Mahnkopf Helmut Lachenmann Concertini
Mahnkopf Helmut Lachenmann Concertini
Musik-Konzepte
Neue Folge
Helmut Lachenmann
Herausgegeben von
Ulrich Tadday
Heft 146
Heft 146
Helmut Lachenmann
Herausgegeben von Ulrich Tadday
Juli 2009
Wissenschaftlicher Beirat:
Ludger Engels (Aachen, Regisseur)
Detlev Glanert (Berlin, Komponist)
Birgit Lodes (Universität Wien)
Laurenz Lütteken (Universität Zürich)
Georg Mohr (Universität Bremen)
Wolfgang Rathert (Universität München)
ISSN 0931-3311
ISBN 978-3-86916-016-0
Die Reihe MUSIK-KONZEPTE erscheint mit vier Nummern im Jahr. Die Hefte
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2009
Levelingstraße 6a, 81673 München
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Vorwort 3
Eberhard Hüppe
Von einem Märchen und seiner Dynamik
Sozialgeschichte, Sinnschichtungen, Oberflächen, Tiefenschichten in
der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern 26
Claus-Steffen Mahnkopf
Helmut Lachenmann: Concertini 46
Frank Hilberg
Geräusche?
Über das Problem, der Klangwelt Lachenmanns gerecht zu werden 60
Ulrich Mosch
Kunst als vom Geist beherrschte Magie
Zu einem Aspekt von Helmut Lachenmanns Musikbegriff 76
Martin Scherzinger
Dekonstruktives Denken in der Musik von Helmut Lachenmann
Eine historische Perspektive 97
Abstracts 115
Zeittafel 121
Autoren 123
Claus-Steffen Mahnkopf
Wie lässt sich heute, im Januar 2009, über ein bedeutendes Werk von Helmut
Lachenmann schreiben, von einem Komponisten, der vom isolierten Insider
über das Enfant terrible und den Agent provocateur zum respektierten Ver-
treter der musikalischen Avantgarde und danach zum Mythos seiner selbst wur-
de? Welche Art von Zurückhaltung wäre anzuraten, ohne diejenige Empathie
aufzugeben, die alle Musik verlangt? Concertini sind aus der jüngeren Pro-
duktion nicht irgendein Stück. Es ist gleichsam eine Summe, der Komponist
zieht alle Register und gibt dies in der Programmnotiz auch zu. »Mein kom-
positorisches Denkmodell aus den sechziger Jahren, jene Idee einer ›musique
concrète instrumentale‹, die den energetischen Aspekt des hervorgebrachten
Klangereignisses, seine ›Körperlichkeit‹ in den Kompositionsprozeß einbezieht,
oft sogar thematisiert, durfte sich – wenn dieses Modell lebendig bleiben woll-
te – nicht auf die Verfremdung des Instrumentalklangs beschränken. Es hat
sich von Anfang an gewandelt und geöffnet, und nicht bloß ›Geräuschhaftes‹
und Verfremdetes, sondern ebenso das Unverfremdete, Vertraute, im weites-
ten Sinne ›Konsonante‹ in den Griff genommen: nicht weniger als ›Geräusch-
haftes‹ bezieht es Rhythmisches, Gestisches, gar Melodisches, Intervallisches,
Harmonisches ein in der Absicht, alles Klingende und klingend Bewegte in so
verändertem Kontext ständig neu anzuleuchten.« Der Komponist sucht, was
sich schon in der Oper ankündigte, die Ausweitung der kompositorischen Mög-
lichkeiten in Richtung dessen, was der sozialkritische Avantgardeansatz von
einst ausschloss. Zugleich verschweigt Lachenmann nicht Anleihen bei ande-
ren seiner Werke, so Grido und Mouvement, und hört man die Tuba, denkt
man an Harmonica, die Gitarre, so an Salut an Caudwell, bestimmte Klavier-
stellen klingen wie aus der Serynade, die Idee instrumentalen Scharrens wird
aus Schreiben übernommen.
Das Werk Concertini ist ambivalent: Einerseits ist es die Summierung, die
Synthese, das Versprechen auf das bisher Ausgeschlossene, andererseits ver-
bindet sich damit der Verdacht, dem Komponisten sei nichts Neues mehr ein-
gefallen und er wolle ein in allen Dimensionen funktionierendes Bravourstück
vorlegen, das jeden rundum glücklich mache. Für beides sprechen Gründe,
gute Gründe. Ich meine, wer als Zeitgenosse in einer solch brenzligen Lage sich
schreibend in die Nähe eines Mythos begibt, kann dies nur tun, wenn er nichts
eskamotiert. So gebe ich zu, dass das jüngst uraufgeführte Werk von Helmut
Lachenmann, Got lost für Stimme und Klavier, für mich einfach nur enttäu-
Helmut Lachenmann: Concertini 47
1 Aber selbst ein so sturer Komponist und Lachenmannbewunderer wie Mathias Spahlinger muss-
te späterhin schmerzhaft erkennen, dass die Geräuschästhetik keine ultima ratio darstellt, weder
musikalisch noch, gewichtiger, historisch.
