Kishon - Ephraim - Wie Unfair, David! Satiren

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Das Buch

Wenn man bei strahlendem Sonnenschein nicht nur einen, son-


dern gleich drei Regenschirme ber dem Arm trgt, wird man
sich triftige Grnde berlegen mssen, um nicht als Irrer ver-
haftet zu werden. Ephraim Kishon hat sie. Mit vielen komischen
Geschichten erlutert er akute Probleme eines Landes, in dem
die Mglichkeiten und die Realitten immer wieder in Gegen-
satz geraten. Neben die Leiden des Alltags (Strafmandat, Polizei-
stunde, Steuern) treten auch grere Katastrophen wie zum
Beispiel ein Wasserrohrbruch, ein Symphoniekonzert oder eine
Einladung. Dabei verliert Kishon die greren Zusammenhnge
nie aus dem Auge, seine liebenswrdigen Nrgeleien sind im
Grunde eine einzige Huldigung an Israel. Besonderes Interesse
verdienen daher die zahlreichen politischen Glossen, in denen
die komplizierten nahstlichen Verhltnisse vor den satirischen
Hohlspiegel gehalten werden. Friedrich Torberg hat unter ande-
rem Artikel Kishons aus der Tageszeitung Maariv ausge-
whlt, in denen Kishon zu den Ereignissen des Sechstagekrieges
Stellung nimmt.

Der Autor

Ephraim Kishon ber sich selbst: ... 23. 8. 24 in Ungarn


geboren, neugeboren 1949 in Israel. Zu viele Schulen. Zu
viele Arbeitslager: ungarische, deutsche, russische. Verheiratet.
Drei Kinder. Sechs Theaterstcke, die auer in Israel auch in
mehreren anderen Lndern aufgefhrt werden, zum Beispiel
in Deutschland, und sogar in Japan. Bcher in insgesamt 16
Sprachen, darunter hebrisch, englisch, deutsch, ungarisch,
italienisch, trkisch, dnisch, hollndisch, etc. Schreibt regel-
mig satirische Glossen unter dem Titel Chad Gadja fr
Israels meistverbreitete Tageszeitung Maariv. Schreibt Thea-
terstcke aus Liebe. Macht Filme als Hobby. Lebt in Tel
Aviv als freier Schriftsteller, nachdem er sich zuvor als freier
Schlosser im Kibbuz, freier Garagenbesitzer und in einer
Reihe anderer freier Berufe bettigt, hat.
Ephraim Kishon:
Wie unfair, David!
und andere israelische Satieren

Deutsch von Friedrich Torberg

digitalisiert von
> faultier<
(01.12.2002)

Deutscher
Taschenbuch
Verlag

dtv
Von Ephraim Kishon
sind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:
Drehn Sie sich um, Frau Lot! (192)
Der seekranke Walfisch oder
Ein Israeli auf Reisen (490)
Pardon, wir haben gewonnen (773)
Der Fuchs im Hhnerstall (813)
Nicht so laut vor Jericho (989)
Der Blaumilchkanal (993)
Salomos Urteil zweite Instanz (1038)
Kein Applaus fr Podmanitzki (1121)

Ungekrzte Ausgabe
l. Auflage Oktober 1970
16. Auflage Mrz 1977: 671. bis 720. Tausend
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
Mnchen
1967 Albert Langen Georg Mller Verlags GmbH,
Mnchen Wien
Umschlaggestaltung: Celestino Piatti
Gesamtherstellung: C. H. Becksche Buchdruckerei,
Nrdlingen
Printed in Germany ISBN 3-423-00708-7
Inhalt

Gipfeltreffen mit Hindernissen ......................................... 7


Sperrstunde ....................................................................... 12
Wettervorhersage: Neigung zu Regenschirmverlusten ..... 15
Strafmandat bleibt Strafmandat ........................................ 21
Harte Whrung .................................................................. 24
Philharmonisches Hustenkonzert ...................................... 29
Es zuckt ............................................................................. 32
Das Rtsel der dritten Schraube ........................................ 37
Der kluge Mann baut vor .................................................. 39
Tagebuch eines Jugendbildners ......................................... 43
Ehrlich, aber nicht offen ................................................... 48
Lamento fr einen jungen Schauspieler ............................ 51
Die Macht der Feder ......................................................... 56
Die Nacht, in der mein Haar ergraute ............................... 59
Paraphrase ber ein volkstmliches Thema ...................... 65
Der Proze (nicht von Kafka) (oder doch?) ...................... 67
Tragisches Ende eines Feuilletonisten .............................. 72
Erholung in Israel ............................................................. 74
Wie man sichs abgewhnt ............................................... 78
Im neuen Jahr wird alles anders ........................................ 80
Praktische Winke fr den Alltag ....................................... 86
Baby-Sitting und was man dafr tun mu ......................... 89
Schreckensrotkppchen .................................................... 95
Du sprechen rumnisch? ................................................... 98
Der Ku des Veteranen ..................................................... 101
Les Parents Terribles ........................................................ 106
Vorbereitungen fr ein Sportfest ...................................... 110
Keine Gnade fr Glubiger ............................................... 113
Das siebente Jahr .............................................................. 117
Seid nett zu Touristen! ...................................................... 121
Sequenz und Konsequenz ................................................. 124
Wiener Titelwalzer ........................................................... 131
Eine historische Begegnung .............................................. 135
Warum Israels Kork bei Nacht hergestellt wird ................ 138
Gut fr die Juden .............................................................. 144
Frisch geplant ist halb zerronnen ...................................... 146
Kunst und Wirtschaft ........................................................ 151
Offene Briefe
An Knig Hussein ......................................................... 157
An Gamal Abdel Nasser ................................................ 159
An General de Gaulle ................................................... 161
An Kossygin .................................................................. 162
Das waren Zeiten .............................................................. 165
Unfair zu Goliath .............................................................. 168
Gipfeltreffen mit Hindernissen

Es ist eine altbekannte Tatsache, da in einem Volk


von Pionieren manche Berufszweige nur mangel-
haft besetzt sind. Die ersten Siedler auf dem nord-
amerikanischen Kontinent waren, wie aus den
einschlgigen Geschichtsbchern hervorgeht, Far-
mer, Spekulanten, Goldgrber oder Abenteurer;
von Installateuren liest man kein Wort. hnlich
verhlt es sich bei uns: wir sind glatt imstande,
einen Krieg gegen die vereinigten Armeen sieben
arabischer Staaten zu gewinnen aber wie repa-
riert man einen Wasserrohrbruch?

Kaum hatte die Winterklte eingesetzt, als in der Wand meines


Arbeitszimmers ein Wasserleitungsrohr platzte und ein dunkel-
brauner Fleck auf der Tapete erschien. Ich lie dem Rohr zwei
Tage Zeit, sich von selbst in Ordnung zu bringen. Das geschah
jedoch nicht. So blieb mir nichts brig, als mich an unseren In-
stallateur zu wenden.
Der legendre Platschek lebt in Holon und ist nur sehr schwer
zu erreichen. Ein glcklicher Zufall lie mich im Fuballstadion
seiner ansichtig werden, und da seine Mannschaft gewonnen
hatte, erklrte er sich bereit, am nchsten Tag zu kommen, vor-
ausgesetzt, da ich ihn mit meinem Wagen abholen wrde, und
zwar um halb sechs Uhr frh, bevor er zur Arbeit ginge. Auf
meine Frage, warum es denn so frh am Morgen sein msse und
ob denn das, was er bei mir zu tun htte, keine Arbeit sei, ant-
wortete Platschek: nein.
Pnktlich zur vereinbarten Stunde holte ich ihn ab. Er betrat
mein Zimmer, warf einen flchtigen Blick auf die feuchte Mauer
und sagte:
Wie soll ich an das Rohr herankommen? Holen Sie zuerst
einen Maurer und lassen Sie die Wand aufstemmen!
Damit verlie er mich, nicht ohne indigniert darauf hinzuwei-
sen, da er meinetwegen einen ganzen Arbeitstag verloren htte.
Ich blieb zurck, allein mit einem braunen Fleck auf der Wand
und der brennenden Sehnsucht nach einem Maurer. Ich kenne
keinen Maurer. Ich wei auch nicht, wo man einen Maurer findet.
Wie sich zeigte, wute das auch keiner meiner Freunde, Nach-

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barn. Bekannten und Kollegen. Schlielich empfahl mir jemand,
dessen Bruder in einem Maklerbureau ttig war, einen Allround-
Handwerker namens Gideon, der irgendwo in der Nhe von
Bat Jam wohnte.
Auf Grund dieser przisen Angaben hatte ich Gideon noch
vor Einbruch der Dmmerung aufgesprt und erfuhr, da er erst
nach der Arbeit, frhestens um neun Uhr abend, zu mir kommen
knnte. Ich holte Gideon um neun Uhr abend ab. Gideon begut-
achtete die Mauer und sagte:
Soll ich vielleicht die Mauer aufstemmen, damit mir sofort
das ganze Wasser ins Gesicht schwappt? Holen Sie zuerst einen
Installateur, der den Haupthahn sperrt!
Ich erbleichte. So etwas hatte ich die ganze Zeit gefrchtet und
hatte es nicht wahrhaben wollen: da ich auf die gleichzeitige
Anwesenheit beider Experten angewiesen war, da Platschek
ohne Gideon nicht an das Rohr herankommt und Gideon ohne
Platschek na wird. Die Zwillinge muten bei mir zusammen-
treffen.
Wie leicht sich das hinschreibt: Sie muten zusammentreffen.
Papier ist geduldig. In Wirklichkeit berstieg schon die bloe
Planung des Treffens alle mir zur Verfgung stehende Vorstel-
lungskraft. Das Weltraum-Rendezvous von Gemini 6 und 7 war
ein Kinderspiel dagegen. Gemini 6 und 7 operierten nach einem
genau berechneten, bis auf den Bruchteil einer Sekunde koordi-
nierten Plan. Platschek jedoch hatte nur am Morgen Zeit und
Gideon nur am Abend.
Zweimal durchwanderte ich die fruchtbare Ebene von Holon
und dreimal die Dnen von Bat Jam, um Platschek und Gideon
aufeinander abzustimmen. Vergebens. Das von mir vorgeschla-
gene Kompromi zwischen den extremen Zeitpunkten 5.30
und 21.00 strebte ein Treffen um 13.15 an, wurde aber von
beiden Seiten entrstet zurckgewiesen.
Zgernd stellte ich den Ausweg einer kleineren Sabbath-Ent-
weihung zur Debatte. Platschek war einverstanden, aber Gideon
geht am Samstag mit seinen Kindern spazieren, er hat viel zu tun
und sieht sie die ganze Woche nicht. Schlu, aus.
Der braune Fleck auf meiner Wand wurde grer und grer.
Ich mute die Verhandlungen mit der Achse Holon-Bat Jam
wieder aufnehmen. Als ich eines Abends mit blaugefrorener
Nase und trnenden Augen bei Gideon eintrat, bermannte ihn
das Mitleid. Er zog sein Vormerkbchlein heraus, bltterte lange
hin und her und wiegte den Kopf:

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Hier wre eine Mglichkeit, sagte er. Am 26. April ist der
Unabhngigkeitstag. Der fllt heuer auf einen Montag. Ich
werde von Samstag bis Montag ein verlngertes Wochenende
einschalten und am Sonntag nicht zur Arbeit gehen. Wenn Ihnen
also der 25. April recht ist...
Ich bejahte jauchzend und sauste nach Holon hinber. Dort
war es mit dem Jauchzen vorbei. Platschek erklrte dezidiert,
da er am 25. April wie blich zur Arbeit gehen wrde. Warum
sollte er am 25. April nicht wie blich zur Arbeit gehen?
Weil, brachte ich mhsam hervor, weil ich dann nicht mehr
wei, was ich machen soll, Platschek.
Es wird sich schon etwas finden, sagte Platschek mit uner-
schtterlichem Optimismus.
Und wirklich, es fand sich schon etwas. Die Vorsehung meinte
es gut mit mir. Wie von ungefhr uerte der legendre Platschek,
da er am Dienstag kommender Woche bei seinem Schwager in
der Levontin-Strae zum Abendessen eingeladen sei, und das
liee sich vielleicht mit einem Blitzbesuch bei mir verbinden,
vielleicht um halb acht. Ich umarmte ihn, legte in Rekordzeit den
Weg nach Bat Jam zurck, drang bei Gideon ein und rief ihm
von der Tr entgegen:
Platschek kommt Dienstag abend.
Dienstag abend, erwiderte Gideon gelassen, gehe ich zu
My Fair Lady.
Ich knickte zusammen.
Vielleicht, stotterte ich, vielleicht wre es mglich, da Sie
an einem andern Tag zu My Fair Lady gehen? Ich meine nur.
Wenn es vielleicht mglich wre.
Soll sein. Aber ich denke nicht daran, mir wegen der Karten
die Fe abzurennen. Das mssen Sie machen.
Nun, soviel verstand sich doch wohl von selbst: da es meine
Sache war, die Karten umzutauschen. Es war ja auch meine
Mauer, wo der braune Fleck schon bis zur Decke reichte. Da es
fr My Fair Lady nur sehr schwer Karten gab, besonders Um-
tauschkarten, entmutigte mich nicht. Nach dreitgigen pausen-
losen Bemhungen gelang es mir denn auch, Gideons Karten auf
den 21. Dezember umzulegen. Ich eilte sofort mit der Freuden-
botschaft zu ihm.
Sie wurde von Gideons Frau mit Kopfschtteln aufgenom-
men. Am 21. Dezember endete das Chanukkah-Fest, und da
wrde Gromama die Kinder zurckbringen, denn die Kinder
verbrachten das Chanukkah-Fest bei Gromama.

