroverbindungen sind Nitromethan (CH3-NO2) und Nitro-
in wässriger Lösung beständig. Im zweiten Reaktionsschritt wird benzol (Ph-NO2).
die wässrige Diazoniumlösung zu einer mit Salzsäure oder Brom-
wasserstoff angesäuerten, 60° warmen Kupferhalogenidlösung
(CuX, X = Cl , Br, -CN, -NO2) getropft. Unter Stickstoffentwick- 18.6.2 Physikalische Eigenschaften
lung bildet sich Arylhalogenid.
Nitroverbindungen sind gelbe bis farblose, lipophile (fettlösli-
che) Flüssigkeiten oder Feststoffe. Aufgrund der hohen Polarität
18.5.4.3 Azokupplung der Nitrofunktion treten intermolekulare Wechselwirkungen auf,
Die Azokupplung wurde 1863 von dem deutschen Chemiker Schiff sodass Nitroverbindungen ähnlich hohe Siedepunkte wie Carbon-
entdeckt. Sie ist die zentrale Reaktion zur Herstellung von Azo- säuren mit gleicher C-Zahl aufweisen. Aromatische Nitroverbin-
farbstoffen, da sie aromatische Aryldiazoniumsalze (Ar-N2+X−, dungen reduzieren durch Mesomerie die Polarität an der Nitro-
X = Halogen ) mit einer zweiten aromatischen Verbindung, z. B. funktion, sodass diese stabiler sind als aliphatische Nitroverbin-
Phenol- oder Anilinderivaten (Ar′-OH, Ar′-NH2) zu Azoverbin- dungen. Organische Nitroverbindungen sind kaum wasserlöslich,
dungen verknüpft (Ar-N=N-Ar¢ , . Abb. 18.43) Die Reaktion wird jedoch gut löslich in organischen Lösemitteln.
unter Eiskühlung durchgeführt, damit die thermische Zersetzung Die Stabilität von Nitrobenzolen nimmt mit zunehmender
der Diazokomponente (s. o.) nicht mit der Kupplungsreaktion Anzahl an Nitrogruppen am aromatischen Ring ab. Während
konkurriert. Mono- und Dinitrobenzol stabil sind, reagieren Trinitro-, Tetra-
nitro- und Hexanitrobenzole zunehmend explosiver auf Erschüt-
terung oder Erwärmung. Im Prinzip wirken die Nitrogruppen als
18.6 Nitroverbindungen – je mehr intramolekulares Oxidationsmittel für das aromatische Kohlen-
Nitrogruppen, desto explosiver stoffgerüst, sodass eine innige „Vermischung“ von Oxidations-
und Reduktionsmittel auf Molekülebene gegeben ist.
Organische Verbindungen mit der funktionellen Gruppe -NO2
werden als Nitroverbindungen bezeichnet. Das N-Atom der Nit-
rofunktion ist direkt mit einem C-Atom verbunden. 18.6.3 Herstellung und typische Vertreter –
Nitromethan, Nitrobenzol, TNT
18.6.1 Funktionelle Gruppe und Nomenklatur Aliphatische Nitroverbindungen werden durch Umsetzung von
Halogenalkanen mit Silbernitrit (AgNO2) oder durch Reaktion
Die Nitrofunktion kann durch zwei mesomere Grenzstrukturen von Alkanen mit Salpetersäure bei erhöhter Temperatur herge-
beschrieben werden (. Abb. 18.44). Sowohl das Stickstoffatom als stellt (. Abb. 18.45).
auch die beiden Sauerstoffatome weisen ein Elektronenoktett auf. Aromatische Nitroverbindungen werden durch Umset-
Allerdings ist dies nur möglich, wenn das Stickstoffatom eine posi- zung aromatischer Verbindungen mit Nitriersäure (Gemisch
tive (4 statt 5 Valenzelektronen) und ein Sauerstoffatom eine negative aus HNO3 und H2SO4) hergestellt. Bei der Nitrierung von 1 mol
Formalladung (7 statt 6 Valenzelektronen, 7 Abschn. 11.1.2.1) trägt. Toluol entsteht als Hauptprodukt ein Gemisch aus 2-Nitrotoluol
Gemäß IUPAC-Nomenklatur wird dem Stammnamen des
Alkans die Vorsilbe Nitro- vorangestellt. Beispiele organischer
. Abb. 18.44 Mesomere Grenzstrukturen der Nitrofunktion . Abb. 18.45 Nitrierung von Halogenalkanen und Alkanen
502 Kapitel 18 · Organische Stickstoffverbindungen – Stickstoff steigert die Reaktivität
NO2
H2SO4
+ HNO3 + + + H2O
NO2
NO2
65 Mol-% 30 Mol-% 5 Mol-%
(0,65 mol), 4-Nitrotoluol (0,30 mol) und 3-Nitrotoluol (0,05 mol) Benzol, Ether etc. lösen. Wegen der starken elektronenziehenden
(. Abb. 18.46). Wirkung der drei Nitrofunktionen gibt Pikrinsäure sehr leicht ein
Proton an Wasser ab und wirkt somit stark sauer.
z Nitromethan In trockener Form kann Pikrinsäure durch Reibung und
Nitromethan ist eine farblose, viskose Flüssigkeit mit charakteris- Erwärmung detonieren, deshalb muss Pikrinsäure mit Wasser
tischem Geruch. Schmelzpunkt und Siedepunkt betragen −29 °C (>30 %) phlegmatisiert werden. Sie darf auch nicht in Metallbe-
resp. 101 °C, die Dichte 1,14 g/ml. hältern oder Behältern mit Metallverschluss aufbewahrt werden,
Nitromethan wird insbesondere zur Formulierung von da sie mit Metallen hochexplosive Salze bildet.
Raketentreibstoffen verwendet. Im Hochleistungsrennsport
und Modellbau gelangen Methanol/Nitromethan-Gemische zur
Motorleistungssteigerung zum Einsatz. 18.6.4 Chemisches Reaktionsverhalten –
Reduktion zu Aminen
z Nitrobenzol
Nitrobenzol (. Abb. 18.47) ist eine gelbliche Flüssigkeit von hoher Bei der Explosion von Pikrinsäure und Trinitrotoluol werden
Dichte (1,2 g/ml) und bittermandelartigem Geruch. Es schmilzt innerhalb kürzester Zeit große Energiemengen und Gasvolu-
bei 6 °C und siedet bei 211 °C. Nitrobenzol löst sich gut in organi- mina (700 Liter Gas pro Kilogramm Explosivstoff) freigesetzt. Es
schen Lösemitteln wie Benzol und Ether, jedoch kaum in Wasser werden Temperaturen bis zu 6.000 °C, Drucke von 1.000 bar und
(0,2 g/100 g). Da Nitrobenzol ein starkes Blutgift ist, dürfen die Gasausdehnungsgeschwindigkeiten bis zu 7.000 m/s erreicht.
Dämpfe nicht eingeatmet werden. Als militärischer Explosivstoff wurde Pikrinsäure vom leichter
Nitrobenzol ist ein wichtiges Ausgangsprodukt zur Herstel- zu handhabbaren 2,4,6-Trinitrotoluol (TNT) abgelöst. TNT ist
lung von Anilin und Azofarbstoffen. In geringerem Umfang wird bis 140 °C stabil und kann im Vakuum destilliert werden. Bei
Nitrobenzol bei der Vulkanisation von Kautschuk verwendet. 80 °C schmilzt TNT, sodass es in beliebige Formen gegossen
werden kann. Gerät TNT in Brand, explodiert es nicht, sondern
z Trinitrotoluol (TNT) und Pikrinsäure brennt ab. Um es zur Explosion zu bringen, bedarf es einer Ini-
2,4,6-Trinitrotoluol (TNT) und Pikrinsäure (2,4,6-Trinitrophe- tialzündung; deshalb wird TNT auch als Sicherheitssprengstoff
nol) (. Abb. 18.48) sind Explosivstoffe. Sie bildet Kristallnadeln bezeichnet.
ohne Geruch, die sich gut in organischen Lösemitteln wie Aceton, Die Reduktion von Nitroverbindungen führt zu primären
Aminen (. Abb. 18.49). Die Reduktion kann katalytisch (H2/Pd),
mit Lithiumaluminiumhydrid (LiAlH4) oder durch in-situ-Erzeu-
– O + O gung von atomarem Wasserstoff aus Eisenspänen und Salzsäure
N
durchgeführt werden.
18
OH
O2N NO2 O2N NO2
Fe-Späne/HCl
NO2 NO2
NO2 NH2
. Abb. 18.48 2,4,6-Trinitrotoluol (TNT, links) und 2,4,6-Trinitrophenol
(Pikrinsäure, rechts) . Abb. 18.49 Reduktion von Nitroverbindungen zu primären Aminen
18.7 · Lernkontrolle
503 18
18.7 Lernkontrolle Übung 9
Diazo- und insbesondere Diazoniumverbindungen sind sehr
instabil. Woran liegt das?
Übung 2
Erklären Sie den Unterschied zwischen primären,
sekundären, tertiären und quartären N-Verbindungen.
Erklären Sie den zunehmenden basischen Charakter
in der Reihe Ammoniak, Methylamin, Dimethylamin,
Trimethylamin.
Übung 3
Formulieren Sie die Reaktionsgleichung für die katalytische
Hydrierung von Nitrobenzol zu Anilin.
Übung 4
Was sind Alkaloide chemisch betrachtet? Wo kommen
Alkaloide vor? Welche Gefahr geht von vielen Alkaloiden
aus?
Übung 5
Wie werden Carbonsäureamide hergestellt? Erklären Sie die
Struktur der Carbonsäureamidfunktion. Warum weist das
N-Atom der Carbonsäureamidfunktion keinen basischen
Charakter auf?
Übung 6
Harnstoff und Caprolactam sind technisch sehr wichtige
Verbindungen. Für welche Zwecke finden diese Produkte
Verwendung?
Übung 7
Isocyanate sind hochreaktive Verbindungen. Erklären
Sie die Polarisierung der Isocyanatgruppe und welcher
bevorzugte Reaktionstyp ergibt sich daraus? Was ist ein
Urethan?
Übung 8
Was sind Azofarbstoffe? Erklären Sie, warum Azofarbstoffe
farbig erscheinen. Wie werden Azofarbstoffe hergestellt?
505 19
Organische
Schwefelverbindungen –
Schwefel sorgt für Geruch
19
. Abb. 19.1 Organoschwefelverbindungen mit funktioneller Gruppe und Oxidationszahl des Schwefels
19.2 · Sulfide, Disulfide – Verbindungen mit antibakterieller Wirkung
507 19
+I –II
. Tabelle 19.2 enthält physikalische Eigenschaften einiger
H O H O
+I –II +IV –II +I Thiolverbindungen.
H C S O H H C S O H
H O H O
+I –II
19.1.3 Herstellung
Br + Na–SH SH + NaBr
H3C SH SH
SH SH HS OH
SH
NH2
. Tab. 19.2 Physikalische Eigenschaften einiger Thiolverbindungen. Daten aus: GESTIS-Stoffdatdenbank des IFA
–II –I
SH + 1/ 2 O2 S –I
+ H 2O Dipropyldisulfid
2 S
O
+ 3 H2O2 +IV
SH S OH Propansulfonsäure
– 3 H2O
O
–II
SH + NaOH SNa + H 2O Natriumpropanthiolat
–II –II
SH + Cl– Hg– Cl + S S Quecksilbermercaptid
HS Hg + 2 HCl
S S
H3C CH3 H 3C S CH3 H3C OH
NH2
Methylthiomethan Ethylthiobutan Methionin
(Dimethylsulfid) (Ethylbutylsulfid)
NH2 O
S CH3 HO S
H3C S S OH
O NH2
Dimethyldisulfid Cystin
Br + Na S S + 2 NaBr
2 2 Symmetrisches Sulfid
SH + 1/2 O2 S + H2O
2 S Disulfid
Exkurs 19.1
O
S SH S S
S S
. Abb. 19.11 Allicin, Allylsulfid, Allylmethylsulfid und Diallyldisulfid – Knoblauchbestandteile verursachen schlechten Atem
19.2.3 Chemisches Reaktionsverhalten – an. Das Schwefelatom in Sulfoxiden und Sulfonen verstößt schein-
Oxidation zu Sulfoxiden, Sulfonen und bar gegen die Oktettregel. Durch Formulierung ionischer Lewis-
Sulfonsäuren Formeln (7 Abschn. 5.5.5) wird jedoch die Oktettregel wieder erfüllt.
Disulfide sind im Vergleich zu Thiolen reaktionsträge. Die
Organische Sulfide können in Abhängigkeit von den Reaktionsbe- schwächste Bindung in Disulfiden ist die Schwefel-Schwefel-Bin-
dingungen sukzessive mit Wasserstoffperoxid zu Sulfoxiden und dung. Erwärmung auf 100 °C führt zu homolytischer Spaltung
Sulfonen oxidiert werden (. Abb. 19.12). Dabei steigt die Oxidations- von Disulfiden. Reduktion von Disulfiden ergibt Thiole, Oxida-
zahl des Schwefels von –II (Sulfid) über 0 (Sulfoxid) auf +II (Sulfon) tion führt zu Sulfonsäuren (. Abb. 19.10).
–II O O O
+ H2O2/25 °C + H2O2/100 °C
S 0 S +II
19 – H2O
S
– H2O
Sulfid Sulfoxid Sulfon
–II
2 SH Ethanthiol
+ H2
–I
S –I
S
Diethyldisulfid O
+ HNO3 +IV
2 S OH Ethansulfonsäure
O
19.3.2 Herstellung
. Abb. 19.14 Kalottenmodell von Dimethylsulfoxid (C – anthrazit,
H – grauweiß, O – rot, S – goldbraun)
Bei der Oxidation von organischen Sulfiden (OZs = −II) mit
30-%iger Wasserstoffperoxidlösung entstehen bei Raumtempe-
ratur Sulfoxide (R 2S=O , OZs = 0). Wird die Reaktionstempera- sehr gut in Wasser löslich ist. Bei Raumtemperatur liegt die Subs-
tur auf 100 °C erhöht oder Sulfoxid mit Natriumperiodat (NaIO4) tanz in Form farbloser Kristalle vor. Der Schmelzpunkt beträgt
umgesetzt, erfolgt Weiteroxidation zu Sulfonen (OZs = +II) 27 °C. Die Zellgängigkeit von Sulfolan ist weit geringer als von
(. Abb. 19.13). DMSO.
Sulfolan wird in Raffinerien zum „Auswaschen“ von Schwe-
felwasserstoff (H2S) und Kohlendioxid aus Erdgas und zur Ent-
19.3.3 Typische Vertreter – Dimethylsulfoxid, fernung von aromatischen Verbindungen aus flüssigen Kohlen-
Sulfolan wasserstofffraktionen via Flüssig-Flüssig-Extraktion verwendet.
Dimethylsulfoxid
19.3.3.1 19.4 Sulfonsäuren – Substanzen mit
Dimethylsulfoxid (DMSO, C2H6OS, . Abb. 19.14) ist eine farb- tensidischen Eigenschaften
lose, ölige Flüssigkeit mit einem charakteristischen Geruch nach
Zwiebeln. Sie ist in jedem Verhältnis mit Wasser mischbar. Der 19.4.1 Funktionelle Gruppe und Nomenklatur
Schmelzpunkt von DMSO liegt bei ca. 20 °C.
DMSO ist ein gutes, nichtwässriges Lösemittel und durch- Sulfonsäuren weisen die allgemeine Strukturformel R-SO3H auf.
dringt Zellwände mühelos. Es wird deshalb in der Pharmakolo- Das Schwefelatom ist direkt mit dem Kohlenstoffatom des organi-
gie als Carrier (Trägersubstanz) für auf die Haut applizierte, phy- schen Restes verbunden. Die Benennung von Sulfonsäuren erfolgt
siologisch wirksame Substanzen verwendet. DMSO löst Blutge- durch Anhängen des Suffixes -sulfonsäure an den Kohlenwasser-
rinnsel auf, weshalb es bei Schlaganfällen oral verabreicht wurde. stoffstammnamen. Salze der Sulfonsäure werden als Sulfonate
Es zeigt darüber hinaus antirheumatische und entzündungshem- bezeichnet (. Abb. 19.16).
mende Eigenschaften.
In der Chemie wird DMSO als Reaktionsmedium und zur
Abtrennung von Aromaten aus Benzin eingesetzt.
19.3.3.2 Sulfolan
Sulfolan (C4H8O2S, . Abb. 19.15) ist eine farblose Flüssigkeit und
dient als polares Lösemittel (Sdp. 285 °C, Dichte 1,26 g/ml), das
–II O
S + H2O2 0 + H 2O
R R' S
R R'
O O
+II
0 + NaIO4 R S R' + NaIO3
S
R R' O
. Abb. 19.15 Kugel-Stab-Modell von Sulfolan (C – anthrazit, H – grauweiß,
. Abb. 19.13 Synthese von Sulfoxiden (oben) und Sulfonen (unten) O – rot, S – goldbraun)
512 Kapitel 19 · Organische Schwefelverbindungen – Schwefel sorgt für Geruch
S OH SO3Na SO3H
O
Freie Sulfonsäuren sind meist farblose, kristalline Verbindun- . Abb. 19.18 Lineare Alkylbenzolsulfonate (LAS) lösen sich sowohl in Fett
gen. Die funktionelle Gruppe (-SO3H) ist verantwortlich für den (gelb) als auch in Wasser
polaren Charakter und die Wasserlöslichkeit von Natriumalkyl-
benzolsulfonaten, die als Na-ABS abgekürzt werden.
Natriumsalze von linearen Alkylbenzolsulfonaten (LAS) sind die Waschflotte zeigt (. Abb. 19.18). Da Textilien in der Regel
als Detergenzien (waschaktive Substanzen) Bestandteil von Wasch-, hydrophoben Charakter aufweisen, bilden sich zwischen Tex-
Spül- und Haushaltsreinigern. Typischerweise beträgt die Ketten- tilfaser und Fettflecken ebenfalls Tensidschichten mit einan-
länge des Alkylrests 10 bis 12 C-Atome; dieser ist in para-Stellung der zugewandten hydrophilen Köpfen (. Abb. 19.18). Dadurch
zur SO3H-Gruppe lokalisiert (. Abb. 19.17). Jährlich werden ca. vier verringert sich die Anhaftung der Schmutzpartikel auf dem
Mio. Tonnen LAS hergestellt. Weitere Anwendungsbeispiele für Sul- Textil, sodass sich diese mit der Zeit von der Faser lösen. Durch
fonsäuren sind wasserlösliche Farbstoffe und Kationenaustauscher. die hydrophile Hülle der Fettpartikel können sich diese auf
Sulfonsäuren sind starke Säuren und zerfallen in Wasser voll- dem Textil nicht mehr festsetzen und verbleiben deshalb in
ständig zu Proton (H+) und Sulfonat. der Waschflotte.
Lineare Alkylbenzolsulfonate (LAS) werden seit 50 Jahren
als waschaktive Substanzen in Waschmitteln eingesetzt. Früher
wurden auch verzweigte Alkylbenzolsulfonate verwendet, die 19.4.3 Herstellung
allerdings nicht biologisch abbaubar waren und sich in der Umwelt
anreicherten. Ein typisches LAS ist Dodecylbenzolsulfonat. Es löst Im Wesentlichen gibt es drei Wege zur Herstellung von Sulfon-
sich in kaltem Wasser und schäumt über den ganzen Tempera- säuren.
turbereich. Dodecylbenzolsulfonat besteht aus einem lipophilen 44Sulfochlorierung von Alkanen
19 (fettlöslichen) Alkylbenzolteil und einem hydrophilen (wasser-
löslichen) Natriumsulfonatkopf (. Abb. 19.17).
44Sulfonierung aromatischer Verbindungen
44Oxidation von Thiolen
Zur Entfernung von Fettflecken müssen diese von der
Wasserflotte aufgenommen werden. Reinigungsversuche mit Aliphatische Sulfonsäuren können durch Sulfochlorierung von
purem Wasser wären nicht zielführend, da Wasser unpolare Alkanen hergestellt werden. Im ersten Schritt erfolgt photolytische
Fettflecken nicht lösen kann. Zugabe von LAS-Detergenzien Sulfochlorierung mit Schwefeldioxid und Chlor zu Alkansulfonyl-
ändert die Situation. Das fettlösliche Ende der Tensidmole- chloriden. Nach anschließender Hydrolyse wird unter Abspaltung
küle löst sich im Fettfleck, während der hydrophile Kopf in von Chlorwasserstoff (HCl) Sulfonsäure freigesetzt.
O O
UV + H2O
+ SO2 + Cl2 S S
H – HCl Cl – HCl
O OH
O
O 19.5 Lernkontrolle
H2SO4/SO3
S OH + H2O
O
Folgende Begriffe sollten Ihnen vertraut sein:
. Abb. 19.20 Sulfonierung aromatischer Verbindungen Organoschwefelverbindung, Oxidationszahl, Thiole, or-
ganische Sulfide, organische Disulfide, Dimethylsulfoxid,
Mit starken Oxidationsmitteln wie Salpetersäure oder Was- Sulfoxide, Sulfone, Sulfonsäuren, Tensid, Sulfochlorierung,
serstoffperoxid können Thiole zu Sulfonsäuren oxidiert werden. lineares Alkylbenzolsulfonat (LAS)
O
+ HNO3 ? Verständnisfragen
S OH Übung 1
SH
O Warum weisen Alkanthiole niedrigere Siedepunkte auf als
die analogen Alkanole?
. Abb. 19.21 Oxidation von Thiolen
Übung 2
Die Reaktion von Luftsauerstoff mit Ethanthiol zu
19.4.4 Chemisches Reaktionsverhalten – Diethyldisulfd ist eine Redoxreaktion. Geben Sie
Neutralisation zu Sulfonamiden und die Reaktionsgleichung an und ermitteln Sie die
Sulfonaten Oxidationszahlen der einzelnen Atome. Welches Element
wird oxidiert und welches wird reduziert?
Sulfonsäuren sind oft nicht reaktiv genug, um Folgereaktionen
einzugehen. Deshalb werden sie mit hochreaktivem Thionylchlo- Übung 3
rid (SOCl2, eine farblose, stark lichtbrechende Flüssigkeit, Dichte Dimethylsulfoxid (DMSO) dient als eine Art
1,64 g/ml) in die wesentlich reaktiveren, da stärker polarisierten Huckepack-Träger für Pharmazeutika. Was versteht man
Sulfonylchloride (R-SO2Cl) überführt (. Abb. 19.17). darunter? Führen Sie eine Internetrecherche durch.
O O
S OH + SOCl2 S Cl + SO2 + HCl
O O
Benzolsulfonsäure Benzolsulfonylchlorid
O H
S N + HCl
H2N O
O
Benzolsulfonanilid
S Cl
O + 2 NaOH
O
S ONa + NaCl + H2O
O
Natriumbenzolsulfonat
. Abb. 19.22 Organische Sulfonylchloride sind gut zugänglich und hoch reaktiv
514 Kapitel 19 · Organische Schwefelverbindungen – Schwefel sorgt für Geruch
Übung 4
Wie werden Sulfonsäuren hergestellt? Welche
Eigenschaft verleiht die Sulfonsäurefunktion einer
Kohlenwasserstoffverbindung?
Übung 5
Was ist ein Tensid? Erklären Sie die Wirkungsweise von
Tensiden. Warum sind lineare Alkylbenzolsulfonate wie
Natriumdodecylbenzolsulfonat wirksame Tenside?
19
515 20
H O
R C C + H 2O
+ OH– O
–
H O H O N
H H
R C C R C C
+ –
N O H H N H O
H H + H+ H
H O
R C C
+
H N H O H
. Abb. 20.3 Aminosäuren sind Zwitterionen und verfügen über puffernde Wirkung
518 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
H H H H
unpolare
H C α COOH H3C C* COOH C C*α COOH lipophile
α
NH2 NH2 H NH2 Aminosäuren
Glycin (Gly) Alanin (Ala) Phenylalanin (Phe)
H H OH H H H polare
hydrophile
HO C C* COOH H3C C* C*α COOH HO C C*α COOH Aminosäuren
α
H NH2 H NH 2 H NH2
Serin (Ser) Threonin (Thr) Tyrosin (Tyr)
O H H H H H H H H
geladene
C C C C*α COOH H2N C C C C C *α COOH saure/basische
HO H H NH2 H H H H NH2 Aminosäuren
H2N H H H H 2N H H H
+ 1/2 O2
HOOC SH + HS COOH HOOC S S COOH
– H 2O
H H H NH2 H H H NH2
. Abb. 20.5 Verknüpfung von Cysteinmolekülen zu Cystin unter Ausbildung einer Disulfidbrücke
20.2 · Proteine – unendliche Variationsmöglichkeiten als Voraussetzung für Leben
519 20
Hormone Botenstoffe zur Regelung körpereigener Funktionen Insulin regelt den Glucosestoffwechsel von Körperzellen
Strukturproteine Aufbau und Stabilisierung von Körperstrukturen Keratin formt und stützt Nägel, Haare, Haut etc.
Schutzproteine Antikörper gegen körperfremde Substanzen und Immunglobuline stimulieren das Immunsystem gegen krank
Mikroorganismen machende Bakterien
Transportproteine Logistikeinheiten zum Transport von Stoffen in Hämoglobin transportiert Sauerstoff von der Lunge zu den
Körperflüssigkeiten Zellen
Enzyme Biokatalysatoren, die Stoffwechselvorgänge bei milden Alkoholdehydrogenase beschleunigt den Abbau von Ethanol
Bedingungen ermöglichen
Speicherproteine Pufferdepots für lebensnotwendige Substanzen Ferritin speichert Eisen in der Leber
Muskelproteine Fibrilläre Proteine, die durch Kontraktion und Elongation Muskelkontraktion durch die Proteine Myosin und Actin
mechanische Arbeit verrichten
H H O H H O H H O H H O
N C C + N C C N C C N C C + H2O
H H OH H CH3 OH H H CH3 OH
. Abb. 20.6 Glycin (Gly, links) und Alanin (Ala, Mitte) ergeben unter Wasserabspaltung das Dipeptid Glycylalanin (GlyAla, rechts)
55Die Atome der Peptidbindung (C, O, N, H) und die 20.2.2 Proteinstruktur – Von der
α-ständigen C-Atome kommen in einer Ebene Aminosäureabfolge zur 3D–Knäuelung
(. Abb. 20.7) zu liegen.
55Sowohl Sauerstoff- und Wasserstoffatom der Die räumliche Form von Proteinen ist entscheidend für deren bio-
Peptidbindung als auch die Seitenketten R am α-C-Atom logische Funktion. Es wird zwischen primärer, sekundärer, tertiä-
weisen alternativ in entgegengesetzte Richtungen. rer und quartärer Struktur unterschieden. Zur besseren Orientie-
55Drehbarkeit ist nur zwischen dem α-ständigen C-Atom rung wird eine Kurzdefinition für diese Begriffe vorab gegeben.
und dem C-Atom der Carbonylfunktion (Winkel ψ)
resp. der Aminofunktion der Peptidbindung (Winkel
φ) gegeben, sodass die Ebenen der einzelnen Strukturebenen in Proteinen
Peptidbindungen gegeneinander verdreht sind. 55Primärstruktur: Reihenfolge der einzelnen Aminosäuren
Die Drehwinkel ψ und φ werden maßgeblich durch die in der Proteinkette
Substituenten R (violett) bestimmt. 55Sekundärstruktur: regionale, zweidimensionale Orientierung
(α-Helix, β-Faltblatt) der Aminosäuren zueinander
55Tertiärstruktur: globale, dreidimensionale Knäuelung der
gesamten Proteinkette
55Quartärstruktur: räumliche Aggregation mehrerer
Proteinketten zu einem Proteinkomplex
20.2.2.1 Primärstruktur
Proteine können aus Zehntausenden von Aminosäuren bestehen.
Die einzelnen Aminosäuren sind über Peptidbindung miteinan-
der verkettet (. Abb. 20.8). Das sog Rückgrat des Proteins besteht
letztendlich aus alternierenden Peptidbindungen und α- Kohlen-
stoffatomen mit unterschiedlichen Seitenketten R, sodass die Koh-
lenstoff- und Stickstoffatome des Proteinrückgrats auf einer ver-
. Abb. 20.7 Strukturparameter von Peptidbindungen in Proteinen drillten Zickzacklinie zu liegen kommen.
520 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
HO
CH3 H O H O H O
C N H C C N H C C N H C
H2N H C C N H C C N H C C OH
O H O H H O
Die Primärstruktur gibt die Sequenz der einzelnen Aminosäu- 20.2.2.2 Sekundärstruktur
ren in einer Proteinkette wieder. Die Benennung eines Proteins Proteinketten sind nicht wie eine ausgestreckte Schnur geformt,
erfolgt durch Aneinanderreihung der Namen der einzelnen Ami- sondern weisen periodische zweidimensionale Molekülstruk-
nosäuren. Dabei wird die Endung -in der einzelnen Aminosäure turen auf. Wasserstoffbrückenbindungen (7 Abschn. 6.1.2) zwi-
(den sog. Aminosäurerest) durch -yl ersetzt. Nur die terminale (lat. schen N-H-Gruppierungen und den Sauerstoffatomen von Car-
für endständig) Aminosäure mit freier Carboxylfunktion behält bonylfunktionen (C=O) führen zu spiralförmigen (α-Helix,
die Endung -in (. Abb. 20.8). Für physiologisch bedeutende Pro- . Abb. 20.10) oder faltblattförmigen (β-Faltblatt, . Abb. 20.11)
teine wäre diese Namensgebung jedoch zu umständlich, sodass Strukturen. Beide Strukturelemente können gleichzeitig in einer
diese Trivialnamen wie Insulin, Keratin, Casein etc. haben. Proteinkette vorliegen und sind durch Kehren oder Schleifen mit-
Insulin war das erste Protein, dessen Primärstruktur vollstän- einander verbunden.
dig entschlüsselt wurde. Es besteht aus zwei Proteinsträngen, die Die α-Helix (griech. für Wendel), die die Form einer Telefon-
durch zwei Disulfidbrücken miteinander verlinkt sind. Die Pro- schnur hat, ist nahezu ausnahmslos rechtsgängig, also im Uhr-
teinkette A setzt sich aus 21 Aminosäuren, Kette B aus 30 Amino- zeigersinn verdreht. Die Bezeichnung α wurde gewählt, da dieses
säuren zusammen. Proteinkette A weist zusätzlich eine interne Proteinstrukturelement als erstes entdeckt wurde. Die Peptid-
Disulfidbrücke auf (. Abb. 20.9). kette wendelt sich quasi um einen imaginären Zylinder, wobei
sämtliche Seitenketten R radial nach außen ragen. Die Helix wird
20
H O H O H O H O H O H O H O H O
H OH HO H H OH HO H H OH HO H H OH HO H
H OH H OH HO H HO H H OH H OH HO H HO H
H OH H OH H OH H OH HO H HO H HO H HO H
H OH H OH H OH H OH H OH H OH H OH H OH
CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH CH2OH
. Abb. 20.18 Substitutionsmuster der Hydroxyfunktionen der acht verschiedenen d-Aldohexosen im Überblick
H O H O
Regeln für das Aufstellen von Fischer-Formeln:
55Zuerst wird das Kohlenstoffrückgrat des Kohlenhydrats HO H H OH
senkrecht gestellt. Das höchstoxidierte C-Atom des H OH HO H
Kohlenhydrats, also die Aldehyd- bzw. die Ketogruppe,
HO H H OH
muss dabei oben zu liegen kommen.
HO H H OH
55Waagerechte Bindungen ragen aus der Papierebene
heraus, senkrechte Linien zeigen hinter die Papierebene. CH2OH CH2OH
55Die Position der untersten Hydroxyfunktion, die an L-Glucose D-Glucose
ein chirales C-Atom gebunden ist (. Abb. 20.17, roter
Stern), bestimmt die Stereoisomerie (d oder l) des . Abb. 20.19 l- und d-Glucose verhalten sich wie Bild und Spiegelbild
Kohlenhydrats.
55Kommt diese Hydroxygruppe rechts zu liegen, ist es
ein d-Kohlenhydrat (d für dexter, lat. rechts); falls die
Hydroxygruppe links zu liegen kommt, dann liegt ein 20.3.3.2 Ketten- und Ringstruktur
l-Kohlenhydrat (l für laevus, lat. links) vor. In wässriger Lösung liegen Glucose und Fructose nahezu aus-
schließlich in geschlossener Ringform (>99 %) vor.
Aufgrund der tetraedrischen Anordnung der einzelnen
C-Atome des Kohlenhydratrückgrats können sich im offenkettigen
Wie . Abb. 20.17 zeigt, weist die Hexose Glucose vier asymmetri- Glucosemolekül die Aldehydfunktion und die Hydroxyfunktion
sche Kohlenstoffatome auf. Die Positionen der Hydroxygruppen am C-5-Atom räumlich sehr nahe kommen. Durch nucleophilen
der C2→5 – Atome in Glucose kann man sich durch die Eselsbrücke Angriff des Hydroxysauerstoffatoms am elektrophilen C-Atom der
Martinshorn “Ta-Tü-Ta-Ta“ (rechts-links-rechts-rechts) merken. Aldehydfunktion entsteht ein Sechsring aus fünf Kohlenstoffato-
Da die Hydroxyfunktion an den vier C-Atomen jeweils links- men und einem Sauerstoffatom (. Abb. 20.20). Im zweiten Schritt
oder rechtsständig sein kann, gibt es 24=16 stereoisomere Aldo- ergibt dann das Proton mit dem Sauerstoffatom der Carbonyl-
hexosen resp. Substitutionsmuster für die Hydroxygruppen. funktion eine Hydroxyfunktion am sog. anomeren C-1-Atom.
