9. Warum wird in Deutschland so wenig gesungen

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Warum wird in Deutschland so wenig gesungen?

Vor einigen Wochen war ich in Brugge zu einem Orgelkonzert. Am Abend davor setzte ich mich
nach dem Abendessen mit einem Eis auf die breite Treppe des Postamtes und beobachtete das
muntere Treiben auf dem belebten Platz. Ich blieb nicht lang alleine. Immer mehr Jugendliche
sammelten sich um mich herum, augenscheinlich eine englische Schulklasse, ich schätze, so
zwischen 15 und 16 Jahren. Jemand aus der Gruppe fing ein Lied an – alle anderen fielen ein. Ein
anderes Mädchen begann ein neues Lied, die anderen sangen mit. Die Jugendlichen standen
weder unter Drogen noch unter Alkohol – das Singen machte ihnen einfach Spaß. Schließlich kam
die Lehrerin dazu, sie klärte mich auf, dass es sich um eine Middle-School aus einem Vorort
Londons handelte. Die Jugendlichen – manche jungen Männer kaum dem Stimmbruch
entwachsen - sangen ausgezeichnet, alle machten einen fröhlichen, einander zugewandten
Eindruck.

Ganz beschwingt verließ ich die Szene und stellte mir die Frage, ob das auch in Deutschland
ginge.

Ein krasses Gegenbeispiel: Ich versuche von Zeit zu Zeit die Gottesdienstgemeinde in St.
Bonifatius kurz vor dem Gottesdienst entweder zu neuen Liedern oder zum Singen von Kanons zu
animieren. Es amüsiert mich schon fast, wie manche Leute in diesem Fall einfach nichts tun: Die
einen tun so, als würden sie intensivst ins Gebet versunken sein, andere blicken betreten zur Seite
und die dreistesten schauen mich an, tun so, als ob sie das überhaupt nichts anginge und
reagieren einfach nicht. Mit frechen Bemerkungen meinerseits versuche ich dann die Stimmung
aufzulockern „Meine Damen und Herren: Es passiert Ihnen nichts, wenn Sie den Mund
aufmachen, Singen ist ungefährlich!“ oder: „Es ist nicht peinlich, wenn Sie lauter singen als Ihr
Nachbar, zeigen Sie ihm, was sie können“. Notfalls helfen auch die seriösen Ermunterungen:
„Denken Sie daran: Wer singt, betet doppelt!“.

Übrigens lassen sich Jugendliche viel leichter überreden, ihre Zurückhaltung aufzugeben als ältere
Erwachsene. Von denen wurde ich schon mal kritisiert, es sei unmöglich, dass der Herr Dessauer
einen im Gottesdienst nicht in Ruhe lassen würde. Irgendwie scheint mir da ein falsches Bild von
einem „Gemeindegottesdienst“ zu Grunde zu liegen.

Jugendliche singen in Deutschland meist nur dann gerne, wenn es mit Ritualen zu tun hat
(Fußball), oder übermäßiger Alkoholkonsum zu einem Absenken der Hemmschwellen geführt hat.
In der Schule ist Musik ein unterbewertetes Fach, dessen Leistungsbewertung zu wenig
signifikanten Einfluss auf die Gesamtnote hat.

Klassische Musik ist dem normal gebildeten Jugendlichen heute ebenso fremd wie Kirche. Auch
die Eltern singen meist nicht, zum Einschlafen gibt es ja spezielle „Kinder-Einschlaf-CDs. Die
Großeltern, die ein solches Defizit früher oft auffangen konnten, wohnen nicht mehr im gleichen
Ort, wo soll ein Kind heute eigentlich noch gute Musik zu hören bekommen? Oder schlimmer: fast
jedes Kind hat ab dem Babyalter ein eigenes Musikreproduktionsgerät in seinem Zimmer stehen.
Aus dem dudelt dann mehr oder weniger kindgerechte, aber zumindest fast durchweg leicht
verdauliche Hintergrundsmusik. Wie soll ein Kind da noch die Notwendigkeit verspüren, selber
Musik zu machen?

Zum Glück gibt es noch Eltern, die ihren Kindern zum Einschlafen, aber eben nicht nur dann
Lieder vorsingen und mit ihnen gemeinsam singen.