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Knnten vielleicht, wagte ich vorzuschlagen, knnten die
Kinder vielleicht einen Tag frher zurckkommen?
Warum nicht? meinte Frau Gideon gutherzig. Wenns die
Gromama erlaubt...
Gromama lebt unweit von Tel Aviv. Sie ist eine freundliche,
weihaarige Dame, liebenswrdig und hilfsbereit, aber am Sab-
bath bentzt sie keine Fahrzeuge. Und der 21. Dezember fiel auf
einen Sabbath.
Ich selbst wrde es ja nicht so genau nehmen, sagte Gro-
mama. Aber mein seliger Mann war sehr religis.
Und weil ihr seliger Mann sehr religis war, sollte jetzt mein
Haus zerbrckeln und versumpfen? Ich versuchte sie zu ber-
zeugen, da ihre Snde nicht gar so gro wre, und wenn ihr
seliger Mann noch lebte, wre er ganz gewi damit einverstan-
den, die lrmende Brut am Sabbath loszuwerden, zumal da ein
Auto eigens herauskme, um sie abzuholen. Gratis.
Nein, nein, nein, beharrte die starrkpfige alte Hexe. Am
Sabbath fahre ich nicht. Das mte mir unser Rabbi ausdrcklich
bewilligen.
Unser Rabbi weilte in einem Erholungsheim im sdlichen
Galila. Ich fand ihn im Garten, lustwandelnd.
Ehrwrdiger Rabbi, begann ich. Wenn Gromutter die
Kinderchen am Sabbath nach Hause bringt, kann Gideon am
21. Dezember ins Theater gehen. Damit wird er frei fr das
Zwillings-Gipfeltreffen mit dem legendren Platschek, am nch-
sten Dienstag um halb acht Uhr abend. Und das ist mindestens
so wichtig wie die Rettung eines Menschenlebens, fr die auch
der Strengglubige die Sabbathruhe brechen darf, nein, mu ...
Der Rabbi gehrte zum aufgeklrten Flgel des israelischen
Klerus. Nachdem ich eine grere Summe zur Errichtung einer
neuen Talmud-Thora-Schule gestiftet hatte, wurde die Sabbath-
Dispens fr Gromutter ordnungsgem ausgestellt, und Gro-
mutter gab nach.
Siegestrunken fuhr ich zu Platschek, siegestrunken rief ich
ihm entgegen:
Der Maurer kommt am Dienstag.
Zu dumm, sagte Platschek. Mein Schwager hat die Ein-
ladung auf Mittwoch verschoben.
Am Dienstag nmlich mute der Schwager, wie sich pltzlich er-
wiesen hatte, einer Versammlung des Elternrats in der von seinen Kin-
dern frequentierten Schule beiwohnen. Und inzwischen hatten sich die
braunen Wasserflecken schon ber die ganze Decke ausgebreitet.

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Meinetwegen, Herr Kishon, brummte der Schwager. Wenn
Sie es einrichten knnen, da die Sitzung verschoben wird
warum nicht?
Nein, wirklich, ich kann mich nicht beklagen. Jedermann war
bereit, mir zu helfen, jedermann tat sein Bestes. Hoffnungsvoll
eilte ich zum Schuldirektor. Er bedauerte lebhaft: die Einladun-
gen fr Dienstag waren schon ausgeschickt.
Ich ging von Haus zu Haus. Achtzehn Eltern erklrten sich
sofort mit Donnerstag einverstanden, nur vier machten Schwie-
rigkeiten. Am hartnckigsten zeigte sich Frau Olga Winternitz,
die fr Donnerstag mehrere Familien zu Gast geladen hatte. Drei
der Geladenen waren ohne weiteres bereit, am Freitag zu kom-
men, einer erklrte sich dazu mangels Befrderungsmittels
auerstande, zwei Mtter hatten keine Baby-Sitter und ein
Junggeselle hatte eine wichtige Verhandlung in Sachen seines
Konkurses. Alle diese Schwierigkeiten wurden von mir Schritt
fr Schritt aus der Welt geschafft. Das Befrderungsproblem
lste ich, indem ich einen Autobus mietete. Meine Schwester
ging als Baby-Sitter zu der einen Dame, die andere Dame ermor-
dete ich und vergrub den Leichnam im Garten. Die Konkurs-
verhandlung wurde abgesagt, da ich die Schulden des Geschfts-
mannes bernahm. Auf diese Weise konnte der Elternrat am
Donnerstag zusammentreten, und dem Gipfeltreffen der Zwil-
linge am Dienstag abend stand nichts mehr im Wege.
Pnktlich um halb acht begann ich zu warten. Ich wartete
zwei Stunden. Niemand kam. Kurz vor Mitternacht erschien
Platschek, der unsere Verabredung irgendwie miverstanden
und bei seinem Schwager das Abendessen eingenommen hatte,
ehe er zu mir kam, statt umgekehrt. Gideon kam ohne nhere
Angaben von Grnden berhaupt nicht. Wahrscheinlich hatte
er vergessen.
Zum Glck war der Wasserfleck nicht mehr von der Wand zu
unterscheiden, denn die Wand war mittlerweile verschwunden
und hatte nur den Fleck zurckgelassen.
Ich verkaufte die Wohnung, erwarb eine neue und wunderte
mich, da mir diese einfache Lsung nicht frher eingefallen
war.

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Sperrstunde

Die Gastfreundschaft gehrt im Vorderen Orient


zu den heiligsten Geboten. Ein Beduinenscheich,
bei dem du eingekehrt bist, wird dich auch wenn
du monatelang bleibst nie zum Aufbruch mah-
nen. Leider ist die Zahl der Beduinenscheichs unter
den Oberkellnern von Tel-Aviv sehr gering.

Das Theater hatte um acht Uhr abend begonnen. Kurz vor elf
war es zu Ende. Wir hatten noch keine Lust, schlafen zu gehen.
Unschlssig schlenderten wir die hell erleuchtete Dizengoff-
Strae hinunter.
La uns noch eine Tasse Tee trinken, sagte die beste Ehe-
frau von allen. Irgendwo.
Wir betraten das nchste Caf-Restaurant, ein kleines, intimes
Lokal mit diskreter Neonbeleuchtung, einer blitzblanken Es-
presso-Maschine und zwei Kellnern, die sich gerade umkleide-
ten. Auer uns war nur noch ein glatzkpfiger Mann vorhanden,
der mit einem schmutzigen Fetzen die Theke abwischte. Bei un-
serem Eintritt sah er auf seine Uhr und brummelte etwas Unver-
stndliches zu einem der beiden Kellner hinber, der daraufhin
seinen Rock wieder auszog und in ein Jackett von unbestimmter
Farbe schlpfte; irgendwann einmal mu es wei gewesen sein.
Die Luft war mit Sozialproblemen geladen. Aber wir taten,
als wre es eine ganz normale Luft und lieen uns an einem der
Tische nieder.
Tee, bestellte ich unbefangen. Zwei Tassen Tee.
Der Kellner zgerte einige Sekunden, dann ffnete er die Tre
zur Kche und fragte mit demonstrativ angewiderter Stimme:
Ist das Wasser noch hei?
Unterdessen schob drauen auf der Terrasse der andere Kellner
die Tische zusammen, mit harten, przisen Rucken, deren Stac-
cato den unerbittlichen Ablauf der Zeit zu skandieren schien.
Der Tee schwappte ein wenig ber, als der erste Kellner die

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beiden Tassen vor uns hinknallte. Aber was verschlugs. Wir
versuchten, die farblose Flssigkeit durch emsiges Umrhren
ein wenig zu wrmen.
Tschuldigen!
Es war der Glatzkopf. Er hob das Tablett mit unseren beiden
Tassen und nahm das fleckige Tischtuch an sich. Nun, auch der
Tisch als solcher war nicht ohne.
Der erste Kellner hatte den unterbrochenen Kostmwechsel
wieder aufgenommen und stand jetzt in einem blauen Regen-
mantel zwischen der Tre. Er machte den Eindruck, als wartete
er auf etwas. Der zweite Kellner war mit dem Zusammenfalten
der Flecktcher fertig geworden und drehte die Neonlichter ab.
Vielleicht, flsterte ich meiner Ehefrau zu, vielleicht mch-
ten sie, da wir gehen? Wre das mglich?
Es wre mglich, flsterte sie zurck. Aber wir mssen es
ja nicht bemerken.
Wir fuhren fort, an unserem im Halbdunkel liegenden Tisch
miteinander zu flstern und nichts zu bemerken. Auch das
Tablett mit der Rechnung, das mir der Regenmantelkellner kurz
darauf unter die Nase hielt, nahm ich nur insoweit zur Kenntnis,
als ich es beiseite schob.
Der Glatzkopf nahm das schicke Htchen meiner Ehefrau
vom Haken und legte es mitten auf den Tisch. Sie lohnte ihm
mit einem freundlichen Lcheln:
Vielen Dank. Haben Sie Kuchen?
Der Glatzkopf erstarrte mit offenem Mund und wandte sich
zum zweiten Kellner um, der vor dem groen Wandspiegel
seine Haare kmmte. Es herrschte Stille. Dann verlor sich der
erste Kellner, der mit dem blauen Regenmantel, im dunklen
Hintergrund, tauchte wieder auf und warf uns einen ksigen
Klumpen vor, der beim Aufprall sofort zerbrckelte. Eine
Gabel folgte klirrend. Meine Gattin konnte das Zittern ihrer
Hnde nicht unter Kontrolle bekommen und lie die Gabel
fallen. Da sie nicht mehr den Mut hatte, eine neue zu verlangen,
tat ich es an ihrer Stelle. Wenn Blicke tten knnten, wre jede
rztliche Hilfe zu spt gekommen.
Die Neonlichter wurden einigemale in rascher Folge an- und
abgeschaltet. Das gab einen hbschen Flackereffekt, der uns aber
nicht weiter beeindruckte. Auch die Tatsache, da der Glatzkopf
sich gerade jetzt vergewissern mute, ob der Rollbalken vor der
Eingangstre richtig funktionierte, lie uns kalt.
Aus der Kche kam eine alte, bucklige Hexe mit Kbel und

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Besen hervorgeschlurft und begann den Boden zu waschen.
Warum sie damit bei unserem Tisch begann, wei ich nicht.
Jedenfalls hoben wir, um ihr keine Schwierigkeiten zu machen,
die Fe und hielten sie so lange in der Luft, bis die Hexe
weiterschlurfte.
Der gekmmte Kellner hatte um diese Zeit fast alle Sthle
auf die dazugehrigen Tische gestellt. Eigentlich fehlten nur
noch die unseren.
Warum sagen sie uns nicht, da wir gehen sollen? fragte ich
meine Frau, die in solchen Fllen meistens die richtige Antwort
wei.
Weil sie uns nicht in Verlegenheit bringen wollen. Es sind
hfliche Leute.
Im Orient wird das Gastrecht heilig gehalten, auch heute noch.
Mit uralten Traditionen bricht man nicht so leicht.
Der erste Kellner stand bereits drauen auf der Strae, von
wo er uns aufmunternde Blicke zuwarf. Der zweite half dem
Glatzkopf soeben in den Mantel. Der Glatzkopf ffnete einen
kleinen schwarzen Kasten an der Wand und tauchte mit zwei
knappen Handgriffen das Lokal in vlliges Dunkel. Im nchsten
Augenblick sprte ich die Sitzflche eines Stuhls auf meinem
Rcken.
Knnte ich ein paar Zeitschriften haben? hrte ich meine
Frau sagen. Ich tastete durch die Dunkelheit nach ihrer Hand und
drckte sie anerkennend.
Ein Zndholz flammte auf. In seinem schwachen Schein kam
der Glatzkopf auf uns zu:
Sperrstunde. Wir schlieen um Mitternacht.
Ja aber warum haben Sie das nicht gleich gesagt? fragte
ich. Woher sollen wir das wissen?
Wir lieen die Sthle von unseren Rcken gleiten, standen auf
und rutschten ber den nassen Fuboden hinaus. Nachdem wir
ein wenig ins helle Straenlicht geblinzelt hatten, sahen wir nach
der Uhr. Es war genau 20 Minuten vor 12.

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Wettervorhersage: Neigung zu Regenschirmverlusten

Das Klima in unserem Land ist streng geregelt und


beinahe ein Fall von Modellplanung: neun Monate
totaler Sommer mit ungetrbter Sonne und wol-
kenlosem Himmel, zwei bergangsmonate, und
nur ein einziger Monat mit Regen, der aber nicht
ganz ernst zu nehmen ist. Infolgedessen ist die
Institution des Regenschirms noch nicht in das
Bewutsein unserer Nation gedrungen. Selbst ehe-
malige Europer, die dann und wann mit einem
Regenschirm ausgehen, kommen immer ohne Re-
genschirm zurck.

