DER GOTISCHE GLIEDERPFEILER, Günther Binding
DER GOTISCHE GLIEDERPFEILER, Günther Binding
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Als vor 750 Jahren, 1248, der Chor des Kölner Doms begonnen wurde, wäh
hard den gerade in einer der reichsten französischen Handelsstädte im Bau
Kathedrale von Amiens (nach 1233-1264), der die Endstufe der hochgotische
Frankreich darstellte, zum Vorbild, jedoch nur für den Grundriß. Der in A
pfeiler mit Kapitell und vier vorgelegten Dreiviertelsäulchen (Abb. 25,26), der
Pfeilen, wie er u.a. die Kathedralen von Chartres 1195-1210, Paris 1210
und den Chor von Tours vor 1233 prägt, wurde durch den weiterentwickelt
(Abb. 1, 2), wie er 1231/1241 in der Klosterkirche Saint-Denis bei Paris, der
gischen und französischen Könige, ausgebildet war. Der Kölner Bündelpf
dazwischen jeweils einem (Chorumgang, um 1260) oder zwei (Hochchor
Diensten ist die übliche hochgotische Pfeilerausformung, deren »dichte Profi
fläche in nahtloser Wellenbewegung überziehen und langbahnige, von keinem
Dienste an die Hochwand entsenden.«1
Besonders in der deutschen wissenschaftlichen Literatur gilt der >kantonierte Pfeilen als charakteri
stisch gotisches Element, das um 1200/1210 in Chartres entwickelt worden ist (Abb. 20). Jürgen Mich
ler nennt als Schlüsselfiguren für das in der klassischen Kathedralgotik ausgebildete ambivalente
Strukturprinzip den in Chartres in das Kathedralsystem integrierten »kantonierten Pfeiler« und das
in Reims ausgeprägte »Maßwerkfenster«.2 Hans Jantzen übernimmt in seiner meisterhaften Form
analyse der gotischen Kathedrale von 19573 die von Viollet-le-Duc4 und Pierre Chabat5 1875 einge
führte Bezeichnung, wonach ein Pfeiler kantoniert (cantonné) ist, wenn eine Zentralsäule von vier
Wandsäulen (z.B. Reims) umgeben ist. Allerdings ist bei Viollet-le-Duc und Chabat die Definition
nicht so eng gefaßt; auch die von Säulen frei umstellten Säulen (z.B. Laon, Abb. 18) und auch recht
eckige Pfeiler mit Vorlagen werden entsprechend genannt (Abb. 3). Lisa Schürenberg spricht bereits
1934 beim Chor von Evron (um 1332) vom »traditionellen kantonnierten Pfeiler«.6 Dieter Kimpel
und Robert Suckale haben 1985 in ihrem großen Werk über »Die gotische Architektur in Frankreich«
diese Auffassung bestätigt: »Die bekannteste Erfindung des Chartreser Entwerfers ist der kantonierte
Pfeiler.«7 Und sie fahren fort: »Die Architekten der vorangegangenen zwei Jahrzehnte hatten schon
vielfach Säulen mit Diensten verstärkt und umstellt, in Paris, Laon oder Soissons. Dabei bestanden die
Stützen entweder aus einer Gruppierung von En-délit-Diensten (deren Steine vertikal gestellt sind)8
oder aber aus einer Kombination von Säulchen mit einem gemauerten Pfeilerkern. In Chartres sind
die Vorlagen aus einem Stück mit dem Kern aufgemauert [...] Formal gesehen >umstehen< diese
Dienste den Pfeilerkern nicht mehr, sondern verschmelzen mit ihm. In den Pfeilersockeln, besonders
aber in den Kapitellen ist dieses subtile Ambivalenzverhältnis zwischen Kern und Vorlagen besonders
artikuliert: Die durchgehende Kämpferplatte betont ihre Zusammengehörigkeit, die halbierte Höhe
29
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Abb. 1 Köln, Dom, Chorpfeiler, um 1260/1
30
Deutschen hat Lisa Schürenberg und Wilhelm Schlink veranlaßt, >kantonniert< entsprechend dem
Französischen mit zwei >n< zu schreiben.13
Andererseits darf über der Diskussion der rechten Verwendung des Fachausdrucks nicht übersehen
werden, daß sich mit der Form der Stütze in Chartres und anderen gotischen Kathedralen Frank
reichs eine Sonderform entwickelt hat, deren Genese nachzugehen sich lohnt und die, so meine ich,
durch die Benutzung des Begriffs >kantonierter Pfeilen überdeckt und verunklärt wird. Die allzu
unspezifische Definition des >kantonierten Pfeilers< und die fehlende Unterscheidung zum Pfeiler mit
Vorlagen hat Max Flasak im Flandbuch der Architektur 1903 interessanterweise dazu veranlaßt, den
Begriff nicht zu benutzen, sondern bei der Kathedrale von Reims von der »Anlehnung von vier dün
nen Säulchen an die große runde Kernsäule« zu sprechen.14 Er folgt damit Franz Kugler 1859: »Die
Schiffpfeiler [von Chartres] haben die Grundform der Säule, regelmässig mit vier anlehnenden Dien