Abbildung 20.18 zeigt die acht möglichen d-Aldohexosen (OH-
. Aufgrund der Ringbildung weist dann das C-1-Atom vier ver-
Gruppe am C-5-Atom rechtsständig. Zu allen d-Stereoisomeren schiedene Substituenten auf und ist somit ebenfalls ein Chiralitäts-
gibt es noch die jeweiligen Spiegelbilder, wobei die in . Abb. 20.18 zentrum. Durch die freie Drehbarkeit der C-1-C-2-Einfachbin-
rot markierte OH-Gruppe am letzten chiralen C-Atom links zu dung in der Ringbildungsphase kann die Hydroxygruppe unter-
liegen kommt (l-Stereoisomere). . Abbildung 20.19 zeigt exemp- halb (α-d-Glucopyranose) oder oberhalb (β-d-Glucopyranose)
larisch das l-Stereoisomer von Glucose. l-Glucose kommt in der zu liegen kommen. Dabei steht Pyranose (. Abb. 20.21, links) für
20 Natur nicht vor, kann aber im Labor synthetisiert werden. einen Sechsring mit einem Sauerstoffatom und einer Hydroxy-
Die Stellung der Hydroxygruppe am „letzten“ chiralen funktion am Kohlenstoffatom, das den Cyclus zum ringbildenden
C-Atom der Fischer-Projektion entscheidet generell darüber, ob Sauerstoffatom schließt. Kohlenhydrate, die auf einem Fünfring
ein d- oder l-Kohlenhydrat vorliegt. Es genügt aber nicht, ledig- mit einem Sauerstoffatom und einer Hydroxyfunktion am Koh-
lich die Hydroxygruppe am C-5-Atom der d-Glucose nach links lenstoffatom, das den Cyclus zum ringbildenden Sauerstoffatom
zu schreiben, um l-Glucose zu erhalten. In diesem Fall würde schließt, basieren, werden als Furanosen bezeichnet (. Abb. 20.21,
l-Idose erhalten. Um d-Glucose in l-Glucose überzuführen, rechts).
müssen sämtliche Hydroxygruppen an den vier asymmetrischen Eine Lösung von „frisch“ präparierter α-d-Glucopyranose
C-Atomen der d-Glucose gespiegelt werden. weist einen optischen Drehwinkel (7 Abschn. 16.7.3.3) von +112°
20.3 · Kohlenhydrate – primäre Energiequelle des menschlichen Organismus
525 20
α-D-Glucopyranose
6
HOH2C OH
O H O
H 1 O OH 1 HO 1 H
C 6 HO
HOH2C H 36,6 % OH HO OH
2 HO
H C OH O α
5 OH
3
HO C H = OH O
4
1 C
4 2
H C OH 6
HO H HOH2C
5 3
H C OH OH 63,4 % OH
5 O OH
6 O
CH2OH OH 1 HO 1
OH β
D-Glucose HO
H HO H
HO
OH
β-D-Glucopyranose
auf. Mit zunehmender Zeit fällt dieser jedoch auf +52,8° ab, da
α-d-Glucopyranose mit β-d-Glucopyranose (spezifischer Dreh- 55Wasserstoffatome werden aus Gründen der Klarheit
winkel 18,7°) über die offenkettige d-Glucose im Gleichgewicht meist nicht gezeichnet.
steht (. Abb. 20.20). Der Effekt wird als Mutarotation bezeichnet. 55Die dem Betrachter am nächsten liegende Kohlenstoff-
β-d-Glucopyranose ist thermodynamisch günstiger, da alle Kohlenstoff-Bindung wird dicker, die nach hinten
Hydroxygruppen in der Sesselkonformation (. Abb. 20.20, ganz zeigenden C-C-Bindungen gepfeilt dargestellt.
rechts) äquatorial zu liegen kommen und dadurch den größtmög-
lichen Abstand voneinander haben. Deshalb stellt sich ein Gleich-
gewicht von 63,4 % zu 36,6 % zu Gunsten der β-Form ein. Im
Gleichgewicht errechnet sich der optische Drehwinkel zu 0,634 · 20.3.3.4 Sesselkonformation
18,7° + 0,366 · 112° = + 52,8°. Haworth-Strukturen geben zwar eine schnelle Übersicht über das
Die geschlossene ringförmige Struktur wird zur Unterschei- Substitutionsmuster der Hydroxygruppen von Kohlenhydraten,
dung von der offenkettigen Glucose als Glucopyranose bezeich- allerdings keine richtige Vorstellung über deren dreidimensionale
net. Da dadurch Namen von Kohlenhydraten sehr schnell sperrig Gestalt. Aufgrund der tetraedrischen Geometrie der C-Atome
werden und ohnehin bekannt ist, dass Hexosen in Ringform vor- bildet sich als energetisch günstigste Anordnung eine liegestuhlähn-
liegen, wird fortan die Ringform meist ebenfalls als Glucose oder liche Anordnung der C-Atome, die sogenannte Sesselkonformation
Fructose bezeichnet. aus, die uns bereits in 7 Abschn. 16.4.1.4 für Cyclohexan begegnet ist.
Die Haworth-Formel für Glucose wird einfach durch Abkni-
cken der C-1- und Hochklappen der C-4-Position in die Sessel-
20.3.3.3 Haworth-Formeln konformation transformiert. Ob die Hydroxygruppen in der Ses-
selkonformation axiale oder äquatoriale Positionen einnehmen,
ergibt sich durch die Randbedingung, dass in der Haworth-Formel
Haworth-Formel über resp. unter der Ringebene lokalisierte Hydroxygruppen auch
Die Haworth-Formel (. Abb. 20.21) ist eine sehr in der Sesselkonformation oberhalb resp. unterhalb der Ringebene
übersichtliche Darstellung der Ringform von Pentosen zu liegen kommen (. Abb. 20.22).
und Hexosen. Die Vorgehensweise wird am Beispiel von Die Sesselkonformation kommt der realen Molekülstruktur
α-d-Glucopyranose erläutert. am nächsten und entspricht der thermodynamisch bevorzugten
55Glucose wird als ebenes Sechseck dargestellt. Anordnung des Kohlenhydrats.
55Das Ringsauerstoffatom zeigt vom Betrachter weg und
liegt in der oberen rechten Ecke. 6
55Die Stellung der Substituenten wird aus der Fischer- CH2OH HO β
Projektion übernommen. Dabei gilt, dass alle 5 OH
O 6
O
Substituenten, die in der Fischer-Projektion links 4
OH
1 5 HO 2
oder rechts liegen, in der Haworth-Formel oberhalb 2
α
OH 1
HO 4
bzw. unterhalb der Ringebene positioniert sind. 3 3
OH OH OH
Es gilt die Eselsbrücke FLOH: Fischer links=oben
Haworth. . Abb. 20.21 Haworth-Formel von α-d-Glucopyranose (links) und
β-d-Fructofuranose (rechts)
526 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
OH OH 6
6
O OH OH CH2OH
4 5 O 6 β
5 O OH
HO 5 4 3 2
HO 2 1
OH 4
3 1 OH 1
HO HO
OH 2
HO 3
. Abb. 20.22 Sesselkonformation von α-D-Glucopyranose (links) und β-D- OH
Fructofuranose (rechts)
. Abb. 20.24 Haworth-Projektion von β-d-Glucopyranose
20
. Abb. 20.23 Einteilung von Kohlenhydraten abhängig von der Anzahl . Abb. 20.25 Datteln und Feigen enthalten große Mengen an Glucose
der verknüpften Monosaccharide und Fructose (© tashka2000/Fotolia)
20.3 · Kohlenhydrate – primäre Energiequelle des menschlichen Organismus
527 20
HO
O OH
6
5 HO 2
1
4 3
OH OH
z d-Fructose (Fruchtzucker)
Fructose (. Abb. 20.26) ist Bestandteil von Honig und Früchten
wie Datteln, Feigen, Rosinen, Birnen und Äpfel. Fructose ist gut
wasserlöslich (79 g/100 ml) und weist eine höhere Süßkraft als
Glucose und Saccharose auf.
Da Fructose kaum den Blutzuckerspiegel ansteigen lässt,
wurde sie zur Herstellung von diabetischen Lebensmitteln wie
Schokolade, Gebäck etc. verwendet. Moderne Diätpläne haben
. Abb. 20.28 Haushaltszucker, Saccharose – umgangssprachlich einfach
allerdings Fructose für Diabetiker überflüssig gemacht. Wegen als „Zucker“ bezeichnet (© rdnzl/Fotolia)
seiner hohen Süßkraft wird es aber weiterhin als Ersatz von Haus-
haltszucker in kalorienreduzierten „Light“-Produkten eingesetzt.
Nach aktuellem Stand der Wissenschaft führt übermäßiger Saccharose löst sich ausgesprochen gut in Wasser
Fructosekonsum zu Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Gicht etc. und (200 g/100 ml). Durch verdünnte Säuren wird Saccharose in die
ist entgegen der ursprünglichen Annahme sogar ungünstiger für Einfachzucker d-Glucose und d-Fructose aufgespalten.
Diabetiker als Saccharose. Saccharose ist unter zahlreichen Namen bekannt wie Haus-
haltszucker, Rübenzucker, Rohrzucker oder Kristallzucker
(. Abb. 20.28). Saccharose wird aus klein gehäckseltem Zucker-
20.3.4.2 Disaccharide (Doppelzucker) rohr oder Zuckerrüben durch Extraktion mit heißem Wasser
Disaccharide bestehen aus zwei Monosaccharidmolekülen, die gewonnen. Der Hektarertrag beträgt sowohl für Zuckerrohr als
kovalent über eine sog. glycosidische Bindung miteinander ver- auch für Zuckerrüben ca. 10 Tonnen Saccharose.
knüpft sind. Die glycosidische Bindung variiert hinsichtlich Im Darm wird Saccharose durch das Enzym Invertase in d-
44der miteinander verknüpften Monosaccharide, Glucose und d-Fructose gespalten, die dann den Darm passieren
44den anomeren Formen (α- oder β) der einzelnen und in die Blutbahn übergehen können.
Monosaccharide,
44der beteiligten Ringkohlenstoffatome der einzelnen z Maltose (Malzzucker)
Monosaccharide. Am weitesten verbreitet ist die 1 → 4 − Maltose ( . Abb. 20.29 ) besteht aus zwei kovalent über eine
glycosidische Bindung, es gibt aber auch Disaccharide α-1 ® 4- glycosidische Bindung verknüpfte α-d-Glu-
mit 1 → 1 −, oder 1 → 2 −, oder 1 → 3 − glycosidischer cosemoleküle. Maltose ist aufgrund seiner zahlreichen Hydroxy-
Bindung. funktionen ebenfalls gut in Wasser (100 g/100 ml) löslich.
Maltose entsteht bei der Verdauung von Stärke und hebt durch
weitere Verstoffwechslung im Dünndarm zu zwei Molekülen
z Saccharose (Haushaltszucker, Rübenzucker) d-Glucose den Blutzuckerspiegel schnell an. Technisch wird
Saccharose ist ein Disaccharid, der aus α-d-Glucose und β-d- Maltose durch enzymatischen Abbau von Stärke gewonnen. Sie
Fructose besteht. Verbunden sind die beiden Monosaccharide weist einen karamellartigen Geschmack auf und wird deswegen
über eine α-1 ® 2-β- glycosidische Bindung. Eine Besonder- in Getränken und Backwaren verwendet.
heit der molekularen Struktur von Saccharose ist, dass die beiden
anomeren C-Atome, C-1 der Glucose und C-2 der Fructose ver- z Lactose (Milchzucker)
knüpft sind. Beachten Sie, dass in . Abb. 20.27 die Fructosestruk- Lactose (. Abb. 20.30) besteht aus d-Glucose und d-Galactose, die
tur gedreht (C-1 links) angeordnet ist. über eine β-1 ® 4-glykosidische Bindung kovalent verknüpft sind.
Lactose kommt in Kuhmilch und Muttermilch vor.
6
6 6
CH2OH HO CH2OH CH2OH
5 O 1 O H 5 O 5 O
4 OH 1 2
HO 5 4 OH 1 4 OH 1
2
HO 6 2 2
3
O 3 4 HO O OH
3 3
OH OH OH
OH OH
. Abb. 20.27 Haworth-Projektion von α-d-Glucopyranosyl-(1→2)-β-d- . Abb. 20.29 Haworth-Projektion von α-d-Glucopyranosyl-(1→4)-α-d-
Fructofuranose (Saccharose) Glucopyranose (Maltose)
528 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
6
CH2OH
5 O OH
6 4 OH 1
CH2OH 2
HO O O 3
5
OH
4 OH 1
2
3
OH
OH
OH OH 6
O OH
O 1 O OH HO O
1 OH
HO 1 + HO
HO 4
HO 2 – H2O HO O 2
HO OH OH OH
HO HO
α-D-Glucopyranose β-D-Fructofuranose Saccharose (Haushaltszucker)
α-D-Glucopyranosyl-(1–>2)-β-D-Fructofuranose
OH
OH OH O
4 HO OH
O O 1
HO 4
HO + HO HO O O
1
HO HO – H2O
HO OH HO HO
OH HO OH
α-D-Glucopyranose α-D-Glucopyranose Maltose (Malzzucker)
α-D-Glucopyranosyl-α-(1–>4)-α-D-Glucopyranose
20
OH OH OH OH OH OH
4 O 4
O O O
1 OH + HO OH 1 O OH
HO HO – H2O HO HO
OH OH OH OH
β-D-Galactopyranose β-D-Glucopyranose Lactose (Milchzucker)
β-D-Galactopyranosyl-β-(1–>4)-β-D-Glucopyranose
. Abb. 20.32 Kondensationsreaktionen von Monosacchariden zu den Disacchariden Saccharose, Maltose und Lactose. Die Disaccharide sind in der
bevorzugten Sesselkonformation dargestellt
20.3 · Kohlenhydrate – primäre Energiequelle des menschlichen Organismus
529 20
20.3.4.3 Polysaccharide (Vielfachzucker)
z Stärke
Stärke besteht aus α-d-Glucosemolekülen. Sie ist in Lebensmitteln
wie Kartoffeln, Brot, Getreide, Reis etc. enthalten und die Koh-
lenhydratreserve schlechthin für Pflanzen (. Abb. 20.33). Stärke
besteht aus den zwei Polysacchariden Amylose (20 %) und Amy-
lopectin (80 %).
Amylose setzt sich aus mehreren hundert α-d-Glu-
cosemolekülen zusammen und weist eine unverzweigte, gewen-
delte Kettenstruktur auf (. Abb. 20.34a). Die einzelnen Glucose- . Abb. 20.33 Kartoffeln sind wegen ihres Stärkegehalts wertvolle
bausteine sind über α-1 ® 4- glycosidische Bindungen miteinan- Energielieferanten (© photocrew/Fotolia)
der verbunden. In den Innenbereichen der Stärkewendeln können
sich Iodmoleküle einlagern, was intensive Blaufärbung ergibt und
als Nachweisreaktion für Stärke herangezogen wird. glycosidischen Bindungen zwischen den C-Atomen 1 und 4
Amylopectin besteht ebenfalls aus 1 → 4 −glycosidisch ver- (. Abb. 20.35). Aufgrund der β-glycosidischen Verknüpfung
bundenen α-d-Glucoseketten. Im Unterschied zur Amylose ver- kann Cellulose vom menschlichen Organismus nicht verstoff-
zweigt jedoch Amylopectin nach je 25 Glucoseeinheiten durch wechselt werden. Als Ballaststoff ist Cellulose trotzdem ein wich-
zusätzliche α-1 ® 6- glycosidische Bindung. tiger Bestandteil der Ernährung. Cellulose ist in fast allen Löse-
Da auch die Nebenketten nach je 25 Glucoseeinheiten ver- mitteln, auch in Wasser, unlöslich. Durch Aufkochen mit starken
zweigen, entsteht eine Weihnachtsbaum ähnliche Molekül- Säuren kann Cellulose fast vollständig zu Glucose hydrolysiert
struktur. Insgesamt besteht Amylopectin aus mehreren tausend werden.
Glucosemolekülen. Cellulose wird von Pflanzen durch Photosynthese zur Sta-
Stärke ist ernährungsphysiologisch gesehen das wichtigste bilisierung der Zellwände erzeugt. Jährlich produzieren Pflan-
Kohlenhydrat. Bereits beim Kauen von Kartoffeln werden durch zen weltweit über 100 Mrd. Tonnen davon (. Abb. 20.36). Holz
die Speichelenzyme die Glucosepolymerketten zum Teil zu besteht zu ca. 50 % aus Cellulose. Seit jeher nutzt die Mensch-
Glucose abgebaut. Im Dünndarm erfolgt die vollständige Hyd- heit Holz als Baumaterial und Brennstoff. Die Papierindus-
rolyse zu Glucosemolekülen, die dann die Darmwand passieren trie schließt Holz mechanisch und chemisch auf, um Cellu-
und in die Blutbahn überwechseln. Da die Resorption im Ver- lose als Zellstoff von Lignin und anderen Pflanzenbestandtei-
gleich zu monosaccharider Glucose (Schokolade, Kuchen) lang- len zu befreien. In der Textilindustrie werden aus Baumwolle
samer erfolgt, gelangt Glucose aus Stärke verzögert, aber gleich- und Flachs Cellulosefasern gewonnen. Chemisch hergestellte
mäßiger in die Blutbahn, sodaß der Insulinspiegel nicht über- Celluloseether wie Carboxymethylcellulose (CMC), Hydroxy-
schießt, wodurch dem Körper langzeitig Energie zur Verfügung ethylcellulose (HEC) und Methylcellulose (MC) finden als Ver-
gestellt wird und über Stunden kein Hungergefühl auftritt. dickungs-, Quell-, Dispergier-, Binde-, Wasserrückhaltemit-
tel etc. in der Medizin, Nahrungsmittelbranche und im Baube-
z Cellulose reich Anwendung. Seit einigen Jahren wird Cellulose in großen
Cellulose ist ein unverzweigtes, natürliches Glucosepoly- Mengen als nachwachsender Rohstoff zur Herstellung von Bio-
mer und besteht aus bis zu 10.000 β-d-Glucosemolekülen mit ethanol genutzt.
6
CH2OH
O
4 OH 1
α
6 6 6
O 6
CH2OH CH2OH CH2OH OH CH2
5 5 5
O O O O
4 OH 1 4 OH 1 4 OH 1 4 OH 1
2 α 2 α 2 α α
3 O 3 O 3 O O
OH OH OH OH
n
a b
. Abb. 20.34 Haworth-Projektion der Stärkekomponenten Amylose (a) und des Verzweigungselements Amylopectin (b)
530 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
6
CH2OH
5 O β O
6 4 OH 1
CH2OH 2
5
O β O 3
OH
4 OH 1
2
3
OH
n
z Süßstoffe
Synthetische Süßstoffe haben mit Kohlenhydraten nichts gemein.
Weil sie süß schmecken – bei so gut wie null Kalorien – sind sie als . Abb. 20.36 Baumwolle – pflanzliche Cellulose als wichtiger Rohstoff für
Zuckerersatz beliebt (7 Exkurs 20.2). die Textilindustrie (© Valentina R./Fotolia)
Exkurs 20.2
. Abb. 20.37 Saccharin ist seit Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Markt (© User:FA2010 – Süßstoff Saccharin, https://commons.wikimedia.org/wiki/
20 File:S%C3%BC%C3%9Fstoff_Saccharin_Zucker-Museum.jpg)
. Tab. 20.2 Bekannte Süßstoffe in der Übersicht. Quelle: Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.
O
H
α ω Palmitinsäure
H C O
O
α ω Stearinsäure
H C O
O
9 6 3 2 1ω
α
Linolensäure
H C O
1 2 3 9 12 15 18
H
. Abb. 20.39 Triglyceride sind Dreifachester aus Glycerin (blau) und drei Fettsäuren (rot)
532 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
Exkurs 20.3
vollgehärtetes Fett
ohne Doppelbindungen
O
H
H C O
O
H C O
O
H C O
H
O
H
H C O + 5 H2 /150 °C, 5 bar, Ni
O
H C O
O
H C O
O
H C O
H
teilgehärtetes Fett mit
trans-Doppelbindung
α OH
α OH
OH
534 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
Exkurs 20.4
. Abb. 20.42 Der Restgehalt an ungesättigten Pflanzenölen macht Margarine leicht streichbar (© An NGUYEN/Shutterstock)
20.4.4 Qualitätsprüfung von Ölen und Fetten mit 0,1 mol/l Kaliumhydroxidlösung gegen Phenolphthalein tit-
riert. Die Titration muss schnell durchgeführt werden, damit die
Frische Fette und Öle enthalten kaum freie Fettsäuren. Mit zuneh- Kalilauge keine zusätzliche Verseifung verursacht. Ein typisches
mender Lagerung verseifen jedoch Triglyceride unter Einwirkung von Ergebnis könnte SZ=2 mg KOH/g Fett sein.
Licht und Mikroorganismen, sodass vermehrt freie Fettsäuren vorlie-
20 gen. Diese sind für den ranzigen Geschmack verantwortlich. Mit den z Verseifungszahl
Kennzahlen Säurezahl, Verseifungszahl und Esterzahl lässt sich der Die Verseifungszahl (VZ) gibt an, wie viel Milligramm Kalium-
Gehalt an freien und veresterten Fettsäuren quantifizieren. Die Iodzahl hydroxid zur Neutralisation der in ein Gramm Fett enthaltenen
ist eine Kennzahl für den ungesättigten Charakter des Triglycerids. freien Säuren und den im Fett veresterten Säuren benötigt werden.
Zur Bestimmung der Verseifungszahl wird eine exakte Menge an
z Säurezahl Fett mit einem Überschuss an Kaliumhydroxidlösung im Rund-
Die Säurezahl (SZ) gibt an, wie viel Milligramm Kaliumhydro- kolben mit Rückflusskühler zum Sieden erhitzt. Danach wird die
xid zur Neutralisation der in ein Gramm Fett enthaltenen freien nicht durch freie und veresterte Fettsäuren neutralisierte Kali-
Säuren benötigt werden. Zur Bestimmung der Säurezahl wird eine lauge mit 0,1 mol/l Salzsäure zurücktitriert. Ein typisches Ergeb-
exakte Menge Fett in einem Ether-Ethanol-Gemisch gelöst und nis könnte VZ=200 mg KOH/g Fett sein.
20.5 · Vitamine – essenziell für Vitalität und Gesundheit
535 20
z Esterzahl NH2
OH
Die Esterzahl (EZ) ist die Differenz von Verseifungszahl und Säu- N N+ Cl–
rezahl und gibt an, wie viel Milligramm Kaliumhydroxid zur Ver-
seifung der veresterten Fettsäuren benötigt werden. Für obigen Fall S
N
beträgt die Esterzahl EZ = 200 mg/g – 2 mg/g = 198 mg KOH/g Fett.
. Abb. 20.44 Chemische Struktur des wasserlöslichen Vitamins B1
(Thiamin)
z Iodzahl
Die Iodzahl (IZ) ist ein Maß für den ungesättigten Charakter
eines Fettes oder Pflanzenöls. Iod addiert sich an die Doppel- Gang, Skelettmuskelschwund, Nervenlähmungen etc. Anfang des
bindungen der ungesättigten Fettsäuren. Je mehr Iod die gleiche 20. Jahrhunderts wurden wissenschaftliche Untersuchungen zur
Menge Fett addiert, umso ungesättigter ist es. Zur Bestimmung Aufklärung der Krankheit angestellt. Dabei fand man heraus, dass
wird eine definierte Menge Fett in einem Alkohol/Ether-Gemisch Beriberi verstärkt seit Ende des 19. Jahrhunderts auftrat, seitdem
gelöst. Anschließend wird eine definierte Menge Iodlösung zuge- die Reiskörner mit Schälmaschinen komplett geschält und zu
geben und die Lösung für zwei Tage im Dunkeln gelagert. Der weißen Reis poliert wurden. Offensichtlich geht dem Naturreis
Überschuss an Iod wird mit Thiosulfatlösung zurücktitriert. Die durch das Schälen ein wichtiger Bestandteil verloren.
Iodzahl ist definiert als die Menge Iod, die 100 g Fett resp. Öl addie- Tatsächlich konnten Chemiker aus der Reiskleie einen
ren. Ein typisches Ergebnis könnte 150 g Iod pro 100 g sein, was in Stoff extrahieren, dessen Gabe die Krankheit heilen konnte.
etwa fünf Doppelbindungen pro Triglyceridmolekül entspricht. Die chemische Struktur des heute als Vitamin B 1 bezeichne-
ten Wirkstoffs konnte 1936 aufgeklärt werden (. Abb. 20.44).
Da die Substanz lebenswichtig (vita, lat. für Leben) ist und
20.5 Vitamine – essenziell für Vitalität und eine Aminfunktion enthält, wurde die Bezeichnung Vitamin
Gesundheit geprägt. Heute weiß man, dass nicht alle Vitamine Aminfunk-
tionen tragen.
Vitamine sind lebensnotwendig. Sie unterstützen die Verstoff- Neben der chronischen Unterversorgung mit Vitamin B1 kann
wechslung von Nahrungsmitteln wie Fette, Kohlenhydrate Schimmelpilz, der feuchten Reis befällt und das Nervengift Citreo-
und Proteine. Die einzelnen Vitamine erfüllen dabei unter- viridin produziert, zu akuten Beriberisymptomen führen.
schiedliche Aufgaben. Da sie vom menschlichen Organismus Die heute bekannten 13 essenziellen Vitamingruppen wurden
nicht selbst produziert und im Unterschied zu Enzymen ver- allesamt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckt, iso-
braucht werden, müssen Vitamine regelmäßig mit der Nahrung liert und charakterisiert. Zu Beginn wurden die einzelnen Vita-
(. Abb. 20.43) aufgenommen werden. Der tägliche Bedarf liegt mine mit Buchstaben bezeichnet. Als man erkannte, dass die Vit-
im Milligrammbereich. amingruppe B aus mehreren Einzelvitaminen besteht, wurden die
Bezeichnungen B1, B2, … bis B12 gewählt. Mit Aufklärung der che-
mischen Struktur wurden auch Trivialnamen wie z. B. Thiamin
20.5.1 Entdeckung und Namensgebung für Vitamin B1 oder Ascorbinsäure für Vitamin C eingeführt
(. Abb. 20.45).
In den asiatischen Ländern war die Krankheit Beriberi seit jeher
bekannt. Die Symptome waren vielschichtig: Apathie, wackliger
20.5.2 Klassifizierung nach Wasser- und
Fettlöslichkeit
HO
O OH
HO
OH OH
N N
O
HO OH HO
H H
N N
H
OH
OH
O O
O
S O HO
Mangelernährung Vitaminmangel abgepuffert werden kann. einen erhöhten Vitaminbedarf auf. Schweißtreibende Aktivi-
Überdosierung kann aufgrund der Fettlöslichkeit zu gesundheit- täten wie Sport kann zu übermäßigen Verlust an Vitamin B
lichen Problemen führen. Schwangere Frauen dürfen z. B. keine und C führen, die über Vitaminpräparate ausgeglichen werden
zu hohen Mengen an Vitamin A aufnehmen, da dies den Fötus können. Aber auch Stress ist ein Vitaminkiller. Die Einnahme
schädigen könnte. von Vitaminpräparaten ist nur nach ärztlicher Indikation
notwendig.
Da die meisten Vitamine empfindlich gegen Licht, Sauerstoff
20.5.3 Vitaminbedarf und Mangelerscheinungen und Hitze sind, spielt die Nahrungsmittelzubereitung für eine vit-
aminreiche Ernährung eine große Rolle. Lagern, Schälen, Schnei-
Normalerweise reicht eine ausgewogene Vollwertkost aus, um den und Erwärmen von Lebensmitteln erniedrigt deren Vitamin-
unseren täglichen Vitaminbedarf zu decken. Erhöhter Vitamin- gehalt. Fertigprodukte, Konserven, über lange Zeit erwärmtes
bedarf ist bei Dauerstress, Rauchern, Alkoholikern, Medika- Kantinenessen ist ebenfalls meist vitaminarm. Einseitige Ernäh-
mentenmissbrauch, Einnahme von Antibiotika und Abführ- rung kann mit der Zeit zu Vitaminmangelkrankheiten wie Beri-
mitteln gegeben. Auch Schwangere und stillende Mütter weisen beri oder Skorbut (7 Exkurs 20.5) führen.
Exkurs 20.5
Skorbut
Eine bekannte Vitaminmangelkrankheit ist von purpurner Farbe. Dann stieg es hinauf zu dass kein englischer Seemann deutsches
Skorbut, eine lebensbedrohliche Erkrankung, ihren Fußknöcheln, Schenkeln, Schultern, Armen Sauerkraut essen würde, ordnete Cook
die als Geißel der frühen Weltumsegler galt. und Nacken. Ihre Münder wurden stinkend. genau das an. Alle Matrosen hatten täglich
Auf ihren monatelangen Seereisen nahmen Ihr Zahnfleisch wurde so faul, dass es bis zu Sauerkraut und einen Schluck Limettensaft zu
sie außer gepökeltem Fleisch, Sardinen, den Wurzeln der Zähne abfiel. Diese verloren sich zu nehmen. Matrosen, die sich weigerten,
Linsen und Zwieback nichts zu sich. Wenn sie beinahe alle. Mit solcher Ansteckungskraft wurde mit der neunschwänzigen Katze das
die Reisen mehr als drei Monate dauerten, breitete sich die Krankheit über unsere drei Schiffe Kraut schmackhaft gemacht. Der Erfolg
stellte sich der gefürchtete Skorbut ein. Eine aus, dass Mitte Februar von hundert Mann war durchschlagend. Kein einziger Matrose
20 eindrucksvolle Beschreibung der Symptome Besatzung keine zehn mehr gesund waren“. Aus: erkrankte – trotz Etappen von sechs Monaten
erfolgte durch den Kapitän Jacques Cartier im The Voyages of Jacques Cartier, H.P. Biggar,1924, auf See – an Skorbut. Ab 1795 verordnete die
Winter 1541/1542, als sein Schiff über Monate F.A. Acland, Ottawa. britische Navy lime juice (engl. für Limettensaft)
im Packeis gefangen war: „Eine unbekannte Der schottische Arzt James Lind entdeckte, für jedes Schiff. Seitdem haftet den englischen
Krankheit, wie sie so hart noch nie gesehen dass Zitrusfrüchte und Sauerkraut Skorbut Seefahrern und generell Engländern der
oder gehört wurde, begann sich unter uns effektiv verhindern. Dieses Wissen machte Spitzname Limey an. Heute weiß man, dass
auszubreiten. Einige verloren all ihre Kraft und sich James Cook (. Abb. 20.46) auf seiner Vitamin C reichlich in Südfrüchten und
konnten nicht mehr auf den Füßen stehen. Dann ersten Weltumseglung 1768 zunutze, Sauerkraut enthalten ist und wirksam vor
schwollen ihre Beine. Ihre Muskeln schrumpften bei der er anordnete, dass Sauerkraut und Skorbut schützt.
ein und wurden schwarz wie Kohle. Andere hatten Limetten mitzunehmen seien. Auf den
ihre ganze Haut gefleckt mit blutigen Stellen Einwand seines Schiffsarztes Monkhaus,
20.6 · Enzyme – Stoffwechselreaktionen bei milden Bedingungen
537 20
. Abb. 20.46 James Cook (1728–1779) umsegelte dreimal die Welt mit Hilfe von Sauerkraut (© Jon Platek/Reisio-Cookthree Voyages, https://
commons.wikimedia.org/wiki/File:Cook_Three_voyages_59.png)
Eine Übersicht über Vitamine, Vorkommen, Funktion, Tages- Enzyme sind Biokatalysatoren ( 7 Abschn. 9.9), die bei milden
bedarf und Mangelkrankheiten gibt . Tab. 20.4. Bedingungen (Normaldruck, Körpertemperatur, wässriges Milieu,
pH 7) Proteine, Kohlenhydrate und Lipide zerlegen und daraus
neue Moleküle aufbauen. Chemisch betrachtet sind Enzyme über-
20.6 Enzyme – Stoffwechselreaktionen bei wiegend Proteine. Da Enzyme meist sehr spezifisch nur den Abbau
milden Bedingungen einer einzigen Verbindung (Substrat, z. B. ein Nährstoff oder Stoff-
wechselprodukt) oder einen definierten Reaktionsverlauf kata-
Nährstoffe versorgen Zellen mit Energie und Baustoffen. Enzyme lysieren, enthalten Körperzellen mehrere tausend verschiedene
(früher Fermente genannt) sind als Arbeitspferde auf molekula- Enzyme, damit die vernetzten Stoffwechselvorgänge wie die Zahn-
rer Ebene für den Metabolismus (Stoffwechsel) von Nahrungs- räder eines Uhrwerks ineinandergreifen.
mitteln unverzichtbar. Durch Absenken der Aktivierungsenergie Die Verwendung von Enzymen hat in der Menschheitsge-
beschleunigen sie Stoffwechselvorgänge um das Millionenfache. schichte eine lange Tradition (. Abb. 20.47).
