Rechtssoziologie

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Die Rechtssoziologie gehört zu den rechtswissenschaftlichen Grundlagenfächern und untersucht die Wechselwirkungen zwischen der Rechtsordnung und der sozialen Wirklichkeit.[1] Sie befasst sich einerseits mit dem Einfluss der gesellschaftlichen Gegebenheiten auf das Rechtssystem,[2] andererseits mit dem Einfluss rechtlicher und anderer Normen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit.[3]

Rechtssoziologie als wissenschaftliche Disziplin

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Im Unterschied zur Rechtswissenschaft versteht sich die Rechtssoziologie als eine empirische Wissenschaft[4] und setzt zur Überprüfung ihrer theoretischen Thesen die Methoden der empirischen Sozialforschung ein. Hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes nimmt sie neben der Rechtsordnung auch die Existenz weiterer sozialer Ordnungsgefüge zur Kenntnis. Wesentliche Forschungsprobleme erwachsen aus der Unterscheidung zwischen sozialen und rechtlichen Normen und der faktischen Zweistämmigkeit der Entstehung der Rechtsordnung, die offenbar nur teilweise auf soziale Normen zurückzuführen ist.[1] Im Gegensatz zur dogmatisch ausgerichteten Rechtswissenschaft versteht die Rechtssoziologie Recht als ein Phänomen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das durch soziale Verhaltensmuster und Zusammenhänge konstruiert wird, bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse stabilisiert oder verändert.

Die Sozialwissenschaften fanden in den 1970er Jahren an verschiedenen Orten Einzug in das rechtswissenschaftliche Studium, auch weil die politische Steuerung der Gesellschaft durch das Recht thematisiert wurde. Einige Universitäten erprobten eine sozialwissenschaftliche Juristenausbildung, die sich allerdings gegen das klassische Modell des dogmatisch ausgebildeten Juristen nicht durchzusetzen vermochte. Die institutionelle Anbindung der Rechtssoziologie als (vermeintliche) Grenzwissenschaft war also und ist weiterhin wenig gewährleistet. Die Rechtssoziologie ist an den deutschen Hochschulen traditionell in den rechtswissenschaftlichen und nicht in den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen verankert. Das Spannungsfeld von Recht und Gesellschaft hat in der anglo-amerikanischen akademischen Diskussion einen vergleichsweise größeren Stellenwert (Law and Society-Bewegung). Seit 1989 existiert das International Institute for the Sociology of Law.

Die Rechtstatsachenforschung untersucht beispielsweise die Entscheidungsprozesse in den juristischen Institutionen wie Gerichten oder Parlamenten, die Willensbildung in den juristischen Berufsorganisationen, z. B. den Rechtsanwaltskammern oder dem Deutschen Anwaltverein, die universitäre Rechtswissenschaft einschließlich des Literaturwesens und im weiteren Sinn die Abläufe in der juristischen Gesellschaft als Gemeinschaft aller tätigen Juristen und juristischen Mitarbeiter.

Erkenntnisinteresse

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Die klassische Rechtssoziologie bewegt sich zwischen zwei Paradigmen: der „soziologischen Jurisprudenz“ und der disziplinär soziologischen Analyse, der „Soziologie des Rechts“.

Die soziologische Jurisprudenz ist noch heute vor allem mit dem österreichischen Rechtssoziologen Eugen Ehrlich (1862–1922) verbunden. Sie ist der Versuch, über die Kenntnis der Zusammenhänge von Recht und Gesellschaft zu einem besseren Recht zu gelangen. Demgegenüber versteht sich die Soziologie des Rechts als ein Unterfall der allgemeinen Soziologie, die „Recht“ als gesellschaftliches Phänomen untersucht; für sie steht der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber (1864–1920).

Heute geht die Forschung zu den Wechselwirkungen zwischen Recht und Gesellschaft über klassisch soziologische Ansätze hinaus. „Rechtssoziologie“ wird von vielen im Sinn der angloamerikanischen Law and Society-Forschung oder der socio-legal studies verstanden als ein disziplinär nicht gebundenes (transdisziplinäres) Projekt, welches das gesamte Spektrum gesellschaftlicher Rechtsforschung umfasst. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass disziplinäre Forschungsansätze, die Recht als ein soziales Phänomen begreifen oder den Zusammenhang zwischen Recht und Gesellschaft untersuchen, notwendig kontingent sind, sich gerade in ihrem Pluralismus gegenseitig befruchten und nicht selten zu einer Änderung oder Erweiterung des „eigenen“ fachlichen Blickfeldes beitragen.

Forschungen zu Rechtswirklichkeit in diesem Sinn (socio-legal research) umfassen neben den klassisch-soziologisch und empirischen Zugängen unter anderem die Rechtsanthropologie, Rechtsethnologie, Kulturwissenschaften, Gender Studies (Geschlechterforschung), Wirtschaftswissenschaft (Ökonomie), Politikwissenschaft, Sozialgeschichte, Sozialpsychologie und Verwaltungswissenschaft.