2 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Zugrunde
liegt die Partitur von 2005.
Helmut Lachenmann: Concertini 49
Abb. 1: Helmut Lachenmann, Concertini, T. 145– 147, 2. Violine, 2. Violincello, © 2005 by Breit-
kopf & Härtel, Wiesbaden
3 Diese Klangmöglichkeit, die neuerdings die Unterhaltungsindustrie erreicht hat, war vor Erfin-
dung des Tonbands dem menschlichen Ohr unzugänglich und muss einst, wie so manche Inno-
vation des Studios, auf die Komponisten elektrisierend gewirkt haben (Lachenmann erzählt sogar
die Anekdote, bei Nono einst rückwärts laufende Tonbänder mit angeblich hebräischen Be-
schwörungsformeln seitens Arnold Schönbergs verwechselt zu haben). Es wäre einmal zu unter-
suchen, wie weit die »musique concrète instrumentale« Lachenmanns, der sich (bislang?) nicht
auf das elektronische Studio eingelassen hat, eine instrumentale Antwort auf die damals neu auf-
kommenden Klänge ist.
4 Alle Beschreibung bleibt lückenhaft, weil Lachenmanns Partitur, hinsichtlich Textur, Klangtypen,
Instrumentation, Geräusch-/Ton-Relation, extrem bunt, vielgestaltig, mithin unberechenbar, alo-
gisch, assoziativ, fantasievoll ist. Bestimmtes, fokussierbares Material herrscht zuweilen vor, letzt-
lich läuft aber immer eine gleichsam nur statistisch erfassbare Schicht von unterschiedlichsten
Klangsprengseln ab, wobei zwischen dieser und den in den Vordergrund tretenden Ereignissen
hinsichtlich der hörenden Aufmerksamkeit eine kontinuierliche Gleitbewegung waltet.
5 Ich beziehe mich auf eine Gesamtlänge von 37 Minuten (Aufführung mit dem Ensemble Modern,
München, 25. April 2008, Leitung: Franck Ollu); die Partitur gibt eine Länge von 43 Minuten
an. Die CD-Aufnahme mit dem gleichen Ensemble unter der Leitung von Brad Lubman, der das
Tempo getragener nimmt und die Fermaten stärker auskostet, dauert knapp 42 Minuten (Ensem-
ble Modern Medien, EMSACD-001); die Proportionen sind die nämlichen.
50 Claus-Steffen Mahnkopf
6 Damit ist ein Klangbild im bewegten Tempo (Achtel entsprechen doppeltem Tempo) mit schar-
fen, gestischen Impulsen gemeint, meist, aber nicht immer im 3/8-Takt, teilweise mit schnellen
Werten (Läufe, Figuren) aufgefüllt (vgl. Abb. 2).
7 Können auch Resonanzen, Zwischen-, Hintergrund- oder Halte-Klänge sein, je nach Lachen-
manns freier Fantasie.
8 Steigerung mittels Dichtezunahme, intensiverer Innenfüllung des rhythmischen Gerüsts; die
»Nach-/Aus-Klänge« mit zahlreicheren punktuellen Ereignissen inmitten.
9 Im Folgenden trennt das +-Zeichen stets die Aktivitätsfelder (linke Seite) und die »Nach-/Aus-
Klänge« (rechte Seite).
10 Im Marimbaphon durch Scharren mit einem harten Schlägel auf den Klangplatten, auf den Pau-
ken mit gekreuzten Trommelstöcken; in den Oboen, im Klavier und der Harfe mit als »Kante«
bezeichneten Zusatzinstrumenten. Damit ist eine Holzkante (z. B. von Holznotenpulten) ge-
meint, die resonanzintensiv ist und eine »Abstufung zwischen hell (Kontaktstelle an der Spitze
des Stabs) und dunkel (Kontaktstelle am Schaft des Stabs)« gestattet.
11 An der schnellsten und dichtesten Stelle (Teil 3) werden Zweiunddreißigsteltriolen die vorherr-
schende Geschwindigkeit sein.