sten besetzt, nur in der seltsamen Laune, dass wechselnd je eine Rundsäule mit achteckig polygonen
Diensten und je eine achteckige mit runden Diensten versehen ist. Die Säule, welche den Kern bildet,
hat ihr stärkeres Blattkapitell, jeder Dienst nach dem Verhältniss seiner Dicke ein minder hohes; doch
entbehrt der vordere Dienst des Kapitales ganz und ist nur durch das Deckglied des letztern abge
schlossen.«15 Flalten wir uns an den Verfasser, der bald nach 1220 in der Vita Hugos I., Bischof von
Lincoln, die Rundpfeiler mit umstellten, in halber Höhe gewirtelten Säulchen im Chor der 1186—1220
erbauten Kathedrale von Lincoln so beschreibt: »Säulchen, die so die Säulen umgeben, daß sie dort
eine Art Reigentanz zu feiern scheinen.« (»Inde columnellae, quae sic cinxere columnas, ut videantur
ibi quandam celebrare choream.«)16
In dieser zeitgenössischen Quelle wird nicht unterschieden zwischen Pfeiler und Säule, wie wir es heute
in einer fachgerechten Terminologie gewohnt sind. Danach muß der Pfeiler, um sich von einem Mau
31
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York Bagneux London, Temple Soissons
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Entsprechend Gervasius, Villard de Honnecourt und der modernen Terminologie muß man formal
bei den Chartreser Stützen von Pfeilern mit Säulenvorlagen sprechen, jedoch auf die Besonderheit
hinweisen, daß hier die Säulenvorlagen mit dem Pfeilerkörper aus einheitlichen Quaderschichten auf
gemauert sind und der Pfeiler ein Kapitell hat. Die Fragen, ob diese Ausformung so bedeutend ist,
daß in Chartres von einer wichtigen Neuerung gesprochen werden darf oder nicht und ob man dort
vom >kantonierten Pfeilen zu sprechen hat oder nicht, soll die folgende Untersuchung der Stützen
entwicklung im Verlauf der Romanik und Gotik zu beantworten versuchen.
Hans Jantzen ist der Bedeutung der Arkadenstütze im gotischen Wandsystem nachgegangen: »Die
Gestaltung dieser Arkaden [Chartres] ist das Ergebnis einer künstlerischen Rechnung, in der nich
selbstverständlich, nichts unwichtig erscheint und die die Arbeit und die Erfahrungen von zwei Ge
rationen gotischer Baumeister des 12. Jahrhunderts mit einem gewaltigen Sprung zu neuer Konz
tion hinter sich läßt.« Die Arkadenstütze »hat [...] sowohl nach den Seitenschiffen wie nach d
Hochschiff hin Aufgaben zu erfüllen, die mit der Organisation der gotischen Kreuzrippengewölb
34
35
Der Wandel in der Auffassung von Säule und Pfeiler wird besonders deutlich im Chor vo
Denis. Die >columnae< im Chorumgang, den Abt Suger 1140-1144 errichten ließ, stehen ganz i
traditionellen Entwicklung: ordnungsgemäß mit Basis, Kapitell und Kämpfer ausgestattete Säu
deren monolithe Schäfte sich jedoch nicht verjüngen. Je nach Standort sind die Schäfte wie noc
1176 im Südquerhaus der Kathedrale von Soissons (um 1200), im Chor der Stiftskirche Notre-
en-Vaux in Chälons-sur-Marne (Abb. 10) oder in Saint-Remi in Reims (1170—1200) dicker oder
ner, gedrungener oder schlanker. Plinthe und Basissockel sind an den Ecken abgeschrägt. Erst b
Umbau des Chors von Saint-Denis nach 1231 wurden die inneren Chorsäulen durch gemau
setzt, und auf der Chor-Innenseite wurde ihnen ein Dienst vorgelegt, für den der Kämpfer a
schlagen werden mußte. Das entspricht ähnlichen Bildungen in Chor (um 1200—1212) und Lan
(bis um 1230) der Kathedrale von Soissons, in der Kathedrale von Beauvais (1227-1245), im
der Kathedrale von Clermont-Ferrand (1248-1280) und in der Kathedrale von Meaux (nach 125
An zahlreichen Beispielen romanischer und frühgotischer Chorumgänge läßt sich verfolgen,
Säulen schon sehr früh die Verjüngung des Schafts verlieren, schlank proportioniert und aus
meln aufgemauert werden. Sie ruhen auf Basen, die zumeist das attische Profil und häufig au
zier zeigen, und sie tragen Kelchblock- oder Kelchkapitelle mit quadratischen, später abgefast
oktogonalen, häufig mit dem Abakus verschmolzenen Kämpfern. Die Stützen frühgotischer L
hausarkaden entsprechen den Chorsäulen. Sie sind je nach Proportion des Wandaufrisses mehr
36
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weniger gedrungen, in hochgotischer Zeit bei Aufgabe der Empore auch sehr hoch und schlank, z. B.
