Vernunftrecht

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Vernunftrecht ist Recht, dessen Begründung aus der bloßen Vernunft hergeleitet wird. Im Rahmen der Frühaufklärung gewann das Vernunftrecht unmittelbaren Einfluss auf Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtspflege der meisten europäischen Völker. Es prägte das 17. und 18. Jahrhundert und kann als säkularisierte Variante des wesentlich umfassenderen Naturrechts verstanden werden.

Die Besonderheit des Vernunftrechts bestand darin, dass es nicht die etablierte Fachjurisprudenz selbst war, die sich zum Wortführer unmittelbarer moralischer und sozialer Forderungen aufschwang, sondern dass die Initiative aus den Reihen der Vertreter der Sozialphilosophie hervorging. Da mit den Forderungen der Anspruch verknüpft war, selbst Rechtstheorie zu sein, rangen die Sozialphilosophen mit der späten Moraltheologie um die Legitimation, der positiven Jurisprudenz mit ihren Forderungen den Weg zu weisen. Letztlich emanzipierten sich die Sozialphilosophen von der Moraltheorie und eröffneten temporär ein eigenes Zeitalter.

Insbesondere sollte das Vernunftrecht späteren Kodifikationen den Weg weisen. Es entstanden Werke, die unter dem Begriff der Naturrechtsgesetzbücher gefasst werden. Insbesondere waren das neben dem preußischen Landrecht und dem österreichischen Zivilrecht, Gesetze Napoleons, diese zusammengefasst in den Cinq codes. In Frankreich konnten nach der Revolution die anstehenden Rechtsreformen mit einer systematischen und umfassenden Gesellschaftsneuordnung vorgenommen werden, da die Aufklärung zur Überzeugung geführt hatte, dass „vernunftgemäßes“ sittliches Handeln eines Regierungsapparates und eines nationalen Gemeinwillens die Gesellschaft verbessern würde.

Der vernunftbegabte Mensch kann die gesellschaftlichen Notwendigkeiten durch vernünftige Überlegungen einsehen und dieser Einsicht gemäß handeln. Das Recht kommt aus dieser Einsicht, also aus der Vernunft, mithin aus dem Menschen selbst, er trägt das Recht in sich. Der vernunftbegabte Mensch hat die Möglichkeit, durch Nachdenken, Überlegen und Werten das Recht zu erkennen. Dies führt zur Unterscheidbarkeit von als „richtig“ empfundenen Recht, das die Normen menschlichen Zusammenlebens aus Vernunft ableitet und positivem Recht, das zunächst mal nur den Inhalt geschaffener Gesetze (Kodifikationen) wiedergibt.

Die Vorstellung eines Vernunftrechts entstand vor dem geschichtlichen Hintergrund der Konfessionskriege und fügte sich ein in die ideengeschichtlichen Entwicklungen der Aufklärung. Vernunftrecht kann insoweit als „Rechtstheorie der Aufklärung“ verstanden werden.[1] Das dabei konzipierte Rechtsverständnis verstand sich als in sich geschlossen und von streng rationaler Natur.[2][3] Es sollte als zeitlos angesehen werden und allein auf der Vernunftbegabung des Menschen und der Natur der Sache fundieren.[4] Ein derartiges Rechtsverständnis ist naturrechtlich geprägt und lässt sich somit von christlich orientierten Rechtstheorien abgrenzen, versteht sich gleichermaßen aber auch als kritischer Leitfaden des politisch gesetzten Rechts, da die Vereinbarkeit der Willensäußerung des Souveräns mit der Vernunft geprüft werden kann.[5] Insbesondere mit Christian Thomasius richtete sich die Kritik des Vernunftrechts auch gegen die vorbehaltlose Rezeption des römischen Rechts.[6]

Als Wegbereiter des Vernunftrechts galten schon Johannes Althusius, Johann Oldendorp und Hugo Grotius. Insbesondere bei Grotius wird deutlich, dass er die modernen Grundsteine des zugrunde liegenden Naturrechts legte. Im Unterschied zu den Vernunftrechtlern abstrahierte er noch keine Axiome und Grundsätze, sondern berief sich auf die Zeugnisse allseitigen überkommenen Rechts, was bedeutete romanistische, theologische und humanistische Vermächtnismassen zusammenzuführen. Diese bestanden aus (kompiliertem) römischen Recht, altkirchlichen moraltheologischen Traditionen, erweitert um sein spätscholastisch-erasmisches Denken, das er in die Jurisprudenz einführte. Daraus entwickelte sich bereits ein Rechtsbewusstsein mit dem Anspruch der Humanität und um ein suprakonfessionelles und supranationales Völkerrecht, naturrechtlich hergeleiteter Prägung.[7]

Frühe Vertreter des Vernunftrechts selbst waren in Deutschland etwa Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff, in Österreich Karl Anton von Martini und Franz von Zeiller. Maßgeblichen Einfluss auf das Vernunftrecht übte die Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre von Immanuel Kant aus. Der vernünftige Wille wird bei Kant zur Grundlage des richtigen Handelns. Jedem Menschen steht kraft seiner Menschheit das Recht auf (prinzipiell unbeschränkte) Freiheit zu (was insbesondere auch bei Johann Gottlieb Fichte betont wird.[8]) Freilich kommt es in einer Gesellschaft zu Konflikten zwischen der Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit anderer. Zur Auflösung solcher Konflikte und um die Freiheit aller zu gewährleisten, dient das Recht dazu, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit in Einklang zu bringen.[9]