52 Claus-Steffen Mahnkopf
12 Hier wird die »3/8-Tektonik« aufgegriffen und zunehmend mit äußerst rasch jagenden Figuren
und markanten Impulsen aufgefüllt (z.B. T.320/321 [Abb. 2]).
13 Die Kursivsetzung zeigt an, dass diese »Nach-/Aus-Klänge« immer uneigentlicher, sprich: mit
dem gestischen Material legiert werden, freilich weniger polyphon und weniger dicht als die
Hauptteile, die sie verbinden.
Helmut Lachenmann: Concertini 53
Die Form von Concertini ist nicht unproblematisch.14 Dass Einleitungen eine
gewisse Zeit brauchen, um in ein spezifisches Klang«-Design« einzuführen, ist
unproblematisch. Teil 1b deutet an, dass die sich dort aufbauende Gestik nur
der Anfang von etwas ist, was später entfaltet und zu einem Höhepunkt getrie-
ben wird. Dieser (dritte) Teil lässt freilich lange auf sich warten, die neun Minu-
ten von Teil 2 sind relativ lang, werden aber zusammengehalten durch die
andauernden Scharrgeräusche und die beiden Soli (Gitarre und Harfe). Gera-
de weil der Teil so lange währt, erwartet man das, was im ersten Teil angelegt
worden ist, um so dringlicher. Der Hörer wird nicht enttäuscht, die fünf Minu-
ten des »Großen Concerto« sind eine Orchester-Hausse wie aus einem Guss,
mit klarer Steigerung und raffiniertem Timing, sprich: Binnengliederung. Der
Höhepunkt (Ende von Teil 3b) endet bei der 20. Minute, was dem Goldenen
Schnitt entspräche, wäre die zweite »Hälfte« um jene fünf Minuten gekürzt,
als die nicht nur einem Hörer das Werk zu lange erscheint.
Lässt sich ein Komponist mit dem exzessiv gestischen Teil 3 auf einen expres-
sivistischen, subjektbezogenen, finalzentrierten, dramatischen Ansatz ein, dann
hat das, viel stärker als bei einer weniger dramatischen Musik, Auswirkungen
auf die Gesamtanlage. In der Regel werden zwei formale Konsequenzen nötig.
Der Ausbruch sollte in der zweiten Hälfte einen ähnlich komptakten, aber
gestisch abgeschwächten Block als Pendant haben; mit Teil 5 (dem Streich-
sextett) ist das gegeben. Zweitens ist dafür zu sorgen, dass die Proportionen
zwischen der Musik bis zum Höhepunkt und danach »stimmen«, sprich: der
auf jenen folgende Teil nicht zu lang ausfällt. Und genau das ist aber der Fall.
Der sechste Teil, der keine eigenständige formale Idee präsentiert, sondern
lediglich Einzelaspekte aneinanderreiht, die man auch früher hätte integrieren
oder, so man sie nicht früher platzieren möchte, syntaktisch komprimieren
14 Ich hatte an anderer Stelle (»Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, in: auf [–] und zuhören.
14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, hrsg. von Hans-
Peter Jahn, Hofheim 2005) darauf aufmerksam gemacht, dass Lachenmanns Verwendung des
Strukturbegriffs eine uneigentliche ist und er – musikalisch – nicht ein Strukturalist genannt
werden kann. Man möchte ungern seine eigene Bestätigung betonen, doch: Was an Concertini
wäre Struktur? Gewiss ist diese Musik eine geplante, durchorganisierte, eine konstruierte – und
nicht eine improvisierte, dahingeworfene, »intuitive« –, das rechtfertigt aber nicht den Gebrauch
des Strukturalismusbegriffs, den wir in der Musik eher mit Werken wie den Kanons aus dem
Musikalischen Opfer, der Hammerklaviersonatenfuge oder Weberns Orchestervariationen ver-
binden, von Boulez’ Klavierzyklen mit den programmatischen Namen Structures abgesehen.