Zwischen Rechtssoziologie und Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie besteht eine enge Beziehung.

fThemenliste: Rechtsethnologie – Übersicht im Portal:Ethnologie

Primärliteratur

  • Eugen Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts. Duncker & Humblot, München, Leipzig 1913 (archive.org – Digitalisat der ersten Auflage im Internet Archive; 4. Auflage, 1989, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, Band 69, durchgesehen und herausgegeben von Manfred Rehbinder, Duncker & Humblot, Berlin 1989, ISBN 978-3-428-06689-6).
  • Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Univ.-Forlag, Aarhus 1947.
  • Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. 4. Auflage. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15872-3.
  • Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 978-3-518-58150-6.
  • Max Weber: Rechtssoziologie. Hrsg.: Johannes Winckelmann (= Soziologische Texte. Nr. 2). Luchterhand, Neuwied 1960.

Lehrbücher

  • Alfons Bora, Andrea Kretschmann (Hg.): Soziologische Theorien des Rechts. Eine Einführung anhand von Schlüsseltexten, Velbrück, Weilerswist 2024, ISBN 978-3-95832-361-2 (Open Access).
  • Christian Boulanger, Julika Rosenstock, Tobias Singelnstein (Hrsg.): Interdisziplinäre Rechtsforschung. Eine Einführung in die geistes- und sozialwissenschaftliche Befassung mit dem Recht und seiner Praxis. Springer VS, Wiesbaden [Heidelberg] 2019, ISBN 978-3-658-21989-5, doi:10.1007/978-3-658-21990-1.
  • Roger Cotterrell: The Sociology of Law: An Introduction. 2. Auflage. London 1992 (englisch).
  • Thomas Raiser: Grundlagen der Rechtssoziologie. 4., neu gefasste Auflage von Das lebende Recht. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-149184-9.
  • Manfred Rehbinder: Rechtssoziologie. 8. Auflage. München 2014.
  • Klaus F. Röhl: Rechtssoziologie. 1987 (Volltext auf ruhr-uni-bochum.de).
  • Hubert Rottleuthner: Einführung in die Rechtssoziologie. In: Die Rechtswissenschaft. Darmstadt 1987.
  • Johann Ulrich Schlegel: Die Verbrechen und die Bräuche: Rechtssoziologie menschlicher Entwicklung. Blaue Eule, Essen 2019, ISBN 978-3-89924-485-4.
  • Gerhard Struck: Rechtssoziologie. Grundlagen und Strukturen. Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8252-3532-1.
  • Reinhold Zippelius: Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie. 3. Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2012, ISBN 978-3-16-151801-0.

Feministische Rechtswissenschaft

  • Susanne Baer: Rechtssoziologie: Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung. 3. Auflage. Baden-Baden 2016.
  • Doris Lucke: Recht ohne Geschlecht? Zu einer Rechtssoziologie der Geschlechterverhältnisse, Centaurus-Verl.-Ges., Pfaffenweiler 1996.

Materialistische Ansätze

  • Sonja Buckel: Subjektivierung und Kohäsion: Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts , Weilerswist:Velbrück, 2. Auflage 2015
  • Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus: Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Freiburg: ça ira, 2003

Sonstiges

  • Vilhelm Aubert: Einige soziale Funktionen der Gesetzgebung. In: Ernst Eduard Hirsch, Manfred Rehbinder (Hrsg.): Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. 1967, S. 284–309.
  • R. Banakar: Law Through Sociology’s Looking Glass: Conflict and Competition in Sociological Studies of Law. In: Ann Denis, Devorah Kalekin-Fishman (Hrsg.): The New ISA Handbook in Contemporary International Sociology: Conflict, Competition, and Cooperation. Sage, 2009 (online).
  • Gralf-Peter Calliess, Andreas Fischer-Lescano, Dan Wielsch, Peer Zumbansen (Hrsg.): Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag am 30. April 2009. Berlin 2009.
  • Roger Cotterrell: Why Must Legal Ideas Be Interpreted Sociologically? In: Journal of Law and Society. Band 25, Nr. 2, 1988, S. 171–192 (englisch).
  • Mathieu Deflem: Sociology of Law: Visions of a Scholarly Tradition. Cambridge University Press, 2008.
  • Hans Albrecht Hesse: Einführung in die Rechtssoziologie. Springer VS, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14260-7.
  • Roscoe Pound: Law in the Books and Law in Action. In: American Law Review. Jahrgang 44, 1910, S. 12 ff.
  • Alain Supiot: Homo Juridicus: Essai sur la fonction anthropologique du droit. Editions du Seuil, Paris 2005, ISBN 2-02-067636-2 (französisch).
  • Robin West: Caring for Justice. New York University Press, New York 1999.

Einzelnachweise

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  1. a b Paul Trappe: Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie. In: Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Mit einer Einleitung und internationalen Bibliographie zur Rechtssoziologie von Paul Trappe. Luchterhand Neuwied am Rhein 1964. (zuerst: Kopenhagen 1947). S. 15.
  2. Reinhold Zippelius: Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. 2012, §§ 11 f.
  3. Reinhold Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. 2012, §§ 6 ff.
  4. Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Mit einer Einleitung und internationalen Bibliographie zur Rechtssoziologie von Paul Trappe. Luchterhand Neuwied am Rhein 1964.(zuerst: Kopenhagen 1947). S. 44.