die Kathedrale von Châlons-sur-Marne und die Augustinerchorherrenabtei Essômes/Aisne, um
1220/1240. Auch als gekuppelte Säulen im Wechsel mit dickeren gotischen Säulen bzw. Pfeilern kom
men sie vor, u.a. im Chor der Kathedrale von Sens (1130/1150), in der Abteikirche von Vézelay (nach
1165), in der Stiftskirche Saint-Martin in Champeaux/Seine-et-Marne (um 1180-1200) und in der
Pfarrkirche Saint-Pierre-et-Saint-Paul in Gonesse/Val-d'Oise (um 1180-1220). Hansjantzen ist zuzu
stimmen, daß sich diese Säulen von der Form und Proportion antiker Säulen weit entfernt haben und
damit als etwas Neues anzusehen sind, ohne das die gotische Entwicklung nicht zu denken ist; diese
Neuerung ist aber schon in romanischen Kirchen vollzogen worden! Die Säule aus Basis, Schaft,
Kapitell und Kämpfer wurde nicht aufgegeben, sie ist jedoch in ihrer Proportion und durch den aus
Säulentrommeln aufgesetzten Schaft verändert. Sie unterscheidet sich aber deutlich von dem Rund
pfeiler, der nur einen Kämpfer hat und in der Regel gedrungener proportioniert ist. Eine ungewöhn
liche, aber charakteristische Variante findet sich im Chorumgang der Pfarrkirche Saint-Pierre in
Gallardon/Eure-et-Loire (um 1220-1240/1250), wo an den Arkadensäulen auf der Chorumgangs
seite in Dreiviertelhöhe Halbkapitelle als Auflager für die Gurtbogen ausgearbeitet sind und die Gurt
bogen in die Säulenkapitelle der Arkaden einschneiden.25
Parallel zu dieser Entwicklung der Säule hat auch der Pfeiler Wandlungen erfahren. In Frankreich fin
den sich quadratische Pfeiler mit Basis und Kämpfer, deren Kanten abgefast sind, wie z. B. in der Vor
37
halle der Abteikirche Saint-Pierre von Airvault/Deux-Sèvres zusammen mit gedrungenen Säulen
(Abb. 11) oder in der Kirche Saint-Désiré zu Lons-le-Saulnier/Jura (1. Hälfte 12. Jahrhundert; Abb. 12),
wo die Langhausarkaden abwechselnd von abgefasten, quadratischen Pfeilern und gleichdimensio
nierten Rundpfeilern (ähnlich denen in der nahen Kirche Baume-les-Messieurs und in der Kirche von
Chapaize/Seine-et-Loire) getragen werden. Die aus kleinteiligem Bruchsteinmauerwerk bestehenden
Pfeiler haben einfache Schrägen als Uberleitungen zu dem quadratischen Auflager der Arkadenbo
gen, die ohne abgesetzten Kämpfer in der gleichen Mauertechnik aus dem Pfeilermauerwerk heraus
wachsen. Reine Rundpfeiler mit Basis und Kämpfer finden sich am Übergang zwischen Chorpolygon
und Langchor der Abteikirche Saint-Jean in Sens/Yonne (um 1205/1210—1220) und in der Kathe
drale von Carcassonne. Auch gibt es nach Kimpel/Suckale »schon im vorgotischen Bereich Pfeiler
profile, die dem kantonierten Pfeiler erstaunlich ähnlich sind, so in Notre-Dame-du-Port in Clermont
Ferrand oder im nördlichen Chorseitenschiff von Saint-Laumer in Blois, das in der Diözese Chartres
liegt.«26 Ebenso können hier die Langhauspfeiler der Klosterkirche Saint-Remi in Reims (11. Jahr
hundert) als Beispiel genannt werden.