Das ist heuer wirklich ein unmglicher Winter. Man wei nicht:
hat er endlich begonnen, oder ist er schon vorber? Manchmal
ballen sich dunkle Wolken am Himmel zusammen, ein sibirischer
Wind heult durch die Gegend zehn Minuten spter scheint die
Sonne, als wre nichts geschehen und wird nach weiteren fnf
Minuten durch einen kleinen Platzregen oder durch ein Lokal-
gewitter abgelst. In solchen Zeiten empfiehlt es sich nicht, das
Haus ohne Regenschirm zu verlassen. Zumindest war das der
Standpunkt meiner Gattin, als ich mich anschickte, unseren
Wagen aus Mikes Garage abzuholen, wo er sich in Reparatur
befand.
Nimm meinen Regenschirm, Liebling, sagte sie. Aber
bitte, verlier ihn nicht!
Jedesmal, wenn ich mit einem Regenschirm das Haus verlasse,
wiederholt sie diese vllig berflssige Mahnung. Wie ein Papa-
gei. Wofr hlt sie mich? Fr ein unmndiges Kind?
Teuerste, sagte ich mit einem unberhrbar sarkastischen
Unterton, wann habe ich jemals meinen Regenschirm ver-
loren?
Vorgestern, lautete die prompte Antwort. Eben deshalb
mchte ich nicht, da du jetzt auch noch meinen verlierst.
Dieser Triumph in ihrer Stimme! Mit welchem Genu sie mir
unter die Nase reibt, da ich meinen Regenschirm zufllig
irgendwo stehen lie und da ich jetzt den ihren nehmen mu!
Obendrein beleidigt sie damit meine mnnliche Wrde, weil ihr
Regenschirm geradezu aufreizend feminin wirkt: klein, gebrech-

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lich, blablau und statt eines anstndigen Griffs ein Hundekopf
aus Marmor oder Elfenbein oder was wei ich. Angewidert
nahm ich das Wechselbalgerzeugnis an mich und begab mich in
den strmenden Regen.
Es mu nicht erst gesagt werden, da das Wetter, als ich dem
Autobus entstieg, sich wieder in ein vllig sommerliches ver-
wandelt hatte. Der Himmel war klar, die Bume blhten, die
Vglein zwitscherten, die Sonne schien, und ich ging mit einem
Damenregenschirm unterm Arm durch die Straen.
Der Wagen war noch nicht fertig. Mike hatte noch etwas im
Getriebe entdeckt. Aber es wrde nicht mehr lange dauern.
Den Heimweg bentzte ich, um auf der Bank etwas Geld zu
beheben.
Anschlieend nahm ich kurzen Aufenthalt im Caf California,
plauderte mit Freunden ber die Krise der zeitgenssischen
Theaterkritik und traf pnktlich um 13.45 Uhr zu Hause ein.
Die Frage, mit der meine Frau mich empfing, lautete:
Wo ist der Regenschirm?
Tatschlich: wo war er? Ich hatte ihn vollstndig vergessen.
Aber wo? Ruhige berlegung tat not. Und schon kam die Er-
leuchtung:
Er ist im California! Ich erinnere mich ganz deutlich, da ich
ihn zwischen meinen Knien versteckt hielt, damit ihn niemand
sieht. Natrlich. Ich hole ihn sofort, Liebling. In zwei Minuten
bin ich zurck.
Durch den Regen, der inzwischen aufs neue eingesetzt hatte,
sauste ich zum Bus. Whrend der Fahrt hatte ich Zeit, ber die
Englnder nachzudenken, die ohne Regenschirm keinen Schritt
machen und ihn auch dann nicht verlieren, wenn der Regen auf-
hrt. Auf diese Weise haben sie ein Empire aufgebaut, und auf
diese Weise haben sie es wieder verloren. Man mte der Wech-
selbeziehung zwischen Regenschirm und Weltgeschichte einmal
genauer nachgehen ... Unter derlei globalen Gedanken kam ich
an meinem Bestimmungsort an. Ich erwachte erst im letzten
Augenblick, sprang auf, ergriff den Regenschirm und drngte
zum Ausgang.
He! Das ist mein Schirm!
Der Ausruf kam von einer sehr dicken Dame, die whrend der
ganzen Zeit neben mir gesessen war. In meiner Zerstreutheit
hatte ich ihren Regenschirm genommen. Na und? So etwas
kann vorkommen. Aber die sehr dicke Dame machte einen
frchterlichen Wirbel, bezeichnete mich als Taschendieb und

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drohte mir sogar mit der Polizei. Vergebens suchte ich ihr zu
erklren, da ich auf ihren schbigen Schirm nicht anstnde und
mehrere eigene bese, die strategisch ber die ganze Stadt ver-
teilt wren. Die sehr dicke Dame schimpfte ungerhrt weiter,
bis ich mich ihren Attacken durch die Flucht entzog.
Im California fand ich sofort den Regenschirm meiner Frau,
oder genauer: dessen berbleibsel. Man hatte ihn achtlos in eine
Ecke geworfen und war barbarisch ber ihn hinweggetrampelt,
so da er vor lauter Schmutz kaum wiederzuerkennen war. Was
wrde meine Frau sagen? Wirklich, das Leben in unserem Land
wird in letzter Zeit immer schwieriger...
Siehst du, rief ich mit forcierter Frhlichkeit, als ich meiner
Frau gegenberstand. Ich habe ihn gefunden.
Was hast du gefunden?
Deinen Regenschirm!
Das soll mein Regenschirm sein?
Wie sich herausstellte, war der blaue Regenschirm inzwischen
von der Bank zurckgeschickt worden. Jetzt fiel mir auch ein,
da ich ihn dort vergessen hatte. Natrlich, auf der Bank. Aber
wem gehrte dann dieses schwarze, schmierige Zeug?
Das Telephon lutete.
Hier ist der Oberkellner vom California, sagte der Ober-
kellner vom California. Sie haben meinen Regenschirm mit-
genommen. Das ist nicht schn von Ihnen. Ich mache um drei
Uhr nachmittag Schlu, und drauen regnet es.
Entschuldigen Sie. Ich bringe ihn sofort zurck.
Die beste Ehefrau von allen legte abermals Symptome von
Nervositt an den Tag.
Nimm meinen Regenschirm, sagte sie. Aber bitte, verlier
ihn nicht wieder.
Wozu brauche ich deinen Regenschirm? Ich hab ja den vom
Kellner!
Und fr den Rckweg, du Dummkopf?
Haben Sie, verehrter Leser, jemals in einer heien, sonnen-
berglnzten Mittelmeerlandschaft zwei Regenschirme unterm
Arm getragen, von denen der eine wie ein schadhafter schwarzer
Fallschirm aussah und der andere in einen marmornen Hunde-
kopf auslief? Die Wartenden an der Bushaltestelle konnten sich
an mir nicht sattsehen. Es war so peinlich, da ich einen Schwin-
delanfall erlitt. Ich suchte eine nahegelegene Apotheke auf, wo
ich zwei Beruhigungstabletten einnahm und so lange warten
wollte, bis es wieder zu regnen begnne. Mein Vorsatz scheiterte

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an dem mrderischen Hunger, der mich pltzlich berkam und
mich in ein Bffet an der nchsten Ecke trieb. Dort konnte ich
in aller Eile ein paar Brtchen ergattern, die ich dann im Bus
verschlang.
Vor dem Caf California wartete der Kellner und sah mich
fragend an:
Wo ist mein Regenschirm ?
Tatschlich. Er fragt mich, wo sein Regenschirm ist. Wie soll
ich das wissen? Was kmmert mich sein Regenschirm? Ich
mchte wissen, wo der Regenschirm meiner Frau ist. Ich mchte
wissen, warum alle Regenschirme der Welt sich in meiner Hand
Rendezvous geben und dann spurlos verschwinden.
Nur ein wenig Geduld, beruhigte ich den Kellner. Sie
werden Ihren Regenschirm sofort haben.
Ungeachtet des niederprasselnden Wolkenbruchs rannte ich
zur Haltestelle zurck. Schn, den Regenschirm meiner Frau
habe ich also verloren, das bleibt in der Familie. Aber wie kommt
der arme Kellner dazu?
Atemlos ri ich die Tre zur Apotheke auf:
Ich ... hier ... vor ein paar Minuten ...
Wei schon, unterbrach mich der Apotheker. Ist er das?
Ich nahm den Schirm an mich und rannte weiter. Natrlich
htte ich nicht schwren knnen, da es der Schirm meiner Frau
war. Er sah ihm hnlich, gewi, aber er flte mir trotzdem
Zweifel ein. Schon deshalb, weil er grn war und als Griff keinen
Elfenbeinmops hatte, sondern einen flachen Schnabel mit den
eingravierten Worten: Meiner Schwester Dr. Lea Pickler.
Es schien doch nicht ganz der Schirm meiner Frau zu sein.
Aber irgend etwas mute ich dem Kellner schlielich zurck-
bringen. Der Kampf ums Dasein ist hart. Nur die Tchtigsten
berleben. Heute du, morgen ich, es hilft nichts. Wenn du
dich nicht wehrst, stehst du pltzlich ohne Regenschirm da.
Angeblich werden im Depot der Stdtischen Autobuslinien
tglich frische Regenschirme verteilt. Jetzt geh hin und sag
ihnen: Ich habe meinen Regenschirm in einem Bus der Linie
94 stehen lassen! 94 ist eine sehr stark befahrene Linie. Ist
das Ihr Schirm? fragt ein Beamter der Fundabteilung. Dieser
Fetzen? fragst du zurck. Zeigen Sie mir etwas Besseres!
Und wenn du Glck hast
Hallo, Sie!
Der Buffetinhaber winkte mich in seinen Laden. Und da,
in eine Ecke gelehnt, wie Bruder und Schwester, standen die

18
beiden streunenden Schirme, der des Verbrechers vom Caf
California und der meiner Witwe.
Den Blick fest zu Boden gerichtet, reihte ich mich an der
Bushaltestelle in die Schlange der Wartenden ein. Von meinem
Arm baumelten drei Regenschirme, ein schwarzer, ein blauer
und ein grner. Wenn es wenigstens geregnet htte! Aber woher
denn, es herrschte schon wieder strahlendes Sommerwetter mit
leicht auffrischendem Sdwestwind. Ich rollte die drei Schirme
in ein Bndel zusammen, als wre ich ein Schirmvertreter, der
mit seinen neuesten Mustern unterwegs ist. Aber das Volk der
Juden hat in seiner langen Geschichte gelernt, sich nicht so
leicht tuschen zu lassen. Mitrauische Blicke trafen mich, und
ein paar Halbwchsige deuteten mit Fingern nach mir, wobei sie
unverschmt kicherten. Eine feine Jugend, die uns da heran-
wchst!
Im Bus verdrckte ich mich ganz nach hinten, in der Hoff-
nung, da man von meinen Schirmdrillingen keine Notiz neh-
men wrde. Die Umsitzenden enthielten sich auch wirklich aller
Kommentare. Offenbar hatten sie sich bereits an mich gewhnt.
Nach einigen Stationen wagte ich aufzublicken. Und da da
mir gegenber direkt mir gegenber ... um Himmels willen!
Die sehr dicke Dame. Die selbe sehr dicke Dame, mit der ich
schon einmal zusammengestoen war. Sie fixierte mich. Sie
fixierte meine drei Regenschirme. Und sie sagte:
Guten Tag gehabt heute, eh?!
Dann wandte sie sich an die Umsitzenden und erklrte ihnen
den Sachverhalt: Der Kerl schnappt Regenschirme, wo er sie
sieht, und macht sich aus dem Staub. Ein gesunder junger
Mensch, gut gekleidet, und stiehlt Regenschirme, statt einen
anstndigen Beruf auszuben. Eine Schande. Vor zwanzig
Jahren hat es in unserem Land keine solchen Typen gegeben.
Es folgte allgemeine Zustimmung mit anschlieendem Taten-
drang. Polizei, sagte jemand. Man mu ihn der Polizei ber-
geben.
Die Haltung der Menge wurde immer drohender. Mir blieb
keine Rettung, als zum Ausgang zu flchten und in hchster Eile
den Bus zu verlassen. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung
machte ich mir den Weg frei und warf mich hinaus in den Regen.
Schtzend hob ich die Hnde ber meinen Kopf...
Die Hnde? Beide Hnde?
In einem Wagen der Autobuslinie 5 sind drei Regenschirme
auf dem Weg in die Ewigkeit.

19
Ich stehe mit geschlossenen Augen im Regen, ein spter
Nachfahre Knig Lears am Ende seines Lebens. Ich stehe und
rhre mich nicht. Das Wasser rinnt in meinen Kragen, durch
meine Unterwsche, in meine Schuhe. Ich stehe und werde hier
stehenbleiben, bis die Sintflut kommt oder der Frhling.
Strafmandat bleibt Strafmandat

Oft werde ich gefragt: was ist es fr ein Gefhl,


unter lauter Brdern zu leben? In einem Land, wo
der Verteidigungsminister Jude ist, der Oberste
Richter Jude ist und der Verkehrspolizist Jude ist?
Nun, was diesen letztgenannten betrifft, so freut
man sich natrlich, da man sein Strafmandat
nicht von einem volksfremden Widersacher be-
kommt, sondern vom eigenen Fleisch und Blut,
vom Bruder Verkehrspolizisten. Manchmal ereig-
nen sich allerdings leichte Flle von Brudermord.