. Tab. 20.4 Vitamine – Übersicht über Vorkommen, Funktion, Mangelerkrankungen, Tagesbedarf. Quelle: Deutsche Gesellschaft für Ernährung
(DGE)
. Tab. 20.4 Fortsetzung
Vitamin B6 Leber, Kartoffel, Blumenkohl, Schwangerschaft, Leber, Müdigkeit, spröde Mundwinkel, 1,5 mg
(Pyridoxin) Bananen, Karotten, Nüsse Nervensystem, Depression, Reizbarkeit
Vitamin B7 Blumenkohl, Champignons, Ei, Haarwuchs, Haut, Blutgerin- Muskelschmerzen, Haarausfall, 50 µg
(Biotin, Avocado, Spinat nung, Leber Erschöpfung
Vitamin H)
Vitamin B9 Leber, Kürbis, Spinat, Muskel, Zellteilung, Gestörtes Haar- und Knochenwachs- 0,3 mg
(Folsäure) Vollkornprodukte Gewebeaufbau tum, Blutarmut
Vitamin B12 Leber, Milch, Fisch, Fleisch, Quark, Rote Blutkörperchen, Nerven, Blutarmut, Psychosen 3 µg
(Cobalamin) Bierhefe Haut, Leber
Vitamin C Zitrusfrüchte, Kartoffel, Paprika, Bindegewebe, Zahnschmelz, Gliederschmerzen, schlechte 100 mg
(Ascorbin- Kohl, Rettich, Johannisbeeren Knochenbildung Wundheilung, Müdigkeit,
säure) Zahnfleischbluten
Vitamin D Lebertran, Butter, Meeresfrüchte, Calciumhaushalt, Rachitis, Osteoporose, Krämpfe 20 µg
(Calciferol) Hering, Avocado Knochenaufbau
Vitamin E Sonnenblumenöl, Maiskeimöl, Erd- Immunsystem, Muskeln, Blut- Trockene Haut, Müdigkeit, Leber- 15 mg
(Tocopherol) nüsse, Weizenkeimöl, Kohl bild, Fruchtbarkeit schäden, Unlust
Vitamin K Eier, Blattgemüse, Haferflocken, Blutgerinnung Blutungsneigung 70 µg
(Phyllochinon) Tomaten
20.6.1 Enzymnamen – Einteilung in sechs ermöglichen. So beschleunigen Esterasen die hydrolytische Spal-
Wirkungsklassen tung von Estern wie Triglyceride. Darüber hinaus gibt es Trivial-
namen wie Pepsin, das im sauren Milieu des Magens für die Zer-
Enzymnamen setzen sich aus der Bezeichnung des enzymspe- legung von Proteinen in Peptide zuständig ist.
zifischen Substrats und der Endung -ase zusammen. So kataly- Mittlerweile werden Enzyme gemäß einer internationalen
siert beispielsweise Sucrase die Spaltung von Saccharose. Andere Systematik sechs Wirkungsklassen zugeordnet. Diese sind wie-
Enzyme sind danach benannt, welche chemische Reaktion sie derum in Unterklassen untergliedert, die dann nochmals weiter
spezifiziert werden, sodass letztendlich ein konkretes Enzym eine
vierstellige Enzymklassen-Codierung (EC) aufweist (. Tab. 20.5).
Bevor wir die Struktur der DNA genauer beleuchten, ein paar Defi-
nitionen wichtiger genetischer Begrifflichkeiten.
z Genom
Der menschliche Körper besteht aus etwa 100 Billionen Zellen,
wovon abzüglich der roten Blutkörperchen ca. 75 Billionen Zellkerne
aufweisen. In jedem Zellkern befindet sich das Genom (Erbgut),
d. h. die komplette genetische Information, die für die Entstehung
und Entwicklung des Menschen benötigt wird. Das Genom ist die
Summe aller Gene, die auf den Chromosomen abgespeichert sind.
z Chromosom
Träger der menschlichen Erbinformation sind 23 Chromosomen-
. Abb. 20.51 Die Aktivität von Enzymen weist ein Temperaturoptimum paare, also insgesamt 46 Chromosomen. Je Elternteil werden 23
auf
Chromosomen an das Kind weitergegeben. So wundert es nicht,
wenn der Volksmund sagt „Ein Kind ist dem Vater/der Mutter wie
aus dem Gesicht geschnitten“. Die Chromosomen befinden sich
Wechselwirkungen, sodass die dreidimensionale Struktur des nahezu ausschließlich im Kern von menschlichen, tierischen und
Enzyms und des aktiven Zentrums über 40 °C zunehmend dena- pflanzlichen Zellen. Jedes Chromosom besteht aus einem Prote-
turieren. Deshalb ist hohes Fieber für den menschlichen Organis- ingerüst, um die ein DNA-Faden gewickelt ist. Die Chromoso-
mus lebensbedrohlich. menanzahl unterscheidet sich von Lebewesen zu Lebewesen, sagt
Temperaturerhöhung beschleunigt einerseits Stoffwechsel- aber nichts über deren Komplexität aus. So verfügt der Mensch
vorgänge, denaturiert andererseits das Enzym – zwei gegenläufige über 46, Hunde über 78, Karpfen über 104 und Hausfliegen über
Prozesse, die für den menschlichen Körper bei 37 °C ein Optimum 12 Chromosomen.
ergeben (. Abb. 20.51). Das Enzymsystem von Tieren im Polarbe- Die verdichtete, X-förmige Transportform der Chromoso-
reich oder Bakterien in heißen Quellen weisen wesentlich tiefere men ist nur während der Zellteilung zu beobachten. Meist liegen
resp. höhere Temperaturoptima auf. die Chromosomen im entspiralisierten Arbeitszustand vor und
Die Wechselzahl von Enzymen hängt nicht nur von der Tem- sind dann aufgrund ihres geringen Durchmessers von wenigen
peratur, sondern auch vom pH-Wert ab. Dabei zeigen Bioka- Nanometern mit dem Lichtmikroskop nicht mehr sichtbar. Nur
talysatoren (Proteine!) erstaunliches Anpassungsvermögen. im Arbeitszustand können Chromosomen ausgelesen (transcri-
Obwohl die Aktivität der meisten Enzyme im pH-Bereich von piert) oder dupliziert werden.
6–8 (z. B. Sucrase, Amylase, Lipase) am höchsten ist, gibt es
Enzyme wie Pepsin, das für die Spaltung von Proteinen erst in z Desoxyribonucleinsäure (DNA)
Gegenwart von Magensäure bei pH 2 optimale Bedingungen DNA steht für das englische deoxyribonucleic acid, auf deutsch
vorfindet. Desoxyribonucleinsäure (DNS). Inzwischen hat sich die anglo-
sächsische Bezeichnung DNA auch im deutschsprachigen Raum
etabliert. Das menschliche Genom besteht aus 46 Chromosomen
20.7 DNA – Doppelhelix als Träger des Erbguts mit je zwei DNA–Fäden, somit 92 DNA-Molekülen mit einer
Gesamtlänge von ca. zwei Metern. Würde man die DNA sämt-
Proteine sind die zentralen Moleküle des Lebens. Sie sorgen für licher 75 Billionen Körperzellen ausgestreckt aneinanderreihen,
Form und Stabilität, befördern Nährstoffe, katalysieren Stoff- ergäbe dies eine Wegstrecke von ca. 150 Mrd. Kilometern (1000-
wechselvorgänge, steuern Zellvorgänge und schützen vor Krank- mal der Abstand zwischen Sonne und Erde). Die DNA ist der phy-
heiten. Tausende verschiedene Proteine sorgen dafür, dass die sische Träger des Erbguts mit den Bauplänen für sämtliche Eiweiß-
Körperzellen reibungslos funktionieren. Die einzelnen Proteine moleküle. Sie ist auch verantwortlich dafür, dass das Erbgut von
werden jedoch zu unterschiedlichen Zeiten und unterschiedli- den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Generell kann man
chen Mengen benötigt. Eine ständige Vorratshaltung aller Pro- sich die DNA wie eine im Uhrzeigersinn verdrillte Strickleiter vor-
teine wäre nicht nur unökonomisch, sondern schon aus Platz- stellen (. Abb. 20.52).
gründen in den Körperzellen nicht möglich. Deshalb haben diese Die Stricke der DNA-Leiter bestehen aus alternierenden Phos-
eine andere Proteinstrategie gewählt. Jede einzelne Körperzelle phat- und Zuckerresten. Die Sprossen werden paarweise aus vier
verfügt mit den Ribosomen über hochvariable Proteinfabriken, organischen Stickstoffbasen Adenin (A), Thymin (T), Cytosin (C)
die bei Bedarf just in time das benötigte Proteinmolekül effizient und Guanin (G) gebildet. Die Sequenz der Basenpaare codiert das
produzieren. Die dafür notwendigen Baupläne sind im Zellkern Erbgut. Drei Sprossen, d. h. drei Basenpaare oder ein Basenpaar-
in den Genen in Form von Desoxyribonucleinsäure (DNA) für triplett stehen jeweils für eine Aminosäure. Insgesamt besteht die
jedes einzelne Protein abgespeichert. menschliche DNA aus ca. 3,2 Mrd. Basenpaaren.
542 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
Gen besteht aus 100 bis mehreren Tausend Basenpaaren und ent-
spricht oft dem Bauplan eines einzelnen Proteinmoleküls.
Seit 1919 war bekannt, dass die DNA sich aus folgenden Grund-
bausteinen (. Abb. 20.53) zusammensetzt:
44Phosphorsäure
442-Desoxyribose (Kohlenhydrat) und den
44vier Nucleobasen Adenin (A), Thymin (T), Cytosin (C) und
Guanin (G)
HO 5
OH OH
O
4 1
HO P O
3 2
OH
OH
. Abb. 20.53 Phosphorsäure, 2-Desoxyribose (oben rechts), die Purinbasen Adenin, Guanin und die Pyrimidinbasen Cytosin, Thymin
20.7 · DNA – Doppelhelix als Träger des Erbguts
543 20
NH2
NH2
OH OH
HO P O N
HO P O N
OH N O O 5 N O
H O
4 1
HO 5 – 2 H2O
OH 3 2
O
4 1 OH
3 2
OH
O NH2 O
OH OH OH
H H
HO P O N HO P O N N HO P O N N
O O O
5 N O 5 N N 5 N N NH2
O O O
4 1 4 1 4 1
3 2 3 2 3 2
OH OH OH
. Abb. 20.54 Phosphorsäure, 2-Desoxyribose und die Nucleobasen C, T, A und G bilden Nucleotide
Exkurs 20.6
b c
. Abb. 20.55 Crick (a) und Watson (b) entdeckten 1953 die Doppelhelixstruktur (c) der DNA (© a RM Siegel/Marc Lieberman – Francis Crick, https://
commons.wikimedia.org/wiki/File:Francis_Crick.png, © b US-Health-Institute – James Watson, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:James_D_
Watson.jpg, © c Forluvoft/Leyo – DANN simple, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:DNA_simple.svg)
Da Phosphorsäure eine mehrbasige Säure ist und die Nucleo- 2 nm; ein Gewindegang umfasst zehn Nucleotide bei einer Gang-
tide am C-3-Atom der Desoxyribose (. Abb. 20.56) noch über eine höhe von ca. 3,4 nm.
freie Hydroxyfunktion verfügen, können die einzelnen Nucleotide
unter Wassersabspaltung über Phosphodiesterbindungen zu einer
Nucleinsäurekette kondensieren. Das Ergebnis besteht aus einem 20.7.3 DNA als Baupläne für Proteine
Strang mit alternierenden Phosphorsäure- (violett) und 2-Desoxy-
ribosemolekülen (schwarz). Die Nucleobasen stehen vom Rück- Die Gene aus DNA entsprechen den Blaupausen für die einzelnen
grat ab. Nucleinsäuren sind somit Polymere von Nucleotiden. Proteine. Dabei codieren drei aufeinanderfolgende Nucleobasen-
Gemäß Crick und Watson hat die DNA eine doppelsträngige paare, ein sog. Basentriplett, eine Aminosäure. Ein Proteinmole-
Helixstruktur (. Abb. 20.52). Sie besteht aus gegenläufigen, schrau- kül mit z. B. 100 Aminosäuren wird folglich durch eine Sequenz
20 benförmig im Uhrzeigersinn umeinander gewundenen Nucleinsäu- von 300 Basenpaaren definiert. Wird ein bestimmtes Protein
resträngen. Dabei befinden sich die Ribose-Phosphorsäure-Rück- benötigt, wird zuerst der entsprechende DNA-Abschnitt in eine
grate außen, während die Nucleobasen der beiden Stränge im Inneren einsträngige RNA übersetzt – der Molekularbiologe spricht von
der Schraube direkt gegenüber zu liegen kommen (. Abb. 20.57). Transcription. Dazu wird der relevante Doppelhelixabschnitt mit-
Dabei komplementieren sich aus raumgeometrischen hilfe des Enzyms DNA-Polymerase wie ein Reißverschluss geöff-
Gründen und durch Wasserstoffbrückenbindungen nur die Basen net. Der offene DNA-Strang wird abgelesen und in eine einsträn-
Adenin (A) mit Thymin (T) und Guanin (G) mit Cytosin (C). gige Ribonucleinsäure (RNA) übersetzt. Anschließend schließen
Die Länge der Wasserstoffbrückenbindungen (7 Abschn. 6.1.2) sich die DNA-Einzelstränge wieder zur Doppelhelix.
zwischen Stickstoff (EN = 3,0) und Wasserstoff (EN = 2,2) und Die RNA-Einzelstränge können im Unterschied zur DNA-
Sauerstoff (EN = 3,5) und Wasserstoff beträgt ca. 0,3 nm. Die hohe Doppelhelix den Zellkern in die umgebende Zellflüssigkeit (Cyto-
Anzahl der Wasserstoffbrückenbindungen stabilisiert die helicale plasma) verlassen. Im Cytoplasma nutzen Ribosomen RNA als
Struktur der DNA. Der Durchmesser der Doppelhelix beträgt ca. Blaupause, um die Basentripletts in Aminosäuren zu übersetzen
20.8 · Photosynthese und Zellatmung – Verlinkung von anorganischer und belebter Natur
545 20
NH2
OH
HO P O N
NH2
O OH
5 N O
O HO P O N
4 1
O
3 2 5 N O
OH O
4 1
O
OH 3 2
H O
HO P O N O
H
O HO P O N
5 N O
O O
4 1
5 N O
O
3 4 1
2
– 3 H2O
OH 3 2
OH NH2 O NH2
HO P O N N HO P O N N
O N O
5 N 5 N N
O O
4 1 4 1
3 2 3 2
OH O O
OH O H
HO P O N N
N H
HO P O N O
5 N N NH2
O 5 N O
N NH2 4 1
O
4 1 3 2
3 2
OH
OH
und diese zu fertigen Proteinen zusammenzusetzen (Translation). sechs Molekülen Sauerstoff (. Abb. 20.58). Glucose ist Ausgangs-
Dabei lesen Ribosomen quasi wie der Tonkopf eines Tonbandge- stoff für weitere pflanzliche Stoffwechselprodukte wie höhere Koh-
rätes den RNA-Strang (Tonband) aus und übersetzen (translatie- lenhydrate. Der komplexe Vorgang der Photosynthese verbindet
ren) die Sprache der Ribonucleinsäure mit ihren vier Buchstaben quasi die anorganische (Wasser, Kohlendioxid) mit der organi-
(Nucleobasen) in die Sprache der Proteine mit deren 20 Buchsta- schen, belebten Welt (Glucose, Pflanzen). Sauerstoff, als Abfall-
ben (Aminosäuren). Nach erfolgter Produktion wird das Protein produkt des Prozesses, ist Lebenselixier für Säugetiere und Men-
an seinen Bestimmungsort transportiert. schen. Fossile Brennstoffe (Erdöl, Kohle, Erdgas) bildeten sich vor
hunderten Mio. Jahren aus durch Photosynthese in chemische
Verbindungen umgewandelte Sonnenenergie.
20.8 Photosynthese und Zellatmung –
Verlinkung von anorganischer und
belebter Natur 20.8.1 Lichtreaktion – Wasser wird mit Hilfe von
Sonnenlicht in die Elemente gespalten
Photosynthese ist die Umwandlung von Sonnenenergie in che-
mische Energie mithilfe von Chlorophyll (altgr. für Blattgrün). So Die Photosynthese läuft in zwei Hauptschritten ab (. Abb. 20.58).
verknüpfen Pflanzen sechs Moleküle Wasser und sechs Moleküle In der Lichtreaktion wird Sonnenergie durch Chlorophyll ein-
Kohlendioxid zu einem Molekül Glucose unter Freisetzung von gefangen und zum Reaktionszentrum der Lichtreaktion, einem
546 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
OH H
HO P N
O H O
O N
5 C N H
N N G N OH
4 O 2
1 O H N 3
3 N 1
2 4
O H O
5
HO P H O
O O H N
O N O P OH
5 T N H
N A O
4 O N N 2
1 O N 3
3 1
2 4
O O
5
HO P H O
O
N N H O O
O P OH
5
N A N H N T O
4 O . Abb. 20.59 Chlorophyll (C – grau, H – weiß, O – rot, N – blau, Mg2+ –
N N 2
grün) fängt Sonnenenergie ein
1 3
3 O 1
2 4
O O
H 5
HO P O
O
O H N
O N O P OH 20.8.2 Dunkelreaktion – Aufbau von
5
H N C O
Kohlenhydraten aus CO2 und H2O
O N G N
4 N 2
1 N 3
3 1
2 N H O
4 Im zweiten Schritt, der Dunkelreaktion, werden die in der Licht-
HO O
H 5
reaktion erzeugten wasserstoffreichen Verbindungen und Elekt-
O ronen genutzt, um Kohlendioxid zu fixieren und unter Verbrauch
O P OH
von Wasser in einem mehrstufigen chemischen Reaktionscyclus,
nach seinem Entdecker Calvin-Cyclus genannt, Schritt für Schritt
HO
zu Glucose zu verknüpfen. Die Bezeichnung Dunkelreaktion rührt
2 nm daher, dass für diesen Vorgang kein Licht benötigt wird. Allerdings
läuft die Dunkelreaktion auch in Gegenwart von Licht ab.
. Abb. 20.57 Wasserstoffbrückenbindung (grün unterlegt) zwischen den
komplementären Basenpaaren Adenin-Thymin und Guanin-Cytosin
Der Photosyntheseprozess wird begünstigt durch
44hohe CO2-Gehalte. Dadurch steigt die Photosynthese-
leistung auf das Mehrfache an. Deshalb wird in Gewächs-
häusern gezielt Kohlendioxid eingeleitet. Spinat erzielt
CH2OH beispielsweise bei 0,5 Vol.-% den fünffachen Ertrag. Der
O OH CO2-Gehalt der Atmosphäre beträgt 0,035 Vol.-%.
6 CO2 + 6 H2O + 2875 kJ OH + 6 O2 44günstige Lichtverhältnisse. So kann im Winter
HO durch künstliche Belichtung mit Leuchtstofflampen
OH das Wachstum von Zimmerpflanzen angeregt
werden.
. Abb. 20.58 Photosynthese – energiearme Ausgangsstoffe werden zu
44ausreichende Menge an Wasser. Nur dann sind die
energiereicher Glucose verknüpft
Spaltöffnungen der Pflanzenblätter komplett geöffnet
20 und Kohlendioxid kann in ausreichender Menge aus der
Atmosphärenluft aufgenommen werden.
Proteinkomplex, der aus etwa 1200 Aminosäuren besteht, wei-
tergeleitet. Letztendlich wird die Sonnenenergie dafür genutzt, Global erzeugen Pflanzen etwa 250 Mrd. Tonnen Biomasse pro
um Wasser oxidativ in Wasserstoff, Elektronen und molekularen Jahr. Heruntergebrochen auf einen Laubbaum wandelt dieser
Sauerstoff (O2) aufzuspalten. Dabei entstehen reduzierte (wasser- täglich 10.000 l Kohlendioxidgas in 13 kg Glucose um. Dies ent-
stoffreiche) Verbindungen. Chlorophyll (. Abb. 20.59) absorbiert spricht einem Energiebetrag von ca. 210 MJ oder 58 kWh oder
insbesondere rotes (600–700 nm) und blaues (400–500 nm) Licht 6 l Heizöl pro Tag. Rein rechnerisch reichen wenige Laubbäume
und so gut wie nicht im grünen Wellenbereich (500–600 nm), aus, um den gesamten Energiebedarf einer vierköpfigen Familie
sodass Pflanzen generell grün aussehen. zu decken (. Abb. 20.60).
20.8 · Photosynthese und Zellatmung – Verlinkung von anorganischer und belebter Natur
547 20
. Abb. 20.60 Pflanzen sorgen für einen konstanten Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre und erzeugen Biomasse (© Smileus/Fotolia)
20.8.3 Zellatmung – stille Verbrennung von Ausatmen der Abfallprodukte Wasser und Kohlendioxid sorgen
Glucose dafür, dass die hochgeordnete Struktur (niedrige Entropie) des
menschlichen Organismus erhalten bleibt (Exkurs 8.1).
Jede lebende Zelle und somit auch der menschliche Organismus Der Abbau der Glucose ist wesentlich komplexer als die Sum-
benötigen Energie für den Aufbau von Zell- und Körperstruktu- mengleichung in . Abb. 20.61 vermuten lässt. Im ersten Schritt der
ren, Stofftransport durch Membranen, Kontraktion von Muskeln, Glycolyse wird in der Zellflüssigkeit Glucose (7 Abschn. 20.3.5.1,
Synthese von Proteinen, etc. Generell dient Adenosintriphos- C6-Molekül, das aus sechs Kohlenstoffatomen besteht) in zwei
phat (ATP) als direkt verwertbare Energiequelle für alle leben- Moleküle Brenztraubensäure (C3) überführt. Anschließend spaltet
den Zellen. Die benötigte Energie für die Bildung von ATP muss Brenztraubensäure ein Molekül Kohlendioxid ab, wodurch C2-
den Zellen über Nahrung (Kohlenhydrate, Proteine, Fette) konti- Moleküle entstehen. Dabei wird kein Sauerstoff benötigt und
nuierlich zugeführt werden. Kohlenhydrate (7 Abschn. 20.3) sind kaum Energie erzeugt. Im zweiten Schritt werden die C2-Moleküle
energiereiche Moleküle, deren Energie erst durch „Verbrennung“ mit Wasser im sogenannten Citronensäure- oder Krebszyklus zu
mit Sauerstoff zu Kohlendioxid und Wasser freigesetzt wird. Da Kohlendioxid und zu Wasserstoffüberträgern namens NADH ver-
dieser Vorgang in den Zellen kontrolliert abläuft, wird er statt Ver- stoffwechselt. Im dritten Schritt, der sogenannten Atmungskette,
brennung als Zellatmung bezeichnet. überträgt NADH den Wasserstoff auf Sauerstoffmoleküle, wobei
Im Prinzip ist die Zellatmung die Umkehrung der Photosyn- durch „Knallgasreaktion“ (2 H 2 + O 2 → 2 H 2O) der Löwenanteil
these. Das organische, energiereiche Molekül Glucose wird mit an Energie freigesetzt wird, die zur Regeneration von ATP benö-
Sauerstoff zu den anorganischen Stoffen Kohlendioxid und Wasser tigt wird (. Abb. 20.62 und 20.63).
oxidiert. Dabei wird die bei der Photosynthese eingefangene Son-
nenenergie wieder freigesetzt und für die Zelle nutzbar gemacht. O– NH2
O– O–
Im ersten Schritt wird Glucose gemäß . Abb. 20.61 „ver-
–O P O P O P O N
brannt“. Der benötigte Sauerstoff wird durch Lunge und Blut- N
kreislauf aus der Atemluft zu jeder einzelnen Zelle transportiert. O O O N N
Der menschliche Organismus benötigt täglich 10.000 kJ Energie,
O
um seine Körperfunktionen aufrecht zu erhalten. Dabei fallen ca.
1 kg oder 500 l Kohlendioxid und 400 g resp. 500 l Wasserdampf
an. Sowohl Kohlendioxid und Wasser werden via Blutkreislauf
HO OH
von den Zellen zur Lunge transportiert und dann ausgeatmet.
Die Energieversorgung durch Glucose-Verbrennung und das . Abb. 20.62 Molekulare Struktur von Adenosintriphosphat
548 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
O– NH2 O– NH2
O– O– O–
–O P O P O P O N N
–O P O P O N N
O O O O O
N N + H2O N N + H2PO4– + 30,5 kJ
O O
HO OH HO OH
ATP ADP
? Verständnisfragen Übung 10
Übung 1 Wie setzt sich Cellulose zusammen? Warum kann Cellulose
Beschreiben Sie den grundsätzlichen Aufbau von vom menschlichen Organismus nicht verstoffwechselt
proteinogenen Aminosäuren. Was ist eine Peptidbindung? werden?
Beschreiben Sie die Struktur einer Peptidbindung.
Übung 11
Übung 2 Was sind Triglyceride? Was ist der Unterschied zwischen
Unterscheiden Sie zwischen Primär-, Sekundär-, Tertiär- und Lebensmittelfetten und -ölen?
Quartärstruktur von Proteinen.
Was sind Disulfidbrücken? Wie entstehen Sie? Was haben Übung 12
Disulfidbrücken mit einer Dauerwelle zu tun? Machen Sie Was ist Margarine? Wie wird Margarine hergestellt? Warum
hierzu eine Internetrecherche. kam Margarine in den 1990er Jahren in Verruf?
Übung 3 Übung 13
Welche Kräfte stabilisieren die Tertiärstruktur von Was ist Skorbut? Wie kann Skorbut vorgebeugt werden? Was
Proteinen? Was versteht man unter der Denaturierung von bedeutet das Wort Vitamin?
Proteinen?
Übung 14
Übung 4 Ein Überschuss an Vitamin A kann zu ernsthaften
Was sind Kohlenhydrate? Welche chemischen Struktur- Erkrankungen führen. Warum hatten die frühen
merkmale weisen Sie auf? Polarforscher darunter zu leiden? Lesen Sie im Internet
Bei Kohlenhydraten wird zwischen Pentosen und Hexosen nach.
sowie Aldosen und Ketosen unterschieden. Geben Sie kurze
Definitionen für diese Begriffe. Übung 15
Enzyme sind oft hochspezifisch. Erklären Sie in diesem
Übung 5 Zusammenhang das Schlüssel-Schloss-Prinzip. Erklären Sie
Erklären Sie den Unterschied zwischen d-Glucose und die Michaelis-Menten-Gleichung.
l-Glucose? Zeichnen Sie die Fischer-Projektion für beide
Kohlenhydrate. Warum spielen die Bezeichnungen α und β Übung 16
bei der Fischer-Projektion keine Rolle? Erklären Sie den Unterschied zwischen Gen und Genom.
550 Kapitel 20 · Biomoleküle – Chemie und Leben sind eng miteinander verknüpft
Übung 17
Desoxyribonucleinsäure (DNA) ist Träger der Erbinformation.
Aus welchen Komponenten setzt sich die DNA zusammen?
Wie ist der chemische Aufbau von Nucleotiden und
Nucleinsäuren?
Übung 18
Wo genau ist die Erbinformation abgespeichert? Welche
Bedeutung haben sog. Basentripletts oder Codons?
Übung 19
Was ist die grundlegende Reaktion der Photosynthese? Was
versteht man unter Lichtreaktion und Dunkelreaktion?
Übung 20
Warum ist die Zellatmung quasi die Umkehrung der
Photosynthese? Wofür wird die Zellatmung benötigt?
Welches Molekül stellt den Zellen unmittelbar Energie zur
Verfügung?
20
551 IV
Polymerchemie
Polymere – viele
Monomermoleküle verbinden
sich zu einem Makromolekül
Kunststoff, der umgangssprachlich auch als Plastik oder Plaste (PE), Polypropylen (PP), Polyvinylchlorid (PVC), Polystyrol (PS)
bezeichnet wird, ist der Werkstoff der modernen Zeit. Zukünf- und Polyethylenterephthalat (PET) – abgedeckt.
tige Geschichtsschreiber werden in der Retrospektive die aktu- Nachteile von Kunststoffen können je nach Anwendung deren
elle Epoche der Menschheitsgeschichte in Anlehnung an die geringe Kratzfestigkeit, hohe Wärmeausdehnung, mäßige Bestän-
Steinzeit als Kunststoffzeit deklarieren. Kunststoffe begleiten digkeit gegen organische Lösemittel, Brennbarkeit und geringe
uns in allen Lebensbereichen, sei es als Verpackungsmateria- Temperaturbeständigkeit sein. Der größte Nachteil von Kunst-
lien, Fahrradhelme, Aktentaschen, Textilien, Computerchassis, stoffen allerdings ist, dass sie nicht verrotten. Deshalb ist werk-
Wärmedämmungen, Bodenbeläge, Zahnpastatuben, Schreib- stoffliches Recycling, d. h. das Aufschmelzen und Wiederverwen-
stifte etc. den von thermoplastischen Kunststoffen, von großer Bedeutung.
Die Vorteile der Kunststoffe sind zahlreich; primär sticht das Aufwändiges Sortieren der verschiedenen Kunststoffe ist dafür
geringe Volumengewicht hervor. Wenige Gramm Kunststofffolie notwendig.
reichen aus, um ein Stück Käse oder einen Joghurt zu verpacken.
200 kg Kunststoff im Auto (Stoßfänger, Airbags, Instrumenten-
tafel, Kotflügel, Mittelkonsole, Bedienungselemente …) ersetzen 21.1 Kunststoffe – historischer Streifzug von
300 kg andere Materialien, was zu einer Treibstoffeinsparung von Kautschuk über Bakelit® zu Teflon®
5 % oder 1000 l während des Lebenszyklus eines Autos mit einer
Laufleistung von 200.000 km führt. Die Geschichte der Kunststoffe ist noch jung. Der erste voll-
Kunststoffe sind darüber hinaus flexibel und leicht verform- synthetische Kunststoff Bakelit® ist etwas mehr als 100 Jahre alt
bar. Materialeigenschaften wie Festigkeit, Zähigkeit, Tempera- (. Tab. 21.1). Die theoretischen Fundamente hinsichtlich Aufbau
turbeständigkeit und chemische Resistenz lassen sich zusätzlich und Struktur von Polymeren wurden von Hermann Staudinger
in weiten Grenzen variieren und komplizierte dreidimensionale in den 1920er Jahren gelegt. Darauf aufbauend wurden die ver-
Formen wie z. B. Handyschalen einfach fertigen (. Abb. 21.1). fahrenstechnischen Grundlagen zur kommerziellen Herstellung
Kunststoffe sind gute Strom- und Wärmeisolatoren. So ermög- der Massenkunststoffe Polyethylen, Polyvinylchlorid, Polystyrol
lichen 200 kg Wärmedämmung aus expandiertem Polystyrol eine etc. in den 1930er Jahren erarbeitet. So richtig los ging es mit der
Einsparung von 1000 Liter Heizöl pro Einfamilienhaus und Jahr flächendeckenden Vermarktung schließlich in den 1960er Jahren.
in Vergleich zu einem Haus ohne Wärmedämmung. Heute werden fast 300 Mio. Tonnen Kunststoff weltweit pro Jahr
Deshalb verwundert es nicht, dass innerhalb weniger Jahrzehnte verbraucht. Folgende Beispiele zeigen die Bedeutung von Kunst-
die globale Kunststoffproduktion auf nahezu 300 Mio. Jahrestonnen stoffen für die Industrialisierung und deren nachhaltigen Einfluss
anstieg. Drei Viertel davon werden von den Big Five – Polyethylen auf die Gesellschaft.
vulkanisiertem Kautschuk gefertigten Luftreifen (Pneu) zum einer neuen Epoche. Leuchten sorgten z.B. für sichere, helle
Durchbruch (. Abb. 21.2) und als Folge davon dem von Carl Straßen und längere Fertigungszeiten in den Produktionshallen.
Benz entwickelten und von Henry Ford erstmals in Serie gefer- Allerdings ist Strom gefährlich, sodass der Mensch, der über
tigten Auto zur Revolutionierung des Individualverkehrs. Heute kein Sinnesorgan zu dessen Wahrnehmung verfügt, sich davor
werden weltweit 25 Mio. Tonnen Gummi benötigt, um daraus schützen muss. Anfänglich wurden zur Stromzufuhr von Maschi-
Reifen, Schläuche, Schuhsohlen etc. herzustellen. nen einfach blanke Kupferleitungen auf Holzbretter ohne Isolation
genagelt. Man hoffte darauf, dass die Vorrichtung nicht nass wurde
und kein Mensch zwei Phasen gleichzeitig berührt – ein sicher-
21.1.2 Leo Hendrik Baekeland – Bakelit® nimmt heitstechnischer Albtraum. Notdürftige Isolation mit Kautschuk
der Elektrizität den Schrecken löste sich bei höherer Stromlast schnell in stinkenden Qualm auf.
An die Entwicklung von Telefonen, Haushaltsgeräten und filig-
Eine weitere bahnbrechende Erfindung des 19. Jahrhunderts war ranen Beleuchtungen für Privathäuser war zu diesem Zeitpunkt
die Elektrizität. Werner Siemens konnte mithilfe seines Dynamos nicht zu denken. Die ganze Welt suchte nach einem effizienten
mechanische Arbeit in Elektrizität umwandeln. Es war der Beginn elektrischen Isolationsmaterial, das mit Bakelit Anfang des 20.