Ein Wort an die Väter: Immer wieder erlebe ich, dass ein Kind im Kinderchor den Ton, wenn ich ihn
vorsinge, nicht automatisch in der Kinderlage nachsingt, sondern direkt versucht, meine Stimmlage
zu finden. Das ist natürlich Unsinn und beweist, dass der Vater (oder/und Großvater) noch nie mit
diesem Kind gesungen hat. Ganz offensichtlich gibt es noch einmal ein Gefälle zwischen Frauen
und Männern. Ein Mann singt nicht!
Als Leiter eines Kinderchores im 21. Jahrhundert erlebt man die komischsten Dinge. Da war der
Junge, dessen Mutter ihn in den Kinderchor schickte. Sie beschrieb ihn als Kind, das zu Hause
immer Töne schmettern würde. Mir war zu dem Zeitpunkt nicht klar, wie wörtlich das gemeint war.
Nun, er kam, sollte einen Ton nachsingen, und produzierte auf einmal einen Pavarotti-ähnlichen,
vibratoreichen Ton in größter Lautstärke mit der dazugehörigen Operngeste, die er eindeutig aus
dem Fernsehen kannte. Leider handelte es sich mitnichten um den geforderten Ton. Es stellte sich
heraus, dass er nur diesen einen Ton und in dieser Theatralik beherrschte. Das normale, lockere,
kindgemäße Singen beherrschte er nicht, und wollte es auch eindeutig nicht erlernen.
Möglicherweise hatte man ihn zu Hause ob des einen Tones in den Himmel gelobt und ihm eine
Karriere als „Pavarotti 2“ in Aussicht gestellt. Er hat die Sonderbehandlung im Kinderchor nicht
erhalten und verließ ihn bald wieder.

Und dann gab es den Vater, dessen Kind ihm zu verstehen gab, dass es singen möchte. Doch
anstatt selbst mit dem Kind zu singen, delegierten sie die Verantwortung lieber an einen „Profi“
(„Wir? Nein! Wir können nicht singen. Deshalb soll er ja zu Ihnen!“). So kam der arme Knabe in
den Chor, mit 9 Jahren viel zu alt. Weder von mir, noch von einem anderen Kind konnte er den
Ton abnehmen.
Ich pflege in solchen Fällen mit den Eltern zu reden: Wenn das Kind (noch) nicht singen kann,
dann liegt es daran, dass niemand zu Hause mit dem Kind singt, geschweige denn gesungen hat.
Dann dauert es bisweilen recht lange, bis ein Kind das Singen drauf hat. Die Eltern behaupten in
diesem Fall gerne, man hätte ihnen in der Schule gesagt, sie können nicht singen, daher täten sie
es dann auch nicht mehr. Ich halte das meist für eine fromme Ausrede, so unpädagogisch war
man auch vor 30-40 Jahren nicht. Oder etwa doch?

Alle Kinder sind zunächst musikalisch. Bevor ein Baby spricht, singt es (cum grano salis). Singen
ist das erste, natürlichste, eigenste, vielfältigste, billigste und pflegeleichteste Musikinstrument des
Menschen.

Wenn also ein Brummer (interessanterweise mehr Jungen als Mädchen: Ist Singen nur was für
Mädchen, s.o.?) in den Kinderchor kommt, dann wird er darin trotzdem aufgenommen. Er darf
meistens mitsingen und bei den Einzelübungen lobe ich ihn für jeden Ton, den er geschafft hat.
Die anderen Kinder sind bemerkenswert tolerant, und klatschen nicht selten Beifall, wenn ein Kind
zum erstenmal einen höheren Ton, beispielsweise ein e’’ geschafft hat.

Fast jedes derartige Kind in unserem Kinderchor hat früher oder später das Singen gelernt.
Voraussetzung dafür war der Spaß am Singen. Häufig fehlt nur ein Vertrauen in die Kraft des
eigenen kleinen Körpers. Die anderen Kinder können dabei gut helfen. Unser Kinderchor ist in
zwei Gruppen, den „kleinen“ und den „großen Kinderchor“ aufgeteilt, insgesamt singen etwa 55 bis
60 Kinder in diesen Gruppen. Alle fangen zunächst im kleinen Kinderchor an. Auch 5-jährige
können in diesen Chor kommen, so lange sie eine Dreiviertelstunde einigermaßen ruhig
mitmachen. Bei manchen geht das, bei anderen rate ich den Eltern, lieber noch etwas zu warten.
In diesem Chor wird fast nur auswendig gesungen, die Älteren bekommen auch mal ein
Liederbuch in die Hand gedrückt. Auch viele rhythmische Spielchen, möglichst mit Bewegung,
machen wir in diesem Chor (z.B. die „Knopffabrik“). Ich habe festgestellt, dass das rhythmische
Empfinden bei vielen Kindern fast noch defizitärer ist als das tonliche. Es ist traurig, dass manche,
auch tonlich begabtere Kinder, einen leichten Rhythmus nicht nachklatschen können. Doch auch
hier gilt: Nach einer Weile haben sie es alle gelernt.