Einen besonders lehrreichen Einblick in das formal konsequente Denken und Gestalten bieten die
Langhausarkaden der 1123 gegründeten Prämonstratenserkirche Ilbenstadt bei Friedberg in Hessen,27
38
39
(1 49 geweiht): sie zeigen auf jeder Seite sehr dün e Halbrundvorlagen, die im Gegensatz zu den
Ilbenstädter Pfeilern aber in Basis und Kämpferplat e zusammengefaßt werden, keine eigenen Kapi
tel e haben und den Umriß der quadratischen Basis und Kämpferplat e nicht überschreiten.«29 In
Alspach30 findet sich aber zugleich mit Ilbenstadt eine wichtige Variation: quadratische Pfeiler mit
Vorlagen alternieren mit quadratischen Pfeilern mit Kanteneinstufung, in die Halbsäulen mit Wür
felkapitel en eingestel t sind, und diese stützen den dekorierten Schmiegenkämpfer, der aus einer qua
dratischen Plat e besteht (Ab . 15). Bei dem zweiten Pfeiler von Osten findet sich sogar die Kombina
tion von Vorlagen und Kantensäulen. Auch in Alspach tragen die Pfeiler ungegliederte Arkadenbogen
und glat e Obergadenwände. Auch hier sind die Arkadenstützen als in sich geschlos ene, gegliederte
Pfeiler aufgefaßt. In al en erwähnten Fäl en wurden Pfeilerkern und Vorlagen aus einheitlichen Qua
derschichten aufgemauert, so hat man es also nicht mit En-délit-Sâulenschâften zu tun. Es handelt
sich stets um Pfeiler, deren Körper durch Vorlagen gegliedert sind. Ähnliche Bildungen finden sich
auch in einigen romanischen Kirchen der Bretagne (Fouesnant, Langon et, Merlevenez, Per os-Gui
rec, Ploërdu, Priziac, Tréguier).31 In dem 1 29 gweihten Langhaus der Stiftskirche Hochelten bei
Emmerich werden die Stützen der Dop elarkaden unter Uberfangbogen wechselnd von aus Tuf stein
gemauerten quadratischen Pfeilern und runden Pfeilern mit gedrungenem Würfelkapitel aus Sand
stein gestützt;32 schon hier zeigt sich wie dan in Ilbenstadt und später in Chartres die gewandelte
Auf as ung von Säule und Pfeiler: gemauerte Rundpfeiler erhalten ein Kapitel .
Im 12. Jahrhundert (1 30-um 120 ) gibt es vereinzelt, in Sachsen häufiger, Pfeiler, deren Kanten
abgeschrägt (abgefast) oder eingestuft und mit Ecksäulchen oder Kantenwülsten geschmückt sind,3
besonders deuüich ausgebildet beispielsweise am südlichen Pfeiler der Eingangshal e der Pfar kirche
Notre-Dame in Vermenton/Yon e (um 1 70), wo vor die fast zum Achteck abgeschrägten Pfeiler
kanten gewirtelte Säulchen mit baumartig geschup ten Schäften gesetzt sind.34 Der Pfeiler trägt in der
Höhe der Säulchenkapitel e selbst ein Kapitel . Eine große, rechteckige Kämpferplat e überdeckt ihn
einschließlich der Kantenvorlagen, ähnlich im Chor der Pfar kirche von Gones e (siehe Seite 42fi).
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Die Anfänge abgefaster, kantenbetonter Rechteckpfeiler liegen im 11. Jahrhundert, wo z. B. die Pfei
ler der 1051 geweihten Krypta im Essener Münster an den Ecken Kantenwülste mit Würfelkapitellen
aufweisen. Später findet man sie an den Arkadenpfeilern spätromanischer, sächsischer Kirchen, wie
am Braunschweiger Dom (1173-1195), im ersten Neubauabschnitt des Doms zu Naumburg (um
1210/1220), in der Krypta der Klosterkirche Konradsburg (um 1200) und auch in der aus Backsteinen
erbauten, hochgotischen Zisterzienserklosterkirche Ghorin (ab 1273), wo die Kapitelle der Kanten
säulen zu einem fortlaufenden Kranzkapitell unter einem gestuften Kämpfer zusammengefaßt sind.
In St. Sebald in Nürnberg (um 1220/1230) haben die quadratischen Mittelschiffpfeiler Halbsäulen
vorlagen für die Arkadenbogen, im Mittelschiff Konsolen für Rechteckvorlagen mit den Diensten für
Gurtbogen und Rippen. Die Pfeilerkanten sind abgeschrägt und mit Wülsten besetzt, die in kleinen
Würfelkapitellen enden und die Kämpferecke stützen. In der Benediktinerklosterkirche Thalbürgel
(östlich von Jena) sind die eingestuften Ecken der Langhauspfeiler in der zweiten Hälfte des 12. Jahr
hunderts ebenfalls mit Säulchen mit attischen Basen und Würfelkapitellen besetzt; die reich profilier
ten Archivolten der Arkaden werden auf schlanken, monolithen Vollsäulen abgefangen, die den Pfei
lern unter der Bogenlaibung vorgestellt sind; der profilierte Pfeilerkämpfer ist über die Säule verkröpft
(Abb. 16). Diese an den abgefasten Kanten mit Säulen oder Wulst betonten Pfeiler können - wenn
überhaupt — nur als >kantonierte Pfeiler< bezeichnet werden.