Der Wstenwind wehte feinen Sandstaub ber die Boulevards


und auf die Kaffeehaus-Terrasse, wo ich mit meinem Freund
Jossele sa. Die Luft war stickig, der Kaffee war ungeniebar.
Mimutig beobachteten wir das Leben und Treiben ringsum.
Mit besonderem Mimut erfllte uns der Verkehrspolizist an
der Kreuzung, unter dessen Schikanen die hartgeprften Auto-
fahrer hilflos leiden muten.
Genug, sagte Jossele und stand auf. Jetzt will ichs wissen.
Die Polizei, dein Freund und Helfer. La uns sehen, wie weit es
damit her ist.
Er zog mich auf die Strae und schlug den Weg zur nchsten
Polizeistube ein.
Wo kann ich eine bertretung der Verkehrsvorschriften
melden? fragte er den diensthabenden Polizeibeamten.
Hier, antwortete der Beamte. Was ist geschehen?
Ich fuhr mit meinem Wagen die Schlomo-Hamelech-Strae
hinunter, begann Jossele, und parkte ihn an der Ecke der
King-George-Strae.
Gut, sagte der Beamte. Und was ist geschehen?
Dann fuhr ich weiter.
Sie fuhren weiter?
Ja. Ich fuhr weiter und htte die ganze Sache beinahe ver-
gessen.
Welche Sache?
Eben. Als ich spter wieder am Tatort vorbeikam, fiel es mir
pltzlich ein. Um Himmels willen, dachte ich. Die Haltestelle!
Welche Haltestelle?

21
Die Autobushaltestelle. Wissen Sie nicht, da sich an der
Ecke Schlomo-Hamelech-Strae und King-George-Strae eine
Autobushaltestelle befindet? Herr Inspektor! Ich bin ganz sicher,
da ich nicht in der vorgeschriebenen Entfernung von der Halte-
stelle geparkt habe. Es waren ganz sicher keine zwlf Meter.
Der Beamte glotzte:
Und deshalb sind Sie hergekommen, Herr?
Jossele nickte traurig und lie deutliche Anzeichen eines
beginnenden Zusammenbruchs erkennen:
Ja, deshalb. Ursprnglich wollte ich nicht. Du hast ja schlie-
lich nur eine halbe Stunde geparkt, sagte ich mir, und niemand
hat dich gesehen. Also wozu? Aber dann begann sich mein
Gewissen zu regen. Ich ging zur Schlomo-Hamelech-Strae
zurck, um die Parkdistanz in Schritten nachzumessen. Es waren
hchstens neun Meter. Volle drei Meter zu wenig. Nie, so sagte
ich mir, nie wrde ich meine innere Ruhe wiederfinden, wenn
ich jetzt nicht zur Polizei gehe und die Selbstanzeige erstatte.
Hier bin ich. Und das Jossele deutete auf mich ist mein
Anwalt.
Guten Tag, brummte der Beamte und schob seinen Stuhl
instinktiv ein wenig zurck, ehe er sich wieder an Jossele wandte:
Da die Polizei Sie nicht gesehen hat, knnen wir die Sache auf
sich beruhen lassen. Sie brauchen kein Strafmandat zu bezahlen.
Aber da kam er bei Jossele schn an:
Was heit das: die Polizei hat mich nicht gesehen? Wenn mich
morgen jemand umbringt, und die Polizei sieht es nicht, so darf
mein Mrder frei herumlaufen? Eine merkwrdige Auffassung
fr einen Hter des Gesetzes, das mu ich schon sagen.
Die Blicke des Polizeibeamten irrten ein paar Sekunden
lang zwischen Jossele und mir hin und her. Dann holte er tief
Atem:
Wollen Sie, bitte, das Amtslokal verlassen und mich nicht
lnger aufhalten, meine Herren!
Davon kann keine Rede sein! Jossele schlug mit der Faust
auf das Pult. Wir zahlen Steuer, damit die Polizei fr ffentliche
Ordnung und Sicherheit sorgt! Und mit beiender Ironie fgte
er hinzu: Oder sollte mein Vergehen nach einem halben Tag
bereits verjhrt sein?
Das Gesicht des Beamten lief rot an:
Ganz wie Sie wnschen, Herr! Damit ffnete er sein Ein-
tragungsbuch. Geben Sie mir eine genaue Schilderung des
Vorfalls!

22
Bitte sehr. Wenn es unbedingt sein mu. Also, wie ich schon
sagte, ich fuhr die Schlomo-Hamelech-Strae hinunter, zumin-
dest glaube ich, da es die Schlomo-Hamelech-Strae war, ich
wei es nicht mehr genau. Jedenfalls
Sie parkten in der Nhe einer Bus-Haltestelle?
Kann sein. Es ist gut mglich, da ich dort geparkt habe.
Aber wenn, dann wirklich nur fr ein paar Sekunden.
Sie sagten doch, da Sie ausgestiegen sind!
Ich bin ausgestiegen? Warum sollte ich ausgestiegen sein?
Und warum sollte ich sagen, da ich ausgestiegen bin, wenn ich
halt, jetzt fllt es mir ein: ich bin ausgestiegen, weil der Winker
geklemmt hat. Deshalb habe ich den Wagen angehalten und bin
ausgestiegen: um den Winker wieder in Ordnung zu bringen.
Wollen Sie mir daraus vielleicht einen Strick drehen? Soll ich das
Leben meiner Mitmenschen gefhrden, weil mein Winker
klemmt? Das knnen Sie unmglich von mir verlangen. Das
knnen Sie nicht, Herr Inspektor. Das knnen Sie nicht!
Jossele war in seiner Verzweiflung immer nher an den
Beamten herangerckt, der immer weiter zurckwich:
Herr! sthnte er dabei. Herr! Und das war alles.
Hren Sie, Herr Inspektor. Gerade da Jossele nicht schluch-
zend auf die Knie fiel. Knnten Sie mich nicht dieses eine Mal
laufen lassen? Ich verspreche Ihnen, da so etwas nicht wieder
vorkommen wird. Ich werde in Zukunft genau achtgeben. Nur
dieses eine Mal noch, ich bitte Sie...
Hinaus! rchelte der Beamte. Marsch hinaus!
Ich danke Ihnen! Sie sind die Gte selbst! Ich danke Ihnen
von ganzem Herzen.
Jossele zog mich eilig hinter sich her. Ich konnte noch sehen,
wie der Beamte hinter seinem Pult zusammensank.
Ab und zu mu man eben auch etwas fr die Polizei tun.

23
Harte Whrung

Nichts auf der Welt ist so schwer zu ertragen wie


eine moralische Schuld, auer einer finanziellen
Schuld. Eine Kombination dieser beiden ist absolut
mrderisch.

In der Regel habe ich immer einen Vorrat von 10-Piaster-Mn-


zen bei mir. An jenem Morgen hatte ich keine. Ratlos stand ich
vor dem grausamsten Instrument unseres technischen Zeitalters:
dem Parkometer. Sollte ein stdtisches Amtsorgan des Weges
kommen, dann knnte mich der Mangel eines 10-Piaster-Stcks
5 Pfund kosten. Ich versuchte ein 25-Piaster-Stck in den Schlitz
zu zwngen, aber das Parkometer weigerte sich.
Zehn Piaster? fragte eine Stimme in meinem Rcken. Wer-
den wir gleich haben.
Ich fuhr herum und erkannte Ing. Glick, der eifrig in seinen
Hosentaschen stberte.
Hier! Und damit warf er selbst die erlsende Mnze in den
gefrigen Schlitz.
Ich wute nicht, wie ich ihm danken sollte. Die von mir sofort
angebotene 25er-Mnze wies er von sich:
Lassen Sie. Es ist nicht der Rede wert.
Wenn Sie einen Augenblick warten, gehe ich wechseln, be-
harrte ich.
Machen Sie sich nicht lcherlich. Sie werden schon einen
Weg finden, sich zu revanchieren.
Damit wandte er sich zum Gehen und lie mich in schweren,
bedrckenden Gedanken zurck. Schulden sind mir zuwider.
Ich mag das nicht. Sie werden schon einen Weg finden was
heit das? Was fr einen Weg? Wieso?
Um sicher zu gehen, suchte ich auf dem Heimweg
einen Blumenladen auf und schickte Frau Glick zehn rote

24
Nelken. So benimmt sich ein Kavalier, wenn ich richtig infor-
miert bin.
Warum es leugnen: ich htte zumindest einen Telephonanruf
vom Hause Glick erwartet. Nicht als ob mein Blumenarrange-
ment besondere Dankesbezeugungen erfordert htte, aber trotz-
dem...
Als bis zum Einbruch der Dmmerung noch nichts geschehen
war, erkundigte ich mich telephonisch im Blumenladen nach
dem Schicksal meiner Nelken. Ja, alles in Ordnung, die Nelken
wurden um 16.30 Uhr durch Boten befrdert.
Ich wartete noch eine Stunde. Als meine Nerven zu zerreien
drohten, rief ich bei Glicks an.
Glick selbst war am Telephon. Wir unterhielten uns ber die
neuen Hafenanlagen in Ashdod und ber die neue Einkommen-
steuer und noch ber allerlei Neues. Eine Viertelstunde lang.
Schlielich konnte ich nicht lnger an mich halten.
Da fllt mir ein, sagte ich. Hat Ihre Gattin die Blumen be-
kommen?
Ja. Meiner Meinung nach sollte Eschkol dem Druck der
Religisen nicht nachgeben. Er hat gengend Rckhalt, um...
Undsoweiter undsoweiter. Was war da los? Kein Zweifel, mit
meinen Blumen stimmte etwas nicht.
Nachdem die lppische Konversation zu Ende war, berichtete
ich den Vorfall meiner Ehefrau. Sie wunderte sich berhaupt
nicht.
Natrlich, sagte sie. Auch ich htte mich beleidigt gefhlt.
Wer schickt heute noch Nelken? Die billigsten Blumen, die es
berhaupt gibt.
Aber ich habe zehn Stck geschickt!
Na wenn schon. Es mu einen frchterlichen Eindruck auf
die Glicks gemacht haben. Jetzt werden sie uns fr Geizhlse
halten.
Ich prete die Lippen zusammen. Alles darf man mich nennen,
nur keinen Geizhals. Am folgenden Morgen ging ich in die
nchste Buchhandlung, erstand Winston Churchills vierbndige
Geschichte des Zweiten Weltkriegs und lie sie an Ing. Glick
schicken.
Der Abend kam. Ein Anruf kam nicht. Zweimal whlte ich
Glicks Nummer, zweimal legte ich im letzten Augenblick den
Hrer wieder auf.
Vielleicht hatte Glick bersehen, da es sich um ein Geschenk
von mir handelte?

25
Unmglich, versicherte mir der Buchhndler. Ich habe auf
einer Begleitkarte ganz deutlich Ihren Namen angegeben.
Zwei Tage verstrichen, zwei frchterliche, zermrbende Tage.
Am dritten Tag wurden mir die vier Bnde Churchill zurck-
gestellt, in einem mangelhaft verschnrten Paket, dem folgender
Brief beilag:
Mein lieber Freund, begreifen Sie doch, da ich fr die Hilfe,
die ich Ihnen am 15. November um 9 Uhr geleistet habe, weder
Dank noch Belohnung verlange. Was ich tat, tat ich aus gutem
Willen und aus dem Bedrfnis, einem Mitmenschen, der in eine
schwierige Situation geraten war, meine brderliche Hand hin-
zustrecken. Das ist alles. Ich bin sicher, Sie an meiner Stelle htten
ebenso gehandelt. Mein schnster Lohn liegt in dem Bewutsein,
da ich unter schwierigsten Bedingungen, in einem Dschungel
von Eigensucht und Grausamkeit, ein menschliches Wesen
bleibe. Herzlichst Ihr Glick. PS: Den Churchill habe ich schon.
Abermals wunderte sich meine Gattin nicht im geringsten, als
ich ihr den Brief vorlas:
Ganz klar. Es gibt eben Dinge, die sich mit schndem Mam-
mon nicht abgelten lassen. Manchmal ist eine kleine Aufmerk-
samkeit mehr wert als das teuerste Geschenk. Aber ich frchte,
das wirst du nie verstehen, du Bffel.
Was werde ich nie verstehen, was? Noch am selben Tag bekam
Ing. Glick ein Geschenkabonnement fr die Vorzugs-Serie der
Philharmoniker-Konzerte.
Am Abend des ersten Konzerts lag ich an der Ecke der Huber-
manstrae im Hinterhalt. Wrde er kommen?
Er kam. Beide kamen. Ing. Glick und Gattin wohnten dem
von mir gestifteten Vorzugskonzert bei.
Aufatmend ging ich nach Hause. Zum erstenmal seit vielen
Tagen fhlte ich mich von schwerem Druck befreit, zum ersten-
mal war ich wieder ich selbst. Pnktlich um 10 Uhr abend lutete
das Telephon.
Wir sind in der Pause weggegangen, sagte Glick, und seine
Stimme klang sauer. Ein miserables Konzert. Ein miserables
Programm. Ein miserabler Dirigent.
Ich ... ich bin verzweifelt, stotterte ich. Knnen Sie mir je
verzeihen? Ich habs gut gemeint, wirklich. Ich wollte mich ja
nur fr Ihre Hilfe von damals erkenntlich zeigen...
Hoho, alter Junge, unterbrach mich Glick. Das ist es ja.
Geben ist eine Kunst. Mancher lernts nie. Man darf nicht nach-
denken und nicht nachrechnen, man gibt aus vollem Herzen oder