Jahrhunderts endlich gefunden wurde (. Abb. 21.3).
Der Flame Leo Hendrik Baekeland entdeckte 1909, dass ein
Gemenge aus Phenol, Formaldehyd und feingemahlenem Fich-
tenholz als Füllstoff sich durch Druck und Wärme zu Formtei-
len pressen lässt. In Anlehnung an seinen Namen nannte er den
Kunststoff Bakelit®. Das Material, das sich bei Hitze nicht verformt
und hervorragend elektrisch isoliert, war ideal für Leiterplatten,
Ummantelung von Elektrokabeln, Schalter, Fassungen für Glüh-
birnen, Steckdosen, Telefone, Radiogehäuse, Seifendosen, Kämme
etc. Das Potenzial des vollsynthetischen Kunststoffs erkannte Bae-
keland sofort und lizenzierte weltweit Bakelitfabriken, was ihn zu
einem reichen Mann machte.
Es muss schon eine makabre Szene gewesen sein, als sich 1964 im
Hafen von Kuweit ein gesunkenes 1500-Tonnen-Schiff mit 6000
Schafen an Bord wie von Geisterhand aus den Fluten hob. Da es
an geeigneten Schwimmkränen fehlte, pumpte man so lange Sty-
roporkugeln in den Schiffsrumpf, bis der Auftrieb ganze Arbeit
leistete. Wie war das möglich?
21 Styropor®, geschäumtes (expandiertes) Polystyrol, hat ein
Gewicht von 30 kg pro Kubikmeter. Ein Kubikmeter Styropor®
verdrängt 1000 l gleich 1000 kg Wasser und erzeugt dadurch
970 kg Auftrieb. Es mussten letztendlich 2500 m3 Styroporperlen
(. Abb. 21.5) in das Schiff gepumpt werden, um dieses vom Grund
des Hafenbeckens an die Wasseroberfläche zu hieven.
Die Stoffbasis von Styropor® ist Polystyrol (7 Abschn. 22.2.4), . Abb. 21.5 Polystyrolperlen bestehen aus luftgefüllten Waben
das 1930 von der BASF zum Patent angemeldet wurde. Die (Vergrößerung 250:1, © BASF SE, 2016)
21.2 · Polymerchemie – das Basiswissen kurz und bündig
557 21
sich in den folgenden 36 Stunden zu einem kleinen Schaummonster.
Der Dosendeckel saß neckisch wie eine Baskenmütze auf einem 26
Zentimeter hohen Schaumstrang“.
Heute enthalten Polystyrolperlen nach der Polymerisation
ca. 6 % Pentan als Treibmittel. Durch Erwärmen mit Wasserdampf
verflüchtigt sich das Pentan und die Polystyrolkugeln expandieren
bis auf das 50-fache ihres Ausgangsvolumens, so dass das Schütt-
gewicht des geschäumten Polystyrols lediglich 30 Gramm pro Liter
beträgt.
Der Arbeitsauftrag für den DuPont-Chemiker Roy Plunkett war . Abb. 21.6 Temperatur- und chemikalienbeständiges Dichtband aus
klar gesteckt: Entwickle ein ungiftiges Kühlgas als Alternative zu Polytetrafluorethylen (PTFE, Teflon®, © thodonal/Fotolia)
den toxischen Kühlmitteln Ammoniak und Schwefeldioxid! Dazu
setzte er unter anderem das geruch- und farblose Gas Tetrafluoret-
hen (Tetrafluorethylen) im Autoklaven (Druckbehälter aus Stahl) Zähigkeit und Reißdehnung, der sich durch Aufschmelzen ver-
unter Druck. Am 6. April 1938 öffnete der 27-jährige Plunkett arbeiten lässt. Die Natur und Anzahl der Bausteine (Monomere,
das Ventil eines bereits vor Jahren mit Tetrafluorethylen gefüllten Polymerisationsgrad), welche das Rückgrat eines Polymers auf-
Autoklaven. Zu seiner Verwunderung blieb das Zischen ausströ- bauen, bestimmen ganz wesentlich dessen Eigenschaften.
menden Gases aus, obwohl das Gewicht des Autoklaven immer
noch mit dem nach der Befüllung übereinstimmte. Daraufhin zer-
sägte Plunkett die Druckflasche und fand eine weiße, wachsartige 21.2.1 Monomer – Polymer – Kunststoff
Substanz vor.
Es war die Geburtsstunde von Polytetrafluorethylen (PTFE), Kunststoffe enthalten als Hauptkomponente hochmolekulare Ver-
das unter dem Handelsnamen Teflon® einen weltweiten Siegeszug bindungen, sog. Makromoleküle (Riesenmoleküle, makros, griech.
antrat (7 Abschn. 22.2.6). Erste Messungen zeigten früh die einzig- für groß), die aus mehr als 1000 Atomen bestehen. Makromole-
artigen Eigenschaften von PTFE. So ist es bis 360 °C und gegen fast küle setzen sich aus wiederholenden Moleküleinheiten, den so
alle Lösemittel beständig. Es zeigt einen geringen Gleitwiderstand genannten Monomeren (monos, griech. für ein, meros, griech. für
und Stoffe bleiben an ihm so gut wie nicht haften. Deshalb wird Teilchen) zusammen. Da ein Makromolekül aus vielen Monomer-
PTFE für die Auskleidung chemischer Apparaturen und Aufbe- molekülen besteht, wird es auch als Polymer (poly, griech. für viel)
wahrungsbehälter, die Beschichtung von Bratpfannen und Back- oder Polymermolekül bezeichnet.
formen, als Schmiermittel und Gleitlager und als Textilfaser etc. Zur Veranschaulichung der Begriffe dient die allge-
verwendet (. Abb. 21.6). PTFE lässt sich nicht schmelzen, sondern meine Polymerisationsgleichung für Polyethen (Polyethylen,
nur zu Blöcken pressen und sintern und dann wie ein Metallblock 7 Abschn. 22.2.1). Gasförmige Ethenmoleküle (Monomere) verket-
schneiden, fräsen etc. ten sich nach Zugabe eines Initiators, auch Katalysator oder Starter
Für seine Entdeckung wurde Plunkett 1985 in die National genannt, durch Polymerisation (Verkettung) zum Polymermole-
Inventors‘ Hall of Fame der Vereinigten Staaten aufgenommen. kül Polyethylen (. Abb. 21.7). Polyethylen ist ein weißer Feststoff.
Das Eigenschaftenprofil des Polymers wird vom chemischen
Aufbau des Monomers und den Verfahrensparametern (Druck,
21.2 Polymerchemie – das Basiswissen kurz Temperatur, Konzentration, Polymerisationsdauer etc.) des Poly-
und bündig merisationsverfahrens bestimmt.
Neben dem Polymer enthalten Kunststoffe Additive (Hilfs-
Das Wort Polymer steht nicht nur für ein Molekül als solches, stoffe), mit denen in weiten Grenzen die Verarbeitungs- (z. B.
sondern auch für bestimmte Stoffeigenschaften. Polyethylen z. B. Fließverhalten) und Gebrauchseigenschaften des Kunststoffs wie
steht für einen milchig weißen Feststoff geringer Dichte mit hoher UV-Stabilität, Elastizität, Farbe etc. beeinflusst werden können.
H H H H H H
H H H H H H
p, T, Kat.
C C + C C + C C C C C C C C
H H H H H H
H H H H H H
Typische Kunststoffadditive sind Weichmacher, Füllstoffe, Pig- Da die molare Masse einen wesentlichen Einfluss auf die
mente, UV-Stabilisatoren, Flammschutzmittel, Antistatika etc. Eigenschaften eines Polymers hat, werden zur groben Charakte-
(7 Abschn. 23.1). risierung das arithmetische Zahlenmittel und das Gewichtsmittel
der molaren Polymermasse verwendet.
Zur Bestimmung des arithmetischen Zahlenmittels (M n ) der
21.2.2 Polymerisationsgrad – molare Masse – molaren Masse wird die Anzahl (Ni) der Polymermoleküle mit der
Uneinheitlichkeit gleichen individuellen molaren Masse (Mi) gezählt, die mathe-
matischen Produkte aus individuellem Polymerisationsgrad und
Generell reagieren Monomermoleküle zu einem Polymermole- Anzahl (M i × Ni ) aufsummiert und durch die Anzahl aller Poly-
kül (. Abb. 21.8). Die Anzahl (n) der Monomermoleküle, die sich mermoleküle (N) dividiert. Zur Bestimmung des Zahlenmittels
zu einem Polymermolekül verknüpfen, wird als Polymerisations- müssen somit „zählende Methoden“ eingesetzt werden. . Abbil-
grad bezeichnet. dung 21.9 zeigt die Verteilungsfunktion eines idealtypischen Poly-
Die molare Masse eines individuellen Polymermoleküls (Mi) ethylens. Dabei gilt:
errechnet sich aus der molaren Masse des Monomers (MM) multi-
pliziert mit dem individuellen Polymerisationsgrad (ni). Ni ⋅ M i
Mn = ∑
i
N
M i = M M ⋅ ni
M n : arithmetisches Zahlenmittel der Verteilung der molaren
Mi: molare Masse eines individuellen Polymermoleküls, g/mol Masse, g/mol
MM: molare Masse eines Monomermoleküls, g/mol Ni: Anzahl Polymermoleküle mit molarer Masse Mi
ni: Polymerisationsgrad des individuellen Polymermoleküls N: Gesamtzahl Polymermoleküle
Während der Polymerisationsreaktion entsteht nicht ein einzi- Zur Bestimmung des Gewichtsmittels werden die einzelnen Poly-
ges, sondern es bilden sich gleichzeitig unzählig viele Polymer- mermoleküle zusätzlich mit der individuellen molaren Masse
moleküle. Der Polymerisationsgrad n i dieser Polymermole- gewichtet, sodass die größeren Polymermoleküle mehr zählen, d.
küle ist uneinheitlich, sodass diese eine Verteilung hinsichtlich h. stärker in die Mittelwertbildung eingehen. Experimentell kann
der molaren Masse aufweisen (. Abb. 21.9). Die Verteilung der das Gewichtsmittel mit Sedimentations- und Lichtstreuverfahren
molaren Masse kann durch Verfahrensparameter wie Druck, Tem- ermittelt werden. Generell gilt, dass durch die stärkere Wichtung
peratur, Initiatormenge etc. in gewissen Grenzen variiert werden. der schwereren Molare-Masse-Fraktionen das Gewichtsmittel
stets größer ist als das arithmetische Zahlenmittel.
N
H H
p, T, Kat.
H H
Mw =
∑i Ni ⋅ M i2
n C C C C N
H H
H H
∑i Ni ⋅ M i
n
Ethylen - Monomer Polyethylen - Polymer M w : Gewichtsmittel der Verteilung der molaren Masse, g/mol
. Abb. 21.8 n Ethenmoleküle polymerisieren zu einem einzigen
Anhand eines fiktiven Beispiels sollen das Zahlenmittel und
Polyethylenmolekül
Gewichtsmittel veranschaulicht werden (. Tab. 21.2). Beispiel
1 und Beispiel 2 unterscheiden sich lediglich in der Anzahl der
Polymermoleküle pro individuellen Polymerisationsgrad (ni). Im
Beispiel 2 sind die Anzahl der Polymermoleküle für alle molaren
Massen gleich. Vergleicht man die Verteilung der Polymermole-
küle der beiden Beispiele, so erwartet man intuitiv, dass Zahlenmit-
tel und Gewichtsmittel für Beispiel 2 höher sein müssen als für Bei-
spiel 1, da zahlenmäßig mehr größere Polymermoleküle mit einer
molaren Masse von 100.000 und 250.000 g/mol vorhanden sind.
Generell gilt: Je breiter die Verteilung der molaren Masse,
21 desto größer ist der relative Unterschied zwischen dem Gewichts-
und dem Zahlenmittel und desto uneinheitlicher ist die Verteilung
der molaren Masse der Polymermoleküle (. Abb. 21.10).
Mathematisch betrachtet ist die Uneinheitlichkeit der Vertei-
lung der molaren Masse der Quotient aus Gewichtsmittel und
Zahlenmittel minus eins. Wenn also Gewichtsmittel und Zahlen-
mittel identisch wären, wäre die Uneinheitlichkeit U null, da aus-
. Abb. 21.9 Klassische Verteilung der molaren Massen bei der schließlich Polymermoleküle mit gleichem Polymerisationsgrad
radikalischen Polymerisation. vorliegen würden.
21.2 · Polymerchemie – das Basiswissen kurz und bündig
559 21
21.2.3 Dispersion – Suspension – Emulsion
. Tab. 21.2 Fiktives Beispiel zur Verdeutlichung von Zahlenmittel und Gewichtsmittel (Symbole s. Text)
Ni Mi Ni · Mi N i · M2i
[g/mol] [g/mol] [g²/mol²]
Polymer 1
10 1.000 10.000 10.000.000
185 10.000 1.850.000 18.500.000.000
700 25.000 17.500.000 437.500.000.000
100 100.000 10.000.000 1.000.000.000.000
5 250.000 1.250.000 312.500.000.000
∑ = 1.000 ∑ = 30.610.000 ∑ = 1.768.510.000.000
_ _
Mn = 30.610.000 /1.000=30.610g/mol M n = 1.768.510.000.000/30.610.000 = 57.775 g/mol
Polymer 2
200 1.000 200.000 200.000.000
200 10.000 2.000.000 20.000.000.000
200 25.000 5.000.000 125.000.000.000
200 100.000 20.000.000 2.000.000.000.000
200 250.000 50.000.000 12.500.000.000.000
∑ = 1.000 ∑ = 77.200.000 ∑ = 14.645.200.000.000
_ _
M n = 30.610.000 /1.000=30.610g/mol M n = 14.645.200.000.000/77.200.000 = 189.704 g/mol
560 Kapitel 21 · Polymere – viele Monomermoleküle verbinden sich zu einem Makromolekül
a b c
. Abb. 21.14 Lineare (a), verzweigte (b) und vernetzte (c) Polymerketten
21.2.5.4 Fasern
. Abb. 21.18 Duroplaste – die Polymerketten sind engmaschig Polymere wie Polypropylen, Polyamid etc. lassen sich zu Fasern
miteinander verknüpft
verdüsen, welche zu Textilgewebe versponnen werden. Damit sich
daraus gefertigte Kleidungsstücke nicht unangenehm rau anfüh-
hartelastisch und spröde. Beim Erwärmen können aufgrund der len, muss der Faserdurchmesser weniger als 10 μm betragen.
Vernetzung die Polymerketten nicht aneinander vorbeigleiten, Aus vollsynthetischen Fasern wie Nylon® können elastische
sodass sie temperaturstandfest sind und nicht aufgeschmolzen Strümpfe und aus expandiertem ePTFE-Membranen (GORE-
werden können. Bei weiterer Erwärmung werden die vernetzen- TEX®) Outdoor-Textilien gefertigt werden. Dabei ist die Maschen-
den Bindungen zerstört, sodass sich das Polymer in kleinere Mole- weite von Gore-Tex®-Membranen etwa 1000 mal größer als Was-
küle zersetzt, ohne dass der thermoplastische Zustand durchlau- sermoleküle und 10.000 mal kleiner als Wassertropfen, sodass es
fen wird. Duroplaste können deshalb nach der Aushärtung nicht für Wasserdampf, aber nicht für Wassertropfen durchlässig ist.
mehr plastisch verformt werden. Schweiß kann somit durch das Textil entweichen, Regenwasser
Zur Verarbeitung von Duroplasten werden Basis- und Här- aber nicht eindringen (. Abb. 21.20).
terkomponente (7 Abschn. 22.2.11) vermischt. Das Präpolymer-
gemisch wird in eine heiße Form gepresst, wo es durch chemische
Vernetzung zum Werkstück aushärtet. Anschließend kann dieses 21.3 Kommerzielle Bedeutung – 300 Mio.
nur noch mechanisch bearbeitet werden. Typische Duroplaste sind Tonnen Kunststoff werden jährlich
Kunstharze wie Phenolformaldehydharze (Bakelit®), Melamin- produziert
harze, Alkoxidharze, Epoxidharze und vernetzte Polyurethane.
Nachdem die theoretischen Fundamente der Polymerchemie in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt wurden, gelang der
21.2.5.3 Elastomere (Gummi) Kunststoffindustrie nach dem zweiten Weltkrieg der kommer-
Charakteristisch für Elastomere ist ihr gummielastisches Verhal- zielle Durchbruch. Nach zaghaftem Beginn in den 1950er Jahren
ten. Voraussetzung dafür ist, dass die Glasübergangstemperatur werden heute jährlich nahezu 300 Mio. Tonnen Kunststoff welt-
unter der Gebrauchstemperatur liegt. Die Polymermoleküle sind weit hergestellt und verbraucht (. Abb. 21.21). Somit beläuft sich
21
a b
. Abb. 21.19 Elastomere – (a) Weitmaschig vernetzte Polymerketten bedingen den elastischen Charakter. (b) Schwamm aus Polyurethanschaum
(© THONGCHAI PITTAYANON/Fotolia)
21.3 · Kommerzielle Bedeutung – 300 Mio. Tonnen Kunststoff werden jährlich produziert
563 21
der weltweite Pro-Kopf-Kunststoffverbrauch in etwa auf 40 kg per mit Polystyrol, Tür-/Fensterprofile und Bodenbeläge aus PVC
annum. Erdöl ist die stoffliche Grundlage der Polymere. Etwa 5 % sowie Wasser- und Kanalleitungen aus Polyethylen sind wichtige
des Erdölverbrauchs der Bundesrepublik Deutschland gehen in Anwendungen von Kunststoffen in der Bauindustrie. In modernen
die Kunststoffproduktion. Automobilen beträgt der Kunststoffanteil etwa 10 % (Stoßfänger,
Drei Viertel der Kunststoffproduktion machen die Big Five Polsterung, Instrumententafel, Konsole etc.). Die weltweite Ver-
Polyethylen (PE), Polypropylen (PP), Polyvinylchlorid (PVC), Poly- breitung der Elektrizität wäre ohne Kunststoffe (Kabelummante-
styrol (PS) und Polyethylenterephthalat (PET) aus (. Abb. 21.22). lung, Steckdosen, Stecker, Gehäuse etc.) nicht denkbar gewesen.
Allein PE und PP decken 50 % des Verbrauchs. Aber auch andere Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kunststoffindustrie ist
Kunststoffarten mit geringerem Massenanteil wie Polyurethane, enorm. Allein mit der Produktion von Kunststoffpulver, -granu-
Polytetrafluorethylen (Teflon®), Polyamide (Nylon®), Silicone, lat und -dispersionen sind in Deutschland ca. 60.000 Arbeitneh-
Polyurethane (PUR) und Epoxide sind im Alltag unverzichtbar. mer beschäftigt, – 415.000 Arbeiter, wenn man die kunststoffver-
Die Preise für die Massenkunststoffe PE, PP, PS, PVC und PET sind arbeitenden Betriebe dazurechnet. Die europäische Kunststoff-
direkt abhängig vom Erdölpreis und lagen 2016 im Bereich von 1,0 industrie (Polymerproduzenten, Kunststoffverarbeiter, relevante
bis 1,5 € pro Kilogramm. Maschinenbauindustrie) beschäftigt in ca. 60.000 Unternehmen
Die Hauptanwendung von Kunststoffen ist als Verpackungs- mehr als 1,4 Mio. Arbeitnehmer und generiert einen Umsatz von
material zum sicheren Transport von Möbeln, Geräten, Geschirr, ca. 300 Mrd. Euro.
Medikamenten etc. und zum Frischhalten von Lebensmitteln wie
Fleisch, Käse, Milch und Butter. Wärmedämmung von Gebäuden
Polymerisation – Mechanismen,
Verfahren, Produkte
O
O
Temp.
O O 2 2 C
– 2 CO2
O
O
H H
H H H H
H H H H
H H H C H
H C H H
Disproportionierung
+ +
H H H H H H H
C C C
H H H H H H H H
H H H H H H H H
Regler
C + H S R C H + S R
H H H H H H H H
. Abb. 22.4 Abbruchreaktionen bei der radikalischen Polymerisation – Rekombination, Disproportionierung, Regelung
Mitte). Diese Art des Kettenabbruchs wird als 22.1.2 Polykondensation – Verknüpfung
Disproportionierung bezeichnet. bifunktioneller Monomere unter
44Durch Zugabe von Reglern wie z. B. Thiolen, die unter Abspaltung kleiner Moleküle
Freisetzung von Wasserstoffradikalen leicht in Radikale
zerfallen, kann die Kettenlänge des Polymers gezielt geregelt Während für die radikalische Polymerisation Monomere mit Koh-
werden (. Abb. 22.4, unten). lenstoff-Kohlenstoff-Doppelbindung unabdingbar sind, werden
für die Polykondensation Monomere mit mindestens zwei reak-
Zur Kinetik der radikalischen Polymerisation und zu der daraus tiven Gruppen wie Hydroxy (-OH), Carboxy (-COOH), Amin
abgeleiteten kinetischen Kettenlänge 7 Anhang A.3. Generell (-NH2) oder Isocyanat (-N=C=O) benötigt. Durch Kombination
verlaufen radikalische Polymerisationen exotherm. Pro Mol zweier bifunktioneller Monomere mit unterschiedlichen End-
Monomer (z. B. Ethen) werden typischerweise 90 kJ Wärmeener- gruppen, wie z. B. Dialkohole (Monomer A) und Dicarbonsäu-
gie freigesetzt (. Abb. 22.5). ren (Monomer B) (. Abb. 22.6), erfolgt durch chemische Reaktion
. Tabelle 22.1 gibt Monomere wieder, aus denen durch radi- der Aufbau einer Polymerkette (. Abb. 22.6 und 22.7). Als Neben-
kalische Polymerisation technisch relevante Kunststoffe herge- produkt werden niedermolekulare Moleküle wie Wasser abgespal-
stellt werden. ten. Wasser ist unter den Reaktionsbedingungen dampfförmig und
H H H H
p, T, Kat.
n C C C C + ca. n · 90 kJ
H R R
H n
Monomer Polymer
. Abb. 22.5 Allgemeines Reaktionsschema der radikalischen . Abb. 22.6 Schematische Darstellung einer Polykondensationsreaktion
Polymerisation
568 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
H OH
O
H C
N
H C OCH3
O
kondensiert am Kühler aus, was die Bezeichnung Polykondensa- dieser Reaktion an den Monomerenden baut sich stufenweise eine
tion erklärt. Damit das Gleichgewicht in Richtung Polykonden- Kette, das Polykondensat auf (. Abb. 22.7).
sat verschoben wird, muss gemäß dem Prinzip von Le Chatelier Hohe durchschnittliche (mittlere) Polykondensationsgrade (n )
(7 Abschn. 8.2) das freigesetzte Wasser dem Reaktionsgemisch werden aber nur erzielt, wenn beide Monomere im äquimola-
durch Destillation entzogen werden. ren Verhältnis eingesetzt werden. Bereits geringe Abweichungen
Ein konkretes Beispiel für eine Polykondensation ist die Reak- davon führen zu kurzkettigen Polykondensaten (. Abb. 22.8 und
tion von Terephthalsäure mit Glycol (Ethandiol) unter Abspal- 7 Anhang A.4). So ergibt ein 10 %iger Überschuss eines Mono-
tung von Wasser zu Polyethylenterephthalat. Die Verkopplung mers lediglich einen Polymerisationsgrad von 10. Um einen
der beiden Monomere erfolgt über Esterfunktionen, die sich aus mittleren Polymerisationsgrad (n ) größer 200 zu erzielen, darf
den Alkoholgruppen des Ethandiols und den Säurefunktionen der selbst bei kompletter Umsetzung der Monomere (U =100 %)
Terephthalsäure bilden (7 Abschn. 17.4.4). Durch Wiederholung die Abweichung vom stöchiometrischen Verhältnis maximal 1 %
22
22.1 · Polymerisation – Monomere bilden Makromoleküle
569 22
O O H H O O H H O O H H
+ HO OH + + HO OH + + HO OH
HO OH H H HO OH H H HO OH H H
– 5 H 2O
O O O O O O
H H H H H H
HO O O O O O OH
H H H H H H
betragen. Die Reinheit der eingesetzten Monomere spielt deshalb auch verzweigte und räumlich vernetzte Polykondensate mit duro-
bei Polykondensationsreaktionen eine entscheidende Rolle. plastischen Eigenschaften erhalten (7 Abschn. 21.2).
Wallace Carothers leitete den mathematischen Zusammen-
hang zwischen dem mittleren Polymerisationsgrad (n ), dem stö-
chiometrischen Verhältnis bifunktioneller Monomere (nA/nB) 22.1.3 Polyaddition – Verknüpfung
und dem Umsetzungsgrad (U) her (7 Anhang A.4) her. bifunktioneller Monomere ohne
nA
Abspaltprodukte
1+
nB
n= Polyadditionen verlaufen völlig analog zu Polykondensationen.
nA nA
1+ − 2⋅ ⋅U Bifunktionelle (zwei reaktive Molekülenden) Monomere reagie-
nB nB
ren sukzessive zu Polyaddukten, allerdings ohne Abspaltung eines
n : durchschnittlicher Polymerisationsgrad niedermolekularen Nebenproduktes.
nA: Stoffmenge des bifunktionellen Monomers A, mol . Abbildung 22.9 gibt schematisch die Addition zweier bifunk-
nB: Stoffmenge des bifunktionellen Monomers B, mol tioneller Monomere wieder. Da die Monomere an beiden Enden
U: Umsetzungsgrad der Monomere chemisch miteinander reagieren, bilden sich zuerst kurze Poly-
addukte aus wenigen Monomeren, die mit der Zeit immer länger
Genauso kritisch wie das stöchiometrische Verhältnis der Mono- werden.
mere ist der Kondensationsfortschritt, der Umsatz (. Abb. 22.8, Kommerziell bedeutsame Polyaddukte sind Polyurethane
rote Linie). Umsätze unter 90 % führen selbst bei idealem Mono- (7 Abschn. 22.2.10) und Epoxidharze (7 Abschn. 22.2.11). . Abbil-
merverhältnis (nA = nB) nur zu einem Polymerisationsgrad < 10. dung 22.10 zeigt beispielhaft die Polyaddition von Butan-1,4-diol
Weist ein Monomer drei oder vier reaktive Endfunktionen mit Hexamethylendiisocyanat zu Polyurethan. Dabei bilden die
auf, so werden nicht nur lineare Kondensationspolymere, sondern partiell negativ geladenen Sauerstoffatome der Diolmoleküle mit
den partiell positiv geladenen Kohlenstoffatomen der Isocyanate
chemische Bindungen aus. Gleichzeitig klappt die Doppelbindung
zwischen den N-Atomen und den C-Atomen der Diisocyanate
auf und bindet die H-Atome der Alkoholfunktionen. Der resul-
tierende Bindungstyp (-NH-COO-) wird als Urethan bezeichnet.
Durch mehrfache Wiederholung dieser Reaktion entsteht letzt-
endlich ein Polyurethan.
Auch Polyadditionen ergeben dreidimensionale Molekular-
netze, wenn polyfunktionelle Monomere verwendet werden.
δ- δ + δ - δ- δ+ δ- δ - δ+ δ - δ - δ+ δ -
O C N N C O O C N N C O
H O O H H O O H
δ+ δ - δ- δ+ δ+ δ - δ- δ+
H O O H H O
O C N N C O O C N N C O O H
. Abb. 22.10 Polyurethane entstehen durch Reaktion von Diolen (blau) mit Diisocyanaten (rot)
22.2 Kunststoffe – Herstellung, Eigenschaften, Heute ist Polyethylen mit ca. 85 Mio. Jahrestonnen der meist-
Verwendung verwendete Kunststoff weltweit. Die Tonnage setzt sich aus 40 Mio.
Tonnen PE-HD (Polyethylen hoher Dichte) und 35 Mio. Tonnen
22.2.1 Polyethylen (PE) – Folien, Flaschen, Rohre PE-LD (Polyethylen geringer Dichte) und 10 Mio. Tonnen PE-LLD
(lineares Polyethylen geringer Dichte) zusammen (. Abb. 22.13).
Die Polymerisation von Ethen zu Polyethylen erfolgt gemäß
. Abb. 22.11.
Am 27. März 1933 gelang es Reginald Gibson und Eric 22.2.1.1 Industrielle Herstellung
Fawcett, in den ICI-Laboratorien erstmals Polyethylen herzustel- Beim Hochdruckverfahren von ICI (2000 bar, 200 °C, 3 m³ Auto-
len. Sie setzten Ethen unter erheblichen Druck und beobachte- klav) gelangen als Initiatoren Sauerstoff und Peroxide (10–80 ppm)
ten, dass sich nach einiger Zeit ein weißer Belag im Autoklaven zum Einsatz. Über die Initiatormenge und Verweilzeit kann der
(Druckgefäß aus Stahl) bildete. Das war überraschend; schließlich Verzweigungsgrad von PE-LD in gewissen Grenzen gesteuert
kann Ethen unter 200 bar Druck beliebig lang gelagert werden. werden.
Das Glück von Gibson und Fawcett war, dass sie beim Befüllen des Beim Ziegler-Niederdruckverfahren wird der auf Magne-
Autoklaven nicht sorgfältig waren, sodass Spuren von Sauerstoff in siumchlorid (MgCl2) aufgezogene Titantetrachlorid-Kataly-
den Druckbehälter gelangten, die die Polymerisation starteten. Es sator (TiCl4) und der Cokatalysator Diethylaluminiumchlorid
bedurfte weiterer fünf Jahre intensiver Forschungsarbeit, bis letzt- (Et2AlCl) in Hexan aufgeschlämmt und anschließend Ethen mit
endlich 1938 die erste großindustrielle Produktion von Polyethy- einem Druck von 15 bar bei 100 °C eingeleitet. Mit fortschreiten-
len bei einigen Tausend Bar Druck durchgeführt werden konnte. der Polymerisation fällt nahezu unverzweigtes Polyethylen aus.
Nach dem ICI-Hochdruckverfahren wird Polyethylen niedriger Aufgrund der verfahrenstechnischen Vorteile (weniger Druck)
Dichte (PE-LD, vom engl. low density) erhalten. wechselten viele Firmen schnell zum „Ziegler-Verfahren“. Groß-
Pionierarbeiten zur drucklosen Polymerisation von Ethen technisch wurde es erstmalig 1955 von der Fa. Hoechst genutzt.
wurden von Karl Ziegler am Max-Planck-Institut in Mülheim Plötzlich tauchten aber unerwartete Probleme auf.
an der Ruhr geleistet. Mithilfe metallorganischer Katalysatoren PE-HD war nicht stabil – warmes Wasser erzeugte bereits nach
konnte 1953 Ethen erstmalig bei Atmosphärendruck und Raum- kurzer Einwirkzeit Risse in Rohren und Flaschen. Da die Polyethy-
temperatur polymerisiert werden. Das Ziegler-Niederdruckver- lenketten keine Verzweigungen aufwiesen, verfügten sie nicht über
fahren ergibt Polyethylen hoher Dichte (PE-HD, vom engl. high genügend inneren Zusammenhalt. Nach wenigen Monaten inten-
density). Ziegler erhielt 1963 für seine bahnbrechenden Arbeiten siver Laborarbeit konnte dieser „Geburtsfehler“ behoben werden.
auf dem Gebiet der radikalischen Polymerisation den Nobelpreis Durch Copolymerisation (7 Abschn. 21.2.4) mit geringen Mengen
für Chemie. α -Alkenen wie 1-Hexen werden geringfügig verzweigte Polyethy-
lenmoleküle mit kurzer Verzweigung erhalten (PE-LLD, lineares
Polyethylen niedriger Dichte).
H H 2000 bar/200 °C/ICI H H
Aber wohin mit dem bereits produzierten mangelhaften
22 n C C
oder
C C + n · 92 kJ PE-HD? Die Lösung kam in Form des Hula-Hoop-Reifens,
15 bar/100 °C/Ziegler
H H
H H
eines Trends, der Ende der 1950er Jahre um die ganze Welt ging
n
(. Abb. 22.12). 25 Mio. Hula-Hoop-Reifen wurden innerhalb
Ethylen- Polyethylen- weniger Monate produziert, das fehlerhafte PE-HD dadurch an
Monomer Polymer
den Mann oder an die Frau gebracht und die Hersteller gewannen
. Abb. 22.11 Polymerisation von Ethen zu Polyethylen genug Zeit, um ihre Verfahren umzustellen.
22.2 · Kunststoffe – Herstellung, Eigenschaften, Verwendung
571 22
. Abb. 22.12 Hula-Hoop-Reifen aus PE-HD – 1958 ein weltweiter Modetrend (© Unknown – hula-hoop v marborski trgovini 1959, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Obro%C4%8Di_hula-hoop_v_mariborski_trgovini_1959.jpg)
22.2.1.2 Physikalische Eigenschaften von PE-LD. Die Zugfestigkeit des kristallinen PE-HD ist eben-
PE-HD besteht aus nahezu unverzweigten Polyethylenketten falls wesentlich höher als die des amorphen PE-LD (. Tab. 22.2).