Helmut Lachenmann: Concertini 55
können, ist mit 8 Minuten zu lang (vor allem die große Sekunde T.615 ff.).15
Zöge man fünf Minuten ab, läge der Höhepunkt am Goldenen Schnitt (an
dem Höhepunkte nicht immer liegen müssen, aber es empfiehlt sich, diese
nicht vor ihn zu setzen), und das Nachspiel wäre mit drei (oder auch vier)
Minuten ausreichend. Lachenmann wird vermutlich, in Analogie zum syn-
taktischen und formalen »Nach-/Aus-Klang«, an einen großformalen gedacht
haben, an eine Musik, die nachträglich nicht nur über bestimmte Klänge nach-
zudenken beginnt – der Komponist spricht von »Reflektieren solcher ad hoc
zusammengetragener Klangkategorien« –, sondern vielleicht etwas von der
Wucht der Dramatik zurückzunehmen versucht. Gewiss, bestimmte Klänge
brauchen ihre Zeit. Und das heißt: buchstäblich Ausdehnung. Es fragt sich
aber, wo sie im Gesamtverlauf platziert sind. Denn je dramatischer eine Groß-
form, desto heikler wird die Dramaturgie. Als ob Lachenmann es geahnt hät-
te, versichert er, die Musik sei »angesiedelt in einem nichtsdestotrotz strengen
Zeitgerüst«. Allein, was heißt hier »streng«?16 Doch nur, dass eine präkompo-
sitorische Vorgabe bei der Komposition auch eingehalten und nicht verlassen
wird. Allein, Strenge ist kein Garant für Gelungenheit. Wie bereits ausgeführt:
Das Timing in Teil 3 ist meisterhaft. Ich bezweifle indes, dass dies für das
gesamte Werk gilt.17
Das vielleicht Auffälligste an diesem Werk sind die vier Oboen. Kein ande-
res Instrument ist mehr als zweimal besetzt. Warum mithin diese Gewichtung?
Wie bei kaum einem anderen Holzblasinstrument konnte bei der Oboe in den
letzten 15 bis 20 Jahren eine umfänglichere Materialausweitung festgestellt
werden, zumal seit 1994 eine detaillierte Studie über die Spieltechniken,
namentlich der Mehrklänge, vorliegt.18 Und trotzdem spielt die Oboe in
Lachenmanns Ensemble- und Orchesterwerken keine exponierte Rolle; wenn
sie erklingt, dann mit Spielweisen, welche die Herkunft des Instruments eher
verheimlichen, Luft und sonstige Geräuscheffekte, die wenig spezifisch für die
Oboe sind. Umgekehrt gehört die einträglichste Innovation, die Mehrklänge,
der Tonhöhenkategorie an, der sich Lachenmann erst in letzter Zeit intensiver
zuwendet. Ein anderer Grund für Lachenmanns mangelnde Liebe zu diesem
Instrument dürfte in dessen Klang liegen: seiner näselnden Präsenz. Das ver-
15 Lachenmann spart bei den Concertini nicht beim Aufwand: Zusatzinstrumente wie »Kante«, vier
Schlagzeuger, Monitore für die Raumdisposition; und, im 6. Teil, für jeden Musiker des Streich-
sextetts ein Zusatzinstrument, dessen Skordatierung zwar für eine möglichst nicht-harmonische
Polyphonie aus Doppelgriff-Flageolett-Glissandi (so T.646) nötig ist, aber trotzdem eine sehr
luxuriöse Ausstattung darstellt, vor allem in Anbetracht unserer Formdiskussion.
16 Es muss einer späteren Studie vorbehalten sein, dieses »strenge Zeitgerüst« – als Skizze, mithin
unabhängig von der Partitur – zu analysieren und mit der gegebenen Musik in Beziehung zu
setzen. Die Paul Sacher Stiftung hatte bei Abfassung dieses Textes die Skizzen noch nicht vom
Komponisten erhalten – ein Grund mehr, sich ganz auf das Ohr zu verlassen.
17 Die endgültige Fassung der Oper ist ebenfalls im Verhältnis zur uraufgeführten um mehr als ein
Zehntel gekürzt worden, wodurch sie nur gewinnt. Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, »Lachen-
manns ›Mädchen‹«, in: Musik & Ästhetik 26 (2003).
18 Vgl. Peter Veale/Claus-Steffen Mahnkopf, Die Spieltechnik der Oboe, The Techniques of Oboe
Playing, La technique du hautbois, Kassel 31998. Jede Oboe spielt im Übrigen einmal einen –
jedoch unspezifizierten – Mehrklang (T.658).