26
gar nicht. Wenn ich mich selbst als Beispiel anfhren darf Sie
erinnern sich. Als ich Sie damals in hoffnungsloser Verzweiflung
vor dem Parkometer stehen sah, htte ich mir ebensogut sagen
knnen: Was kmmerts dich, du bist kein Autobesitzer und
brauchst dich mit einem Autobesitzer nicht solidarisch zu fh-
len. Tu, als httest du ihn nicht gesehen. Er wird es nie erfahren.
Aber so zu handeln, wre eben nicht meine Art. Hier ist ein
Mensch in Not, sagte ich mir. Er braucht dich. Und schon Sie
erinnern sich schon war das 10-Piaster-Stck im Schlitz Ihres
Parkometers. Eine kleine Geste, weiter nichts. Und doch...
Ich glaubte buchstblich in die Erde zu versinken vor so viel
Humanismus. Eine kleine Geste. Warum, lieber Gott, ermangle
ich so vllig der Fhigkeit zu kleinen Gesten. Nicht nachdenken,
nicht nachrechnen, nur geben, aus vollem Herzen geben...
Glick hat vollkommen recht, konstatierte die beste Ehe-
frau von allen. Und jetzt ist der Karren natrlich vllig ver-
fahren. Jetzt kann uns nur noch eine spektakulre Aktion
retten.
Die ganze Nacht berlegten wir, was wir tun sollten. Den
Glicks eine Eigentumswohnung kaufen? Mndelsichere Wert-
papiere? Sie zu unseren Universalerben einsetzen? Wir zermar-
terten uns die Kpfe...
Schlielich brachte uns eine beilufige Bemerkung des In-
genieurs auf den rettenden Einfall. Wie hatte er doch in seinem
ausfhrlichen Monolog gesagt? Ich habe keinen Wagen, hatte er
gesagt.
Das ist die Lsung, stellte die beste Ehefrau von allen be-
friedigt fest. Du weit, was du zu tun hast.
Aber ich kann auf meinen Wagen schon aus Berufsgrnden
nicht verzichten, wimmerte ich. Ich brauche ihn.
Das ist wieder einmal typisch fr dich. Du bist und bleibst
eine levantinische Krmerseele.
Der Wagen wurde mit einer ganz kurzen Begleitnote zu den
Glicks befrdert: Gute Fahrt, schrieb ich, und: Nochmals
Dank.
Diesmal reagierte Glick positiv. Gleich am nchsten Morgen
rief er mich an:
Entschuldigen Sie, da ich Sie schon zu so frher Stunde auf-
wecke. Aber ich kann den Wagenheber nirgends finden.
Das Blut scho mir zu Kopf. Vor mehr als einem Jahr war der
Wagenheber gestohlen worden, und ich hatte noch immer kei-
nen neuen gekauft. Jetzt wird Glick womglich auf einer ein-

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samen Landstrae einen Pneudefekt haben und mich bis an sein
Lebensende verfluchen.
Ich komme! rief ich ins Telephon, kleidete mich in sausen-
der Eile an, nahm ein Taxi und kaufte einen Wagenheber den ich
sofort bei Glick abliefern wollte.
Am Rothschild-Boulevard, auf den vom Magistrat zugelasse-
nen Parkpltzen, deren Zulassung durch Parkometer kenntlich
ist, sah ich einen Wagen stehen, der mir bekannt vorkam.
Er war es. Mein Wagen stand vor einem Parkometer, vor dem
Parkometer stand Ing. Glick und kramte verzweifelt in seinen
Taschen.
Ich lie das Taxi anhalten und strzte mit einem heiseren Auf-
schrei auf Glick zu:
Zehn Piaster? Werden wir gleich haben!
Glick wandte sich um und erbleichte:
Danke! Ich brauche keine. Ich habe sie selbst! Ich habe sie
selbst!
Er setzte die fieberhafte Suche fort. Ich nahm die meine auf.
Wir keuchten beide vor Anstrengung. Denn uns beiden war
klar, was auf dem Spiel stand. Glick stlpte eine Tasche nach der
anderen um, ohne ein 10-Piaster-Stck zu finden.
Nie werde ich das schreckensbleiche Gesicht vergessen, mit
dem er zusah, wie ich mein 10-Piaster-Stck langsam und ge-
nieerisch in den Schlitz des Parkometers versenkte:
Hier, bitte!
Vor meinen Augen begann Glick um mehrere Jahre zu altern.
Er schrumpfte sichtbar zusammen, whrend er in die Hosen-
tasche griff und mir die Schlssel zu meinem Wagen einhndigte.
Aus seiner Brusttasche zog er das Abonnement fr die Philhar-
monie und bergab es mir unter leisem Schluchzen. Gegen
Abend kamen Blumen fr meine Frau. Man mu es ihm lassen:
er ist ein guter Verlierer.

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Philharmonisches Hustenkonzert

Zu den begehrtesten Status-Symbolen in Israel ge-


hrt ein Abonnement fr die Konzerte des Phil-
harmonischen Orchesters. Sein Besitz gilt als
Ehrensache fr jeden, der in der Lage ist, seiner
Frau ein Kleid zu kaufen, oder der selbst Kleider
verkauft, oder sich in der Export-Import-Branche
bettigt oder irgendeine andere Legitimation vor-
weisen kann, zum Beispiel eine Erkltung.

Es war fr uns ein Kinderspiel, dieses Abonnement zu bekom-


men. Herr Sch., der ursprngliche Besitzer, wurde bekanntlich
wegen Veruntreuung eines ihm anvertrauten Fonds fr mehrere
Jahre seiner Bewegungsfreiheit beraubt, und die schweren Zei-
ten, die daraufhin fr Frau Sch. anbrachen, ntigten sie, das ver-
waiste Abonnement ffentlich zu versteigern. Es ging an den
Exporteur L., einen der ltesten Kunstmzene unseres Landes,
der jeden Ruf berbot, weil er den Auktionator nicht verstand.
Herr L. ist stocktaub und lie sich nach Ablauf der ersten Saison
von seiner Frau scheiden. Die Kinder wurden dem Vater zuge-
sprochen, das Abonnement der Mutter. Kurz darauf nahmen die
Dinge eine Wendung ins Kriminelle: die geschiedene Frau L.
starb unter schweren Vergiftungserscheinungen, und am nch-
sten Tag wurde ihr Untermieter im grten Konzertsaal
Tel Avivs, dem Mann-Auditorium, auf dem Abonnementsitz der
Verblichenen aufgegriffen. Der Oberste Gerichtshof verfgte
die Beschlagnahme des Abonnements und brachte es unter sei-
nen Mitgliedern zur Verlosung.
Dieses Abonnement bekamen wir also nicht. Aber unsere
Nachbarn, die Seligs, gingen auf eine Weltreise und traten uns ihr
Abonnement ab.
Der dritte Abend des Konzertzyklus begann wie blich. Die
Mitglieder des Orchesters stimmten ihre Instrumente (ich frage
mich immer wieder, warum sie das nicht zu Hause machen), und
der Dirigent wurde mit warmem Beifall empfangen. Er konnte
ihn brauchen, denn drauen war es kalt. Unvermittelt hatte der

29
Winterfrost eingesetzt und einen jhen Temperatursturz bewirkt.
Tschaikowskis Pathtique klang denn auch am Beginn ein
wenig starr. Erst als die Streicher gegen Ende des ersten Satzes
das Hauptmotiv wiederholten, kam Schwung in die Sache: ein in
der Mitte der dritten Reihe sitzender Textilindustrieller hustete.
Es war ein scharfer Sforzato-Husten, gemildert durch ein ge-
fhlvolles Tremolo, mit dem der Vortragende nicht nur seine
perfekte Kehlkopftechnik bewies, sondern auch seine flexible
Musikalitt.
Von jetzt an steuerte der Abend immer neuen Hhepunkten
zu. Die katarrhalischen Parkettreihen in der Mitte und ein
Schnupfensextett auf dem Balkon, sprbar von der aufwhlen-
den Hustenkadenz inspiriert, fielen mit einer jubelnden Presto-
Passage ein, deren Flle eine Ensemblewirkung von natr-
lichem, wenn auch etwas nasalem Timbre nichts zu wnschen
brig lie. In dieser Episode machte besonders die auf einem
Eckplatz sitzende Inhaberin eines fhrenden Frisiersalons auf
sich aufmerksam, die ihr trompetenhnliches Instrument virtuos
zu behandeln wute und mit Hilfe ihres Taschentuchs reizvolle
Con sordino-Wirkungen erzielte. Obwohl sie manchmal etwas
blechern intonierte, verdiente die Przision, mit der sie das
Thema aufnahm, hchste Bewunderung. Ihr Gatte steuerte
durch diskretes Ruspern ein kontrapunktisches Element bei,
das sich dem Klangbild aufs glcklichste einfgte.
Ein gemischtes Duo, das neben uns sa, beeindruckte uns
durch werkkundiges Mitgehen. Beide hielten sich mit beispiel-
haft konsequentem Husten an die auf ihren Knien liegende Parti-
tur: tam-tam moderato sostenuto; tim-tim allegro ma
non troppo.
Meine Frau und ich waren von den Darbietungen hingerissen
und lieen uns auch durch das Orchester nicht stren, dessen
disparate Bemhungen in unvorteilhaftem Kontrast zur Har-
monie des Tutti-Niesens standen.
Das nchste Programmstck, ein bllicher Sibelius, wurde
durch den polyphonen Einsatz der Zuhrerschaft nachhaltig
bertnt. Ich meinerseits wartete, bis das Tongedicht an einer
Fermate zum Stillstand kam und die Blser fr die kommenden
Strapazen tief Atem holten, erhob mich ein wenig von meinem
Sitz und lie ein sonores, ausdrucksvolles Husten hren, das
meine musikalische Individualitt voll zur Geltung brachte.
Die Folgen waren elektrisierend. Der Dirigent, respektvolles
Erstaunen im Blick, wandte sich um und gab dem Orchester ein

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Zeichen, meine Darbietung nicht zu unterbrechen. Er zog auch
noch einen in der ersten Reihe sitzenden Solisten heran, einen
erfolgreichen Grundstckmakler, der das von mir angeschla-
gene Motiv in hmmerndem Staccato weiterfhrte. Befeuert von
den immer schnelleren Tempi, die der Maestro ihm andeutete,
steigerte er sich zu einem trillernden Arpeggio, dessen lyrischer
Wohlklang gelegentlich von einer kleinen Unreinheit gestrt
wurde, im ganzen aber eine hchst mnnliche, ja martialische
Frbung aufwies.
Es ist lange her, seit das Mann-Auditorium von einer hnlich
berwltigenden Hustensymphonie erfllt war. Auch das Orche-
ster konnte nicht umhin, vor der unwiderstehlichen Wucht dieser
Leistung zurckzuweichen und das Feld denen zu berlassen,
die in der schwierigen Kunst des konzertanten Hustens solche
Meisterschaft an den Tag legten. Das sorgfltig ausgewogene
Programm gipfelte in einem Crescendo von unvergleichlicher
Authentizitt und einem machtvollen Unisono, das frei von
falschem Romantizismus und billigen Phrasierungen alle in-
strumentalen Feinheiten herausarbeitete und mit hchster Bra-
vour smtliche Taschentcher, Zellophansckchen, vor den
Mund gehaltenen Shawls und Inhalationsapparate einsetzte.
Ein unvergelicher Abend, der so recht den Unterschied zwi-
schen einem gewhnlichen Konzert und einem knstlerischen
Ereignis erkennen lie.

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Es zuckt

Eine der ausgeprgtesten jdischen Eigenschaften


ist das sogenannte Familiengefhl. Wenn ein
jdischer Vater die Bar-Mizwah seines Sohnes
feiert den Tag, an dem der hoffnungsvolle Spro
das 13. Lebensjahr erreicht und zum Manne wird ,
oder wenn er, der Vater, gar seine Lieblingstoch-
ter verheiratet, dann kennt der familire Aufwand
keine Grenzen. Dutzende, Hunderte, Tausende
von Gsten, die den Gastgeber oft erst bei dieser
Gelegenheit kennenlernen, werden eingeladen und
berreichlich bewirtet. Hernach ist der Gastgeber
ruiniert, und die Gste haben einen Abend ver-
bracht, den sie nie vergessen werden, auch wenn
sie noch so gerne mchten.

