Es blitzt und donnert über Amsterdam, es stürmt in der Prinsengracht; ein Zelt von Flüchtlingen wird in den Böen erst umgestülpt, dann fortgerissen; schließlich stehen sie im Regen neben einem brennenden Fass und wärmen sich die Hände. Daneben trotzen jene Menschen den Elementen, die gleich ins Anne-Frank-Haus möchten, in jenes Museum, das sich ganz dem Andenken der jungen jüdischen Tagebuchautorin verschrieben hat.
Im Foyer des Museums aber, unter den wachsamen Augen der Familie Frank, die aus Portraits in den Raum blickt, liegt in einer Vitrine das berühmte Tagebuch aufgeschlagen. Es donnert, Glas birst, und die Tinte löst sich vom Papier, materialisiert sich zu einem Mädchen, einer rothaarigen jungen Frau, die sich verwirrt und orientierungslos erst umsieht und später dann ruft nach Anne, nach Otto, ist da noch irgendjemand?
Fiktion und Geschichte verweben
Regisseur Ari Folman, der mit seinem dokumentarischen Animationsfilm Waltz With Bashir 2008 Furore gemacht hat, einen nie gefilmten Teil seiner eigenen Lebensgeschichte durch Zeichnungen auf die Leinwand brachte, wendet sich hier einer Geschichte zu, die kunstvoll Fiktionales und Historisches zu einem ganz eigenen Stoff verwebt.
Die sich da aus dem Tagebuch heraushebt ist Kitty, Anne Franks ausgedachte Freundin, an die sie ihre Tagebucheinträge richtete; und so wie das Tagebuch am 1. August 1944 abbricht, bevor Anne und ihre Familie festgenommen und schließlich deportiert wurden, so weiß auch Kitty nicht, was mit ihrer „Freundin“ Anne passiert ist, findet sich auch sonst in unserer Gegenwart nicht sofort zurecht.
Die Erzählung wechselt immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Kittys Erinnerungen sind Annes Erlebnisse – ineinander verwoben sehen wir so einzelne Momente aus Annes Zeit im Hinterhaus und Kittys Recherchen und Konflikte im Amsterdam der Gegenwart.
Mit Annes Phantasie werden einzelne Momente ausgeschmückt und transformiert; eine Parade all ihrer Verehrer aus der Schule zieht an einer Gracht entlang, später drohen Nazis als unbesiegbar wirkende, gleichförmig uniformierte Schergen am Rand durch die Bilder.
Vor allem die Szenen im Hinterhaus gewinnen durch die Animation ungeahnte räumliche Tiefe und Lebendigkeit. Denn das Innere des Gebäudes (ebenso wie viele andere Handlungsorte und etwa das Innere eines Radios) wurden als Modelle gebaut, in das anschließend die in 2D gezeichneten Figuren eingefügt wurden. Dadurch erhalten die Motive eine andere Materialität, die sich nach und nach in die Wahrnehmung einschleicht: eine Grundierung in der Realität.
Schicksale in der Gegenwart
Kittys Leben und Hadern spielt sich in einer zeitlich leicht verschobenen Version unserer Gegenwart ab; während sie nach Spuren von Annes Leben sucht, kommt sie mit ersten Menschen in Kontakt. Zunächst kann sie niemand sehen; solange sie sich im Hinterhaus aufhält, ist sie unsichtbar, ein Geist, durch den Besucher_innen und Angestellte des Museums einfach hindurchlaufen.
Erst mit Peter ändert sich das, einem jungen Taschendieb. Mit seiner Hilfe und ein wenig Recherche findet sie mit zunehmendem Entsetzen heraus, was mit Anne Frank und ihrer Familie geschehen ist (Ereignisse, die der Film dann auch nicht ausspart, aber geschickt erzählt, ohne sie zur Schau zu stellen). Da ihre Existenz an das Tagebuch gebunden ist, entwendet Kitty es schließlich aus dem Museum, um Annes Schicksal bis ins Konzentrationslager Bergen-Belsen nachvollziehen, ihren Weg verfolgen zu können.
Der Diebstahl allerdings löst eine nationale Krise aus; so groß ist die Bedeutung des Tagebuchs als einzelnem Objekt, das Polizei und Medien im ganzen Land danach suchen, mit Schlagzeilen und Blaulicht.
„Erinnerungskultur“ mit leeren Blicken
Die Aufregung um das verschwundene Tagebuch steht im Kontrast zu den leeren Blicken, die man vorher bei den Tourist_innen sah, die Annes Zimmer im Hinterhaus besichtigen (zu sehen ist sogar ein animiertes Justin-Bieber-Double, eine Anspielung auf Biebers seltsamen Eintrag im Gästebuch des Museums vor einigen Jahren).