Wichtig für den Nachweis unserer genetischen Auffassung gotischer Stützen ist das Stützensystem des
um 1190 begonnenen Chors der Pfarrkirche Saint-Pierre-et-Saint-Paul in Gonesse/Val-d'Oise, einem
Dorf mit königlichem Schloß.35 Hier nehmen in dem vom Langhaus der Pariser Kathedrale beein
flußten Chor im Polygon unverjüngte Säulen mit Kämpfer die Gewölbedienste auf. Im sechsteilig
gewölbten Chorjoch ruhen die Arkadenbogen auf Pfeilern mit Kantensäulen unter einer einheitlichen
42
Besonders früh (vor 1157) sind im Chorjoch der Kathedrale von Noyon gedrungene Rundpfeiler (oder
gemauerte unverjüngte Säulen) verwendet, und zwar - im Gegensatz zu den schlankeren Chorpoly
gonsäulen - mit viel niedrigeren Kelchblockkapitellen, teilweise mit Blattdekor. Auf der Chorjoch
innenseite ist an die Rundpfeiler je eine Halbsäule angearbeitet, deren Kapitell mit dem des Rund
pfeilers verkröpft ist; darüber stehen wie im Chor Dienste. Während die Polygonsäulen hohe Kelch
blockkapitelle mit abgesetztem Kämpfer tragen, scheinen die Kapitelle der Rundpfeiler aus einer Art
Kombination von Kapitell und Schmiegenkämpfer zu bestehen. Ein abgesetzter Kämpfer fehlt. Das
heißt hier wird von der traditionellen Gestaltung der Säule abgewichen und die Stütze trotz kapi
tellähnlichem Abschluß als Pfeiler aufgefaßt. Daß hier eine veränderte Auffassung von Rundpfeiler
und Säule wirksam geworden ist, kann das Langhaus der Kathedrale von Sens (1130-1164) zeigen,
wo im sechsteiligen Gewölbe für die Zwischenstützen zwei in die Tiefe nebeneinandergestellte Säulen
gewählt werden.
»Die Verbindung einer zylindrischen Kernform mit >Diensten<, die ebenfalls zylindrisch geformt sind,
stellt ein Problem dar, das die Gotiker in den Bauhütten am Ausgang des 12. Jahrhunderts nach den
verschiedensten Möglichkeiten hin beschäftigte. Einer >Säule< im antiken Sinne, als einem autonomen
Gebilde, kann man unmöglich andere, dünnere Säulen angliedern. [...] Ein gotischer >Rundpfeiler<
gehorcht anderen Gesetzen, denn er steht in ganz anderen Bauzusammenhängen, die es erlauben, ihn
mit baulichen Nebenformen zu verbinden...«36 Dieser Analyse von Hansjantzen ist zuzustimmen,
jedoch hat sich die Säule bereits ohne Konfrontation mit Diensten der Wandstruktur eingefügt, bzw.
es hat sich die mehr freiplastische Form der antiken Säule zu einer tektonischen Form gewandelt, die
nun auch statt des runden Schafts den polygonalen Schaft wählt. So trennte um 1177-1196 der zweite
Meister im Langhaus der Pariser Kathedrale die doppelten Seitenschiffe durch eine Stützenreihe, die
abwechselnd aus einer glatten, aus Trommeln aufgemauerten Säule mit Basis und Kapitell und einer
entsprechenden, von einem gleichmäßigen Kranz stabartiger, schlanker Säulchen »durchsichtig«
umstellten Säule besteht (Abb. 17).37 Diese zwölf Säulchen haben kelchförmige Blattkapitelle, die
jeweils über den zwei Säulchen in den vier Achsen durch einen gemeinsamen, hohen Kämpfer zusam
mengefaßt und über den diagonal angeordneten Säulchen rückspringend schräg gestellt sind. Um
1205/1210 wird diese Stützenform im Chorumgang der Viktorinerabtei Saint-Jean in Sens/Yonne
wieder aufgenommen (Achteckpfeiler mit Voll- und Halbsäulen wechselnd).
Entsprechend konsequent umstellt der Baumeister der Kathedrale von Laon um 1180/1190 im sechs
teilig gewölbten Langhaus unter starker Betonung des Stützenwechsels die zweite und vierte der aus
43
44
und erreichen damit die Reihung gleicher Stützen bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Gewölbe
führung. Wieweit in Paris, Laon und andernorts englische Anregungen aufgenommen wurden, ist bei
dem etwa zeitgleichen Vorkommen nicht zu entscheiden.39
Aus diesen Beobachtungen ist zu schließen, daß in den 1180/1190er Jahren in Frankreich und Eng
land die achteckigen und runden, aus Trommeln aufgesetzten Stützen mit Basis und Kapitell nicht
mehr als Säulen, sondern als Pfeiler (»pilarii« nennt sie Gervasius entsprechend) aufgefaßt werden,
denen man wie beim traditionellen Pfeiler Säulen vorlegen kann.
Wie sehr andernorts die Rundstütze als Säule noch für unantastbar gehalten wird, lassen die Lang
häuser der Kathedralen von Noyon (1180-1200) und Senlis (1170-1190) erkennen. Dort werden im
gebundenen System mit sechsteiligen Gewölben die Gurtbogen einschließlich der begleitenden Rip
pen von Diensten, die vor den Pfeilern bis auf den Boden heruntergeführt sind, aufgenommen, die
dünnen Dienste der Mittel- und Diagonalrippen neben ihnen werden aber von Säulen abgefangen.