Die Sache begann buchstblich unter dem Hochzeitsbaldachin


des jungen Pomerantz. Sein Vater, Dr. Pomerantz, hatte mich
schon seit Wochen brieflich, mndlich und telephonisch be-
schworen, der Hochzeitsfeier durch meine Gegenwart Glanz zu
verleihen; wenn man ihm glauben wollte, machte sein Sohn die
Hochzeit berhaupt davon abhngig, da ich ihr beiwohnte, und
dementsprechend lie es auch die Braut an Bitten und Beschw-
rungen nicht fehlen. Das Ganze war mir auerordentlich lstig,
um so mehr, als ich Dr. Pomerantz nur von einer einzigen flch-
tigen Begegnung her kannte. Bei irgendeinem Gesandtschafts-
Empfang war er auf mich zugetreten, hatte mich mit verehrter
Meister angesprochen und mir einige Artigkeiten ber mein
letztes Violinkonzert gesagt. Das war alles. Und deshalb sollte
ich jetzt seinen Sohn in den Hafen der Ehe geleiten?
Hochzeitseinladungen sind etwas Frchterliches, klagte ich
meiner Frau. Wei der Teufel, warum ich zugesagt habe. Ich
kenne die Leute kaum. Was soll ich jetzt machen?
Die beste Ehefrau von allen dachte eine Weile nach. Dann kam
sie, wie nicht anders zu erwarten, mit der einzig richtigen Lsung:
Wenn du eingeladen bist, mut du hingehen, sagte sie.
Ich ging hin. Und es war noch schlimmer, als ichs mir vor-
gestellt hatte. Dr. Pomerantz hatte sichtlich keine Ahnung, wer
ich war, sein Sohn drckte mir geistesabwesend die Hand, die
Braut tat nicht einmal das. Ich fhlte mich richtig erlst, als das
Bffet zum Sturm freigegeben wurde.
In diesem Augenblick trat der Mann mit dem nervsen Tick

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in mein Leben. Er stand neben mir, und sein Gesicht zuckte. Es
zuckte unaufhrlich und mit schner Regelmigkeit. Im bri-
gen sprachen wir kein Wort, abgesehen von seiner Bitte, ihm den
Senf zu reichen; wenn ich nicht irre, bin ich dieser Bitte nachge-
kommen.
Der trostlos langweilige Abend erfuhr eine gewisse Belebung,
als der Brutigam das strahlend weie Kleid der Braut versehent-
lich mit Rotwein anschttete. Den entstandenen Tumult ntzte
ich aus, um mich zu entfernen.
Bald darauf verga ich die Familie Pomerantz, die Hochzeit
und alles, was damit zusammenhing.

Ein halbes Jahr mochte vergangen sein. Ich machte Einkufe in


einer Papierwarenhandlung. Neben mir stand ein Herr, den ich
nicht kannte. Er sah mich an:
Na? fragte er. Wie geht es den jungen Leuten?
Welche jungen Leute meinen Sie?
Ich wute es wirklich nicht aber ein pltzliches Zucken in
seinem Gesicht frischte mein Gedchtnis auf. Er meinte das junge
Ehepaar Pomerantz.
Ich habe nie wieder von ihnen gehrt, gab ich wahrheits-
gem an.
Ich auch nicht. Aber ich erinnere mich, da der junge Po-
merantz ein Glas Rotwein ber seine Braut geschttet hat...
Ganz richtig, ganz richtig. Wollen hoffen, da es ihnen gut
geht.
Und ich wandte mich hastig ab, denn ich rede sehr ungern mit
Leuten, mit denen ich nichts zu reden habe. Wir waren auf einer
Hochzeit zufllig nebeneinander am Bffet gestanden, er hatte
gezuckt, ich hatte ihm den Senf gereicht, hier bitte, dankeschn,
aus, vorbei. Wozu soll man eine so lppische Erinnerung mit
sich herumtragen? Ich lschte sie aufs neue aus meinem Ge-
dchtnis, und es glckte mir aufs neue.
Bis ich eines Tages ein Scherut-Taxi bestieg und mich einem
Mitfahrer gegenber fand, der mir sogleich bekannt vorkam. Als
mir klar wurde, da es der Mann mit dem nervsen Tick war,
erfate mich wilder Schrecken. Ich sandte ein Stogebet zum
Himmel, des Inhalts, da einer von uns beiden ans Ziel gelangen
und aussteigen mge, bevor wir ins Gesprch kmen... ver-
gebens. In einer Kurve wurde mein Gegenber gegen meine
Kniescheibe geschleudert, sah mich entschuldigend an, zuckte
und veranlate mich dadurch zu einem verhngsnisvollen Fehler:

33
Hallo, sagte ich. Wie gehts den beiden jungen Leuten?
In der nchsten Sekunde verfluchte ich meine Voreiligkeit:
der Gesichtsausdruck des Tickbesitzers lie keinen Zweifel dar-
an, da er mich gar nicht erkannt hatte. Erst mein Leichtsinn
brachte ihn auf die richtige Fhrte.
Ach ja, murmelte er. Natrlich. Pomerantz, oder wie die
geheien haben. Ich habe sie seit damals nicht mehr gesehen.
Ich auch nicht, sagte ich rasch und in der verwegenen Hoff-
nung, da es damit sein Bewenden htte.
Mein Gegenber nahm sein Zucken in vollem Umfang wieder
auf: Und jetzt erinnere ich mich. Ein Glas Wein
wurde ausgeschttet, ergnzte ich.
ber das Kleid der Braut.
Rotwein, glaube ich.
Stimmt. Rotwein. Es geht ihnen also gut, sagen Sie?
Ich habe nichts Gegenteiliges gehrt.
Nun, hoffen wirs.
Damit war die anregende Diskussion zu Ende. Ein anderes
Thema hatten wir nicht. Den Rest der Strecke legten wir schwei-
gend zurck.
Fast sah es danach aus, als sollte dieser garstige Zwischenfall
der letzte seiner Art bleiben. Zwei oder drei Jahre waren st-
rungsfrei ins Land gegangen, als ich den Zug nach Jerusalem
bestieg. Und hier geschah es, da das Schicksal zuschlug.
Ich fand ein leeres Abteil und lehnte mich behaglich auf mei-
nem Fensterplatz zurck. Vielleicht war ich ein wenig einge-
nickt jedenfalls blickte ich erst wieder auf, als der Zug sich in
Bewegung setzte. Und da sah ich, mir gegenber, in dem bis
dahin leeren Abteil, auf dem Weg nach Jerusalem, allein mit
mir...
Hehehe! In seinem Gesicht zuckte es frhlich. Was wohl
die beiden jungen Leute treiben?
Offenkundig konnte er sich nicht einmal an ihren Namen er-
innern, so wenig wie ich.
Ich wei nicht, sagte ich. Ich habe sie lngst aus den Augen
verloren.
Ich auch. Lngst. Keine Ahnung, wie es ihnen geht.
Stille. Beklemmende Stille. Sie verdickte sich allmhlich zu
undurchdringlichen Schwaden und lie den Rhythmus der Rder
nur wie aus weiter Ferne an mein Ohr dringen. Auf geheimnis-
volle Weise schien er den Rhythmus der Gesichtszuckungen
mir gegenber zu kontrapunktieren. Kalter Schwei trat mir auf

34
die Stirn. Ich merkte, da auch ich zu zucken begann. Und pltz-
lich kam die Stimme meines Gegenbers unabwendbar auf
mich zu:
Der Wein ... erinnern Sie sich an den Wein...?
Ja ... die Braut...
Rot...
Ausgeschttet...
bers Kleid...
Der Hund! sagte ich in einer pltzlichen Eingebung und
sprang auf. Entschuldigen Sie, ich mu nachsehen!
Damit strzte ich auf den Gang hinaus und zwngte mich zum
nchsten Waggon durch und durch den bernchsten und bis in
den letzten hinein, bis zur hintersten Plattform des letzten Wag-
gons, wo es nicht mehr weiterging. Dort bot ich meine fieber-
heie Stirn dem Winde dar. Warum, warum? sthnte ich.
Warum verfolgt mich dieses zuckende Gesicht? Soll ein un-
glckseliger Zwischenfall bei einer unglckseligen Hochzeit
mich bis ans Lebensende qulen?
Von da an wurde ich vorsichtig und mied alle ffentlichen
Verkehrsmittel. Ich kaufte ein Auto. Ich sa im Kaffeehaus nur
noch hinter Sulen. Ich fuhr nicht mehr nach Jerusalem. Als ich
das zuckende Gesicht einmal von weitem auf der Strae sah,
flchtete ich in ein Haustor, sauste alle sechs Stockwerke hinauf
und versteckte mich auf dem Dachboden. Denn ich wute:
wenn dieser Kerl mich noch ein Mal nach den beiden jungen
Leuten fragt, springe ich ihm an die Kehle, wahrscheinlich mit
letalem Ausgang.
Gestern fhrte ich meinen Sohn Raphael zur Nachmittags-
vorstellung der Eisrevue. Es war rhrend, wie der Kleine sich
freute, und ich freute mich mit ihm. Selig sa ich da, meinen klei-
nen Rafi auf den Knien. Er wute sich kaum zu halten, er wollte
die ganze Welt an seinem Glck teilhaben lassen, auch den klei-
nen Jungen, der in der Nebenloge auf seines Vaters Knien sa.
Recht so! Man kann nicht frh genug anfangen, menschliche
Kontakte zu suchen! Ich nickte dem Knaben in der Nachbarloge
freundlich zu. Er nickte freundlich zurck. Und in seinem Ge-
sicht... Gott helfe mir... in seinem Gesicht zuckte es, rhyth-
misch und unaufhrlich...
Von der Eisrevue sah ich nichts mehr. Ich hatte mich mit dem
Rcken zur Nachbarloge gekehrt. Aber dann kam die Pause, und
in der Pause kam aus der Nachbarloge der Vater des zuckenden
Knaben auf mich zu und zuckte seinerseits und sagte:

35
Haben Sie, sagte er, haben Sie zufllig... Sie wissen ja...
die beiden jungen Leute... wie geht es ihnen?
Meine Schlssel! Um Himmels willen, wo sind meine
Schlssel!
Mit einem Panthersatz verschwand ich in der brodelnden
Menge. Raphael war ganz verweint, als er mich endlich wieder-
fand. Glcklicherweise beruhigte er sich bald.
Pappi, plauderte er drauflos, mein neuer Freund sagt, da
sein Pappi dich kennt... Ihr wart zusammen auf einer Hoch-
zeit... Ist es wahr, da der Brutigam die Braut mit Rotwein
angeschttet hat?
Es ist alles vergebens. Ich werde das zuckende Gesicht, zu
dem die Ehe Pomerantz mich verflucht hat, niemals loswerden.
Es wird wider mich zucken bis ans Ende meiner Tage, bis ins
dritte und vierte Geschlecht, es wird sich vererben vom Vater
auf den Sohn und vom Sohn auf den Enkel, es wird zucken in
alle Ewigkeit.
Das Rtsel der dritten Schraube

Jedes Land hat bestimmte Produktionsmethoden,


die bestimmte Charakteristika aufweisen. Zweck-
mige Verpackung kennzeichnet die amerikani-
schen Produkte, Przisionsarbeit ist typisch fr die
Schweiz, am niedrigen Preis erkennt man die japa-
nische Herkunft einer Ware. Und wie steht es um
Israel?

In Israel gibt es eine Produktionshemmung, die sich rein tech-


nologisch wie folgt formulieren liee:
Der israelische Handwerker ist physisch und geistig auer-
stande, auf dem lokalen Produktionssektor, etwa im Bauge-
werbe, jene Anzahl von Schrauben anzubringen, die mit der An-
zahl der Lcher bereinstimmt, welche zur Anbringung von
Schrauben vorgesehen sind.
Mit anderen, weniger anspruchsvollen Worten:
Seit Bestehen des Staates Israel hat noch kein israelischer
Handwerker jemals die jeweils vorgeschriebene Anzahl von
Schrauben eingeschraubt. Sondern statt dreier Schrauben nimmt
er zwei oder vielleicht nur eine. Warum?
Internationale Fachleute erblicken die Ursache dieses Verhal-
tens in einem bersteigerten Selbstbewutsein des organisierten
israelischen Arbeiters, der davon durchdrungen ist, da zwei
jdische Schrauben so gut sind wie drei nichtjdische. Die Tief-
seelenforscher, besonders die Anhnger Jungs und seiner
Archetypen-Theorie, fhren das Zwei-Schrauben-Mysterium
auf den Ewigen Juden zurck, das heit auf die tiefe Skepsis
unserer stets verfolgten, immer wieder zur Wanderschaft ge-
zwungenen Vorvter, die nicht an die Dauerhaftigkeit materieller
Gter glauben konnten.
Sei dem wie immer die fehlende Schraube ist meistens die
mittlere. Das Muster sieht ungefhr so aus:

Es tritt am hufigsten bei hebrischen Trangeln auf, und zwar

37
sowohl bei Zimmer- wie bei Schranktren. Man kann ihm eine
gewisse Symmetrie und dekorative Balance nicht absprechen.
Demgegenber zeugt seine rechte Abweichung entschieden von
seelischer Unausgeglichenheit:

Dieses Arrangement erfreut sich unter Radioapparaten, Platten-
spielern und an der Wand zu befestigenden Kchengertschaften
grter Verbreitung.
Eine dritte Form wird geradezu kultisch von der jungen israeli-
schen Kraftwagenindustrie gepflegt, und zwar an den mit freiem
Auge nicht sichtbaren Bestandteilen des Motors, wo ihre An-
wendung nur dem gebten Ohr durch das rhythmische Klappern
freigewordener Metallplatten erkennbar wird, meistens auf ein-
samen Landstraen. Man bezeichnet diese Form als Mono-
Schraubismus:

Grndliche, mit staatlicher Untersttzung durchgefhrte Nach-
forschungen haben keinen einzigen Fall von drei Schrauben-
lchern ergeben, die mit allen drei dazugehrigen Schrauben aus-
gestattet gewesen wren. Vor kurzem wurde in einer Waffen-
fabrik im oberen Galila ein feindlicher Spion entdeckt, der sich
dadurch verraten hatte, da er alle Schraubenlcher mit Schrau-
ben versah.
Ich fr meine Person habe in einer Tischlerei in Jaffa ein auf-
schlureiches Experiment durchgefhrt. Ich beobachtete den
Besitzer, einen gewissen Kadmon, bei der Herstellung eines von
mir bestellten Hnge-Regals und bei der Anbringung zweier
Schrauben an Stelle der vorgesehenen drei.
Warum nehmen Sie keine dritte Schraube? fragte ich.
Weil das berflssig ist, antwortete Kadmon. Zwei tuns
auch.
Wozu sind dann drei Schraubenlcher da?
Wollen Sie ein Regal haben oder wollen Sie mit mir plaudern?
fragte Kadmon zurck.
Unter der Einwirkung meiner berredungsknste erklrte er
sich schlielich doch bereit, eine dritte Schraube zu nehmen, und
machte sich fluchend an die Arbeit. Irgendwie mute sich die
Kunde davon verbreitet haben, denn aus der Nachbarschaft
strmten alsbald viele Leute (darunter auch einige Tischler) her-
bei, um dem einmaligen Schauspiel beizuwohnen.
Sie alle gaben der Meinung Ausdruck, da bei mir eine
Schraube locker sei.