Die konkrete Art und Weise, wie das Museum das Leben von Anne Frank und den Nationalsozialismus konkret dokumentiert, ob es wirklich Erinnerung am Leben erhält, spielt in Wo ist Anne Frank kaum eine Rolle, auch wenn Folman selbst sich im Interview recht kritisch dazu äußert.
Aber indem er diese leeren Augen den durchnässten Flüchtlinge vor der Tür des Museums gegenüberstellt, wird Wo ist Anne Frank dann eben doch zu einem Kommentar zur „Erinnerungskultur“ und zu einem Versuch, Erinnerung anders zu nutzen. Draußen benennen wir Brücken, Theater, Bibliotheken, Statuen nach Anne Frank. Aber wie gehen wir mit den jetzt lebenden Menschen um, die heute verfolgt, vertrieben werden?
Die Handlung bringt Kitty unmittelbar mit dieser Diskussion in Berührung, lässt sie Partei ergreifen vor allem für ein kleines Mädchen, dessen Familie abgeschoben werden soll.
Folman erliegt zu keinem Zeitpunkt der Versuchung, das Schicksal von Flüchtlingen in den heutigen Niederlanden, im heutigen Europa, simplistisch mit der Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden zu vergleichen oder auch nur parallel zu setzen, weder ästhetisch noch narrativ.
Der Film stellt stattdessen die Frage: Was bedeutet uns das Tagebuch von Anne Frank heute eigentlich?
Irgendwann am Ende schwebt ein selbstgenähter Zeppelin über dem Haus, wo Kitty, Peter, die Flüchtlinge und auch das Tagebuch gemeinsam auf dem Dach zu finden. „Ich bin hier!“ ist darauf zu lesen: ein selbstbewusster Ausruf, ein wenig trotzig, ein Statement, das die eigene Existenz und Existenzberechtigung in die Welt hineinruft.
„Wir gehen in ein Versteck, was könnte da wichtiger sein als meine Erinnerungen?“ Das fragt Anne ihre Schwester, als diese etwas irritiert davon ist, dass Anne keine praktischen Dinge fürs Versteck einpackt, sondern zum Beispiel Fotos und ihr Tagebuch. Anne Franks Tagebuch ist, wenn man so will, ihr „Ich bin hier!“, und Ari Folman fragt, was wir aus dieser Erinnerung für unser Handeln heute ableiten wollen.
Eine Geschichte mit Kanten
Erzählerisch knirscht es in Wo ist Anne Frank gelegentlich ein wenig; die innere Logik der phantastischen Konstruktion erschließt sich nicht immer, und die Actionsequenzen, die es zwischendurch zu sehen gibt, wirken für den Rest des Films ein wenig überkandidelt.
Aber was soll’s. Wenn es dem Film gelingen sollte, Das Tagebuch der Anne Frank (hier übrigens etwas Hintergrund zur komplexen Publikationsgeschichte; im Fischer-Verlag gibt es die aktuell gültige Ausgabe) für eine neue Generation interessant zu machen, soll all das die Mühe (und jahrelange Produktionsgeschichte) wert sein.
Dazu trägt womöglich auch das "Graphic Diary" bei, die von Ari Folman und David Polonsky verantwortete, schon 2017 erschienene Graphic-Novel-Bearbeitung des Tagebuchs.
Parallel zum Filmstart gibt es auch die Graphic Novel Wo ist Anne Frank, ebenfalls im Fischer-Verlag erschienen, die die Handlung des Films erzählt, mit Kitty als Protagonistin. Für diese Aufgabe hat Folman mit Lena Guberman zusammengearbeitet, die das Aussehen des Films als Art Director bestimmt hat.
Wo ist Anne Frank war von Anfang an auch für den Einsatz in Schulen konzipiert (ausführliches Schulmaterial hier beim Verleih bzw. direkt hier zum Download – PDF, 35 MB); da ist es doch erfreulich, dass der Film in den allermeisten Fällen dem Duktus des Belehrenden oder auch nur explizit Lehrhaften erfolgreich ausweicht.
Das schließt ganz besonders das in jeder Hinsicht offene Ende ein, das viele Fragen im Raum stehen lässt – vor allem den fiktionalen Status seiner Hauptfigur. Hier lässt Folman alles, was man über Kitty weiß, in der Schwebe: Ein Engel der Historie, die ein Licht auf die Gegenwart scheint.
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Wo ist Anne Frank (Where Is Anne Frank). Belgien/ Luxemburg/ Frankreich/Niederlande/ Israel 2021. Regie: Ari Folman, 99 Min. FSK 6, empfohlen ab 10 Jahren. Kinostart: 23. Februar 2023.
(Fotos: Farbfilm Verleih)