Das nachkantische Vernunftrecht minimierte den Bezug auf subjektive Willensmerkmale. Es abstrahierte Recht insoweit, als für legitimes Recht gehalten wurde, was in seinen formalen Erscheinungsmerkmalen die dahinterstehende Vernunft eines Systems normativer Anforderungen ausdrückte.[10] Dieser moralische Realismus eröffnet dem positiven Recht gleichwohl viele Spielräume. Maßstab zur Entscheidung, was Recht sei, ist demnach das Urteil eines unbeteiligten, neutralen Beobachters, der zur Bewertung einer Aussage einen unparteiischen Standpunkt einnimmt und deshalb von subjektiven Interessen absieht. In diese Tradition reihen sich Jürgen Habermas oder auch der frühe John Rawls ein.[11] Im kritischen Kontext wird bisweilen gegen das Vernunftrecht argumentiert, dass es für „interkulturell unsensiblen Vernunftpaternalismus“ stünde.[12]

Die Lehre vom Vernunftrecht steht dem Rechtspositivismus gegenüber. Der setzt für die Entstehung, Durchsetzung und Wirksamkeit von Rechtsnormen allein voraus, dass diese durch das Volk beziehungsweise durch den Staat positiv gesetzt wurden. Aus diesem Grund bedarf das Recht dann keiner überpositiven (ethischen) Begründung mehr.

Moderne Vertreter des Vernunftrechts sind unter anderem Ronald Dworkin und Robert Alexy.

Parallel zum Vernunftrecht entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert der auf das Corpus iuris civilis reflektierende usus modernus pandectarum.

Kodifikation des Rechts

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein wesentlicher Aspekt des vernunftrechtlichen Denkens ist das Ziel, die Rechtsordnung in große Kodifikationen zusammenzufassen, mithin in einem möglichst geschlossenen und vollständigen System zu sammeln. Erste große Bedeutung erlangte das preußische Allgemeine Landrecht, eine Rechtsordnung die für sich beanspruchte, systematisch erfasstes und umfassend wiedergegebenes Recht darzulegen.[13][4]

Die wichtigsten, heute noch geltenden vernunftrechtlich geprägten Zivilrechtskodifikationen sind der französische Code civil (1804) und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) von 1811. § 16 ABGB fasst die Basis des Vernunftrechts prägnant zusammen:

„Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“

Siehe zu den angeborenen Rechten auch die Menschenrechte. Weitere große vernunftrechtlich geprägte Kodifikationen waren in Bayern der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 sowie in Preußen das zuvor erwähnte Allgemeine Landrecht von 1794.

  • Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Suhrkamp, Frankfurt 1961, S. 81 ff.
  • Ursula Floßmann, Herbert Kalb, Karin Neuwirth: Österreichische Privatrechtsgeschichte. 7. Auflage. Verlag Österreich, Wien 2014.
  • Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen, 4. Auflage 1962. ISBN 978-3-525-18105-8 (Überblick über die Ideengeschichte).
  • Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Auflage. Göttingen 1967.
  • Dietmar Willoweit (Hg.): Die Begründung des Rechts als historisches Problem (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 45), München: Oldenbourg, 2000 (Digitalisat).
Wiktionary: Vernunftrecht – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Hans Schlosser: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. 10. Auflage. C.F. Müller Verlag / UTB 2005, ISBN 3-8252-0882-6. 8.I. + 9. Kapitel.
  2. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, 2. Aufl. 1967. S. 249 ff.
  3. Klaus Adomeit, Susanne Hähnchen: Rechtstheorie für Studenten. 6. Aufl., Verlag C.F. Müller, Heidelberg 2011. ISBN 978-3-8114-9879-2. S. 500 f.
  4. a b Mehrdad Payandeh: Judikative Rechtserzeugung. Theorie, Dogmatik und Methodik der Wirkungen von Präjudizien. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, ISBN 978-3-16-155034-8. S. 59–61.
  5. Heinz Mohnhaupt: Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime. In: Ius Commune 4, (1972), S. 188 ff. (199 f.).
  6. Christian Thomasius: Dissertationem iuridicam inauguralem, de rite formando statu controversiae: An legum iuris Iustinianei sit frequens, an exiguus Usus practicus in foris Germaniae?, 1715.; Dietmar Willoweit: Der Usus Modernus oder die geschichtliche Begründung des Methodenwandels im späten 17. Jahrhundert. In: Dietmar Willoweit (Hrsg.): Die Begründung des Rechts als historisches Problem (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 45), München: Oldenbourg, 2000 (Digitalisat). S. 229 ff. (240 f.).
  7. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Auflage. Göttingen 1967, DNB 458643742 (1996, ISBN 3-525-18108-6). S. 287–301 (288 ff.).
  8. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Gabler, Jena und Leipzig 1796/1797, S. 116 ff.
  9. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Akademie-Ausgabe, S. 230.
  10. Arno Anzenbacher: Menschenrechtsbegründung zwischen klassischem und neuzeitlichem Naturrecht. In: Margit Wasmaier-Sailer, Matthias Hoesch (Hrsg.): Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Perspektiven der Ethik 11, Mohr Siebeck 2017, ISBN 978-3-16-154057-8. S. 121–133.
  11. Margit Wasmaier-Sailer, Matthias Hoesch: Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte. In: Margit Wasmaier-Sailer, Matthias Hoesch (Hrsg.): Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Perspektiven der Ethik 11, Mohr Siebeck 2017, ISBN 978-3-16-154057-8. S. 1 ff. (15 f.).
  12. Ohne eigene Einlassung dargestellt bei: Margit Wasmaier-Sailer, Matthias Hoesch: Die Begründung der Menschenrechte: eine Skizze der gegenwärtigen Debatte. In: Margit Wasmaier-Sailer, Matthias Hoesch (Hrsg.): Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, Perspektiven der Ethik 11, Mohr Siebeck 2017, ISBN 978-3-16-154057-8. S. 1 ff. (14).
  13. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1952, 2. Aufl. 1967. S. 322 ff.