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Der kluge Mann baut vor

Ein skandinavischer Kronprinz hat einmal die


schicksalsschwere Frage Sein oder Nichtsein?
gestellt. Ebenso schicksalsschwer ist die Frage:
Abendessen oder Nichtabendessen? Besonders
wenn man bei der Familie Spiegel eingeladen ist.

Bist du ganz sicher, Ephraim? Ist es eine Einladung zum


Essen?
Ja, soviel ich wei...
Hundertmal hatte ich es meiner Frau schon erklrt und sie
hrte nicht auf zu fragen. Ich selbst war am Telephon gewesen,
als Frau Spiegel anrief, um uns fr Mittwoch halb neun Uhr
abends einzuladen. Ich hatte die Einladung mit Dank angenom-
men und den Hrer wieder aufgelegt. Das war alles. Nicht der
Rede wert, sollte man meinen. Weit gefehlt! Wir haben seither
kaum ber etwas anderes gesprochen. Immer wieder begannen
wir jenes kurze Telephongesprch zu analysieren. Frau Spiegel
hatte nicht gesagt, da es eine Einladung zum Abendessen war.
Sie hatte aber auch nicht gesagt, da es keine Einladung zum
Abendessen war.
Man ldt nicht fr Punkt halb neun Gste ein, wenn man
ihnen nichts zu essen geben will, lautete die Interpretation, die
meine Frau sich schlielich zu eigen machte. Es ist eine Dinner-
Einladung.
Auch ich war dieser Meinung. Wenn man nicht die Absicht
hat, seinen Gsten ein Abendessen zu servieren, dann sagt man
beispielsweise: Kommen Sie aber nicht vor acht, oder: Irgend-
wann zwischen acht und neun, aber man sagt auf keinen Fall:
Pnktlich um halb neun! Ich erinnere mich nicht genau, ob
Frau Spiegel pnktlich gesagt hat, aber um hat sie gesagt. Sie
hat es sogar deutlich betont, und in ihrer Stimme lag etwas un-
verkennbar Nahrhaftes.

39
Ich bin ziemlich sicher, da es eine Einladung zum Essen ist,
war in den meisten Fllen das Ende meiner berlegungen. Um
alle Zweifel zu beseitigen, wollte ich sogar bei Frau Spiegel an-
rufen und ihr von irgendwelchen Ditvorschriften erzhlen, die
ich derzeit zu beobachten htte, und sie mchte mir nicht bse
sein, wenn ich sie bte, bei der Zusammenstellung des Mens
darauf Rcksicht zu nehmen. Dann htte sie Farbe bekennen
mssen. Dann htte sich sehr rasch gezeigt, ob sie berhaupt be-
absichtigte, ein Men zusammenzustellen. Aber so raffiniert die-
ser Plan ausgedacht war meine Frau widersetzte sich seiner
Durchfhrung. Es macht, behauptete sie, keinen guten Eindruck,
eine Hausfrau vor das fait accompli zu stellen, da man von ihr
verkstigt werden will. Auerdem sei das ganz berflssig.
Ich kenne die Spiegels, sagte sie. Bei denen biegt sich der
Tisch, wenn sie Gste haben...
Am Mittwoch ergab es sich obendrein, da wir um die Mit-
tagsstunde sehr beschftigt waren und uns mit einem raschen,
nur aus ein paar Brtchen bestehenden Imbi begngen muten.
Als wir uns am Abend auf den Weg zu Spiegels machten, waren
wir richtig ausgehungert. Und vor unserem geistigen Auge er-
schien ein Bffet mit vielem kalten Geflgel, mit Huhn und Trut-
hahn, Gans und Ente, mit Saucen und Gemsen und Salaten...
Hoffentlich machen sie whrenddessen keine Konversation, die
Spiegels. Hoffentlich warten sie damit bis nach dem Essen...
Gleich beim Eintritt in die Spiegelsche Wohnung begannen
sich unsere alten Zweifel aufs neue zu regen: wir waren die ersten
Gste, und die Spiegels waren noch mit dem Ankleiden beschf-
tigt. Unsere besorgten Blicke schweiften ber den Salon, ent-
deckten aber keinerlei solide Anhaltspunkte. Es bot sich ihnen
der in solchen Fllen bliche Anblick: eine Klubgarnitur,
Fauteuils und Sthle um einen niedrigen Glastisch, auf dem sich
eine groe flache Schssel mit Mandeln, Erdnssen und ge-
trockneten Rosinen befand, in einer bedeutend kleineren Schs-
sel einige Oliven, auf einer etwas greren gewrfelte Kse-
stckchen mit Zahnstocher aus Plastik, und schlielich ein edel
geschwungenes Glasgef voll dnner Salzstbchen.
Pltzlich durchzuckte mich der Gedanke, da Frau Spiegel
am Telephon vielleicht doch 8.45 gesagt hatte und nicht 8.30, ja
vielleicht war berhaupt kein genauer Zeitpunkt genannt wor-
den und wir hatten nur ber Fellinis 8 gesprochen.
Was darfs zum Trinken sein?
Der Hausherr, noch mit dem Knoten seines Schlipses be-

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schftigt, mixte uns einen John Collins, ein auerordentlich
erfrischendes Getrnk, bestehend aus einem Drittel Brandy,
einem Drittel Soda und einem Drittel Collins. Wir trinken es
sonst sehr gerne. Diesmal jedoch waren unsere Magennerven
mehr auf Truthahn eingestellt und jedenfalls auf etwas Kompak-
tes. Nur mhsam konnten wir ihnen Ruhe gebieten, whrend
wir unsere Glser hoben.
Der Hausherr stie mit uns an und wollte wissen, was wir von
Sartre hielten. Ich nahm eine Handvoll Erdnsse und versuchte
eine Analyse des Existentialismus, soweit er uns betraf, mute
aber bald entdecken, da mir das Material ausging. Was bedeutet
denn auch eine Schssel mit Erdnssen und Mandeln fr einen
erwachsenen Menschen? Ganz hnlich stand es um meine Frau.
Sie hatte den schwarzen Oliven auf einen Sitz den Garaus ge-
macht und schwere Verwstungen unter den Ksewrfeln ange-
richtet. Als wir auf Vietnam zu sprechen kamen, befanden sich
auf dem Glastisch nur noch ein paar verlassene Gurkenscheiben.
Augenblick, sagte Frau Spiegel, wobei sie es fertig brachte,
gleichzeitig zu lcheln und die Augenbrauen hochzuziehen. Ich
hole noch etwas. Und sie verlie das Zimmer, die leeren Schs-
seln im Arm. Durch die offen geblichene Tr sphten wir in die
Kche, ob sich dort irgendwelche Anzeichen von Opulenz ent-
decken lieen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die Kche
glich eher einem Spitalzimmer, so sterilisiert und wei und ruhig
lag sie da...
Inzwischen es ging auf neun waren noch einige Gste er-
schienen. Mein Magen begrte jeden einzelnen mit lautem
Knurren.
Die Konversation wandte sich der erfolgreichen Amerikareise
Ben Gurions zu:
Man kann sagen, was man will, sagte jemand, der etwas
sagen wollte. Der Alte lt sich nicht unterkriegen!
Nicht? Ich htte ihn gerne gesehen, wenn er in Amerika zum
Dinner nichts als Erdnsse bekommen htte. Ich, zum Beispiel,
hatte schon nach der zweiten Schssel Magenbeschwerden. Nicht
da ich gegen Erdnsse etwas einzuwenden habe. Die Erdnu ist
ein schmackhaftes, vitaminreiches Nahrungsmittel. Aber sie ist
kein Ersatz fr Truthahn oder Fischsalat mit Mayonnaise.
Ich sah um mich. Meine Frau sa mit kalkweiem Gesicht mir
gegenber und griff sich in diesem Augenblick gerade an die
Kehle, offenbar um den John Collins zurckzudrngen, der in
ihrem Innern gegen die Gurken und die Rosinen aufbegehrte. Ich

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nickte ihr zu, warf mich auf eine eben eintreffende Ladung frischer
Ksewrfel und verschluckte in der Eile einen Plastikzahn-
stocher. Frau Spiegel tauschte befremdete Blicke mit ihrem Gat-
ten, flsterte ihm eine zweifellos auf uns gemnzte Bemerkung
ins Ohr und erhob sich, um neue Vorrte herbeizuschaffen.
Jemand uerte gesprchsweise, da die Zahl der Arbeitslosen
im Steigen begriffen sei.
Kein Wunder, bemerkte ich. Das ganze Volk hungert.
Das Sprechen fiel mir nicht leicht, denn ich hatte den Mund vol-
ler Salzstbchen. Aber es erbitterte mich ber die Maen, dum-
mes Geschwtz ber eine angeblich steigende Arbeitslosigkeit zu
hren, whrend inmitten eines gut eingerichteten Zimmers Leute
saen, die keinen sehnlicheren Wunsch hatten als ein Stck Brot.
Meine Frau war mit dem dritten Schub Rosinen fertig gewor-
den, und auf den Gesichtern unserer Gastgeber machten sich
deutliche Anzeichen von Panik bemerkbar. Herr Spiegel fllte
die auf den Schsseln entstandenen Lcken mit Karamellen aus,
aber die Lcken waren bald wiederhergestellt. Man mu beden-
ken, da wir seit dem frhen Morgen praktisch keine Nahrung
zu uns genommen hatten.
Die Salzstbchen knirschten und krachten in meinem Mund,
so da ich kaum noch etwas vom Gesprch hrte. Whrend sie sich
zu einer breiigen Masse verdickten, sicherte ich mir einen neuen
Vorrat von Mandeln. Mit den Erdnssen war es vorbei, Oliven
gab es noch. Ich a und a. Die letzten Reste meiner sonst so
vorbildlichen Selbstbeherrschung schwanden dahin. chzend
und sthnend stopfte ich mir in den Mund, was immer in meiner
Reichweite lag. Meine Frau troff von Karamellen und sah mich
aus verklebten Augen waidwund an. Smtliche Schsseln auf
dem niedrigen Glastischchen waren kahlgefegt. Auch ich war am
Ende. Ich konnte nicht mehr weiter. Als Herr Spiegel aus der
Nachbarwohnung zurckkehrte und einen Teller mit Salzman-
deln vor mich hinstellte, mute ich mich abwenden. Ich glaubte
zu platzen. Der bloe Gedanke an Nahrungsaufnahme verur-
sachte mir belkeit. Nur kein Essen mehr sehen. Nur um Him-
mels willen kein Essen mehr...
Hereinspaziert, meine Herrschaften!
Frau Spiegel hatte die Tr zum anschlieenden Zimmer ge-
ffnet. Ein weigedeckter Tisch wurde sichtbar und ein Bffet
mit vielem kalten Geflgel, mit Huhn und Truthahn, Gans und
Ente, mit Saucen und Gemsen und Salaten.

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Tagebuch eines Jugendbildners

Unsere Kinder, unsere Jugend, unsere Augpfel,


unsere Zukunft, unser ganzer Stolz! Sie messen
1.85 m im Schatten und nehmen ihren Eltern ge-
genber eine liebevolle, vterliche Haltung ein. In
unseren Schulen wurde schon lngst die krper-
liche Zchtigung eingefhrt. Wie sollte man sonst
den Lehrern beikommen?

13. September. Heute begann ich meine pdagogische Karriere an


einer Elementarschule, wo ich einen flchtig gewordenen Lehrer
ersetze. Es ist ein wunderbares Gefhl fr einen Jugenderzieher,
wenn eine Schar von jungen, sen Sabres* an seinen Lippen
hngt.
Die erste Stunde begann schn und verheiungsvoll. Etwas
spter jedoch es mochten zwei oder drei Minuten vergangen
sein drehte ein in der ersten Reihe sitzender Schler namens
Taussig seinen Transistor an. Nachdem ich ihn mehrmals verge-
bens darauf aufmerksam gemacht hatte, da ich in meiner Klasse
keine Schlagermelodien dulden knnte, ging mein Temperament
mit mir durch, und ich verwies ihn des Raumes. Marsch hinaus,
sagte ich. Taussig schaltete auf Kurzwelle um, die bekanntlich
von Beat-Musik beherrscht wird, und sagte: Marsch selber
hinaus!
Ich nahm seine Anregung auf, ging zum Anstaltsleiter und
berichtete ihm den Vorfall. Der Anstaltsleiter gab mir zu ver-
stehen, da ich unter gar keinen Umstnden das Klassenzimmer
htte verlassen drfen. Wenn jemand hinauszugehen hatte,
dann ganz entschieden Taussig, erklrte er wrtlich. Sie dr-
fen niemals Anzeichen von Schwche zeigen! Ich kehrte zur
Klasse zurck und begann demonstrativ einen Vortrag ber
das Siegeslied Deborahs. Aber ich glaube nicht, da Taussig mir
verziehen hat.