Diese korrespondieren mit gleichgestalteten Halbsäulen für die Aufnahme der Arkadenbogen. Genau
die gleiche Anordnung bestimmt die Arkaden des halbrund geschlossenen, mit Umgang versehenen
Südquerhauses der Kathedrale von Soissons, das nach 1176 begonnen worden ist. Hier sind die Säu
lenschäfte ebenfalls monolith, leicht verjüngt und tragen schlanke Kelchkapitelle mit abgesetzten
Kämpfern. Demgegenüber stehen in Paris (mit Ausnahme der zwei westlichen Stützen, siehe unten)
und Laon gleiche gemauerte Rundstützen unter den Arkaden. Hier wird die durch die sechsteiligen
Gewölbe bedingte rhythmische Organisation der Hochschiffwand in den Arkaden nicht berücksich
tigt oder sogar absichtlich vermieden.
45
Nach Hansjantzen vollzieht sich die »entscheidende und überraschende Wendung [...] bei dem ent
werfenden Meister der Kathedrale von Chartres [nach Brand 1194 Neubau, Chor und Langhaus vor
1220 gewölbt], der für die Arkadenstütze die klassische Lösung mit der Form des >kantonierten< Pfei
lers findet (Abb. 20). Indem er ganz im Gegensatz zu Paris und Laon die Stützen mit vier kräftigen
Diensten in Längs- und Querrichtung umstellt, gewinnt er eine Pfeilerkomposition, die sinnfällig alle
Funktionen des gotischen Langhauspfeilers erfüllt und unterstreicht. Die Gewölbedienste im Mittel
schiff bekommen jetzt im Aufstieg vom Fußpunkt der Arkade her eine Stütze.«40 Diese Gleichartig
keit aller Arkadenstützen und ihre Anbindung an die Gewölbedienste bedingt die Aufgabe des sechs
teiligen Gewölbes und die Einführung des konstruktiven Travéensystems, bei dem jeweils die
Seitenschifljoche und das queroblonge, einheitlich gestaltete Mittelschiffjoch mit den Stützen und
Strebepfeilern eine konstruktive Einheit bilden.
Der sogenannte >kantonierte< Pfeiler in Chartres stellt keine entscheidende Wendung oder eine neue
Form dar, sondern in Chartres finden wir nur eine veränderte Auffassung von der gotischen Rund
stütze und ihre konsequente Anwendung, sofort erkennbar, wenn wir diese Stützen einer genaueren
Betrachtung und Analyse unterziehen. Schon Hans Jantzen deutet an, daß »die Pfeiler selbst [...]
nicht ganz gleichmäßig gebildet [sind. ... Der Meister] bildet [...] den Kern des kantonierten Pfeilers
abwechselnd zylindrisch und polygonal und jeweils die Dienste im entgegengesetzten Sinne, also der
art, daß dem zylindrischen Kern polygonale Dienste entsprechen und dem polygonalen zylindrische.
Das ergibt innerhalb der monumentalen Stützenfolge ein kaum bemerkbares, aber doch rhythmisch
leicht belebendes Spiel im machtvollen Ernst dieser Kathedralarchitektur. Die Kathedralen von Reims
und Amiens haben dies nicht wiederholt, sondern halten sich an die zylindrische Bildung des kanto
nierten Pfeilers. Im übrigen hält der Chartreser Meister seinen leicht angedeuteten Stützenwechsel in
engen Grenzen. So darf nicht übersehen werden, daß alle Pfeilersockel, einerlei ob runde oder eckige
Basen, runde oder eckige Stützen und Dienste darauf ruhen, einheitlich polygonal gekantet sind und
daß sich das Wechselspiel der Formen nur im Bereich zwischen Sockel- und Kämpferzone vollzieht.
Wobei wiederum die sichere Hand des Meisters in der Behandlung der Kapitellzone mit streng und
straff geformten Knollenkapitellen zu bewundern ist. Beim kantonierten Pfeiler bietet die Kapitell
zone besondere Schwierigkeiten, weil die kleinen Kapitelle der Dienste in das große Kopfstück des
Kernpfeilers eingreifen.«41
In Kenntnis des formalen Umfelds und der Formentwicklung müssen die Chartreser Langhausstützen
als säulenartige Pfeiler oder pfeilerartige Säulen mit rundem oder achteckigem Schaft angesehen wer
den. Ihre Vorlagen sind runde oder polygonale Halbsäulen, deren Schäfte jedoch zusammen mit dem
Pfeilerkörper aus einheitlichen Quaderschichten aufgemauert sind. Alle haben Kapitelle, deren Größe
dem jeweiligen Schaftquerschnitt angepaßt ist. Die Eigenständigkeit der Vorlagen wird auch darin
deuüich, daß die Mittelschiffvorlage, die in Höhe der Säulenkapitelle keine tragende Funktion hat,
dort auch kein Kapitell erhielt; nur der Kämpfer, der bei Pfeiler und Säulen gleichermaßen ein ab
schließendes Glied ist, wurde über den Schaft verkröpft. Und nicht nur die Größe der Kapitelle vari
iert analog dem Schaftquerschnitt, d. h. die Vorlagenkapitelle sind nur halb so hoch wie die Kapitelle
der Kernsäule, sondern auch an den dicken, runden Kernsäulen findet man die klassischen Kapitell
bildungen, wo der Kalathos mit zwei Blattkränzen belegt vom Rund des Schafts ins Gerade des
Kämpfers überleitet. Der Kämpfer ist wie bei den Achteckstützen diagonal gestellt bzw. an den Ecken
abgeschrägt, um nicht allzu weit in den Raum vorzustoßen. Der achteckige bzw. abgefaste Kämpfer
kommt übrigens auch schon früher an Arkadensäulen vor.