(. Abb. 22.13a), was die relativ hohe Dichte von 0,96 g/ml erklärt. PE-LD weist stark verzweigte Polymerrückgrate mit Seiten-
Die geringe Verzweigung erlaubt den Polymerketten, sich räum- ästen von bis zu 1000 C-Atomen auf, die ein Anschmiegen der
lich zu nähern und sich auf molekularer Ebene zu ordnen, sodass Polymerketten verhindern, sodass die Dichte von PE-LD ledig-
PE-HD eine hohe Kristallinität von 75 % aufweist. Als Folge davon lich 0,92 g/mol beträgt. Aufgrund des überwiegend amorphen
ist die maximale Gebrauchstemperatur von PE-HD höher als die Charakters (Kristallinität ca. 40 %) ist es wesentlich weicher und
dehnbarer als PE-HD. PE-LD weist im Schmelzfluss einzigartige
rheologische Eigenschaften auf (Fließverhalten, rhei, griech. für
fließen, logos, griech. für Lehre), was bei der thermoplastischen
a Verarbeitung (7 Abschn. 23.2) von Vorteil ist.
Lineares Polyethylen niedriger Dichte (PE-LLD) wird nach
dem Niederdruckverfahren durch Copolymerisation mit 5–10 %
b 1-Hexen oder 1-Octen hergestellt. Im Unterschied zu PE-LD
(Hochdruckverfahren) weist PE-LLD keine Langkettenverzwei-
gungen auf.
22.2.1.3 Anwendung
Polyethylen ist ein klassischer Thermoplast, der sich durch Auf-
schmelzen und Extrudieren mit anschließendem Spritzgießen,
Blasformen etc. (7 Abschn. 23.2) in nahezu jede beliebige Form
bringen lässt. Die mechanischen Eigenschaften Festigkeit, Härte
und Steifigkeit von PE sind geringer als die von anderen Ther-
moplasten, allerdings ist die Kälteschlagzähigkeit (Schlagwider-
c standsfähigkeit bei Kälte) wiederum hoch. Begrenzt wird der Ein-
satzbereich von Polyethylen durch seine relative niedrige maxi-
male Gebrauchstemperatur.
PE-HD ist lebensmittel- und chemikalienverträglich und
. Abb. 22.13 Unverzweigtes PE-HD (a), stark verzweigtes PE-LD (b) und wird deshalb für Behälter (Flaschen, Container, Fässer, Kanister)
PE-LLD mit kurzkettigen Verzweigungen (c) für Lebensmittel und Chemikalien verwendet. Darüber hinaus
572 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
. Tab. 22.2 Physikalische Eigenschaften von PE-HD, PE-LD und PE-LLD. Zu den einzelnen Parametern s. 7 Abschnitt 23.3. Daten aus: www.kern.
de/de/richtwerttabelle
H H H H
Polypropylen ist der jüngste Massenkunststoff und derjenige mit
22 dem stärksten Mengenwachstum. Die weltweite Jahresproduk- n C C
15 bar/100 °C/Hexan
C C + n · 84 kJ
tion beträgt derzeit 60 Mio. Tonnen. Die grundlegenden Arbei- H CH3
H CH3
ten für die großindustrielle Produktion wurden von dem Italie- n
ner Giulio Natta in Mailand bei der Firma Montecatini geleistet, Propylen- Polypropylen-
Monomer Polymer
wofür er 1963 zusammen mit Ziegler den Nobelpreis verliehen
bekam. . Abb. 22.15 Polymerisation von Propen (Propylen) zu Polypropylen
22.2 · Kunststoffe – Herstellung, Eigenschaften, Verwendung
573 22
H H H H H H H H H H Katalysator werden bis zu 50 Tonnen PP mit einem isotaktischen
Anteil von 95 % erhalten.
C C C C C Im Vergleich zu Polyethylen ist it-PP temperaturstabiler und
C C C C C hält dauerhaft kochendem Wasser stand. Aufgrund des hohen
Schmelzpunktes können Gegenstände aus PP auch im Autoklaven
H3C H H3C H H 3C H H3C H H 3C H sterilisiert werden, sodass Polypropylen auch im medizinischen
a
Bereich eingesetzt werden kann. Im Gegensatz zu Polyethylen ver-
sprödet es jedoch unterhalb 0 °C. Isotaktisches Polypropylen ist
H H H H H H H H H H
transluszent (durchscheinend), aber nicht glasklar transparent
C C C C C
wie z. B. Polystyrol.
C C C C C
z Syndiotaktisches Polypropylen (syn-PP)
H H CH3 H3C H CH3 H3C H Die Methylgruppen der Propylen-Monomereinheiten zeigen
H3C H
b abwechselnd vor und hinter die Papierebene (. Abb. 22.16b). Syn-
diotaktisches PP wird bei −78 °C mit einem Katalysatorsystem
H H H H H H H H H H bestehend aus Vanadiumtetrachlorid und Diethylaluminiumchlo-
rid hergestellt. Aufgrund der sperrigen Methylgruppenanordnung
C C C C C ist syn-PP amorph und hochtransparent.
C C C C C
z Ataktisches Polypropylen (at-PP)
H3C H H3C H H CH3 H3C H H CH3 Die Methylgruppen der Propylen-Monomereinheiten zeigen
c
regellos vor oder hinter die Papierebene. Ataktisches PP ist
. Abb. 22.16 Isotaktisches (a), syndiotaktisches (b) und (c) ataktisches amorph und bei Raumtemperatur klebrig, sodass es bisher ohne
Polypropylen kommerzielle Bedeutung ist. Es fällt mit bis zu 5 % als Neben-
produkt bei der Produktion von isotaktischem Polypropylen an.
Die physikalischen Eigenschaften von Polypropylen unter-
schiedlicher Taktizität sind in . Tab. 22.3 aufgelistet.
22.2.2.3 Verwendung
Polypropylen ist härter und steifer als PE. Es wird deshalb im Fahr-
zeug- und Automobilsektor für Instrumententafeln, Stoßfänger
und als Gehäuse für Elektro- und Haushaltsgeräte verwendet.
Weitere Anwendungen von PP sind Rohre, kochfeste Behälter,
Folien, Beutel, Schutzhelme und Kabelisolierungen. Mehr als ein
Drittel aller synthetischen Fasern werden aus Polypropylen herge-
stellt und für die Fertigung von Seilen, Outdoor-Textilien, Teppi-
chen etc. verwendet. Gartenmöbel, Rohre, Container etc. werden
. Abb. 22.17 Hochbelastbares Seil aus Polypropylen (© fotogestoeber/ ebenfalls aus PP gefertigt.
Fotolia)
. Tab. 22.3 Physikalische Eigenschaften von Polypropylen unterschiedlicher Taktizität. Aus: www.kern.de/de/richtwerttabelle
H H H H Über drei Viertel des PVC weltweit werden nach dem Wacker-
10 bar/60 °C/Peroxid Suspensionsverfahren (7 Abschn. 22.3.3) hergestellt. Dazu wird in
n C C C C + n · 126 kJ
200 m³ großen Rührreaktoren Vinylchlorid zusammen mit Initiator
H Cl Cl
H (Peroxid), Suspensionshilfsmittel, Molmassenregler etc. bei 10 bar
n
Vinylchlorid- Polyvinylchlorid- Druck und 60 °C in deionisiertem Wasser dispergiert. Nach sechs
Monomer Polymer Stunden Reaktionsdauer sind 90 % des Vinylchlorids zu Polyvinyl-
chlorid polymerisiert. Die Suspension weist einen Feststoffgehalt
. Abb. 22.18 Polymerisation von Vinylchlorid zu Polyvinylchlorid
von ca. 30 % auf. Die mittlere PVC-Teilchengröße beträgt 0,2 mm.
Anschließend wird noch vorhandenes Restmonomer mit Was-
Produktion wurde jedoch erst 1912 von Fritz Klatte bei der Che- serdampf ausgetrieben (VC-Dampfstripping) und das Polymeri-
mischen Fabrik Griesheim gelegt. Klattes Aufgabenstellung war sat durch Zentrifugation weitestgehend vom Wasser befreit. Nach
klar abgesteckt: Finde eine Verwendung für das Abfallprodukt Trocknung auf eine Restfeuchte unter 0,3 % beträgt der Restmono-
Chlor, das Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Produktion von mergehalt weniger als 1 ppm. Für medizinische Anwendungen
Natronlauge (7 Abschn. 13.1.3.5) als Koppelprodukt in großen dürfen PVC-Folien mit maximal 0,05 ppm Restmonomergehalt
Mengen anfiel. Klatte gelang es nicht nur, durch Addition von verwendet werden.
Chlorwasserstoff an Ethin Chlorethen (Vinylchlorid, VC) herzu- Hart-PVC, auch als PVC-U (U für unplasticized, engl. weich-
stellen, sondern auch noch dessen Polymerisation mithilfe von macherfrei) bezeichnet, ist ein weißer, amorpher Thermoplast mit
Sonnenlicht zu Polyvinylchlorid (. Abb. 22.18). einer Glasübergangstemperatur von 90 °C, weshalb PVC-U bei
Die industrielle PVC-Herstellung wurde aber erst in den Raumtemperatur hart und spröde ist. Typischerweise wird PVC-U
1930er Jahren aufgenommen, sodass der PVC-Pionier Klatte bei 160–200 °C zu Profilen für Tür- und Fensterrahmen extru-
am kommerziellen Erfolg des Kunststoffs nicht beteiligt war. Die diert (7 Abschn. 23.2.1). Die physikalischen Eigenschaften sind in
globale PVC-Produktion beläuft sich derzeit auf etwa 45 Mio. Jah- . Tab. 22.4 verzeichnet.
restonnen, was PVC mengenmäßig nach den Polyolefinen (PE, Um PVC für Kabelummantelungen, Folien oder Bodenbeläge
PP) zum drittgrößten Kunststoff macht. verwenden zu können, muss es mit bis zu 40 % Weichmacher
(7 Abschn. 23.1.3) flexibel und dehnbar gemacht werden (PVC-P,
P für plasticized, engl. weichmacherhaltig). Die Weichmachermo-
22.2.3.1 Industrielle Herstellung leküle drängen sich zwischen die starren PVC-Polymerketten und
Primärrohstoffe für die großindustrielle Produktion von PVC wirken quasi als inneres Schmiermittel auf molekularer Ebene,
sind Erdöl und Steinsalz. Aus der Naphtha-Fraktion des Rohöls sodass die Polymermoleküle aneinander vorbeigleiten können
wird durch Cracken (7 Abschn. 16.6.5.2) Ethen und aus Steinsalz
mittels Chloralkali-Elektrolyse (7 Abschn. 12.7.1.3) Chlor herge-
stellt. Anschließend wird Chlor mit Ethen in Dichlorethan bei 22.2.3.2 Verwendung
100 °C umgesetzt, wobei als farblose Flüssigkeit 1,2-Dichloret- Hart-PVC geht zu drei Viertel in den Bausektor und wird für die
han anfällt. Das durch Destillation gereinigte 1,2-Dichlorethan Herstellung von Fensterrahmen, Türprofilen und Rohrleitungen
spaltet bei 30 bar und 350 °C Chlorwasserstoff ab, wodurch das verwendet (. Abb. 22.20). Aus Weich-PVC werden elastische Fuß-
Monomer Vinylchlorid erhalten wird (. Abb. 22.19). Vinylchlorid böden, Planen, Dachbahnen, Kabelummantelungen, Blutbeutel,
ist ein giftiges Gas (Sdp. −14 °C), das beim Menschen Leberkrebs Kunstleder, Duschvorhänge etc. produziert.
hervorrufen kann, sodass entsprechende Sicherheitsvorkehrun- Vor- und zugleich Nachteil von PVC ist, dass es weder durch
gen getroffen werden müssen. Sonnenlicht noch durch Meerwasser verrottet. Deshalb darf PVC
H H H H H H
Dichlorethan/100 °C/FeCl3 350 °C/30 bar
C C + Cl2 H C C H C C + HCl
H H Cl Cl H Cl
. Abb. 22.19 Großindustrielle Herstellung von Vinylchlorid (VC) aus Ethen und Chlor
. Abb. 22.20 Hart-PVC ermöglicht ausgeklügelte und pflegeleichte . Abb. 22.21 Polystyrol überzeugte von Anfang an durch das geringe
Fensterprofile (© denisik11/Fotolia) Volumengewicht (© BASF SE, 2016)
seit 2005 in der Bundesrepublik nicht mehr deponiert werden. Heute hat Polystyrol als Verpackungs-, Wärmedämm- und
Ein weiteres Manko stellen niedermolekulare Phthalatweich- Isolationsmaterial zahlreiche Anwendungen gefunden. Der aktu-
macher wie Dibutylphthalat (DBP) und Diethylhexylphthalat elle Weltverbrauch beträgt 15 Mio. Jahrestonnen.
(DEHP) dar, da diese im PVC nicht fest gebunden sind und in die
Umwelt ausdünsten oder auswandern können. Für die Anwen-
dung von PVC-P (P für plasticized, engl. für weichmacherhal- 22.2.4.1 Industrielle Herstellung
tig) als Lebensmittelverpackung, Medizinartikel oder Kinder- Zur Herstellung des Monomers Styrol wird Ethylbenzol zusam-
spielzeug werden deshalb ausschließlich hochmolekulare Weich- men mit Wasserdampf durch ein 600 °C heißes Katalysatorbett aus
macher wie Diisononylphthalat (DINP) eingesetzt oder gänzlich Eisen(III)-oxid, dotiert mit Kaliumhydroxid, geleitet (. Abb. 22.22).
auf Phthalatweichmacher verzichtet (7 Abschn. 23.1.3). Nach erfolgter Wasserstoffabspaltung wird das entstandene Styrol
(Sdp. 145 °C) von Nebenprodukten wie Benzol, Toluol und nicht
umgesetztem Ethylbenzol abdestilliert. Styrol ist eine angenehm
22.2.4 Polystyrol (PS) – geschäumter Kunststoff süßlich riechende Flüssigkeit. Die maximale Arbeitsplatzkonzen-
für die Wärmedämmung tration (MAK-Wert) beträgt 20 Vol.-ppm (86 mg/m³).
Da Styrol bereits bei Raumtemperatur polymerisieren würde,
Polystyrol wurde erstmals 1931 von den I.G.-Farben in Lud- muss es mit dem Radikalfänger Hydrochinon stabilisiert und in
wigshafen (heute BASF) hergestellt. Richtig Furore erlangte die kühlen, dunklen Räumen gelagert werden.
Substanz aber erst 1949, als es dem BASF-Chemiker Fritz Stastny
gelang, daraus Schaum zu fertigen. z Amorphes, ungeschäumtes Polystyrol (PS)
Trotz seines einzigartigen Volumengewichts von lediglich 30 Großindustriell wird Styrol zweistufig polymerisiert (. Abb. 22.23).
Gramm pro Liter und einprägsamen Demonstrationsmodellen In der ersten Stufe wird Styrol in Wasser mit einem Radikalstar-
wie dem leichtesten Schiff der Welt wusste man anfänglich nicht ter bei 80 °C ca. zwei Tage lang vorpolymerisiert, bis 35 % des
viel anzufangen mit Polystyrolschaum. Kollege Zufall half auf Styrols zu Polystyrol abreagiert haben. In der zweiten Stufe wird
die Sprünge. Im Hafen von Kuwait war ein australischer Schafs- das viskose Präpolymer innerhalb eines Tages durch einen Turm-
kahn gesunken und versperrte den Hafenzugang. Schwimmkräne reaktor gepumpt, wobei die Temperatur sukzessive von 110 auf
zum Heben des Schiffes waren nicht vorhanden. Guter Rat war
teuer. Schließlich pumpte man geschäumte Styroporperlen in den
Rumpf des Schaftransporters. Ein Kubikmeter Styroporschaum
erzeugt einen Auftrieb von ca. 970 kg. Nach fünf Tagen und 2500 600 °C/Fe2O3/KOH
+ H2
Kubikmetern Polystyrol war es dann soweit. Das Wrack tauchte
aus den Fluten des Persischen Golfs auf und verhalf Styropor® zur
weltweiten Popularität (. Abb. 22.21) . Abb. 22.22 Herstellung von Styrol aus Ethylbenzol
576 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
H H H H
80–220 °C /D ibenzoylperoxid
n + n · 71 kJ
H
H
Styrol-Monomer Polystyrol-Polymer
22 Dichte
[g/ml]
Schmelz-
temp.
Max.
Gebrauchstemp.
Glasübergangs-
temp.
Ausdehnungsko-
effizient
Reißdehnung
[%]
Zug-E-Modul
[MPa]
Typ
AT: ataktisch
22.2 · Kunststoffe – Herstellung, Eigenschaften, Verwendung
577 22
wird dem Ganzen durch Plexiglas® aufgesetzt: nur halb so schwer
wie Glas, nahezu unzerbrechlich, flexibel und dazu noch trans-
parenter als Glas.
Erstmals wurde Polymethylmethacrylat, das landläufig als
Plexiglas® oder Acrylglas bezeichnet wird, von der Fa. Röhm &
Haas 1937 vermarktet. Der Kunststoff überzeugte durch seine
hohe Transparenz und Schlag- und Bruchfestigkeit. Allgemein
bekannt wurde Plexiglas® in der Bundesrepublik 1956 als Design-
element einer Radio-Phono-Kombination der Fa. Braun, die
umgangssprachlich wegen der transparenten Abdeckhaube als
„Schneewittchensarg“ bezeichnet wurde (. Abb. 22.27). Derzeit
werden weltweit ca. zwei Mio. Jahrestonnen Polymethylmetha-
crylat produziert.
. Abb. 22.25 Fischtransportboxen aus geschäumtem Polystyrol (EPS) 22.2.5.1 Industrielle Herstellung
erhalten die Kühlkette aufrecht (© Olga Millan/Fotolia) Polymethylmethacrylat wird aus dem Monomer Methylmethac-
rylat (MMA) durch radikalische Polymerisation hergestellt. Als
Starter werden Dibenzoylperoxid oder Azoisobutyronitril (AIBN)
XPS-Platten (extrusionsgeschäumtes Polystyrol) werden übli- eingesetzt. Die Polymerisation verläuft exotherm (. Abb. 22.28).
cherweise in Dicken von 20–200 mm extrudiert und unter dem Zuerst wird das Monomer in Substanz, also ohne Lösemit-
Handelsnamen Styrodur® vertrieben. Wegen seiner im Vergleich tel, samt gelöstem Initiator bis 25 % Umsatz vorpolymerisiert.
zu Styropor® hohen mechanischen Festigkeit wird es beispiels- Anschließend wird die Polymerisation nach dem sog. Kammer-
weise zur Wärmedämmung von Kelleraußenwänden, Flachdä- verfahren zwischen zwei Glasscheiben durch sukzessives Erwär-
chern und im Bodenbereich eingesetzt (. Abb. 22.26). men von 60 °C (Wasserbad) auf 120 °C (Wärmeschrank) fortge-
setzt. Der dabei auftretende Schwund von ca. 20 % wird durch
Zusammenpressen der Glasscheiben über flexible Randabdich-
22.2.5 Polymethylmethacrylat tungen ausgeglichen. Nach Beendigung des Polymerisationsver-
(PMMA) – Plexiglas® sorgt für fahrens können Plexiglasscheibe und die beiden Glasscheiben
Transparenz problemlos voneinander getrennt werden. Endlos-Plexiglasplat-
ten mit 3 m Breite entstehen, wenn die Polymerisation konti-
Glas galt von Anfang an als mystischer Werkstoff, fest und trotz- nuierlich zwischen zwei umlaufenden Metallbändern durchge-
dem transparent. Lange Zeit galt dies als Paradoxon. Die Krone führt wird.
. Abb. 22.26 Styrodur® (extrusionsgeschäumtes Polystyrol) als Kelleraußenwanddämmung (© BASF SE, 2016)
578 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
z Glasübergangstemperatur
22.2.5.3 Anwendung
Wegen seiner hohen Transparenz und Schlagfestigkeit eignet
sich Plexiglas® als Dachabdeckung für Wintergärten, Carports
. Abb. 22.27 Radio-Plattenspieler mit Plexiglashaube, auch als oder Schallschutzwände (. Abb. 22.30). In der optischen Indus-
„Schneewittchensarg“ bekannt (© dontworry – Schneewittchensarg, https:// trie werden aus Plexiglas® Brillengläser, Linsen, Lichtleiter etc.
commons.wikimedia.org/wiki/File:Schneewittchensarg-braun-sk5-002.jpg) gefertigt.
Die Möbelindustrie gestaltet Designmöbel wie Stühle, Tische
und Vitrinen aus PMMA. Weitere Anwendungsbeispiele für Ple-
22.2.5.2 Eigenschaften xiglas® sind Blinkergläser, Flugzeugverglasungen, Lichtwerbung,
. Tabelle 22.6 gibt wesentliche physikalische Eigenschaften von Reflektoren, Abdeckplatten etc. Der Fantasie sind keine Grenzen
PMMA wieder. gesetzt.
Plexiglas® vereinigt geringe Dichte und hohe mechanische
Stabilität und ist darüber hinaus noch transparenter als Glas.
Es lässt UV-Strahlen bis 300 nm und Infrarotlicht bis 2800 nm 22.2.6 Polytetrafluorethylen (PTFE) – thermisch
passieren. Infrarotstrahlung höherer Wellenlänge wird reflek- und chemisch hoch resistent
tiert, weshalb es ideal für Gewächshäuser ist. Es kann problemlos
mechanisch verarbeitet werden und lässt sich zudem thermisch Eigentlich sollte Roy J. Plunkett, Chemiker bei DuPont, ein neu-
kleben. Es ist beständig gegen Kohlenwasserstoffe, Säuren und artiges Kühlmittel für Gefrierschränke entwickeln. Deshalb han-
Laugen, aber nicht gegen Aceton oder Benzol. tierte er unter anderem mit Tetrafluorethylen, einem farb- und
H CH3 H CH 3
60–120 °C/Dibenzoylperoxid
n C C C C + n · 58 kJ
H O H
O O O
CH3
CH 3 n
Methacrylsäure- Polymethacrylsäure-
methylester methylester
22 Dichte
[g/ml]
Schmelz-
temp.
Max.
Gebrauchstemp.
Glasübergangs-
temp.
Ausdehnungsko-
effizient
Reißdehnung
[%]
Zug-E-
Modul
Typ
CH3
. Abb. 22.29 Abnahme der Glasübergangstemperatur (Tg) mit zunehmender Länge des Alkoholrestes
. Abb. 22.30 Plexiglas®-Aquarium – Walhai und Mensch nur durch eine Scheibe getrennt (© Zac Wolf – Shark in Georgia Aquarium, https://commons.
wikimedia.org/wiki/File:Male_whale_shark_at_Georgia_Aquarium.jpg)
geruchlosen Gas. Am 6. April 1938 bemerkte er, dass sich dieses Chlorwasserstoff Tetrafluorethylen in einer Ausbeute von über
durch Druck und Temperatur in ein weißes Wachs überführen 90 % erhalten (. Abb. 22.33). Abschließend muss solange rektifi-
lässt (. Abb. 22.32). Besonders beindruckt war er von dessen Tem- ziert (7 Abschn. 7.1.1.4) werden, bis die Monomerverunreinigung
peraturstabilität bis 325 °C und der Beständigkeit gegen nahezu weniger als 10 ppm beträgt. Obwohl Tetrafluorethylen zu sponta-
alle Lösemittel und Chemikalien – Eigenschaften, die kein anderes ner Polymerisation neigt, kann es mithilfe von Stabilisatoren bei
organisches Material aufweisen kann. −45 °C gelagert werden.
DuPont erhielt 1941 das Patent auf die Herstellung des von Die Polymerisation (. Abb. 22.31) von Tetrafluorethylen zu
Plunkett entdeckten Polytetrafluorethylens (PTFE) und vermark- PTFE erfolgt batchweise in emaillierten Rührkesseln. Beim Emul-
tet es seit 1946 unter dem Handelsnamen Teflon®. Der globale sionspolymerisationsverfahren wird das gasförmige Tetrafluor-
Bedarf an dem Hochleistungspolymer PTFE beträgt zurzeit ca. ethylen (Sdp. −76 °C) bei 20 bar Druck und Raumtemperatur
200.000 Jahrestonnen. in Wasser mithilfe des Emulgators Perfluoroctansäure zu einer
Flüssigtröpfchenemulsion verrührt. Der ebenfalls gelöste Initia-
tor (Kaliumperoxodisulfat oder Benzoylperoxid) zerfällt beim
22.2.6.1 Industrielle Herstellung Erwärmen der Emulsion auf 60 °C in Radikale und startet die
Chloroform ist der Ausgangsstoff für die Herstellung des Mono- stark exotherme Reaktion. Nach wenigen Stunden werden Dis-
mers Tetrafluorethylen (TFE). Durch chemische Reaktion persionen mit 35 % PTFE-Gehalt erhalten, die auf 60 % aufkon-
von Chloroform mit Fluorwasserstoff zu Chlordifluormethan zentriert werden. Anschließend wird das Polymer (molare Masse
und dessen Pyrolyse (thermische Zersetzung) in Gegenwart > 1.000.000 g/mol) mit Benzin als ca. 2 mm große Polymerkör-
von Antimonpentafluorid (SbF5) wird unter Abspaltung von ner ausgefällt. Bevor das Polymerisat im Press-Sinter-Verfahren
580 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
F F F F
20 bar, 60 °C, K2S2O8
n C C C C + n · 184 kJ
F F F F
n
F F F
T/SbF5
2 HCCl3 + 4 HF 2 H C F C C
– 4 HCl – 2 HCl
Cl F F
22.2.6.3 Anwendung
D i e w o h l b e k a n nt e s t e A nw e n d u n g s i n d Te f l o n ® -
Antihaftbeschichtungen für Bratpfannen (. Abb. 22.35). Das
Bratgut schwimmt quasi auf einem Luftpolster in der Pfanne,
sodass es nicht zu hartnäckigen Anbackungen kommt.
Im chemischen Anlagen- und Apparatebau werden PTFE-be-
schichtete Reaktionsgefäße und Rohrleitungen für hochkorro-
sive Chemikalien verwendet. Rührerwellen, Dichtringe, Rohrver-
bindungen, Ventile, Ventilringe, Schläuche etc. werden ebenfalls
aus PTFE gefertigt. Seit den 1980er Jahren werden hauchdünne,
expandierte sogenannte ePTFE-Textilmembranen (GORE-TEX®)
. Abb. 22.35 Der Klassiker – Bratpfannen mit Teflon®- für Funktionskleidung verwendet, da ihre Poren Wasserdampf ent-
Antihaftbeschichtung erlauben, nahezu fettfrei zu braten (© Coprid/Fotolia) weichen, aber Regenwasser nicht eindringen lassen (. Abb. 21.20).
Auch in der Architektur findet PTFE Einsatz (. Abb. 22.36).
. Abb. 22.36 Autostadt Wolfsburg – PTFE-Membrandach als Eye-Catcher und Witterungsschutz (© GRAFT Gesellschaft von Architekten mbH/Tobias Hein,
Berlin)
582 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
Cl Cl Cl CH3
300 °C/Cu
Si + ex. H3 C Cl H3C Si CH 3 + H3C Si Cl + H3C Si CH3 + H3C Si CH3
Cl Cl CH3 CH3
70 Mol.-%
CH 3
H3C Si CH3 Endglied
OH
CH3
OH
H3C Si CH3
H 3C Si CH3 Mittelglied
O
OH
H 3C Si CH3
CH3 OH CH3 CH3 CH3 O CH3 CH3
22 H3C Si OH HO Si OH HO Si OH HO Si CH3 H 3C Si O Si O Si O Si CH3
– 5 H2O
CH3 CH3 CH3 CH3 CH3 CH3 CH3 CH3
Cl CH3 OH CH3
+ 2702 H2O
1350 H 3 C Si CH3 + 2 Cl Si CH3 1350 H 3 C Si CH3 + 2 HO Si CH3
– 2702 HCl
Cl CH3 OH CH3
22.2.7.3 Anwendung
Siliconöle weisen eine molare Masse bis zu 150.000 g/mol und
einen Polymerisationsgrad von weniger als 2000 auf. Es handelt
sich um wasserklare, farblose, geruchsfreie, stark wasserabwei-
sende Flüssigkeiten mit einer Dichte von 0,75–1,06 g/ml. Silico-
nöle finden Verwendung als temperaturstabile Hydrauliköle und
wegen ihres geringen Dampfdrucks als Pumpenöle für Ultravaku-
umpumpen. Weitere Anwendungen sind Stoßdämpferöle, Trenn-
mittel, Transformatorenöle, Entschäumer, Kupplungsöle, Brems-
flüssigkeiten, Heizflüssigkeiten, Poliermittelzusatz für Autolacke
. Abb. 22.41 Silicondichtstoff zum Verfugen und Abdichten von
und Möbel. Siliconfette, die im Temperaturbereich von –60 bis Anschluss- und Bewegungsfugen (© Achim Hering – Caulking, https://
+200 °C als Schmiermittel dienen, werden aus Siliconölen durch commons.wikimedia.org/wiki/File:Caulking.jpg)
Zusatz von Füllstoffen hergestellt.
Siliconkautschuke sind gering vernetzte Polydimethylsiloxane
mit gummielastischem Charakter. Das Kautschukverhalten bleibt
über den Temperaturbereich von –50 bis +200 °C und kurzzeitig
sogar bis 300 °C erhalten. Allgemein wird zwischen hochtempe-
ratur- (HTV) und raumtemperaturvernetzenden (RTV) Silicon-
kautschuken unterschieden. RTV-1-Siliconkautschuke sind ein-
komponentige, anwendungsfertige Silicone, die durch Reaktion
mit Luftfeuchtigkeit aushärten.
Siliconkautschuke werden als Dichtmassen (. Abb. 22.41) im
Fensterbau, Beschichtungen, Klebstoffe in der Automobilindustrie
sowie als Imprägnierungen in der Textilindustrie verwendet. RTV-
2-Siliconkautschuke sind zweikomponentig und vernetzen nach
dem Vermischen der beiden Komponenten. Aus RTV-2-Siliconen
werden Abdruckmassen, Dichtungen, elektrisches Isolationsmate-
rial etc. gefertigt. Aus elastischem Siliconkautschuk werden auch
Babyschnuller angefertigt (. Abb. 22.42).
. Abb. 22.42 Schnuller aus elastischem Siliconkautschuk (© jalcaraz/
Siliconharze enthalten viele trifunktionelle Strukturein- Fotolia)
heiten wie Methylsilantriol [CH 3Si(OH)3], sind also engma-
schig vernetzt. Durch Kombination mit anderen Polymeren
können Hafteigenschaften, Witterungsbeständigkeit etc. den Lacken. Weitere Anwendungsgebiete sind Tränklacke für Elek-
Anforderungen angepasst werden. Siliconharze dienen zur trowicklungen, Hydrophobierungsmittel im Bautenschutz und
Elastifizierung und Verbesserung der Wetterbeständigkeit von Fassadenfarben.
584 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
22.2.8 Polyethylenterephthalat (PET) – sämtliches Methanol durch Ethylenglycol ausgetauscht. Seit 1975
Textilfasern, Filme, Flaschen kann auch Terephthalsäure direkt mit Ethylenglycol bei 240 °C
unter Wasserabspaltung zu Diethylenglycolterephthalat verestert
werden (. Abb. 22.43).
Polyethylenterephthalat (PET) wurde 1941 von der Fa. Calico Prin- Das nach beiden Verfahren erhaltene Diethylenglycolte-
ters, USA, als Rohstoff für Textilfasern entwickelt. Die kommer- rephthalat wird anschließend drei Stunden lang bei 280 °C unter
zielle Nutzung wurde von den Lizenznehmern DuPont und ICI Vakuum in Gegenwart von katalytischen Mengen Antimontri-
in den 1950er Jahren vorangetrieben. Bekannte Handelsmarken oxid (Sb2O3) kondensiert. Das freigesetzte Ethylenglycol wird an
für die synthetische Faser waren und sind Diolen® und Trevira®. Kühlern auskondensiert und dem Reaktionsgemisch entzogen.
Weitere Meilensteine wurden in den 1960er Jahren mit Folien aus Die Polykondensation wird nach Erreichen der gewünschten Vis-
PET und in den 1970er Jahren mit PET-Gefäßen gesetzt. Heute kosität abgebrochen. Die Restfeuchte des Kondensatgemisches
sind Getränkeflaschen aus PET in jedem Supermarkt anzutreffen. beträgt dann weniger als 0,01 % und kann mit Vakuumtrockner
Polyethylenterephthalat ist ein thermoplastischer Polyester. noch weiter auf 0,004 % abgesenkt werden. Der Polymerisations-
Der weltweite Bedarf von PET beträgt 55 Mio. Jahrestonnen, was grad beträgt zwischen 100 und 200, was einer molaren Masse von
PET zu einem Massenkunststoff macht. Die Herstellung erfolgt 20.000–40.000 g/mol entspricht.
gemäß . Abb. 22.43.