56 Claus-Steffen Mahnkopf
Solche – soll man sagen? – traditionellen Muster deuten auf einen postavant-
gardistischen Stil bei Lachenmann hin. Er selbst spricht von »Rhythmischem,
Melodischem, Gestischem, Harmonischem, Intervallischem«, mithin von der
Gesamtheit der musikalischen Morphologie. Und in der Tat klingen solche
Stellen, was Abb. 2 zeigt, auch nicht, wie früher, in Anführungszeichen, wie
mit der Pinzette angefasst, als ob man sich dessen schämen müsste oder davor
ekeln sollte. In Concertini klingt meist eine Quinte wie eine Quinte, eine große
Terz ist eine große Terz, ein Lauf ein Lauf, ein Akkord ein Akkord. Insofern
ist Lachenmann im 21. Jahrhundert angekommen, da seine negativistische
Klangwelt nicht einmal mehr für ihn selbst anschluss- oder ausbaufähig ist,
weshalb sich Jüngere, wollten sie daran anschließen, nur entweder epigonal,
mithin unfreiwillig unkreativ oder aber liebevoll ironisch verhalten können.
Reibestock auf Marimbaphon – ein ungemein reizvoller Klang – ist derart
lachenmannisch personalisiert, dass kein anderer ihn einsetzen kann.19
19 Der Beginn von Brice Pausets Vita nova (Sérénades) für Violine und Ensemble (2007) – erste
Partiturseite, bis zum Einsatz der Sologeige – klingt wie eine (bewusste?) Lachenmannfälschung:
Helmut Lachenmann: Concertini 57
hohes, ersticktes Pizzicato; Reibestock auf Marimbaphon; tonlose Bassflöte; gepresstes, rattern-
des Streichen, col legno quer zu den Saiten und auf dem Steg bei den Streichern; tiefe Klavier-
saite mit Plektrum reiben; Große Trommel mit der Bürste traktieren; tiefes Tamtam mit Trian-
gelschlägel reiben; extrem tiefer Kontrabassklarinettenton.
20 Dieser Schluss ist natürlich raffinierter. Erstens ist er streng genommen ein Penultima-Klang, da
das Werk mit überhängenden (gestrichenen) Crotales ausklingt. Zweitens spielen vier Bläser
innerhalb des Akkords eine halbtönige Nebennote und kehren wieder zurück, der romantischen
Alterationstechnik nicht unähnlich.
58 Claus-Steffen Mahnkopf
Gemeinhin und immer noch gilt Lachenmann als der deutsche Vertreter einer
Ästhetik des Widerständigen. Nach der Erfahrung der Concertini kann aber
gefragt werden: Wie lange kann ein kompositorischer Stil »widerständig« sein?
Ist dieses Werk überhaupt widerständig und, wenn ja, welche Aspekte? Um
welcher kulturellen, sozialen oder politischen Sache willen wäre solche Wider-
ständigkeit sinnvoll? Widerstand mag in der Wall Street, in Tibet, Palästina
oder in Simbabwe nötig sein, aber im Innenraum eines Flügels? Widerstand
scheint nötig innerhalb des Diskurses der Neuen Musik – und Lachenmann
hat ihn geleistet –, aber welche Mittel wären dazu heute effektiv? Das Pathos
der linken Fundamentalisten jedenfalls ist merklich abgekühlt. Der stets revo-
lutionsskeptische Luhmann gebrauchte die Formel: »Das Gegenteil braucht
nicht verboten zu werden, es kommt einfach nicht mehr vor.«21 Lachenmanns
Musik wird heute perfektionistisch virtuos gespielt, fast, als sei sie Richard
Strauss.22 Und sie wird bald süffig gehört werden, wenn es so weitergeht. Die
Rhythmik – das Musikantische – und das Bewegungsmodell – die fließenden
Übergänge – befördern das. Die Ästhetik des Widerständigen hat historisch
Großartiges geleistet, aber wie bei einer jeden Ästhetik folgt auf die Blüte der
Abschwung in die Dysfunktionalität. Lachenmann spürt das und versucht zu
reagieren. Und es zeigt sich, dass die Verwendung des Begriffs des Widerstän-
digen bei ihm immer problematisch war, da er, von wenigen Ausnahmen wie
seiner Oper abgesehen, den Widerstand nur innermusikalisch gesucht hat,
nicht aber an kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Phänomenen, ganz
im Gegensatz zu Nono und Klaus Huber, zwei Komponisten, denen schwer-
lich Verrat an der musikalischen Immanenz vorgeworfen werden kann.23
Klangkunst
199 Seiten
ISBN 978-3-88377-953-9
Gustav Mahler
362 Seiten
ISBN 978-3-88377-241-7
Mozart
Die Da Ponte-Opern
360 Seiten
ISBN 978-3-88377-397-1
Musikphilosophie
213 Seiten
ISBN 978-3-88377-889-1
Wolfgang Rihm
163 Seiten
ISBN 978-3-88377-782-5
Arnold Schönberg
– vergriffen –
Franz Schubert
305 Seiten
ISBN 978-3-88377-019-2