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Abb. 23 Reims, Kathedrale, südliches Seitenschiff, Westjoche, 1211 —1233 und nach 1236
i ^ 1
48
Die Kathedrale Notre-Dame in Reims ist nicht nur für die Entwicklung der gotischen Skulptur, für
Fortschritte in der Bautechnik und für die Einführung des Maßwerkfensters von herausragender Be
deutung, sondern sie ist auch bahnbrechend für die endgültige Ausformung des säulenartigen Pfeilers
mit vorgelegten Säulchen zu einem einheitlichen Stützglied (Abb. 22-24). »Die Langhauskapitelle tra
gen alle Anzeichen einer maßgebenden Neuschöpfung, die als richtungsweisend und vorbildlich inten
diert ist. [...] Als Kapitellzone des kantonierten Pfeilers ist die Reimser Lösung eine folgerichtige Wei
terbildung der in Chartres und den Westjochen von Paris angewandten Form.«44 Der nach einem
Brand notwendige Neubau der Kirche, in der die französischen Könige gekrönt wurden, begann 1211
mit dem Chor, vor 1233 waren die Ostteile und die vier östlichen Langhausjoche sowie vermutlich die
unteren Teile des Westbaus fertig, der Rest des Langhauses folgte nach Beendigung der städtischen
49
50
derförmig ist. Trotz dieser unterschiedlichen Ausformung wirkt die gesamte Kapitellzone aber ein
heitlich. Die nach der Unterbrechung 1233/1236 errichteten beiden westlichen Langhausstützen
paare zeigen den endgültigen Schritt zur Vereinigung von Vorlagenkapitellen und Hauptkapitell,
indem nun die Blattkränze in vier Streifen einheitlich über die gleich hohen Kapitelle fortgeführt sind;
auch verschmelzen Abakus und Kämpfer zu einem schmalen Kopfstück, das den runden, dickeren
Stützenkern und die Vorlagen zu einer gegliederten Stütze zusammenfaßt. Damit haben sich Kapitell
und Kämpfer zu einem einheitlichen Kämpferkapitell oder Kranzkapitell entwickelt,46 und es ist der
Gliederpfeiler enstanden.
In den Ostteilen der Kathedrale Saint-Etienne in Auxerre (1217 begonnen, um 1230 im Rohbau fer
tig) wird etwa gleichzeitig mit der Reimser Kathedrale versucht, eine Vereinheitlichung herbeizu
führen (Abb. 28). Im Chorjoch finden sich zwei Stützen mit vier Vorlagen, deren Blattkapitelle einen
umlaufenden Fries mit der Kernsäule bilden und durch einen den Schäften folgenden Halsring zu
sammengefaßt sind. Die Kernsäule hat einen weiteren, tiefer liegenden Halsring; den Raum zwischen
diesem und dem oberen füllt ein in einer Knolle endendes Blatt, der Abakus ist zu einem schmalen,
von den Eckblättern überschnittenen Profil reduziert, der Kämpfer über den Vorlagen schräg gestellt,
so daß ein einheitlicher, oktogonaler Kämpfer entstand. Die nach Osten folgende Säule und die Säu
len des Chorpolygons haben ebenfalls oktogonale Kämpfer. Weiter westlich wurde die entsprechende
Arkadenstütze als quadratischer Pfeiler mit Vorlagen ausgebildet, was als Gleichstellung von Säule,
Säule mit Vorlagen und Pfeiler mit Vorlagen angesehen werden darf.
Wie bedeutsam und fortschrittlich die Reimser Stützengestaltung ist, kann man am Langhaus der
Kathedrale von Amiens (1220—1230) erkennen. Hier haben wir, wie im gleichzeitig entstandenen
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Seitenschiff, 1145-1214
Abb. 30 Bourges, Kathedrale, SeitenschifF,
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deutlichem Abstand auf die mit dem Pfeiler verkröpfte Basi ; der Pfeilerkämpfer ist wie in Chartres
und Paris über den Dienst verkröpft. Der Dienst ist in En-délit-Technik ausgeführt, mit zwischenge
schobenen schmalen Trommeln, die mit einem Steg in den Pfeiler einbinden. Zum Seitenschif hin
sind entsprechende Dienste angeordnet, die jedoch ohne verkröpften Kämpfer direkt die Gewölbe
rip en abstützen.