O O H H
240 °C
+ 2 HO C C OH
– 2 H 2O
HO OH H H H H O O H H
Terephthalsäure HO C C O C C O C C OH
H H H H H H
O O
Zinkacetat/200 °C
+ 2 HO C C OH Diethylenglycolterephthalat
– 2 CH3OH
H3CO OCH3 H H
Dimethylterephthalat
H H O O H H O O H H H H
Sb2O3/280 °C
n HO C C O C C O C C OH HO C C O C C OH + n HO C C OH
H H H H H H n H H
Diethylenglycolterephthalat Polyethylenterephthalat
22.2.8.3 Anwendung
Polyesterpolymere wie PET können zu Textilfasern (Markennamen
Trevira®, Diolen®) versponnen werden (. Abb. 22.44). Textilien aus
Polyester sind knitterarm, schnelltrocknend und nehmen so gut wie
kein Wasser auf. Sie eignen sich für alle textilen Anwendungen, u.
a. für Heimtextilien, Funktionsbekleidung oder technische Texti-
lien. Des Weiteren können seit den 1960er Jahren aus PET reißfeste
Folien produziert werden, die als Filmträgerstreifen, Reprofilme,
Magnettonträger, Trennfolien für Elektrokondensatoren etc. ver-
wendet wurden und werden. PET-Folien sind weichmacherfrei,
physiologisch unbedenklich und bis 150 °C temperaturbeständig,
sodass sie für Kochbeutel, Bratfolien und Verpackungen für Lebens-
mittel zur Mikrowellenaufbereitung eingesetzt werden können.
Letztendlich gelang es in den 1980er Jahren, Trinkflaschen
aus PET durch Spritzblasformen (7 Abschn. 23.2.3) herzustel-
len. Hohe Gasdichtigkeit, Transparenz, geringe Dichte und hohe
Bruchstabilität macht PET zum Material der Wahl für Mehrweg-
flaschen, sodass dies heute mit Abstand die wichtigste Anwendung
für PET ist. Weltweit werden fast alle Flaschen für Softdrinks aus
PET gefertigt (. Abb. 22.45).
Aus PET können durch Spritzguss auch verschleißfeste
Maschinenteile wie Kupplungen, Gleitlager, Zahnräder, Abdeck-
hauben, Türgriffe, Sterilisationsbehälter, Gerätechassis etc. gefer-
tigt werden.
Am 15. Mai 1940 begann eine neue Zeitepoche in der Damen- Dicarbonsäuren unter Ausbildung von Säureamidbindungen
mode. Nylon® erblickte das Licht der Welt. Die Fa. DuPont ver- (-COO-NH-) und Wasserabspaltung. Im speziellen Fall von PA
kaufte an einem einzigen Tag mehrere Millionen Damenstrümpfe, 6.6 sind es die Monomere Hexan-1,6-diamin (Hexamethylendia-
sog. „Nylons“, hergestellt aus vollsynthetischen Fasern. min) und Adipinsäure (. Abb. 22.46). Generell steht nach DIN
Nylon ® ist chemisch betrachtet ein Polyamid. Poly- EN ISO 1043-1 „Kunststoffe – Kennbuchstaben und Kurzzeichen“
amide (PA) entstehen durch Kondensation von Diaminen mit die erste Ziffer für die Anzahl der Kohlenstoffatome des Diamins
586 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
Adipinsäure
O
n C OH
HO C
O H
O
+ C O N H
– n H2O H O C N
O H n
n NH2
H2N
Hexandiamin
. Abb. 22.46 Synthese von Polyamid 6.6 (Nylon® 6.6) aus Adipinsäure und Hexan-1,6-diamin
z Perlon® 6 (Nylon® 6)
Es muss ein ziemlicher Schock für die DuPont-Manager gewesen
und die zweite Ziffer für die Anzahl der Kohlenstoffatome der sein, als sie 1938 in Berlin der I.G.-Farben Lizenzen zur Herstel-
Dicarbonsäure. lung von Nylon® 6.6 anboten und mit Kunstgarn und Gewirke
Die Weltjahresproduktion an Polyamiden beträgt derzeit aus Perlon® konfrontiert wurden. Wie konnte das nur passie-
ca. 7 Mio. Tonnen, wovon 5 Mio. Tonnen zu Fasern versponnen ren, obwohl DuPont ihr Knowhow durch breit abgefasste Patente
werden. Weitere 2 Mio. Tonnen werden als Formteile, z. B. in der geschützt hatte?
Automobilindustrie und Bauindustrie, benötigt (. Abb. 22.47). Perlon® wird aus Caprolactam hergestellt – ein Monomer,
das Carothers, der geniale Entwickler von DuPont, explizit als
unbrauchbar zur Herstellung von Polyamiden abgestempelt und
22.2.9.1 Industrielle Herstellung in den Patenten nicht berücksichtigt hatte. Der I.G.-Farben-Che-
miker Paul Schlack nutzte diese Lücke und gab sich mehr Mühe
z PA 6.6 (Nylon® 6.6) mit Caprolactam, was letztendlich mit Erfolg gekrönt wurde.
Polyamid 6.6 entsteht durch Polykondensation aus den zwei- Industriell wird zur Herstellung von Polyamid 6 (PA 6) eine
wertigen Monomeren Adipinsäure und Hexan-1,6-diamin. Um 85−%ige µ-Caprolactamlösung bei 75 °C zuerst hydrolysiert,
hohe Polykondensationsgrade zu erzielen, ist das Einhalten des dann bei 275 °C polymerisiert und abschließend granuliert
stöchiometrischen Verhältnisses der beiden Monomere zwin- (. Abb. 22.48).
gend erforderlich. Eine Abweichung lediglich um ein Prozent Im Unterschied zu Nylon ® 6.6 wird für Perlon ® ein
reduziert die molare Masse des Polykondensats auf die Hälfte Monomer mit zwei unterschiedlichen chemischen Funktionen
H
22 N O
O H O
C
25 bar/275 °C
n + n H2O n H2N C N C + n H2O
OH
n
ε-Caprolactam Polyamid 6
an den Molekülenden verwendet, sodass Caprolactam-Moleküle Durch das Verstrecken von PA-Fasern nach dem Verspinnen
iteinander polymerisieren können. Hier ist eine Analogie
m orientieren sich die Polymerketten parallel zueinander, sodass sich
zur Kondensation von Aminosäuren (Monomer) zu Proteinen aufgrund der hohen Polarität der Säureamidfunktion zahlreiche
(Polymer) gegeben (7 Abschn. 20.2.1.1). Wasserstoffbrücken zwischen benachbarten Polyamidmolekülen
ausbilden, was die hohe Reißfestigkeit und Kristallinität von Poly-
amidfasern erklärt (. Abb. 22.49).
22.2.9.2 Physikalische Eigenschaften
Die physikalischen Eigenschaften wichtiger Polyamide sind in
. Tab. 22.9 zusammengefasst. 22.2.9.3 Anwendung
PA 6, PA 4.6 und PA 6.6 sind teilkristalline Thermoplaste (TT). Von Beginn an fand Polyamid 6.6 (Nylon® 6.6) als Textilfaser zur
Sie verfügen über hohe Zähigkeit, Steifigkeit und Chemikalien- Herstellung von Nylonstrümpfen reißenden Absatz. Glanz, Elas-
beständigkeit. Aufgrund ihrer Polarität (Säureamidbindungen) tizität, Knitterfreiheit und Reißfestigkeit überzeugten nicht nur
nehmen Polyamide bis zu 10 % Wasser reversibel auf, wodurch die Damenwelt (. Abb. 22.50).
das Zug-E-Modul erheblich abnimmt (. Tab. 22.9). Die Glasüber- Aufgrund seiner hohen Verschleiß- und Reißfestigkeit kann
gangstemperatur (7 Abschn. 22.2.5.2) von trockenem PA beträgt Polyamid auch zur Herstellung von Schrauben, Zahnrädern,
typischerweise 70 °C, kann aber durch Wasseraufnahme auf Gleitlagern, Kraftstoffleitungen, Motorabdeckungen, Klettersei-
0 °C absinken. Die maximale Gebrauchstemperatur von Nylon® len, Angelschnüren, Tennissaiten, Brillengestellen, Teppichböden,
beträgt 100 °C, sodass Nylon®-Textilien nicht zu heiß gebügelt Zahnbürstenborsten etc. verwendet werden.
werden dürfen. Da Polyamid kaum knittert, muss aber ohnehin Die Kunstfaser Perlon® wurde anfänglich für Hochdruck-
wenig zum Bügeleisen gegriffen werden. schläuche für Flugzeugreifen und Fallschirme verwendet,
O H O H O
N N
N N N
O H O H O H
O H O H O
N N
N N N
O H O H O H
O H O H O
N N
N N N
O H O H O H
O H O H O
N N
N N N
O H O H O H
HO O H H O O H
δ– δ+ δ+ δ– δ– δ+
Diol Diol
Polyaddition
O O O
HO O C N N C O O C N N C O
H H H
Urethan-Funktionen
O
C
N
H H
O C N C N C O C N C O
H H
4,4'-Methylendiphenyldiisocyanat (MDI) 2,4'-Methylendiphenyldiisocyanat (MDI)
NCO
2,6-Toluoldiisocyanat (TDI) 2,4-Toluoldiisocyanat (TDI)
OCN NCO
NCO
NCO
O
OH O H HO O
HO H O O OH
n
O n
O
H
O C N N C O O C N N C O H O C N N + O C O
H H
H O H Carbamid
. Abb. 22.55 Reaktion von Isocyanat mit Wasser zu Carbamid, das spontan in Amin und Kohlendioxid zerfällt
Basiskomponente
O O
OH
O O O O
n
O O
Oligomerer Bisphenol-A-Diglycidylether
O O
Bisphenol-A-Diglycidylether
Härterkomponente
H
H NH2
NH2
N H2N NH2
H2N NH2 NH2
H
NH2
. Abb. 22.58 Typische Basis- und Härterkomponenten zur Herstellung von Epoxidharzen
592 Kapitel 22 · Polymerisation – Mechanismen, Verfahren, Produkte
. Abb. 22.59 Polyaddition von Bisphenol-A-Diglycidylether (gelb) mit Methylendianilin (blau) zu Epoxidharz
22.2.11.3 Anwendung
22 Aushärtegeschwindigkeit, Chemikalienstabilität, Adhäsions-
haftung, mechanische Beständigkeit und Verarbeitungsprofil
von Epoxidharzen können in weiten Bereichen variiert werden,
sodass Epoxidharze zahlreiche Anwendungen gefunden haben.
. Abb. 22.60 Basis- (links) und Härterkomponente (rechts) eines So werden in der Baubranche epoxidharzbasierte Produkte zum
2 K-Epoxidharz-Klebstoffs (© Yuki Model-CN Development & Media) Beschichten von Böden oder als Oberflächenschutz für Betone,
22.3 · Großtechnische Polymerisationsverfahren
593 22
Polymerisationsverfahren
55Bei der Lösungspolymerisation liegen sowohl die
Monomer- als auch die entstehenden Polymermoleküle
im Reaktionsmedium (Wasser, organisches Lösemittel)
gelöst vor. Der Vorteil der Lösungspolymerisation liegt in
der guten Wärmeabfuhr, der Nachteil im hohen Aufwand
für die Abtrennung des Polymers vom Lösemittel.
55Bei der Fällungspolymerisation ist das Monomer
anfänglich in der wässrigen Phase gelöst. Das
resultierende Polymerisat fällt aus dem Reaktionsmedium
aus und kann leicht separiert werden.
55Bei der Emulsionspolymerisation liegen große
Monomertröpfchen fein emulgiert in Wasser neben
Monomer in kleinen Tensidmicellen vor. Der Initiator
. Abb. 22.61 Epoxidharzbeschichtete Industrieböden sind verschleißfest löst sich in Wasser und startet dort die Polymerisation
und einfärbbar (© aquariagirl1970/Shutterstock) der im Wasser in geringen Mengen molekular verteilten
Monomermoleküle. Mit der Zeit verlagert sich die
Polymerisation in die Tensidmicellen und schreitet
chemikalienstabile Fliesenkleber, Betonreparaturmörtel und zum dort so lange fort, bis kein Monomer mehr von den
Herstellen wasserdurchlässiger Einkornestriche (. Abb. 22.62) Monomertröpfchen in die Micellen nachtransportiert
eingesetzt. werden kann, da alles Monomer verbraucht ist.
2 K-Epoxidharzkleber dienen bei der Fertigung von Automo- 55Bei der Suspensionspolymerisation wird das Monomer
bilen, Fahrrädern und Flugzeugen zum Fügen von Einzelteilen. durch Rühren als Tröpfchen in Wasser dispergiert. Der
Darüber hinaus werden Epoxidharze zum Vergießen von elektro- Radikalstarter löst sich nicht in Wasser, sondern nur in
nischen Bauteilen wie Spulen und Transformatoren und als Kor- den Monomertröpfchen, sodass dort die Polymerisation
rosionsschutz im Schiffbau eingesetzt. Laminate aus Gewebe und erfolgt. Die entstehenden Polymerisatperlen lassen sich
Epoxidharzen (7 Abschn. 23.1.5), sog. Faserverbundwerkstoffe, einfach vom Polymerisationsmedium abtrennen.
geben im Modell- und Schiffbau sowie im Sport Struktur und Fes- 55Bei der Substanzpolymerisation erfolgt die radikalische
tigkeit bei geringem Gewicht (. Abb. 22.61). Polymerisation ohne Lösemittel im reinen Monomer,
also in Substanz. Die mit steigendem Umsatz stark
ansteigende Viskosität und der damit verbundene
22.3 Großtechnische Polymerisationsverfahren geringe Abtransport der Polymerisationswärme stellen
dabei das größte Problem dar.
Das Herstellverfahren beeinflusst die Eigenschaften von Poly-
meren. In der großtechnischen Produktion haben sich über die
Zeit einige wenige Polymerisationsverfahren herauskristalli- 22.3.1 Lösungspolymerisation – Monomer und
siert. Je nachdem, wie das Monomer im Reaktionsmedium vor- Polymer liegen gelöst vor
liegt, wird zwischen Lösungs-, Emulsions-, Suspensions- und
Substanzpolymerisation unterschieden. Zur schnellen Orien- Bei der Lösungspolymerisation sind sowohl Monomer als auch
tierung erfolgt vorab eine Kurzbeschreibung der einzelnen Radikalstarter und das entstehende Polymerisat im Lösemittel,
Verfahren: das als Reaktionsmedium und Wärmetransportmittel dient, gelöst.
Emulsionspolymerisation gute Durchmischung Verunreinigung des Polymers durch PVC, PTFE, PS, Polyacrylate,
schnelle Wärmeabfuhr Emulgator und Hilfsstoffe Copolymere, EVA
a b
22 . Abb. 22.66 Zerstäuberdüse eines industriellen Sprühtrockners (a) und Trocknungsprinzip (b) (a: © GEA, GEA Rotary Atomizer F800/1000)
597 23
Kunststoffe – Additive
verbessern Verarbeitungs- und
Gebrauchseigenschaften
23.1 Additive – aus Polymeren werden und den Abrieb von Kunststoffen. Calciumcarbonat erhöht nicht
gebrauchsfertige Kunststoffe nur den Weißgrad, sondern auch die Steifigkeit und Zähigkeit
von PVC-Profilen.
23.1.2.2 UV-Stabilisatoren
23.1.1 Füllstoffe – Zuschläge machen Kunststoffe Sonnenstrahlung und insbesondere deren UV-A- und UV-B-An-
günstiger teil (280–380 nm) kann chemische Bindungen spalten, wodurch
Radikalfragmente entstehen, die zur Versprödung und zur
Füllstoffe liegen feinst dispergiert im Kunststoff vor. Chemisch Intransparenz von Kunststoffen beitragen. Ein bekanntes Bei-
inaktive Füllstoffe, die auch als Extender oder Filler bezeichnet spiel für eine photokatalytische Alterung ist das 1972 fertigge-
werden, sind kostengünstiger als das Polymer selbst, sodass sie stellte, futuristische Zeltdach des Münchner Olympiastadions
aus wirtschaftlichen Gründen zugesetzt werden. Kreide ist bei- (. Abb. 23.2). Durch die intensive UV-Strahlung sind die Dach-
spielsweise ein beliebter inaktiver Füllstoff bei der Herstellung von platten aus Plexiglas® milchig geworden, sodaß sie in den 1990er
Kautschuk. Jahren ausgewechselt werden mussten.
Aktive Füllstoffe wie Calciumcarbonat in PVC oder Ruß in UV-Absorber fangen den energiereichen, kurzwelligen UV-
Kautschuk verbessern die mechanischen Eigenschaften oder ther- Anteil des Sonnenlichts ein und wandeln ihn in unschädliche,
mische Stabilität des Kunststoffs. So hat pyrogene Kieselsäure energiearme, langwellige Infrarot-(Wärme-)strahlung (>780 nm)
einen positiven Effekt auf den Schmelzfluss, die Bedruckbarkeit um. Hydroxybenzophenone sind geeignete UV-Absorber für
H
H Cl H Cl H Cl H H H H
H [> 100 °C/HCl, kat.] Cl
H H H H H H H
H H H H
Dunkelfärbung
H Cl H Cl H Cl H Cl
> 100 °C
– HCl
H H H H H H H H
H
R
H Cl H Cl H Cl H H S Cl H Cl H Cl
+ (CH3 COO)2Zn H + R-SH
– (CH3COO)Zn-Cl
– CH3COOH H H H H H H H H H H H H H H
23
thermisch stabil
. Abb. 23.1 Stabilisierung von PVC mit Zinkacetat und Thiolen gegen den thermischen Zerfall
23.1 · Additive – aus Polymeren werden gebrauchsfertige Kunststoffe
599 23
. Abb. 23.2 8300 Plexiglas®-Platten des Münchner Olympiazeltdaches sorgen für Leichtigkeit und Transparenz (© muenchenarchitektur-Jorge Royan)
transparente Kunststoffe wie Plexiglas® (. Abb. 23.2). Das kos- 23.1.3 Weichmacher – aus starrem Polymer wird
tengünstigere Bleistearat verhindert das Verspröden von Produk- weicher, flexibler Kunststoff
ten, bei denen die Optik eine untergeordnete Rolle spielt, z. B. bei
Elektrokabelummantelungen. Um PVC flexibel und geschmeidig zu machen, gelangen soge-
nannte Weichmacher zum Einsatz. Reines PVC (PVC-U, U für
unplastifiziert) ist hart und spröde und somit für die meisten
23.1.2.3 Antioxidantien Anwendungen ungeeignet. Mithilfe von Weichmachern wird
Insbesondere bei der thermoplastischen Verarbeitung, aber auch daraus flexibles, elastisches, aber immer noch formstabiles Weich-
mit fortschreitender Zeit, können Polymere vom Luftsauerstoff zu PVC (PVC-P, P für plastifiziert), das für Bodenbeläge, Kabelisolie-
Radikalen, Peroxiden, Carbonsäuren, Aldehyden oder Ketonen rungen, Planen, Tapeten, Handschuhe, Folien, Schläuche, Kunstle-
oxidiert werden. Besonders oxidationsanfällig sind dabei Wasser- der, Beutel etc. verwendet werden kann (. Abb. 23.3). Die Weich-
stoffatome in direkter Nachbarschaft zu Doppelbindungen, wie machermoleküle zwängen sich zwischen die Polymerketten des
sie insbesondere in Kautschuken vorkommen, was zu sprödem, PVC und wirken quasi als inneres Schmiermittel, sodass die Poly-
rissigen Gummi führt. Zur Erhöhung der Lebensdauer und der merketten leichter aneinander vorbeigleiten. Als Folge sinkt die
Verarbeitungseffizienz bei höheren Temperaturen werden deshalb Glasübergangstemperatur (7 Abschn. 21.2.5.1) des PVC von 81
Antioxidantien zugesetzt. auf −3 °C ab.
Antioxidantien bilden selbst leicht Radikale, sodass sie die Generell sind Weichmacher farblose, geruchlose Flüssigkeiten
durch Oxidation gebildeten Polymerradikale umgehend neutra- von geringer Flüchtigkeit, die sich im plastifizierten Polymer gut
lisieren und dadurch keine Weiteroxidation des Polymers statt- lösen müssen, damit der Weichmacher keine Veranlassung „sieht“,
findet. Ein kommerziell bedeutsames Antioxidans ist Butylhydro- in angrenzende Stoffe zu migrieren, um sich dort noch „wohler“
xytoluol (BHT). Neben Kautschuk müssen insbesondere Polyal- zu fühlen. Allerdings sind Weichmacher nur physikalisch im PVC
kene (PP, PE) und styrolbasierte Polymere (PS, ABS) mit Antioxi- gelöst, gehen also keine chemische Bindung mit den Polymerket-
dantien stabilisiert werden. Der Jahresbedarf an Antioxidantien ten ein, sodass Weichmacher mit der Zeit an die Kunststoffober-
beträgt weltweit in etwa 1,2 Mio. Tonnen. fläche migrieren und von dort in die Umwelt gelangen können.
600 Kapitel 23 · Kunststoffe – Additive verbessern Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften
O O
O O
O O
O
O
O O
O
O
O
23 O
O
O
. Abb. 23.4 Kommerziell eingesetzte Weichmacher (von links nach rechts): DBP, DEHP, DINP, DINCH®
23.1 · Additive – aus Polymeren werden gebrauchsfertige Kunststoffe
601 23
weil dadurch die Brennertemperatur ansteigt und weniger Erdöl
oder Erdgas zur Verbrennung des Restmülls zugeführt werden muss.
Während Polyethylen bei vollständiger Oxidation ledig-
lich Kohlendioxid und Wasser als Brandprodukte bildet, entste-
hen beim Brand von heteroatomhaltigen Polymeren gefährliche
Brandgase. So bildet brennendes PVC nicht nur ätzenden Chlor-
wasserstoff, der sich spontan mit Wasser zu Salzsäure verbindet,
sondern je nach Flammentemperatur auch hochgiftiges Dioxin.
Beim Erhitzen von Kunststoffen können außerdem brennbare
Gase entstehen, die sich entzünden können. Um ein Weiterbren-
nen des Kunststoffs zu verhindern, werden diesem sog. Flamm-
schutzmittel in Mengen bis zu 30 % zugesetzt. Da die Flammenver-
brennung radikalischer Natur ist, sind Radikalfänger wie halogen-
und/oder antimonhaltige Verbindungen sehr wirksame Flamm-
schutzmittel. Aluminiumhydroxid [Al(OH)3] wirkt nach einem . Abb. 23.5 Kohlefasern eingebettet in Epoxidharzmatrix verbessern die
mechanischen Eigenschaften des Epoxidharzes (© BASF SE, 2016)
ganz anderen Mechanismus: Es setzt durch endotherme Reaktion
bei 200 °C Wasser frei und wird selbst zu Aluminiumoxid (Al2O3).
Aluminiumhydroxid löscht quasi brennenden Kunststoff durch Kohlenstoffverstärkter Kunststoff (CFK), auch als Carbonwerk-
intrinsisch (lat. für inwendig) gebildetes Wasser. stoff oder nur Carbon bezeichnet, besteht aus Kohlefasern einge-
bettet in eine Epoxidharzmatrix (. Abb. 23.5).
Die Kunststoffmatrix für GFK und CFK besteht meist aus
23.1.5 Verbundwerkstoffe – Fasern verbessern Epoxid-, seltener aus Polyesterharz. Die Fasern werden lagenweise
die mechanischen Eigenschaften in Form von Geflecht, Lamellen, Matten, Gewebe oder Vlies in
das Epoxidharz eingebettet. Generell gilt, dass die Steifigkeit eines
Polymere und daraus compoundierte Kunststoffe sind in der Regel Faserverbundwerkstoffes in Faserrichtung höher ist als quer dazu.
homogene Stoffe. Verbundwerkstoffe oder Composite (engl. com- Deshalb werden die einzelnen Fasermatten meist lagenweise kreuz
posites) bestehen dagegen aus mindestens zwei unterschiedlichen und quer angeordnet (Multiaxialgelege), sodass gleiche Festigkeit in
Materialien, sind also heterogen aufgebaut. Ein bekanntes Beispiel allen Raumdimensionen gegeben ist. Entscheidend ist die Anhaftung
für einen Verbundwerkstoff ist Stahlbeton, der aus Bewehrungs- des Epoxidharzes an den Fasern, damit bei Zugbeanspruchung die
stahl, eingebettet in eine Betonmatrix, besteht. Die Arbeitsteilung Fasern nicht aus der Matrix herausgezogen werden (Faser-pull-out).
der Komponenten ist klar geregelt: Der Stahl nimmt Zug- und der . Tabelle 23.2 listet die physikalischen Kennzahlen von Verbund-
Beton Druckkräfte auf. werkstoffen und zum Vergleich einiger anderer Werkstoffe auf.
Mechanische Eigenschaften wie Druckfestigkeit, Formbe- Zur Fertigung von GFK- und CFK-Formteilen muss zuerst
ständigkeit und Zugfestigkeit von Kunststoffen können analog eine Positivform des gewünschten Formteils und anschließend
zum Stahlbeton durch Verblenden mit Glas- oder Kohlenstoff- davon eine Negativform, das sog. Werkzeug, gefertigt werden.
fasern erheblich verbessert werden. Im Fall von Glasfasern wird Das Werkzeug wird in der Innenseite mit Trennwachs versehen,
der entsprechende Verbundwerkstoff als glasfaserverstärkter mit Epoxidharz bestrichen und mit epoxidharz-getränkten Faser-
Kunststoff (GFK) umgangssprachlich als Fiberglas bezeichnet. matten ausgekleidet. Das Ganze wird solange wiederholt, bis die
. Tab. 23.2 Physikalische Kennzahlen von Verbundwerkstoffen und zum Vergleich von Referenzwerkstoffen. Daten aus: www.swiss-composite.ch/
pdf/inWerkstoffdaten.pdf
. Abb. 23.6 Leichte und verwindungssteife Fahrgastzelle eines Elektroautos (© BMW AG)
gewünschte Formteildicke erreicht ist. Nach der Erhärtung des 23.2.1 Extrudieren – Fertigung von Granulat
Epoxidharzes wird das Formteil aus dem Werkzeug geschält und und Endlosprofilen
in einem Autoklaven zweieinhalb Stunden bei 250 °C und 8 bar
nachgehärtet. Extrudieren oder Extrusion (lat. für hinaustreiben) ist das wich-
Kohlefaserverstärkte Formteile werden wegen ihrer hohen tigste Formgebungsverfahren für Thermoplaste und eignet sich
Verwindungssteifigkeit bei gleichzeitig geringem Gewicht im Fahr- insbesondere zur Herstellung endloser Formen geringer Kom-
zeugbau eingesetzt. So müssen die schalenartigen Pilotenzellen, plexität wie Rohre und Profile.
im Fachjargon Monocoques genannt, von Formel-1-Boliden aus Üblicherweise wird das Extrudierverfahren in fünf Zonen
Sicherheitsgründen aus CFK gefertigt werden (. Abb. 23.6). Selbst unterteilt. In der Einzugszone rieselt das Kunststoffpulver (gelb,
Frontalzusammenstöße von über 200 km/h überstehen Monoco- . Abb. 23.7) oder -granulat aus PE, PP, PVC, PS … über den Füll-
ques unzerstört. Da der Aufwand erheblich ist, bleibt die CFK- trichter zur Extruderschnecke, die mit etwa 120 Umdrehungen
Technologie nur dem Rennsport und Sportwagen der Luxusklasse pro Minute rotiert. Die Schnecke fördert das Pulver in Richtung
sowie Elektroautos (. Abb. 23.6) vorbehalten. Weitere Einsatzge- Schmelzzone, wo der Thermoplast durch elektrische Zylinderhei-
biete für CFK-Verbundwerkstoffe sind z. B. Rotorblätter von Wind- zelemente aufgeschmolzen und homogenisiert wird. Da bei hohem
kraftanlagen und der Rumpf des sog. Dreamliners, der Boeing 787. Durchsatz sehr viel Reibungswärme entsteht, kann die elektrische
Heizung meist nach einer gewissen Zeit ausgeschaltet werden.
Anschließend wird in der Kompressionszone die Kunststoff-
23.2 Kunststoffverarbeitung – aus Granulat schmelze kompaktiert, sodass ein homogenes Fließverhalten
und Pulver werden Kunststoffformteile
. Abb. 23.8 Moderner Einschneckenextruder (© esde Maschinentechnik Der Kunststoff wird im Extruder aufgeschmolzen, entgast und
GmbH/Foto: Ralf Gieselmann)
per Schnecke zum Werkzeug am Extruderende transportiert. Dort
wird zur Formgebung die Kunststoffschmelze mit bis zu 2000 bar
Druck durch eine Düse in den Hohlraum eines Werkzeuges (z. B.
erzielt wird. In der Vakuumzone werden gelöstes Restmonomer, Schalenform für Mobiltelefone) gespritzt. Nachdem die Schmelze
Wasserdampf und Zersetzungsgase über einen Zylinderkanal aus abgekühlt und zur gewünschten Form erstarrt ist, öffnet sich das
der Polymerschmelze abgesaugt. Schließlich wird in der Auspress- Werkzeug und katapultiert das fertige Formteil aus. Die in einem
zone die Kunststoffschmelze zu Endlosprofilen geformt. Abhän- einzigen Arbeitsschritt gefertigten Formteile sind danach meist
gig vom Werkzeug werden Türrahmenprofile, Rohre, Stäbe etc. gebrauchsfertig.
erhalten. Über den Erfolg des Spritzgussverfahrens entscheidet das
Unter Berücksichtigung, dass der Materialstrang nach Ver- formgebende Werkzeug, das aus Spritzgießwerkzeug und
lassen der Düse zum einen aufgrund des Druckabfalls anschwillt Schließeinheit besteht. Die Schließkraft des Werkzeugs ist ein
(Strangaufweitung) und zum anderen nach dem Abkühlen wichtiges Qualitätskriterium einer Spritzgießmaschine. Hohe
schwindet, können die Dimensionen der Profile bis auf wenige Schließkräfte verhindern, dass der Spritzdruck die beiden
Hundertstel Millimeter genau eingehalten werden. Da die Ferti- Hälften des Spritzgießwerkzeugs auseinanderdrückt, mit ein-
gung des Werkzeugs aus einem Metallblock sehr aufwändig ist, hergehender Gratbildung oder Maßabweichungen durch Ver-
müssen große Mengen des gleichen Profils produziert werden, winden des Formteils. Ein weiteres Spezifikationskriterium ist
damit das Verfahren kommerziell erfolgreich ist. das Hubvolumen des Extruders, d. h. die Kunststoffmenge, die
Zur Herstellung von Granulat wird die Kunststoffschmelze der Extruder bei einem Druck von 1000 bar ausspritzt. Eine
durch Lochplatten gepresst. Die entstehenden Stränge von Spritzgießmaschine mit der Spezifikation 300–2500 verriegelt
wenigen Millimetern Durchmesser werden in einem Wasserbad mit einer Kraft von 300 kN (30 Tonnen) das Spritzwerkzeug und
abgeschreckt und anschließend mit rotierenden Messern zu Gra- weist ein Hubvolumen von 2500 cm³ bei 1000 bar Druck auf
nulat zerkleinert. Pro Stunde werden so bis zu 50 Tonnen Granu- (. Abb. 23.10).
lat produziert. Das Spritzwerkzeug, das aus einem Metallblock mit compu-
Typische Extrusionsprodukte sind Fensterrahmen- und Tür- tergesteuerten Werkzeugmaschinen gefräst wird, muss komplett
rahmenprofile, Schläuche, Vollstäbe oder Rohre etc. Mit dem ausspritzbar sein und darf keine toten Winkel aufweisen. Die Her-
Extrusionsverfahren lassen sich aber auch Kunststofffasern mit stellung der oft komplexen Formwerkzeuge ist sehr kosteninten-
wenigen Mikrometern Durchmesser und Kunststoffpipelines von siv, sodass das Spritzgussverfahren nur bei hohen Stückzahlen
fast zwei Metern Durchmesser und ein Kilometer Länge produ- wirtschaftlich ist. Das Verfahren ist technisch anspruchsvoll. So
zieren. Damit ein solch großes Rohr nach dem Verlassen der Aus- sind beispielsweise Handyschalen sehr dünnwandig und weisen
spritzdüse nicht kollabiert, wird es direkt in ein Gewässer extru- dadurch ein ungünstiges Verhältnis von Fließweg zu Formteildi-
diert, wo es sofort aushärtet und an Festigkeit gewinnt. cke auf. Innerhalb einer Sekunde muss deshalb ein solches Werk-
zeug komplett ausgespritzt werden, damit kein vorzeitiges Erstar-
ren erfolgt.
23.2.2 Spritzgießen – Fertigung offener Generell können mit dem Spritzgussverfahren Formteile von
Formteile von hoher Komplexität wenigen Gramm (. Abb. 23.11) bis 50 Kilogramm und mehr her-
gestellt werden. Die Produktion erfolgt in kurzen Taktzeiten,
Das Spritzgießen oder Spritzgussverfahren ist das Verfahren der sodass große Stückzahlen pro Zeiteinheit gefertigt werden können.
Wahl, um aus Thermoplasten kleine und komplexe offene Form- Beispiele für Spritzgussteile sind Zahnräder, Gießkannen, Gum-
teile in einem einzigen Arbeitsschritt gebrauchsfertig herzustel- misohlen, Knöpfe, Legosteine, Instrumententafeln, Telefonchas-
len (. Abb. 23.9). sis oder Bodenabläufe.