Zur Aufnahme in den „großen“ Chor gibt es zwei klar formulierte Kriterien: 1. Das Kind muss einen
neuen Liedtext fließend lesen können, 2. Das Kind muss den Ton f’’ halten können. Damit habe ich
die Voraussetzungen, um die anspruchsvolleren Aufgaben des „großen“ Kinderchores angehen zu
können. Der große Kinderchor versucht sich sowohl an neueren Liedern (z.B.: Uli Führe:
„Jazzkanons“), aber auch an Klassik. Wir haben schon Bach gesungen, Mozarts „Ave verum“,
Duruflé’s Vater unser, alles aber einstimmig in englischer Tradition, nach der These, wonach es im
Kindesalter keine echten Altstimmen gibt. Außerdem ist es natürlich leichter und man kommt
schneller zum Erfolgserlebnis.
Es gibt übrigens eine Gruppe im Kinderchor, die nicht lange bleibt. Meist merkt man den Kindern
an, dass es Ihnen gar keinen Spaß macht, in einem Kinderchor zu singen. Und wenn sie das nicht
wollen, hat es auch keinen Sinn, es zu forcieren. Das sind dann die Kinder, die sonntags nicht zum
Gottesdienst kommen, wenn der Kinderchor singt: Denn in der Woche, da schickten die Eltern ihre
Kinder zum Kinderchor, damit sie in Ruhe etwas erledigen oder einkaufen konnten, am Sonntag
müssten sie extra zur Kirche.

Singen muss etwas mit Selbstbewusstsein zu tun haben. Oder umgekehrt: Singen schafft
Selbstbewusstsein. Ich bin immer wieder fasziniert, wie wenig Disziplinprobleme wir in unserem
Kinderchor haben. Okay, die Kinder sind lebhaft, das dürfen sie auch zwischendurch sein, wenn
sie andererseits auch konzentriert singen. Aber Ärger gibt es zwischen den ganz verschiedenen
Kindern nicht. Klassenschranken gibt es in einem Kinderchor ohnehin nicht. Umgekehrt hilft
Singen auch bei Angst. Die gesundheitsfördernde Wirkung wurde inzwischen in Tests bewiesen.
Ebenso die Intelligenz fördernde und, wie es so schön heißt die „Sozialkompetenz“ fördernde
Wirkung. Schon komisch, dass man heute etwas erst glaubt, wenn es „wissenschaftlich erwiesen“
ist.

Früher sangen die Deutschen mehr. Und die verbindende Kraft der Musik haben sich auch die
Nationalsozialisten zu Nutze gemacht. Die völkischen Gesänge (z.B. das „Horst Wessel-Lied“)
gehörten zum Einheits bildenden Ritual jeder größeren Feier: Die Nazis hatten viel von den
Volkskirchen gelernt.

Das brachte nach dem Krieg gemeinschaftliches Singen in Deutschland in den Verruf, Ausdruck
anachronistischen Denkens zu sein. Die 68-Revolution tat ein Übriges, um dieses Gedankengut
und damit den Gesang als überholt zu kennzeichnen bzw. zu diffamieren. Zudem ist das Singen in
Gemeinschaft in einer zunehmend das Individuum fördernden Zeit nicht mehr zeitgemäß.
Mannschaftssportarten gelten heute als proletarisch… Große Konzertchöre, die „Singakademien“
gibt es fast nicht mehr. Was im 19. Jahrhundert Ausdruck höchster Bildung war, gilt heute als
anachronistische Freizeitbeschäftigung.

Was nun fehlt, ist der Wissenschaftler, der öffentlichkeitswirksam erklärt, dass gemeinschaftliches
Singen auch für Erwachsene eine intelligenzfördernde, gesundheitsfördernde und
chancenfördernde Wirkung hat. Dann fangen die Menschen vielleicht wieder an, in Chöre zu
kommen und in der Kirche mitzusingen.

Gabriel Dessauer

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