Im Straßburger Münster wurden zu Begin des 13. Jahrhunderts die Öf nungen der Vierungsbogen
zu den Querarmen durch eine Dop elarkade auf einer hohen Rundstütze mit at ischer Basi , gewir
teltem Schaft und Kapitel mit oktogonalem, mit dem Abakus verschmolzenem Kämpfer unterteilt.
Um 12 0/1230 wurde die entsprechende Freistütze im südlichen Querschif arm als achteckiger Pfei
ler mit vier diagonalen, dün eren, von Figuren unterbrochenen Diensten ausgebildet; al e Dienste
sind von einzelnen, einheitlich hohen Kapitel en bekrönt.
Die Tendenz zur Vereinheidichung der Kapitel zone mag mitbestimmt sein von Bildungen, wie wir
sie in den um 1 95—1214 er ichteten Ost eilen der Kathedrale von Bourges beobachten kön en, wo
einem mächtigen Rundpfeiler unterschiedlich dün e, schlanke Säulen vorgelegt sind (Ab . 30); sie
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Wenn man die Vorstufen und die Entwicklung der gotischen Arkadenstütze vorurteilslos betrachtet,
so ergibt sich für die Chartreser Stütze keine erkennbare Besonderheit, die es rechtfertigte, hier eine
die Zukunft bestimmende >Erfindung< zu sehen, sondern Chartres steht ganz in der traditionellen Ent
wicklung, freilich mit einer besonders ausgewogenen Ausformung des mit Vorlagen versehenen Rund
pfeilers mit Kapitell. Erst in Reims (1211-1233) wird stufenweise der Schritt vollzogen, der den dicken
Kernpfeiler mit den auf vier Seiten vorgelegten Säulen zu einer Einheit verschmilzt. Jetzt ist aus der
Kombination einzelner Formen eine geschlossene Form geworden: die bestimmende Arkadenstützc
der Hochgotik. Die in Reims zum Abschluß kommende Entwicklung sollte jedoch nicht mit dem Ter
minus >kantonierter Pfeilen bezeichnet werden; denn dieser Fachausdruck muß, wenn überhaupt,
dem an den Kanten betonten Rechteckpfeiler vorbehalten bleiben, wenn unsere baugeschichtliche
Terminologie sinnvoll bleiben soll. Von der Genese her handelt es sich bei der Reimser Bildung um
einen durch Vorlagen gegliederten säulenartigen Rundpfeiler. Mit diesem in sich widersprüchlichen
Begriff dürfte die besondere Stützenform jedoch auch nicht angemessen benannt sein, vielmehr sollte
man Gervasius von Canterbury folgen, der sie Pfeiler nennt und damit auf einen gegliederten Pfeiler
verweist, der später auch ein Blattkranzkapitell erhält, zum Gliederpfeiler wird und die Vorstufe zum
hochgotischen Bündelpfeiler darstellt.
Die sich wandelnde Auffassung, genauere formale Beobachtung und begrifflich-verbale Differenzie
rung, wie sie sich schon bei Gervasius von Canterbury 1185 zeigt, schlägt sich in dem Wörterbuch nie
der, das der an der Pariser Universität 1220-1229 lehrende Johannes von Garlandia (um 1195 - nach
1272) zwischen 1218 und 1229 verfaßt hat. Die Erklärung »columnas, cuius partes sunt basis, stilus et
epistilium« wird später, wohl um 1245, glossiert: »Columpna est gallice pileis, haec basis est pars infe
rior columpne, stilus est pars media, epistilium est pars superior.«52 In der fehlenden Unterscheidung
zwischen Kapitell und Kämpfer spiegelt sich die vollzogene Entwicklung von der Säule über den
gemauerten Rundpfeiler mit Kapitell zum gotischen Gliederpfeiler, bei dem Kapitell und Kämpfer zu
einem einheitlichen Kämpferkapitell oder Kranzkapitell verschmolzen werden.
Mögen diese Ausführungen dazu beitragen, daß in Zukunft der irrtümlich eingeführte und in den letz
ten 50 Jahren im deutschen Schrifttum immer mehr verbreitete Begriff >kantonierter Pfeilen durch
einen angemesseneren Terminus ersetzt wird: die auf der Reimser Entwicklungsstufe (noch nicht
Chartres) stehende Stütze muß als Rundpfeiler mit Diensten und Blattkranzkapitell (oder Kämpfer
kapitell) bezeichnet werden, am besten wohl als gegliederter Pfeiler oder Gliederpfeiler53, aus dem sich
der hochgotische Bündelpfeiler wie im Kölner Dom entwickelt.
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