604 Kapitel 23 · Kunststoffe – Additive verbessern Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften
. Abb. 23.10 Moderne Spritzgießmaschine (© Sumitomo (SHI) Demag Plastics Machinery GmbH, Schwaig bei Nürnberg, 2016)
. Abb. 23.11 Medizinclip, hergestellt im Spritzgussverfahren (© Martin . Abb. 23.12 Prinzip des Blasformens (Extrusionsblasen) (© Obplastics –
Ganz/Wittmann Battenfeld GmbH) Inside the mold, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Inside_the_mold.
jpg)
23.2.3 Blasformen – Fertigung dreidimensionaler Typische Hohlraumkörper, die nach dem Blasformverfahren
Hohlkörper produziert werden, sind Fässer, Kanister, Container, Flaschen,
Koffer, Tanks, Spoiler etc. Für das Blasformverfahren geeignet
Die Herstellung von Kunststoffhohlkörpern erfolgt bevorzugt sind Thermoplaste wie Polyethylen, Polypropylen, Polyethylen-
nach dem Blasformverfahren, auch als Extrusionsblasen bezeich- terephthalat oder Polyamid.
net. Das Verfahren verläuft analog dem Spritzgussverfahren, d.
h. der Thermoplast wird in einem Extruder aufgeschmolzen und
durch die Extruderschnecke einem zweiteiligen Blasformwerk-
zeug zugeführt.
An der Extruderdüse befindet sich eine Schlauchkopfvor-
richtung, sodass im ersten Schritt ein Schmelzeschlauch (Vor-
formling) gebildet wird (. Abb. 23.12, blau, links). Anschließend
wird das zweiteilige Blasformwerkzeug (. Abb. 23.13) geschlos-
sen und der heiße, noch verformbare Vorformling über einen
Blasdorn mit Druckluft aufgeblasen, sodass sich der Kunststoff-
schlauch an die kalten Wände des Werkzeugs anschmiegt und
dort erstarrt (. Abb. 23.12, blau, rechts). Im letzten Schritt wird
das Blasformwerkzeug geöffnet und der Kunststoffhohlraum-
körper hinauskatapultiert.
Die Wanddicke des Hohlraumkörpers lässt sich bequem über
die eingespritzte Kunststoffmenge steuern. Abhängig von der
23 Form des Blasformwerkzeuges lassen sich nicht nur rotationssym-
metrische Flaschen, sondern auch unsymmetrisch gekrümmte . Abb. 23.13 Geöffnetes Blasformwerkzeug zum gleichzeitigen Blasformen
Hohlraumkörper wie Kraftstofftanks herstellen. zweier Getränkeflaschen (© Topworks Plastic Mould – Steven Cheng)
23.2 · Kunststoffverarbeitung – aus Granulat und Pulver werden Kunststoffformteile
605 23
23.2.4 Kalandrieren – Fertigung von
Kunststofffolien nach dem
Walzenverfahren
. Abb. 23.15 Kalander fertigen Folien mit unübertroffener Dickenpräzision bei hohem Ausstoß (© Foto SML)
606 Kapitel 23 · Kunststoffe – Additive verbessern Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften
23.2.6.1 Schäumen durch Expandieren (EPS) EPS wird bevorzugt als Wärmedämmstoff im Bausektor, als Ver-
Das Schäumen von amorphem Polystyrol zu expandiertem Poly- packungsmaterial für empfindliche Transportgüter und zur Her-
styrol (EPS) erfolgt in drei Schritten: stellung von Lebensmittelbehältern verwendet (. Abb. 23.17).
44Im ersten Schritt, dem Vorschäumen, werden die nach dem
Suspensionspolymerisationsverfahren (7 Abschn. 22.3.3)
hergestellten, pentanhaltigen Polystyrolperlen von 1 mm 23.2.6.2 Schäumen durch Extrudieren (XPS)
23 Durchmesser mit 120 °C heißem Wasserdampf erhitzt. Amorphes Polystyrol wird im Extruder kompaktiert, aufge-
Dadurch wird zum einen die Glasübergangstemperatur von schmolzen, homogenisiert und mit Treibgas (Pentan, Kohlendi-
92 °C überschritten, sodass das Polystyrol erweicht, zum oxid) versetzt. Nach dem Austritt aus einer Breitschlitzdüse in
anderen das Pentan (6 % bezogen auf die Polystyrolmenge) der gewünschten Plattenbreite schäumt die Polystyrolschmelze
23.3 · Polymere – Übersicht wichtiger physikalischer Kennzahlen
607 23
. Abb. 23.17 Kaffeebecher aus expandiertem Polystyrol (EPS) und der . Abb. 23.18 Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines thermoplastischen
Kaffee bleibt lange warm (© Africa Studio/Fotolia) Kunststoffs
. Tab. 23.3 Zusammenstellung wichtiger physikalischer Kennzahlen von gängigen Kunststofftypen (Quelle: www.kern.de/de/richtwerttabelle)
Parameter Norm Einheit PE-LD PE-HD PP PVC)1 PS)² PMMA PTFE PET PA 6.6)³ PUR)4
)1 ohne Weichmacher, )2 ungeschäumt, )3 trocken, )4 kompakt, )5 TT = teilkristalliner Thermoplast, AT = amorpher Thermoplast, D = Duroplast.
Übung 6 Übung 17
Was wird unter Copolymeren und Terpolymeren verstanden? Erklären Sie, wie ein einkomponentiges Polyurethan
Beschreiben Sie unterschiedliche Arten von Copolymeren. aushärtet. Wie kann man verhindern, dass resultierendes
Was meinen die Termini lineares, verzweigtes und vernetztes Kohlendioxid Blasen im Polyurethan erzeugt?
Polymer?
Übung 18
Übung 7 Beschreiben Sie den Ablauf einer Emulsions-
Je nach thermischen Verhalten wird zwischen polymerisation! Was ist der Unterschied zum
Thermoplasten und Duroplasten unterschieden. Wie Suspensionspolymerisationsverfahren?
unterscheiden sich diese auf molekularer Ebene?
Übung 19
Übung 8 Was sind die Vor- und Nachteile des
Was ist die Glasübergangstemperatur? Wie verhalten Substanzpolymerisationsverfahrens?
sich rein amorphe und teilkristalline Kunststoffe beim
Erwärmen? Was passiert jeweils bei der Glasübergangs- Übung 20
temperatur bzw. am Schmelzpunkt? Erklären Sie die prinzipielle Wirkungsweise eines
Sprühtrockners. Wovon hängt die Partikelgröße des
Übung 9 Polymerisationspulvers ab?
Was versteht man unter einer radikalischen Polymerisation?
Woher kommt der Name und was sind ihre elementaren Übung 21
Einzelschritte? Was ist der Unterschied zwischen Polymer und Kunststoff?
Was versteht man unter Compoundieren? Nennen Sie
Übung 10 wichtige Additive für die Kunststoffindustrie.
Erklären Sie das Prinzip der Polykondensation anhand der
Monomere Terephthalsäure und Butan-1,4-diol. Warum ist Übung 22
es so wichtig, dass bei einer Polykondensation die einzelnen Wie wirken Weichmacher? Welche chemische
Monomere im exakt stöchiometrischen Verhältnis eingesetzt Verbindungsklasse wird bevorzugt zum Weichmachen von
werden? PVC verwendet? Warum sind Phthalate in den letzten Jahren
in Verruf gekommen?
Übung 11
Was ist PE-HD, PE-LD und PE-LLD? Beschreiben Sie die Übung 23
Herstellverfahren und die molekularen Strukturen! Woraus bestehen die Verbundwerkstoffe GFK und CFK?
Erklären Sie die Herstellung von Formteilen aus diesen
Übung 12 Verbundwerkstoffen.
Erklären Sie den Begriff Taktizität. Was ist Grundvor-
aussetzung, dass das Phänomen Taktizität auftritt? Übung 24
Erklären Sie den Aufbau und die Funktionsweise eines
Übung 13 Extruders. Warum ist die Schließkraft einer Spritzguss-
Was ist der Unterschied zwischen amorphem und maschine von entscheidender Bedeutung?
geschäumtem Polystyrol? Wie wird geschäumtes Polystyrol
hergestellt? Welche Dichte hat geschäumtes Polystyrol? Übung 25
Erklären Sie, warum ein Liter Styrol einen Auftrieb von Was ist ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm? Welche
fast einem Kilogramm erzeugt? Was ist der Unterschied grundlegenden physikalischen Parameter lassen sich daraus
zwischen XPS und EPS? ablesen?
Übung 14
Welche besonderen Eigenschaften weist Polytetra-
fluorethylen auf?
Übung 15
Silane, Silanole, Siloxane, Silicone – führen Sie hierzu eine
Internetrecherche durch.
611
Serviceteil
Anhang – 612
Stichwortverzeichnis – 623
Anhang
A.1 Bohrsches Atommodell für
Sowohl die Zentrifugalkraft Fz,e,n als auch die elektrostatische
Fortgeschrittene – Wasserstoff und sein
Coulomb-Anziehung Fel,n lassen sich durch Gesetzmäßigkeiten
Spektrum
der klassischen Physik berechnen.
(1, 602 ⋅10−19 A ⋅ s) 2 1 Substituiert man re,n durch Gleichung (VIII), so erhält man für die
ve,1 = ⋅
A⋅s
2 ⋅ 8, 854 ⋅10 − 12 ⋅ 6, 626 ⋅10− 34 J⋅s 1 (XI) potenzielle Energie des Elektrons auf der n-ten Bahn:
V⋅m
m me ⋅ e4 1
= 2,187 ⋅106
s Epot,e, n = − ⋅ (XIV)
4 ⋅ ε02 ⋅ h 2 n 2
A.1.3 Wasserstoffspektrum – Wellenlänge, Die potenzielle Energie des Elektrons nimmt mit steigender Scha-
Frequenz, Energie lenzahl zu, da n im Nenner steht und somit weniger Energie frei-
gesetzt wird, relativ zum unendlichen Abstand (n = ∞).
Gemäß dem 2. Bohrschen Postulat (Frequenzbedingung, Die Gesamtenergie eines Elektrons Eges,e,n setzt sich aus dessen
7 Abschn. 2.4) können Elektronen keine Zustände zwischen den kinetischer Energie (Gleichung XII) und potenzieller Energie (Glei-
erlaubten Elektronenkreisbahnen einnehmen. Das bedeutet: Wird chung XIV) zusammen und errechnet sich zu:
ein Elektron energetisch angeregt, dann springt es vom Grund-
zustand (n = 1) z. B. in die Bahn n = 2. So ein Quantensprung me ⋅ e4 1
Eges,e, n = − ⋅ (XV)
erfolgt aber nur, wenn das Elektron genau mit der Energiedifferenz 8 ⋅ ε02 ⋅ h 2 n 2
∆E1→ 2 angeregt wird. Davon abweichende Energiebeträge führen
nicht zum Quantensprung (7 Abb. 2.5). Um den Energiebetrag Bei einem Quantensprung des Elektrons von der Schale n1 auf
∆E1→ 2 für ein Wasserstoffatom berechnen zu können, müssen wir die Schale n2 muss somit folgende Energiedifferenz aufgebracht
den Energieinhalt des Elektrons auf Bahn 1 und Bahn 2 kennen. werden:
Generell setzt sich die Gesamtenergie des Elektrons aus seiner
Bewegungsenergie (kinetische Energie, Ekin,e,n) und aus seiner ∆E1→ 2 = Eges,e, 2 − Eges,e,1 (XVI)
Lageenergie (potenzielle Energie, Epot,e,n) zusammen.
Die kinetische Energie errechnet sich nach den Gesetzen der
me ⋅ e4 1 1
klassischen Physik: ∆E1→ 2 = ⋅ 2 − 2 = h ⋅ u1→ 2
8 ⋅ ε0 ⋅ h n1 n 2
2 2 (XVII)
me ⋅ ve2, n (X) me ⋅ e 4 1
Ekin,e, n = ⇒ ⋅ (XII)
2 8 ⋅ ε02 ⋅ h 2 n 2 Da diese Energie als Strahlungsquant absorbiert wird, kann mit-
hilfe der Planckschen Gleichung (∆E = h ⋅ v) die Frequenz der für
Ein Elektron (negative Ladung), das sich aus unendlicher Entfer- den Quantensprung notwendigen Strahlung errechnet werden.
nung dem Proton (positive Ladung) des Wasserstoffatoms nähert,
verliert an potenzieller Energie relativ zum Wasserstoffkern, da der me ⋅ e4 1 1 c
υ1→ 2 = ⋅ 2 − 2 = (XVIII)
Abstand zum Proton geringer wird. Je mehr sich das Elektron dem 8 ⋅ ε0 ⋅ h n1 n 2 λ1→ 2
2 3
. Tab. A.1 Bahnradius, Geschwindigkeit und Energie des Elektrons auf der n-ten Bahn
Frequenz und Wellenlänge einer Strahlung sind über die sind, drückt der Kernphysiker Energien in Elektronvolt (eV) aus.
Lichtgeschwindigkeit c gekoppelt, sodass problemlos die Wellen- Ein Elektronvolt ist die Energiemenge (ΔE), die ein Elektron auf-
länge der Strahlung angegeben werden kann, die benötigt wird, nimmt, wenn es eine Spannungsdifferenz (ΔU) von einem Volt
um das Elektron des Wasserstoffatoms von Grundzustand (n=1) durchläuft. Setzt man in Gleichung (XX) die Elementarladung des
in die 2. Schale zu hieven (Quantensprung). Elektrons von 1,602 · 10−19 A·s und 1 Volt für die Beschleuni-
gungsspannung ΔU ein, so errechnet sich für die Energiemenge
8 ⋅ ε02 ⋅ h3 ⋅ c 1 eV ein Energieäquivalent von 1,602 · 10 −19 J. Per Dreisatz
λ n1→ n2 = (XIX)
1 1 können damit Energien von der Maßeinheit Joule (J) in die Maß-
me ⋅ e ⋅ 2 − 2
4
n1 n
2 einheit Elektronvolt (eV) umgerechnet werden und vice versa.
me ⋅ e4
R= = 1, 097 ⋅ 107 1/m (XXII)
Bahnradius, Geschwindigkeit und Energie des Elektrons auf 8 ⋅ ε02 ⋅ h3 ⋅ c
verschiedenen Elektronenbahnen wurden berechnet und in
7 Tab. A.1 zusammengefasst. Der Radius für den Grundzustand und für die Wellenlänge der Spektrallinien des Wasserstoffatoms:
(n = 1) des Wasserstoffatoms wird in der Literatur auch Bohr-
scher Radius genannt und mit a0 abgekürzt. Die Gesamtenergie 1
λ1→ 2 = (XXIII)
des Elektrons im Ruhezustand (n = 1) beträgt nach Gleichung 1 1
R ⋅ 2 − 2
(XV)−21,80 · 10−19 J. Da solch kleine Energiemengen unhandlich n n
1 2
615
Anhang
. Tab. A.2 Wellenlänge, Frequenz und Energie von Elektronenübergängen des Wasserstoffatoms (n2 > n1)
n2 = 2 n2 = 3 n2 = 4 n2 = 5 n2 = 6 n2 = ∞ Schale Serie
16,35 · 10–19 J 19,38 · 10–19 J 20,44 · 10–19 J 20,93 · 10–19 J 21,19 · 10–19 21,80 · 10–19 J
10,20 eV 12,09 eV 12,75 eV 13,06 eV 13,22 eV 13,60 eV
656,5 nm 486,3 nm 434,2 nm 410,3 nm 364,7 nm n1 = 2 Balmer
4,57 · 1014 Hz 6,17 · 1014 Hz 6,90 · 1014 Hz 7,30 · 1014 Hz 8,22 · 1014 Hz (sichtbar)
3,03 · 10–19 J 4,09 · 10–19 J 4,58 · 10–19 J 4,84 · 10–19 J 5,45 · 10–19 J
1,89 eV 2,55 eV 2,86 eV 3,02 eV 3,40 eV
1876 nm 1282 nm 1094 nm 820,6 nm n1 = 3 Paschen
1,60 · 1014 Hz 2,34 · 1014 Hz 2,74 · 1014 Hz 3,65 · 1014 Hz (IR)
Der große Erfolg des Bohrschen Atommodells bestand darin, dass Mit n1 = 2 vereinfacht sich der Vergleich zu
mit wenigen einfachen Annahmen die Emissions- und Absorp-
tionsspektren des Wasserstoffs und der empirisch gefundene
(Bohr)
1 (XXVI)
Zusammenhang von Balmer für die Wellenlänge der emittierten , nm =
(Balmer) 9114
R
Spektrallinien theoretisch erklärt werden konnten.
Vergleichen wir dazu die Balmer-Formel (7 Abschn. 2.4) und Der Kehrwert 1/R der Rydberg-Konstante (XXIII) beträgt
die mit den Bohrschen Annahmen hergeleitete Gleichung (XXIII) 91,16 · 10−9 m = 91,16 nm, was im Rahmen der Rundungsgenau-
für den Fall des Balmer Emissionsspektrums. Zur Erinnerung, igkeit mit dem Balmer-Faktor von 91,14 nm übereinstimmt. Somit
die Balmer-Emissionslinien ergeben sich aus dem Übergang des liefern der empirische Ansatz Balmers und die quantenphysikali-
Elektrons aus energetisch höher liegenden Bahnen (n2 = 3, 4, 5, 6) sche Betrachtung (diskrete Elektronenbahnen) Bohrs das gleiche
in die energetisch tiefer liegende zweite Elektronenbahn (n1 = 2). Ergebnis – ein überragender Erfolg des Bohrschen Atommodells
, nm
9114 1
(Balmer) = (Bohr) (XXV) A.2 Parameter organischer Verbindungen –
1 1 1 1
−
R ⋅ 2 − 2
22 n 22 Bindungslängen und Bindungsenergien
n1 n 2
(7 Tab. A.3, 7 Tab. A.4)
. Tab. A.3 Fortsetzung
A.3 Radikalische Polymerisation – Kinetik und Mit der Geschwindigkeitskonstante kw für das Polymerwachs-
kinetische Kettenlänge tum ergibt sich als Geschwindigkeitsgesetz für den Monomerver-
brauch gleichbedeutend für das Kettenwachstum:
d[R⋅] d[P⋅]
vi = = 2 ⋅ f ⋅ ki ⋅ [I] (I) va = − = ka ⋅ [P⋅]2 (III)
dt dt
vi: Geschwindigkeit der Bildung des Starterradikals, mol/l va: Geschwindigkeit des Rekombinationsabbruchs, mol/l
f: Radikalausbeutefaktor
Die Empirie zeigt, dass radikalische Polymerisationen anfänglich
Der Radikalausbeutefaktor f berücksichtigt, dass nicht alle Radi- beschleunigt mit einhergehendem Temperaturanstieg ablaufen und
kalmoleküle tatsächlich für die Polymerisation genutzt werden anschließend einen stationären Zustand – erkennbar an der gleich-
können, da ein Teil der Radikalmoleküle wieder zu Initiatormo- bleibenden Temperatur des Polymerisationsansatzes – erreichen.
lekülen rekombiniert. Im Gleichgewichtszustand werden genauso viele Starterra-
dikale R· durch Initiatorzerfall neu gebildet wie Polymerradikale
P· durch Kettenabbruch verschwinden. Ansonsten würde entwe-
A.3.2 Startreaktion der die Polymerisation immer schneller werden oder zum Erlie-
gen kommen.
R ⋅ + M → R −M⋅ ≡ P⋅ Somit gilt für den stationären Zustand:
. Abb. A.1 Kurvenverlauf für die alkalimetrische Titration von Salzsäure (a) und Essigsäure (b). ÄP: Äquivalenzpunkt, NP: Neutralpunkt
sich aus dem Ausgangsgehalt an Salzsäure (c0(HCl) · V0(HCl)) Verlauf der Titrationskurve nach
A.5.1.3
minus der Stoffmenge, die bereits von Natronlauge (c0(NaOH) · Überschreiten des Äquivalenzpunkts,
V(NaOH)) neutralisiert wurde. Das Lösungsvolumen setzt sich V(NaOH) > 20 ml
aus dem Ausgangsvolumen Salzsäure (V0(HCl)) und dem zuge- Rechts vom Äquivalenzpunkt wird der pH-Wert der Lösung von
gebenen Volumen Natronlauge (V(NaOH)) zusammen. Somit überschüssiger Natronlauge bestimmt. Der Gehalt an Laugen-
ergibt sich als Hydroniumionenkonzentration [H3O+] in mmol/ überschuss in mmol errechnet sich aus der zudosierten Stoffmenge
ml bzw. mol/l: Natronlauge (c0(NaOH) · V(NaOH)) minus der anfänglich vorlie-
genden Stoffmenge Salzsäure (c0(HCl) · V0(HCl)). Dieser Laugen-
pH = − log[H3O+]
überschuss ist gelöst im Ausgangsvolumen Salzsäure (V0(HCl))
c (HCl) ⋅ V (HCl) − c (NaOH) ⋅ V (NaOH) plus des zudosierten Volumens Natronlauge (V(NaOH)). Somit
= − log 0 0 0
V (HCl) + V ( NaOH) ergibt sich als Hydroxidionenkonzentration [OH−] in mmol/ml
0
bzw. mol/l:
[H3O+]: Hydroniumionenkonzentration, mol/l, mmol/ml c0(NaOH) ⋅ V (NaOH) − c0(HCl) ⋅ V0(HCl)
c0(HCl): Ausgangskonzentration Salzsäure, mmol/ml [OH−] =
V0 (HCl) + V (NaOH)
c0(NaOH): Ausgangskonzentration Natronlauge, mmol/ml
V0(HCl): Ausgangsvolumen Salzsäure, ml [OH−]: Hydroxidionenkonzentration, mol/l, mmol/ml
V(NaOH): Volumen zugegebener Natronlauge, ml
Unter Berücksichtigung der pOH-Wert-Definition (pOH =
−log(OH−)) errechnet sich der pH-Wert rechts vom Äquivalenz-
pH-Wert am Äquivalenzpunkt,
A.5.1.2 punkt zu:
V(NaOH) = 20 ml
pH = 14 − pOH
Bei der Titration einer starken Säure mit einer starken Base fallen
Äquivalenzpunkt der Neutralisationsreaktion und der Neutral- c (NaOH) ⋅ V (NaOH) − c (HCl) ⋅ V (HCl)
= 14 + log 0 0 0
punkt von Wasser zusammen. Sämtliche Hydroniumionen der V0(HCl) + V (NaOH)
Säure wurden durch Hydroxidionen der Lauge neutralisiert,
sodass der Einfluss der Autoprotolyse (Eigenzerfall) des Wassers Der Titrationskurvenverlauf (7 Abb. A.1a) zeigt, dass die drei Indi-
auf den pH-Wert zum Tragen kommt. Der pH-Wert direkt am katoren Phenolphthalein, Bromthymolblau und Methylorange
Äquivalenzpunkt errechnet sich aus dem Ionenprodukt des allesamt zur Bestimmung des Äquivalenzpunktes (pH = 7) einer
Wassers (Kw = 10−14 mol2/l2). starken Säure mit einer starken Base verwendet werden können, da
ihr Umschlagsbereich im steilen Verlauf der Titrationskurve liegt,
pH = −log K W = −log 10−14mol2 / l2 sodass bereits bei geringster Menge an zusätzlicher Natronlauge
= −log(10−7mol / l) = 7 ein Farbwechsel erfolgt und somit die zur kompletten Neutrali-
sation benötigte Menge Natronlauge, d. h. der Äquivalenzpunkt,
KW: Ionenprodukt des Wassers bei Normalbedingungen, mol²/l² exakt bestimmt werden kann.
620 Anhang
A.5.2 Titration einer schwachen Säure mit einer abreagiert haben. Der resultierende pH-Wert wird als Äquiva-
starken Base lenzpunkt bezeichnet, der bei der Neutralisation von Essigsäure
(schwache Säure) mit NaOH (starke Lauge) bei 8,7 liegt. Im vor-
liegenden Fall entspricht der Äquivalenzpunkt dem pH-Wert
In einem Erlenmeyerkolben befinden sich 20 ml (V0(Esre)) 0,1 einer Lösung von 0,05 mol Natriumacetat pro Liter Lösung. Für
molare Essigsäure (CH3COOH, c0(Esre)). Diese werden durch den Äquivalenzpunkt gilt, dass die Acetationen als schwache Base
Zugabe von 0,1 molarer (c0(NaOH)) Natronlauge (V(NaOH)) wirken. Nach dem Massenwirkungsgesetz für schwache Basen
neutralisiert. ergibt sich:
Neutralisationsgleichung: CH 3 COOH + NaOH →
mit pH + pOH =14 folgt
CH3COONa + H2O pOH = 0, 5 ⋅ (pK B − log (c (Acetat)))
→
In den nachfolgenden Ausführungen wird der Verlauf der Tit- mit pK =14−pK folgt
rationskurve, d. h. des pH-Werts der Lösung im Erlenmeyerkol- pH =14 − 0, 5 ⋅ (pK B − log [c (Acetat)])
B Esre
→
ben, in Abhängigkeit von der zugegebenen Natronlaugemenge pH = 14 − 0, 5 ⋅(14 − pK Esre − log( c (Acetat)))
berechnet.
Die Acetatkonzentration errechnet sich aus der komplett neut-
ralisierten Stoffmenge Essigsäure am Äquivalenzpunkt (c0(Esre)·
pH-Wert vor Beginn der Neutralisation,
A.5.2.1 V0(Esre)) dividiert durch das am Äquivalenzpunkt vorhandene
V(NaOH) = 0 ml Flüssigkeitsvolumen, d. h. der Summe des ursprünglich vorhan-
Die Bestimmung des pH-Werts einer schwachen Säure wurde in denen Essigsäurevolumens (V0(HCl)) plus dem Volumen Natron-
7 Abschn. 10.4.4 aus dem Massenwirkungsgesetz abgeleitet. Neben lauge (V(NaOH)), das zu dessen Neutralisation benötigt wurde
der Konzentration der Säure hat die Säurekonstante KS, d. h. das (hier: V(NaOH) = 20,00 ml).
Vermögen einer schwachen Säure, Protonen an Wasser abzugeben, c (Esre) ⋅ V (Esre)
einen entscheidenden Anteil am pH-Wert der Lösung. pH = 14 − 0, 5 ⋅ 14 − pK Esre − log 0 0
V0 (Esre) + V (NaOH)
pH = 0, 5 ⋅ (pK Esre − log c0 (Esre) ) 0,1⋅ 20
= 14 − 0, 514 − 4, 75 − log = 8, 72
20 + 20
pKEsre: Säureexponent Essigsäure
c0(Esre): Ausgangskonzentration Essigsäure, mmol/ml
Verlauf der Titrationskurve nach
A.5.2.4
Überschreiten des Äquivalenzpunkts,
Verlauf der Titrationskurve vor Erreichen
A.5.2.2 V(NaOH) > 20 ml
des Äquivalenzpunktes, V(NaOH) < 20 ml Nach Überschreiten des Äquivalenzpunkts wird der pH-Wert der
Bei der teilweisen Neutralisation von Essigsäure mit Natronlauge Lösung von überschüssiger Natronlauge bestimmt. Der Gehalt an
entsteht eine Pufferlösung aus Acetat und Essigsäure. Die Acetat- Laugenüberschuss errechnet sich aus der zugegebenen Stoffmenge
menge (Zähler) entspricht der zugegebenen Stoffmenge an Natron- Natronlauge (c0(NaOH) · V(NaOH)) weniger der Stoffmenge, die
lauge (c0(NaOH) · V(NaOH)), während die Stoffmenge undissozi- von Essigsäure neutralisiert wurde (c0(Esre) · V0(Esre)). Dieser
ierter Essigsäure (c(Esre)), der anfänglich vorhandenen Stoffmenge Laugenüberschuss ist gelöst im Ausgangsvolumen Essigsäure
Essigsäure (c0(Esre) · V0(Esre)) minus der bereits durch Natron- (V0(Esre)) vermehrt um das zugegebene Volumen Natronlauge
lauge neutralisierten Menge an Essigsäure (c0(NaOH) · V(NaOH)) (V(NaOH)). Somit ergibt sich als Hydroxidionenkonzentration
entspricht. Der pH-Wert der Pufferlösung wird über die Hender- [OH−] in mmol/ml resp. mol/l:
son-Hasselbalch-Gleichung (7 Abschn. 10.8.2) berechnet.
c (NaOH) ⋅ V (NaOH) − c (Esre) ⋅ V (Esre)
c(Acetat) [OH−] = 0 0 0
pH = pK Esre + log V0(Esre) + V (NaOH)
c(Esre)
c0 (NaOH) ⋅ V (NaOH) Da der pH-Wert einer Lauge sich aus 14 minus pOH-Wert (pH =
= pK Esre + log
c0 (Esre) ⋅ V0 (Esre) − c0 (NaOH) ⋅ V (NaOH) 14 − pOH) errechnet und unter Berücksichtigung der pOH-De-
finition {pOH = − log[OH−]} , hat die Lösung rechts vom Äqui-
c(Acetat): Acetatkonzentration, mmol/ml valenzpunkt den pH-Wert:
c0(Esre): Ausgangskonzentration Essigsäure, mmol/ml
V0(Esre): Ausgangsvolumen Essigsäure, ml pH = 14 − pOH = 14 + log[OH−]
c (NaOH) ⋅ V (NaOH) − c (Esre) ⋅ V (Esre)
= 14 + log 0 0 0
V0(Esre) + V (NaOH)
pH-Wert am Äquivalenzpunkt,
A.5.2.3
V(NaOH) = 20 ml Der Titrationskurvenverlauf (7 Abb. A.1) rechts zeigt, dass Methyl-
Bei der Titration von Säuren mit Basen muss der Äquivalenzpunkt orange zur Bestimmung des Äquivalenzpunktes (pH = 8,7) für die
ermittelt werden. D. h. es wird solange Natronlauge zugegeben, titrimetrische Bestimmung schwacher Säuren mit starken Basen
bis exakt alle Hydroniumionen mit Hydroxidionen der Lauge ungeeignet ist, da sich der Umschlagsbereich im flachen Verlauf
621
Anhang
A.6 Naturkonstanten
z 7 Kapitel 2
Übung 2 Lösung: ca. 0,0288 mm = 28,8 µm
Übung 4 Lösung: 24,32
Übung 5 Lösung: Tl-203 zu 29,5 %, Tl-205 zu 70,5 %
Übung 9 Lösung: 6,25 %
Übung 10 Lösung: 50 %, 50 % (Atomkerne kennen scheinbar kein Alter), U-225
z 7 Kapitel 5
Übung 3 Lösung: MHCl = 36,46 g/mol, MHCN = 27,03 g/mol, MH2SO4 = 98,08 g/mol, MC7H6O2 = 122,12 g/mol
Übung 4 Lösung: 6,022 · 1023 Moleküle Wasser, 6,022 · 1023 Atome Sauerstoff, 2 · 6,022 · 1023 = 1,204 · 1024 Atome Wasserstoff
Übung 5 Lösung: n(NaOH) = 0,05 mol, m(NH3) = 85,15 g
Übung 7 Lösung: m(HNO3) = 630,1 g
Übung 8 Lösung: 0,1 molar
Übung 9 Lösung: νAl = 2, νO2 = 1,5, νAl2O3 = 1, oder in ganzen Zahlen νAl = 4, νO2 = 3, νAl2O3 = 2.
Übung 10 Lösung (a): m(Al) = 53,96 g, m(O2) = 48,00 g resp. 107,92 g zu 96,00 g
Lösung (b): m(Al) = 26,5 Tonnen, m(O2) = 23,5 Tonnen
z 7 Kapitel 6
Übung 3 Lösung: M = 32 g/mol
Übung 4 Lösung: 310 €
Übung 6 Lösung: F = 45 N
Übung 8 Lösung: L = 4 · 10−11 mol3/l3
Übung 9 Lösung: m(Ag) = 0,108 µg
Übung 10 Lösung: 5 Promille
z 7 Kapitel 7
Übung 4 Lösung (a): Bei 1 · 0,21 Pentan werden 0,003333 mol Iod (83%) aus dem Wasser entfernt.
Lösung (b): Bei 5 · 40 ml Pentan werden 0,003875 Iod (97%) aus dem Wasser entfernt.
