Body Integrity Identity Disorder

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Body Integrity Identity Disorder (BIID, deutsch: Körperintegritäts-Identitätsstörung), synonym Body integrity dysphoria (BID) bezeichnet den krankhaften Wunsch, eine körperliche Behinderung zu erlangen, etwa Blindheit, Querschnittslähmung, oder Amputation eines Körperteils. Die seit den 2000er-Jahren zunehmend in der psychiatrischen Literatur beschriebene, gleichwohl sehr seltene Erkrankung wurde 2019 in die ICD-11 aufgenommen.[1] Auch neuropsychologische, ethische und philosophische Betrachtungen wurden veröffentlicht.[2][3]

Die Erkrankung soll in der Kindheit oder Jugend beginnen. Betroffene fantasieren oder simulieren die entsprechende Behinderung. Nur in Einzelfällen kommt es tatsächlich zu mutilierenden Selbstverletzungen oder medizinisch nicht begründeten Operationen.

Ein verwandtes Phänomen ist die Xenomelie, „das bedrückende Gefühl, dass ein oder mehrere Glieder des eigenen Körpers nicht dem eigenen Selbst angehören.“[4]

Erlebt wird das oft überwältigende Bedürfnis, ein oder mehrere Gliedmaßen zu amputieren oder das Rückenmark zu durchtrennen oder eine andere Funktion (Hörfähigkeit, Sehfähigkeit) aufzuheben und damit den realen Körper in Einklang mit der als „richtig“ empfundenen Querschnittlähmung, Gehörlosigkeit, Erblindung usw. zu bringen. Betroffene verspüren ein Gefühl der „Unvollkommenheit.“[3]

Die Ursachen von BIID werden diskutiert. Es gibt sowohl neuroanatomische Veränderungen funktioneller Hirnregionen als auch entwicklungspsychologische Ansätze, nach denen sich schon im Kindesalter eine Störung des Körperschemas etabliert. Für beide Deutungen spricht die Tatsache, dass sich bei einem Großteil der Menschen mit BIID anamnestisch eine Manifestation der Erkrankung im frühen Jugendalter nachweisen lässt.

McGeoch et al. vermuteten 2011, dass BIID-Betroffene das jeweilige Körperteil zwar visuell und somatosensorisch wahrnehmen könnten, aber dieses aufgrund einer Dysfunktion des Parietallappens nicht in das eigene Körperbild integriert würde.[3]

Eine ursächliche Behandlung ist derzeit nicht bekannt. Kröger et al. konnten 2014 zeigen, dass Psychotherapie das psychische Leid mindern kann.[5]

Der schottische Arzt Robert Smith hat im Jahr 2000 zwei Beinamputationen bei Patienten mit BIID vorgenommen. Nach Indiskretionen und einem Bericht des Fernsehsenders BBC verbot die britische Ärztekammer nach Aufforderung durch das Schottische Nationalparlament weitere Amputationen. Als Grund wurde angegeben, dass die Öffentlichkeit solche Eingriffe missbilligen würde; darüber hinaus wurde ein Ansturm ausländischer BIID-Betroffener befürchtet.

Eine deutsche Studie von 2014 an 21 Betroffenen, deren Bemühung um einen veränderten Körper aus ihrer Sicht erfolgreich war, scheint darauf hinzudeuten, dass das Durchführen der erwünschten Veränderung ein erfolgreicher Therapieansatz sein kann, wenn andere Therapieformen keine Wirkung zeigten.[6]

Erste Fälle von Personen, die den Wunsch nach Amputation eines ihrer gesunden Körperteile verspüren, wurden 1977 (Money et al.) und 1983 (Everaed et al.) veröffentlicht. Initial wurde dies als Paraphilie verstanden – die Annahme war, dass dem Wunsch nach Behinderung eine psychologische Ursache zugrunde lag. Money etablierte 1977 den Begriff „Apotemnophilia“, der 2005 von M. First durch Body Integrity Identity Disorder abgelöst wurde.[3]

  • Nikki Sullivan, Samantha Murray: Somatechnics: queering the technologisation of bodies. UK 2009.
  • A. Stirn, A. Thiel, S. Oddo: Body Integrity Identity Disorder: Psychological, Neurobiological, Ethical and Legal Aspects. 1. Auflage. Pabst Science Publishers, 2009, ISBN 978-3-89967-592-4 (englisch)
  • A. Stirn, A. Thiel, S. Oddo: Body Integrity Identity Disorder (BIID) Störungsbild, Diagnostik, Therapieansätze. 1. Auflage. Beltz Psychologie Verlags Union, 2010, ISBN 978-3-621-27761-7.
  • Gregg M. Furth, Robert Smith: Apotemnophilia: information, questions, answers, and recommendations about self-demand amputation. 1stBooks, Bloomington (Indiana/USA) 2002, ISBN 1-58820-390-5. (englisch)
  • D. Groß, S. Müller, J. Steinmetzer (Hrsg.): Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin. Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart. 1. Auflage. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2007, ISBN 978-3-939069-28-7. (u. a. Fachbeitrag mit dem Thema: Body Integrity Identity Disorder (BIID). Amputationswunsch: autonome Entscheidung oder neuropsychologische Störung?)
  • Andreas Manok: Body Integrity Identity Disorder – Die Zulässigkeit von Amputationen gesunder Gliedmaßen aus rechtlicher Sicht. Leipziger Juristische Studien Band 8 – Medizinrechtliche Abteilung, EN9783865836625

Einzelnachweise

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  1. Geoffrey M. Reed, Michael B. First, Cary S. Kogan, Steven E. Hyman, Oye Gureje: Innovations and changes in the ICD-11 classification of mental, behavioural and neurodevelopmental disorders. In: World Psychiatry. Band 18, Nr. 1, 2. Januar 2019, ISSN 2051-5545, S. 3–19, doi:10.1002/wps.20611, PMID 30600616, PMC 6313247 (freier Volltext) – (wiley.com [abgerufen am 12. Mai 2021]).
  2. Bayne, T., & Levy, N. (2005). Amputees by choice: body integrity identity disorder and the ethics of amputation. Journal of applied philosophy, 22(1), 75-86.
  3. a b c d Sedda, A. (2011). Body integrity identity disorder: from a psychological to a neurological syndrome. Neuropsychology Review, 21(4), 334-336. (2011). doi:10.1007/s11065-011-9186-6.
  4. L. M. Hilti, J. Hänggi, D. A. Vitacco, B. Kraemer, A. Palla, R. Luechinger, L. Jäncke, P. Brugger: The desire for healthy limb amputation: Structural brain correlates and clinical features of xenomelia. In: Brain. doi:10.1093/brain/aws316.
  5. Katharina Kröger, Thomas Schnell, Erich Kasten. Effects of Psychotherapy on Patients Suffering from Body Integrity Identity Disorder (BIID). American Journal of Applied Psychology. Vol. 3, No. 5, 2014, pp. 110-115. doi:10.11648/j.ajap.20140305.11
  6. Sarah Noll: Body Integrity Identity Disorder (BIID): How Satisfied are Successful Wannabes. In: Psychology and Behavioral Sciences. 3, 2014, S. 222, doi:10.11648/j.pbs.20140306.17.