Übung 8 Lösung: 548 fach höher
z 7 Kapitel 8
Übung 3 Lösung: 79,9°C
Übung 4 Lösung: K ≈ 1,9 · 1080
Übung 9 Lösung: pAmmoniak = 111 bar, pWasserstoff = 141,75 bar, pStickstoff = 47,25 bar, KP = 9,16 · 10−5/bar2
z 7 Kapitel 10
Übung 6 Lösung: pH(HCl) = 3, pH(NaOH) = 13
Übung 7 Lösung: pH = 2
Stichwortverzeichnis
B Blasformverfahren 604
Blattgold 358
C-C-Einfachbindung,
Dissoziationsenergie 400
Chinone 470
Chiralität 451
Bäckerlauge 132 Blei 280, 289 C-H-Bindung, Chiralitätszentrum 449, 451
Baekeland, Leo Hendrik 555 –– Röstreaktionsverfahren 280 Dissoziationsenergie 400 Chlor 233
Baeyer-Villiger-Reaktion 482 Bleiakkumulator 158 Cadmium 359, 364 Chlor-Alkali-Elektrolyse 233
Bakelit 556 Bleiglanz 280 Calcit 263 Chlorbleichlauge 240
Ball&Sticks-Modell 392 Blenden 291 Calcium 263, 271 Chlorfluorkohlenwasserstoffe 404
Balmer-Formel 615 Blockcopolymer 560 Calciumcarbonat 266 Chloride 237
Bananenreifung 411 Blockpolymerisation 595 Calciumfluorid 265 chlorige Säure 239
Bandsilicat 284 Blutlaugensalz Calciumsulfat 263, 268 Chlormethan 402
Barium 263 –– gelbes 336 –– Anhydrit 269 Chlormethylsilan, Müller-Rochow-
Baryt 223 –– rotes 336 –– Dihydrat 268 Synthese 582
Base 132 Blutpuffer 147 –– Halbhydrat 268 Chloroform 404
–– Arrhenius-Definition 132 Bohr Californium 371 Chlorophyll 53, 271
–– Brønsted 133 –– Atommodell 16, 612, 615 Calvin-Cyclus 546 Chloroxid 239
–– Lewis-Konzept 134 –– Postulat 17 Campher 427 Chlorsäure 239
–– Neutralisation 140 –– Schalenmodell 16 Caprolactam 493, 586 Chlorwasserstoff 46, 237
–– Titration 142 Bohrium 326 –– Herstellung 494 Chrom 321, 324
–– Wertigkeit 133 Bohrspülung 440 Caprolacton 482 Chromcarbid 324
Basentriplett 544 Boltzmann-Verteilung 124 Carbeniumion 413 Chromgruppe 321
Bastnäsit 311, 370 Bombykol 410 –– Stabilisierung 413 Chromiterz 321
Batterie 161 Bor 182 Carbid Chromosom 541
–– Leclanché 158 –– hochreines 184 –– ionisches 198 Chromtrioxid 323
Bauxit 273 Boran 186 –– kovalentes 198 CIP-Regeln 453
Bayer-Verfahren 274 –– arachno 185 Carbocyclen 423 cis/trans-Isomerie 450
Beilsteinprobe 354 Borax 182 Carbonisierung 194 Cisplatin 349
Benzaldehyd 467 Borcarbid 184, 189 Carbonsäure 472 Citronensäurecyclus 547
–– Herstellung 467 Bornitrid 184, 188 –– Acidität 474 Clathrate 447
Benz[a]pyren 438 Borosilicatglas 184 –– aromatische 475 Claus-Prozess 224
Benzin 395, 397 Borsäure 184 –– Nomenklatur 473 Club of Rome 443
Benzoate 476 Bortrihalogenide 187 –– Reaktionen 476 Cobalt 338
Benzoesäure 476 Bortrioxid 184 Carbonsäureamide 492 –– Strahlentherapie 341
Benzol 429, 432–433 Boudouard-Gleichgewicht 195 –– Reaktionen 493 –– Vitamin B12 341
–– Robinson-Formel 429 Boyle-Mariotte-Gasgesetz 70 –– Struktur 492 Cobaltblau 341
–– Sulfonierung 513 Branntkalk 267 Carbonsäureanhydride 476 Cobaltglanz 338
Benzoylperoxid 566 Brauneisenstein 331 Carbonsäureanilide 492 Cobaltgruppe 338
Berggold 352 Braunkohle 194 Carbonsäuremethylester 500 Cobaltkies 338
Bergkristall 279 Brechungsindex 78 Carbonwerkstoff 601 Cobaltstahl 341
Beriberi 535 Brennstäbe 377 Carbonylverbindung 469 Cocain 490
Berkelium 371 Brennstoffzelle 160 Carbonzeitalter 194 Composite 601
Berliner Blau 336 –– PEM 160 Carboxygruppe 472 Compoundierhilfsstoff 598
Beryll 263, 284 Brikett 195 Carboxymethylcellulose 529 Contergan® 453
Beryllium 263, 271 Brom 235 Carboxypeptidase 539 Copolymer 560
Berylliumchlorid 266 Bromwasserstoff 238 Carnallit 263 –– alternierend 560
Berylliumhalogenid 265 Brønsted, Johannes 133 Carothers, Wallace 556 –– Blockcopolymer 560
Beton 270 Brønsted-Base 133 Carotin 410 –– Pfropfcopolymer 560
Betonkorrosion, biogene 229 Brønsted-Säure 133 Cäsium 262 –– statistisches 560
bicyclische Verbindung 423 Bronze 51, 357 Cellulose 529 Coronanden 479
Bindemittel, hydraulisches 270 Brookit 315 Celluloseether 529 Cracken 401, 410, 445
Bindung 391, 407 BTX 433 Cer 368 Cross-Flow-Filtration 98
–– π-Bindung 187 –– Fraktion 432 Ceriterden 368 CsCl-Gittertyp 259
–– 2z-2e-Bindung 185 Büchnerfilter 99 CFK (kohlenstofffaserverstärkter Cumolhydroperoxidverfahren 470
–– 3z-2e-Bindung 185 Buckminsterfulleren 193 Kunststoff ) 601 Curie-Temperatur 309
–– chemische Siehe chemische Buntkupferkies 351 CFKW (Chlorfluorkohlenwasser Cyclamat 530
Bindung 391 Buntmetall 253 stoffe) 404 cyclische Kohlenwasserstoffe 423
–– glycosidische 527 Butan 397 Chalkogene 216, 297 –– Konformationsspannung 424
–– kovalente Siehe kovalente Butansäure Chelatkomplexe 52 –– Nomenklatur 424
Bindung 391 –– Methylierung 500 chemische Bindung 42 –– transannulare Spannung 424
–– polare 45 Buten 405 –– 8e-Regel 42 –– Übersicht 423
Bindungselektronenpaar 45 Butenisomere 412 –– Ionenbindung 42, 53 –– Winkelspannung 424
Bingham-Flüssigkeit 78 –– Komplexbindung 51 Cycloaddition 428
–– kovalente 45, 53 Cycloalkane 423
C
biogene Betonkorrosion 229
Biomasse 546 –– Metallbindung 49 –– Ringöffnung 428
Bismut 290, 293, 296 –– polare 45, 54 –– Ringspannung 426
C-Atom –– Typen 53 Cycloalkene 423
Bisphenol-A-Diglycidylether 591
–– anomeres 524 –– VSEPR-Modell 46 Cycloalkine 423, 426
Bitumen 395, 398
–– asymmetrisches 451 chemische Formel 62 Cyclobutan 424
Blasfolienextrusion 606
C-C-Bindungstyp 417 Chilesalpeter 213 Cycloheptan 424
625 B–F
Stichwortverzeichnis
Cyclohexan 424, 427 DINCH (Cyclohexandicarbon –– Faraday 162 Erdöl 394, 440
–– Ring-Flips 425 säurediisononylester) 600 Elektrolytkupfer 351 –– Blending 447
–– Synthese 428 Dioxin 601 Elektrolytsilber 352 –– Entstehung 440
Cyclohexanon 471 Dipol 46 Elektron 19 –– Exploration 440
Cyclooctan 426 Dipol-Dipol-Wechselwirkung 68 –– Ruhemasse 19 –– Förderung 442
Cyclooctin 426 Disaccharid 526 –– Spin 19 Erlenmeyer-Regel 460
Cyclopentan 424, 427 –– Bildungsreaktion 528 –– Wellenlänge 21 Erstarren 80
Cyclopropan 424 Disaccharide 527 –– Wellennatur 19 Essigsäure 474
–– Reaktionen 428 dischweflige Säure 226 Elektronegativität 40, 42, 171 –– Dimerisierung 475
Cyclopropen 426 Disproportionierung 155 Elektronengas 49–50 –– Herstellung 475
Cystein 518 Dissoziation 133 Elektronenhülle 34 Essigsäureethylester 465
C≡C-Dreifachbindung 417 Dissoziationsgrad 139 Elektronenkonfiguration 34 Esterzahl 535
Distickstoffpentoxid 208 Elektronenmangelverbindung ETBE (Ethyl-tert-butylether) 479
Distickstofftrioxid 208 185 Ethan 388, 391, 396
D Disulfidbrücke 508, 518
Disulfide
Elektronenoktett 42
Elektronenpaar 42
–– Strukturelemente 408
Ethan-1,2-diol 462
Dalton-Atommodell 15 –– Herstellung 509 –– Bindungselektronenpaar 45 Ethanal Siehe Acetaldehyd 466
Dampfdruck 74 –– organische 509 –– freies 45, 47 Ethanol 462
DDT (Dichlordiphenyltri –– Reaktionen 510 –– inertes 282 –– Herstellung 462
chlorethan) 434 dithionige Säure 226 Elektronenpaarbindung Siehe Ethen 405, 411
Dead-End-Filtration 98 DMSO (Dimethylsulfoxid) 511 kovalente Bindung 45 –– Bananen 411
Dekantieren 97 DNA Siehe Desoxyribo Elektronenspin 24 –– Polymerisation 557, 570
dekoratives Verchromen 163 nucleinsäure 541 –– Quantelung 24 –– Reaktionen 412
Denaturierung 522 Dodecaeder 183, 447 Elektronvolt 614 –– Struktur 407
Desoxyribonucleinsäure 541 Dodecylbenzolsulfonat 512 elektrophile aromatische –– Strukturelemente 408
–– Entdeckung 543 Dolomit 263 Substitution 436 Ether 477
–– Helix-Struktur 543–544 Doppelsalz 255 Elektrophile aromatische –– funktionelle Gruppe 477
–– Strukturaufklärung 542–543 Doppelzucker 527 Substitution 434 –– Herstellung 478
Desoxyribose 542 Downs-Verfahren 256 Element 4 –– physikalische
Destillation 90 Drehrohrofen 270 –– Häufigkeit 172 Eigenschaften 477
–– azeotrope 93 Dreifachbindung 417 –– künstliches 6 –– Reaktionen 480
Deuterium 26, 174–175 Dreiwegekatalysator 127, 342, 348 Elementarteilchen 19 –– Überblick 478
Dewargefäß 108 Dreizentrenbindung 185 –– Eigenschaften 20 –– unsymmetrische 478
Diallyldisulfid 509 Druck, hydrostatischer 75 Elementsymbol 6 Ethin 419
Diallylsulfid 509 Druckwasserreaktor 379 Eloxal-Verfahren 164 –– Herstellung 418
Diamagnetismus 309 Dubnium 317 empirische Formel 63 –– Polymerisation 422
Diamant 190 Düngemittel 213 Emulsion 82–83 –– Reaktionen 420
Diastereomere 455 Duroplast 561 Emulsionspolymerisation –– Struktur 416
Diazomethan 500 Dysprosium 368, 374 593–594 Ethoxyethan Siehe
–– Methylierungsmittel 500 Enantiomere 449, 451 Diethylether 477
Diazoniumverbindung 499 –– Nomenklatur 453 Ethyl-tert-butylether 479
Diazotierung 501
Diazoverbindung 499
E –– physiologische Wirkung 452
endergonische Reaktion 112
Ethylalkohol 462
Ethylendiamintetraacetat 53
Dibenzoylperoxid 481–482 Edelgase 242 Energiesparlampe 365 Ethylenoxid 478
Diboran 185 –– Elektronenkonfiguration 42 Enthalpie 108 Europium 368
Dibutylphthalat 575 –– Verbindungen 244 –– freie 112 exergonische Reaktion 112
Dichlordiphenyltrichlorethan Edelgaskonfiguration 42, 44 Entropie 110–111 Explorationsbohrung 441
434 Edelmetall 253 Enzyme 537 Extraktion 94
Dichte 76, 172 Edelstahl 332 –– Gruppenenzyme 539 Extrudieren 602
Diederwinkel 450 EDTA 53 –– Kinetik 540 Extrusionsblasen 604
Diels-Alder-Reaktion 428 Edukt 58 –– Namen 538 Extrusionsprodukte 603
Dien 406, 428 Effekt, induktiver, positiver 413 –– Spezifität 539
Dienophil 428 Einfachzucker 526 –– Substratenzyme 539
Dieselöl 395, 398, 445
Diethylenglycol 463
Einlagerungscarbid 199
Einschlussverbindung 447
–– Temperaturoptimum 541
–– Wirkungsklassen 539
F
Diethylether 477 Einsteinium 371 –– Wirkungsspezifität 539 f-Block-Elemente 37, 254,
–– Peroxidbildung 477 Eisen 331, 334 Epoxide 480 369
Diethylhexylphthalat 575 –– Hochofen 331 Epoxidharz 591 Fällungspolymerisation 593–594
Diethylzink 362 Eisencarbonyl 336 –– Anwendung 592 Faltblattstruktur 521
Digerieren 96 Eisengruppe 331 –– Eigenschaften 592 Faser 562
Dihydrat 268 Eisennickelkies 344 –– Synthese 592 FCKW (Fluorchlorkohlen
Diine 416 ekliptische Konformation 450 1,2-Epoxyethan 478 wasserstoffe) 404
Dikieselsäure 284 Elastomer 562 Erbium 368 Feingold 353
dilatante Flüssigkeit 77 elektrischer Erdalkalimetalle 263 Fermium 371
Dimethylether 477 Durchgangswiderstand 607 –– Schmelzflusselektrolyse 264 Ferrochrom 324
Dimethylformamid elektrischer Leiter 50 Erdalkalimetalloxide 265 Ferromagnetismus 309
Dimethylsulfoxid 511 Elektrolyse 161–162 Erdgas 394, 396 Ferrovanadium 318
626 Stichwortverzeichnis
Peroxygruppe 480
Petrochemie 440
––
––
hoher Dichte 570
lineares, geringer Dichte 570
–– Wacker-
Suspensionsverfahren 574 R
Petrolether 395 –– Synthese 557, 570 Polyvinylchlorid Siehe auch Racemat 452
Pflanzenöl 533 –– Ziegler- PVC 573 Racematspaltung 455
Pfropfcopolymer 560 Niederdruckverfahren 570 Porphyrie 509 Radialgleitlager 364
pH-Messstreifen 141 Polyethylenterephthalat 584 Portlandzementklinker 270 Radikale 401
pH-Wert 135 –– Eigenschaften 584 Praseodym 368 –– Hyperkonjugation 402
–– Definition 136 –– Herstellung 584 Primärenergieverbrauch 439 –– Stabilität 401
–– Farbumschlag 143 –– Synthese 568 primäres Kohlenstoffatom 401 Radikalstarter 566
–– Glaselektrode 141 –– Verwendung 585 Primärkupfer 351 radioaktive Strahlung 27
–– schwache Säure 138 Polyethylenvinylacetat 596 Primärstruktur 520 Radioaktivität 27
Phasentransferkatalysator 480 Polyine 416 Primärzelle 161 –– Abklingkurve 28
Phasenübergänge 79 Polykondensation 568, 618 Prinzip von Le Chatelier 116 –– Altersbestimmung 29
Phenanthren 438 Polymer 557 Promethium 368 –– biologische Wirkung 29
Phenol 460, 463 –– Dispersion 559 Propadien 406 –– Spontanzerfall 27
Phenolphthalein 141 –– Domänen 560 Propan 397 Radiokarbonmethode 29
Phenylalkohol 463 –– faserartige 562 Propantriol 463 Radium 263
Pheromone 410 –– Meilensteine der Geschichte 555 Propen 405, 412 Radon 247
Phophodiesterbindung 544 –– physikalische Kennzahlen 607 –– Polymerisation 572 –– Lungenkrebs 247
Phosgen 497 –– Schmelzen 608 Protactinium 370 Radonaktivität 247
Phosphinsäure 211 Polymerisation Protease 539 Radontherapie 247
Phosphonsäure 211 –– radikalische 566–567, 617 Protein 518 Raffinerie 444
Phosphor 201–202 –– Verfahren 593, 595 –– Faltblattstruktur 521 Raney-Nickel 347
–– Halogenverbindungen 212 Polymerisationsgrad 558 –– Funktion 519 Rauch 83
–– roter 203 –– Berechnung 618 –– Helixstruktur 520 Rauchgasentschwefelung 225
–– weißer 202 –– Gleichung 569 –– Hydrolyse 522 REA-Gips 225, 268
Phosphorhalogenide 212 –– Uneinheitlichkeit 559 –– Primärstruktur 519 Reaktionsenthalpie 109
Phosphoroxide 208 Polymermasse –– Quartärstruktur 519, 521 Reaktionsgeschwindigkeit 120
Phosphorsäure 210 –– Gewichtsmittel 558 –– Sekundärstruktur 519–520 –– Aktivierungsenergie 123
Photosynthese 545 –– Zahlenmittel 558 –– Tertiärstruktur 519, 521 –– Konzentration 121
–– Dunkelreaktion 546 Polymermolekül Protium 26, 174 –– Temperatur 123
–– Lichtreaktion 545 –– lineares 560 Protolysegrad 140 –– Zerteilungsgrad 125
Phthalatweichmacher 575, –– räumliches 560 Proton 20, 132, 173 Reaktionsgleichung 65
600 –– verzweigtes 560 Protonenakzeptor 133 Reaktionsordnung 122
Pikrinsäure 502 Polymerradikale 594 Protonenaustauschmembran Reaktorkern 377
Plaste 554 Polymethylmethacrylat 577 160 reale Gase 73
Plastik 554 –– Eigenschaften 578 Protonendonator 133 Realgar 291
Platin 343, 348 –– Synthese 578 Protonenzahl 21, 33 Redoxgleichung 153
–– Salpetersäure 348 Polyphosphorsäure 211 PTFE Siehe Redoxreaktion 150, 155
platonische Körper 183 Polypropylen 572 Polytetrafluorethylen 557 –– Atombilanz 154
Plexiglas 577 –– ataktisches 572–573 Puffer 144 –– Gesamtelektronenbilanz 154
–– Kammerverfahren 577 –– Eigenschaften 573 –– Kapazität 146 –– Halbreaktionen 153
Plumban 287 –– isotaktisches 572 –– pH-Wert 145 –– Ladungsbilanz 153
Plutonium 370, 372 –– syndiotaktisches 572–573 Pufferlösung 144–145 –– Stoffgleichung 154
pOH-Wert 138 –– Synthese 572 Pufferoptimum 146 Reduktion 153, 155
polare Bindung 45, 54 –– Taktizität 572 Purinbase 542 Reduktionsmittel 155
Polonium 297, 299 –– Verwendung 573 PVC Siehe auch Refraktärmetall 253
–– Gift 301 Polysaccharid 526, 529 Polyvinylchlorid 573 Reinstnickel 344
Polyaddition 569, 618 Polystyrol 556, 575 PVC-P 574 Reinstoff 81
Polyamid 585 –– Eigenschaften 576 PVC-U 574 Reißdehnung 607
–– Eigenschaften 587 –– expandiertes 576, 606 Pyknometer 76 Rektifikation 92
Polyamid 6 586 –– Synthese 576 Pyridin 489 –– Füllkörper 93
Polyamid 6.6 Polystyrolperlen 606 Pyrit 223 relative Atommasse 58, 171
–– Anwendung 587 Polytetrafluorethylen 557, 578 Pyrolyse 400 Reppe-Reaktion 419–420
–– Synthese 586 –– Eigenschaften 581 Resublimieren 80
Polycaprolacton 482 –– Synthese 580
Q
Retinol 537
Polydimethylsiloxan 582 –– Verwendung 581 Retinol Siehe Vitamin A 410
–– Synthese 583 Polyurethan 569, 588 Rhenium 326, 330
Polyene 406 –– Diolkomponenten 590 Quantelung, Elektronenspin 24
Rhenium(VII)-oxid 329
Polyethin 422 –– Hartschaum 590 Quantenzahlen 23
Rheniumtrihalogenid 329
Polyethoxyether 479 –– Synthese 589–590 quartäre Ammoniumsalze 487
Rheologie 77
Polyethylen –– Weichschaum 590 quartäres Kohlenstoffatom 401
Rhodium 338, 342
–– Anwendung 571 Polyurethanschaum 590 Quartärstruktur 521
Ribonucleinsäure 544
–– Brennwert 600 Polyvinylchlorid Siehe auch PVC Quecksilber 359, 364
Ribosomen 544
–– Eigenschaften 571 –– Eigenschaften 574 –– Energiesparlampe 365
Ringsilicate 284
–– geringer Dichte 570 –– Verbrennungsprodukte 601 –– Minamata 363
Rinmans Grün 340
–– Hochdruckverfahren 570 –– Verwendung 574 –– Relativitätstheorie 361
RNA (Ribonucleinsäure) 544
630 Stichwortverzeichnis
Robinson-Formel für Benzol 429 Scandium 311–312 Silberamalgam 365 Stoffmengenkonzentration 62, 85
Roentgenium 350 Scandiumgruppe 311 Silberiodid 241 Strahlung, radioaktive 27
Roheisen 331–332 Schachtofen 267 Silicat 283 –– α-Strahlung 27
Rohkupfer 351 Schaum 83 Silicium 278, 288 –– β-Strahlung 28
Rohöl 443 Schäumen 606 –– monokristallines 279 –– γ-Strahlung 187
–– Destillation 444 Scheidetrichter 95 –– polykristallines 280 Streckspannung 607
–– Entschwefelung 446 Schichtsilicat 284 Siliciumdioxid Strontianit 264
–– Reforming 446 Schiefergas 443 –– amorphes 286 Strontium 263
Rohrzucker 527 Schiffsche Basen 472 –– Bergkristall 279 Strukturformel 63, 392
Rohsilicium 279, 288 Schlüssel-Schloss-Prinzip 539 –– Kieselalge 279 Strukturisomerie 393
Rost 163 Schmelzen 80 –– kristallines 286 strukturviskose Flüssigkeit 77
Röstreaktionsverfahren 280, 351 Schmelzflusselektrolyse 256, 264, Siliciumtetrachlorid 287 Styrodur® 577
Röstreduktionsverfahren 291 274 Silicon 581 Styrol, Synthese 575
Roteisenstein 331 Schmelzpunkt 76, 79, 172 –– Eigenschaften 582 Styroporschaum 575
Rotkupfererz 351 Schmierfett 398 Siliconharz 583 Styropor® 556, 576
Rübenzucker 527 Schmieröl 398 Siliconkautschuk 583 Sublimation 80, 93
Rubidium 254, 262 Schmierseife 261 Siliconöl 583 –– Gefriertrocknung 94
Rückbindungsmodell 324 schneller Brüter 379 Skelettformel 392 Substanzpolymerisation 593, 595
Ruß 195 Schrägbeziehung 266 Skorbut 536 Substratenzyme 539
Ruthenium 331, 334, 337 Schrödinger, Erwin 22 SOHIO-Verfahren 496 Sulfide, organische 507
Rutherford-Atommodell 15 Schrödinger-Gleichung 22 Solarsilicium 288 Sulfolan 511
Rutherfordium 313 Schwarzpulver 214 Sommerdiesel 398 Sulfon 510–511
Rutil 315 Schwefel 216, 222 sp3-Hybridorbital 390 –– Synthese 511
Rydberg-Konstante 614 –– Claus-Prozess 224 Space-Filling-Modell 393 Sulfonat 511
–– Frasch-Verfahren 223 Spaltung, heterolytische 152 Sulfonsäure 511
–– organische Verbindung 506 Speiseessig 474 Sulfonylchlorid 513
S –– Sauerstoff-Verbindungen 224
Schwefel-Sauerstoff-Säuren 226
Spektrallinie 17
Sphalerit 223
Sulfoxid 510–511
–– Synthese 511
Saccharin 530 Schwefelblüte 223 Spiegelbildisomere 451 Sulfoxylsäure 226
Saccharose 527 Schwefeldioxid 224 Spinellstruktur 340 Summenformel 63, 449
SADT-Temperatur 480 Schwefelhalogenide 228 Spinquantenzahl 24 Sumpfkalk 267
Salpetersäure 209 Schwefelsäure 226–227 Spirane 423 Supernova 5
Salvarsan 295 –– Kontaktverfahren 227 Spiroverbindung 423 superschwerer Wasserstoff 174
Salz 43, 140 Schwefeltrioxid 225 Sprengstoff 214 Supraleiter 320
Salzsäure 237, 239 Schwefelwasserstoff 229 Spritzgussverfahren 603–604 Suspension 83
Samarium 368 –– biogene Korrosion 229 Sprühtrocknung 596 Suspensionspolymerisation 593,
Sandmeyer-Reaktion 500 schweflige Säure 226 Stäbchenmodell 392 595–596
sanfte Fusion 9 schweres Wasser 178 Stabilitätsinsel 9 Süßstoff 530
Sauerstoff 216 Schwermetall 253 Stahl 51, 332, 336 Süßwasser 177
–– Alkalimetalloxide 257 Schweröl 395 –– Legierungsbestandteile 333 syndiotaktisches
–– Bindungsordnung 218 Schwerspat 223 Stahlbeton 336 Polypropylen 572–573
–– Hyperoxidanion 218 Schwerwasserreaktor 178, 379 Standardwasserstoffelektrode 156 Synproportionierung 155
–– Molekülorbitaltheorie 217 Seaborgium 321 Stannan 287 Synthesegas 180, 461
–– organische Verbindung 457 Sedimentation 96 Stanniolpapier 164 Syphilis 295
–– Oxidanion 218 Seifengold 352 Stärke 529 System 108
–– Paramagnetismus 218 sekundäres Kohlenstoffatom 401 –– Abbau 529
–– Peroxidanion 218 Sekundärkupfer 351 –– Nachweis 529
–– Singulett 219
–– Triplett 218
Sekundärstruktur 520
Sekundärzelle 161
Starterbatterie 158
Startreaktion 617
T
Säure 132 Selen 297, 299 Stearinsäure 531, 533 Tafelparaffin 398
–– Arrhenius-Definition 132 –– helicale Struktur 299 Steinsalz 261 Tafelsilber 355
–– Brønsted-Definition 133 –– photoelektrischer Halbleiter 300 Stellungsisomere 450 Taktizität 572
–– chlorige 238 Selendioxid 299 Stereochemie 449 Tantal 317
–– dithionige 226 Selenhalogenide 300 Stereoisomere 449–450 Tantalit 317
–– hypochlorige 239 Selenrubinglas 300 Sterlingsilber 357 Technetium 326, 330
–– Lewis-Konzept 134 Selenwasserstoff 300 Stern-Gerlach-Versuch 24 Teer 438
–– Neutralisation 140 Seltene Erden 368 Stickstoff 201 Teflon® 557, 579
–– Stärke 139 Seltenerdmetalle 368 –– flüssiger 202 Tellur 297, 299
–– thioschweflige 226 Sesselkonformation 424, 525 –– Mineraldünger 213 Tellurdioxid 299
–– Titration 142, 144 Siebanalyse 99 –– organische Verbindung 487 Tellurwasserstoff 300
–– Wertigkeit 133 Siebdurchgang 100 Stickstoffdünger 213, 493 Tensid 512
Säure-Base-Paare, konjugierte 133 Sieben 99 Stickstoffhalogenide 212 Terbium 368, 374
Säure-Base-Titration 142 Siedepunkt 74, 76, 79, 172 Stickstoffoxide 207 Terpolymer 560
Säureamide 492 Siedewasserreaktor 379 Stöchiometrie 58 tertiäres Kohlenstoffatom 401
Säurekonstante 138 Sigmaorbital 217 Stoffgemisch 81 Tertiärstruktur 521
saurer Regen 132 Silan 287 Stoffmenge 59, 62 Tetracarbonylcobalthydrid 341
Säurestärke, Gruppeneffekt 140 Silber 350, 352 –– Mol 59 Tetraeder 183
Säurezahl 534 –– Schmuckindustrie 357 Stoffmengenanteil 85 Tetraederwinkel 47
631 S–Z
Stichwortverzeichnis
Tetrafluorborsäure 188
Tetrafluorethylen
Trimethylamin 488
Trinitrotoluol 502
–– Name 535
–– Übersicht 537 X
–– Synthese 579 Trinkwassergewinnung 101 –– wasserlösliche 535 Xenon 243, 246
Tetrahydrofuran 479 Tripelpunkt 81 Volumenanteil 84 Xenonautoleuchte 246
Thalidomid 453 Tritium 26, 174–175 Volumetrie 142 Xenonfluoride 244
Thallan 277 Trockeneis 81 VSEPR-Modell 46 Xylol 432–433
Thallium 273 Turmalin 183
Thalliumhalogenide 276
Thamatin 530 W Y
Thénards Blau 340
Thermitschweißen 277
U Wachstumsreaktion 617 Yellow Cake 371
thermochromes Verhalten 340 Übergangsmetall 34 Wacker-Hoechst-Verfahren 467 Ytterbium 368
Thermodynamik 108 Übergangsmetallcarbid 199 Wade-Regeln 186 Yttererden 368
Thermoplast 560, 606 Ultrafiltration 99 Wärmeausdehnungskoeffizient 607 Yttrium 311–312
Thermostabilisator 598 Umkehrosmose 99, 101 Wärmeleitfähigkeit 607
THF (Tetrahydrofuran) 479 –– Trinkwasser 101 Wärmestablisator 598
Thiamin 535, 537
Thioether 507
Umweltkatalysatoren 342
Unschärferelation 22
Waschmittel 215, 512
Wasser
Z
Thiol 506 Uran 370–371, 380 –– dipolarer Charakter 177 Z/E-Isomerie 409, 450
–– Eigenschaften 508 Urandioxid 371 –– Eis 177 Zellatmung 547
–– Geruch 507 Uranhexafluorid 372 –– Ionenprodukt 135 Zement 269
–– Oxidation 513 Urantrioxid 371 –– leichtes 178 –– Drehrohrofen 270
–– Reaktionen 507–508 Uretdion 498 –– Lösemittel 177 –– hydraulisches Bindemittel 270
–– Synthese 507 Urethan 569 –– Phasendiagramm 81 –– Kurzschreibweise 270
Thionin 507 Urkilogramm 342 –– schweres 178 Zementklinker 269
Thionylchlorid 513 Urknall 4 –– überschweres 178 Zementleim 270
thioschweflige Säure 226 Urmeter 342 –– Vorkommen 177 Zementmörtel 270
Thomson-Atommodell 15 UV-Absorber 598 Wasseraufnahme 608 Zementstein 270
Thorium 370 UV-Stabilisator 598 Wasserdampfdestillation 91 Zentralatom 51, 306
Thulium 368 Wassergas-Shift-Reaktion 174 Zentrifugieren 97
Tiefenfiltration 98 Wasserglas 286 Zeolith 285
Titan 313 V Wasserhärte 270
–– Gesamthärte 270
Zerteilungsgrad 125
–– Kroll-Prozess 313 Ziegler-Niederdruckverfahren 570
–– Medizintechnik 316 V2A-Stahl 51 –– permanente 271 Zink 359, 363
–– Van-Arkel-de-Boer- V4A-Stahl 325 –– temporäre 270 –– Korrosionsschutz 363
Verfahren 314 Vakuumdestillation 91 Wasserstoff 172 Zink-Kohle-Batterie 158
Titancarbid 316 Valenzorbitale 37 –– Dampfreformierung 174 Zinkblende 223, 360
Titandioxid 315 Valenzstrichformel 63, 392 –– flüssiger 175 Zinkgewinnung
Titangruppe 313 Van-Arkel-de-Boer-Verfahren 314 –– Isotope 26, 173–174 –– elektrolytische 360
Titanschwamm 314 Van-der-Waals-Gleichung 73 –– Kohlevergasung 174 –– trockene 360
Titantetrachlorid 316 Van-der-Waals-Kräfte 69 –– Spektrallinien 614 Zinkgruppe 359
Titration 142, 144 Vanadinit 317 –– superschwerer 174 Zinkspat 360
Titrationskurve 143–144 Vanadium 317 Wasserstoffbrückenbindung 69, 177 Zinn 280, 289
–– Verlauf 618 Verbindung Wasserstoffperoxid 179 Zinngeschrei 281
Titrationskurven 618 –– bicyclische 423 Wasserstoffspektrum 613 Zinnpest 281
Toluol 432–433 –– chemische Formel 62 Wechselwirkung 68 Zirconium 313
Toluoldiisocyanat 497, 588 –– elementare –– zwischenmolekulare 68 Zirconiumcarbid 316
Tonerde 275 Zusammensetzung 64 Wechselzahl 540 Zirconiumdioxid 316
Torf 194 –– metallorganische 362 Weichmacher 599–600 Zug-Elastizitätsmodul 607
trans-Fettsäuren 534 Verbrennungsmotor 446 –– DINCH 600 zwischenmolekulare
transannulare Verbundwerkstoff 601 –– Phthalate 600 Wechselwirkung 68
Wechselwirkungen 425 –– physikalische Eigenschaften 601 Weichparaffin 398 Zylindermodell 392
Transcription 544 Verchromung 163, 325 Weingeist 459
Translation 545 Verdampfen 80 Weißblech 289
Transurane 9, 368, 370 Verhältnisformel 63 Weißkalkhydrat 267
Treibhauseffekt 197 Verseifungszahl 534 Weißsche Bezirke 309
Trennverfahren Vielfachzucker 529 Williamson-Ethersynthese 477
–– mechanisches 96 Vinylchlorid 574 Windsichten 100
–– thermisches 90 Viskosität 76 Winterdiesel 398
Trevira® 584 Vitalismustheorie 387 Wöhler, Friedrich 387
Trichlormethan Siehe Vitamin A 410, 537 Wolfram 321, 325
Chloroform 404 Vitamin B1 535, 537 –– Glühfäden 325
Triene 406 Vitamin B12 341, 537 Wolframcarbid 199, 324
Triglyceride 476, 531 Vitamin C 535 Wolframit 321
–– Verseifung 534 Vitamine 535 Woodsches Metall 364
Triine 416 –– fettlösliche 535 Würfel 183