* Sabre, zu deutsch Distel, ist die in Israel gebruchliche Bezeichnung fr die im Land Geborenen.

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27. September. Ein unangenehmer Zwischenfall. Es steht noch
nicht ganz fest, wer daran schuld ist. Soviel ich wei, begann die
Auseinandersetzung damit, da ich in Taussigs Schularbeit einen
orthographischen Fehler entdeckte. In dem Satz: Am liebsten
von allen Bchern lesen wir die Bibel hatte er wir mit ie ge-
schrieben, wier. Ich stand hinter ihm, whrend er schrieb, und
zeigte ihm den kleinen Irrtum an. Taussig ergriff sein Lineal und
schlug es mir auf die Finger. Es tat weh. Da ich kein Anhnger
blinder Disziplin bin, lehne ich die krperliche Zchtigung als
pdagogisches Mittel ab. Ich ersuchte den irregeleiteten Knaben,
seine Eltern zu mir zu schicken, und beschwerte mich beim An-
staltsleiter.
Nach ottomanischem Gesetz das auf manchen Gebieten
unseres ffentlichen Lebens noch in Geltung ist, wie Sie wissen
darf der Schler seinen Lehrer schlagen, aber der Lehrer darf
nicht zurckschlagen, erklrte mir der gewiegte Fachmann.
Kommen Sie den Kindern nicht zu nahe.

29. September. Heute hatte ich den Besuch von Taussigs Eltern:
eine Mutter, zwei Vter und mehrere Onkel. Also mein Junge
ist ein Idiot? brllte der eine Vater, und: Mein Sohn kann nicht
schreiben, he? brllte der andere. Nach einem kurzen, heftigen
Schlagwechsel versuchte man, mich gegen die Wand zu drcken,
aber ich war von diesem primitiven Vorgehen nicht weiter beein-
druckt, schlpfte durch eine Lcke, die im Kreis der mich Um-
zingelnden entstanden war, und flchtete ins Zimmer des An-
staltsleiters, das ich rasch versperrte. Die vielen Eltern hmmer-
ten gegen die Tr. Sie werden sie noch einschlagen, flsterte
der verschreckte Schulmeister. Ergeben Sie sich! Ich ver-
suchte, ihm begreiflich zu machen, da dies meiner Vater-Imago
in den Augen der Schler abtrglich wre. Die Schler hatten
unterdessen allerlei Bcher und Aktenste vor den Fenstern
aufgeschichtet, um bessere Sicht zu haben, und feuerten die
Taussigs mit erstaunlich rhythmischen Zurufen an.
Einem Beamten des Unterrichtsministeriums, der zufllig
auf der Szene erschien, gelang es schlielich, einen Waffenstill-
stand herbeizufhren. Die durch seine Vermittlung zustande-
gekommene Abmachung sah vor, da Taussigs Eltern das
Gebude evakuieren sollten; wier hingegen wrden in Hinkunft
gegen die individuellen Schreibarten der Schler keine klein-
lichen Einwnde mehr erheben.

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9. Oktober. Die heutigen Demonstrationen nahmen ungewhn-
liche Ausmae an. Etwa ein Dutzend Angehrige des VII. Jahr-
gangs rotteten sich vor dem Drahtverhau zusammen, der unser
Schulgebude umgibt, und verbrannten mich in effigie. Es lie
sich nicht leugnen, da die Ereignisse meiner Kontrolle ent-
glitten. Ich beriet mich mit dem Anstaltsleiter.
Tja, meinte der abgeklrte Veteran des Erziehungswesens.
Das ist eben unsere vitale, kampflustige Pionierjugend. Wetter-
harte Wstenshne, in einem freien Land geboren. Keine Spur
von Minderwertigkeitsgefhlen. Da helfen keine konventionel-
len Methoden wie Vorwrfe oder gar Strafen. Denen imponiert
hchstens ein Bulle wie Blumenfeld...
Blumenfeld gehrt zu unseren jngeren Lehrkrften. Er ist
ein netter, umgngiger Mann von massivem ueren und be-
achtlichem Gewicht. Seltsamerweise herrscht in seinen Unter-
richtsstunden immer Ruhe und Ordnung. Auch von elterlicher
Seite sind noch keine Beschwerden gegen ihn eingelaufen. Ich
fragte den Anstaltsleiter nach Blumenfelds Geheimnis.
Ganz einfach: er ist ein Pdagoge, lautete die Antwort.
Er hebt nie eine Hand gegen seine Schler. Er tritt sie mit
Fen.
Ich habe mich in einen Judo-Kurs einschreiben lassen. Alle
zwlf Teilnehmer sind Lehrer. Auerdem habe ich mir vor-
genommen, von jetzt an zurckzuschlagen, ottomanisches
Gesetz hin oder her. Der Anstaltsleiter wei noch nichts da-
von.

21. Oktober. Von unserer Gewerkschaft kam die Nachricht,


da das Finanzministerium nicht bereit ist, dem Gesetzent-
wurf betreffend eine Krperliche Gefahrenzulage fr Lehrer
zuzustimmen, da an der Erziehungsfront noch keine offenen
Kampfhandlungen stattgefunden htten. Schade. Ich bin allen
mglichen Leuten Geld schuldig: dem Lebensmittelhndler,
dem Versicherungsagenten und dem Notar, der mein Testa-
ment aufgesetzt hat. Ich habe mich nmlich entschlossen,
Taussig bei den morgen beginnenden Abschluprfungen in
Grammatik durchfallen zu lassen. Mein halbes Vermgen,
25 Pfund in bar, habe ich dem Erholungsheim fr schwer-
beschdigte Lehrer vermacht, die andere Hlfte den Witwen
jener, die in Erfllung ihrer Pflicht einen vorzeitigen Tod
fanden.
Gestern informierte ich den Anstaltsleiter, da vom Dach

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des Schulgebudes mehrere Schsse auf mich abgegeben wur-
den. Er legte mir nahe, das Gebude durch einen andern Aus-
gang zu verlassen.

22. Oktober. Taussig ist durchgefallen. Aber ich hatte vergessen,


da sein Bruder Sergeant in einem Artillerieregiment ist. Das
Bombardement begann am Morgen, whrend wir das Thema
Herzls Vision vom Judenstaat behandelten. Zum Glck hatten
wir schon vor einigen Jahren einen Bunker angelegt, als der
Sohn eines Luftwaffenmajors beim Abitur durchgefallen war.
In diesen Bunker flchteten wir. Die Granaten schlugen in
bedrohlicher Nhe ein.
Gegen Mittag verlie der Anstaltsleiter mit einer weien
Flagge das Schulgebude. Nach einer bangen Wartezeit brachte
er die Bedingungen der Rebellen: Befriedigend fr Taussig
und eine Entschuldigung an die ganze Klasse. Ich erklrte mich
einverstanden, aber die Rebellen wiesen meine Entschuldigung
als nicht aufrichtig gemeint zurck und nahmen den Anstalts-
leiter als Geisel gefangen.
Erst einige Stunden spter denn mittlerweile war der rechte
Flgel des Schulgebudes, wo sich die Telephonzentrale be-
fand, durch Granateinschlge beschdigt worden konnte ich
die Verbindung mit dem Unterrichtsminister herstellen und
protestierte gegen die Erniedrigungen, die der Lehrkrper
zu erdulden hatte. Wie sollen wir den Schlern als Muster
dienen, wenn wir die Anstalt immer nur paarweise verlassen
knnen, um gegen Anschlge aus dem Hinterhalt gesichert zu
sein? Es ist so gab ich dem Minister zu bedenken eine Frage
der beruflichen Wrde. Ein Lehrer, der von seinen Schlern
jeden Tag geohrfeigt wird, verliert allmhlich das Gesicht.
Der Minister versprach, meine Beschwerde zu prfen, warnte
mich aber vor weiteren Erpressungsversuchen. Damit war die
Angelegenheit bis auf weiteres erledigt.

15. November. Was ich die ganze Zeit befrchtet hatte, ist ein-
getreten. Taussig hat sich erkltet. Eine Polizeistreife erschien
in der Schule und verhaftete mich, da Taussig mich als den
Schuldigen bezeichnet hatte. Die Anklage lautete auf strfliche
Vernachlssigung der pflichtgemen Obsorge. Meine Be-
teuerungen, da nicht ich es gewesen sei, der das Fenster
offengelassen hatte, waren vergebens. Alle Eltern Taussigs
sagten bereinstimmend gegen mich aus. Ein Vertreter des

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Roten Kreuzes fragte mich, ob ich vor Beginn der Verhandlung
noch einen Wunsch htte.

18. November. Ein Wunder! Die Probleme des israelischen Er-


ziehungswesens sind gelst! Wie den heutigen Zeitungen als
Untersuchungshftling habe ich Anspruch auf Zeitungslektre
zu entnehmen ist, wird in Israel das Fernsehen eingefhrt. Und
als einer der ersten Punkte steht der sogenannte Dritte Bil-
dungsweg auf dem Programm, der Fernunterricht vom Bild-
schirm.
Ich bin gerettet.
Ehrlich, aber nicht offen

Unser junger Staat darf sich bereits eines Welt-


rekords rhmen: wir zahlen die hchsten Steuern
der Welt. Wir sind von einigen nicht ganz fried-
fertigen Araberstaaten umgeben und mssen das
ntige Geld fr die Landesverteidigung aufbrin-
gen, und deshalb sind unsere Steuern so hoch,
und deshalb zahlen wir sie. Natrlich gibt es auch
bei uns, wie in allen anderen Lndern, Steuer-
schwindler oder solche, die es werden wollen. Das
ist, wir sagten es schon, nur natrlich. Unnatrlich
verhlt es sich hingegen mit jenen Patrioten, die
eine korrekte Steuererklrung abgeben und trotz-
dem von der Steuerbehrde als Schwindler behan-
delt werden.

Jossele sa, wie blich, im Kaffeehaus. Ihm gegenber kauerte


unser alter Freund Stockler, Besitzer eines gutgehenden Parfme-
rieladens und eines weithin sichtbaren Nervenzusammenbruchs.
Jedes Jahr dasselbe, sthnte er. Im Juli werde ich zum
Wrack.
Jossele nickte verstndnisvoll:
Ich wei. Die Einkommensteuererklrung. Schwindeln Sie,
Herr Stockler?
Leider nicht. Ich mu gestehen, da ich ein erbrmlicher
Feigling bin. Und was mich am meisten deprimiert: es hilft mir
nichts. Meine Bcher sind korrekt gefhrt, jeder einzelne Posten
ist nachprfbar richtig und jedes Jahr werden meine Aufstel-
lungen zurckgewiesen, weil sie angeblich falsch, unvollstndig
und frisiert sind. Was soll ich machen?
Jossele schttelte unglubig den Kopf, und seine Stimme
klang vorwurfsvoll:
Sagen Sie, Herr Stockler: sind Sie ein kleines Kind? Oder
sind Sie vom Mond heruntergefallen? Sie nehmen Ihre Bcher,
legen sie dem Steuerprfer vor und erwarten allen Ernstes, da
er Ihnen glaubt? Sie tun mir wirklich leid.
Stockler schluchzte leise vor sich hin. Seine Trnen rhrten
nach einer Weile Josseles Herz:
Haben Sie Bettcher zu Hause, Herr Stockler? Gut. Und
jetzt hren Sie zu...

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Nicht lange danach, an einem regnerischen Vormittag, begab
sich Stockler auf sein zustndiges Finanzamt, betrat das Zimmer
seines zustndigen Steuerreferenten, nahm auf dessen Aufforde-
rung ihm gegenber Platz und senkte den Kopf.
Herr Referent, sagte er, ich mu Ihnen ein Gestndnis ma-
chen. Ich habe im abgelaufenen Steuerjahr keine Bcher gefhrt.
Stehlen Sie mir nicht meine Zeit mit dummen Witzen, erwi-
derte der Beamte suerlich. Was wnschen Sie?
Es sind keine Witze. Es ist die Wahrheit. Ich habe keine
Bcher gefhrt.
Einen Augenblick. Sie wollen doch nicht sagen, da Sie keine
Bcher gefhrt haben?
Doch. Genau das will ich sagen. Das heit: ich habe sie ge-
fhrt, aber ich habe sie nicht.
Jetzt war es mit der Selbstbeherrschung des Beamten zu Ende.
Sein bisher ruhiger Ba berschlug sich zu jhem Falsett:
Was heit das: ich habe sie ich habe sie nicht?! Wieso haben
Sie sie nicht?!
Ich habe sie verloren.
Verloren?! Wieso? Wie? Wann? Wo?
Ja, wenn ich das wte. Eines Tages konnte ich sie nicht mehr
finden. Sie waren weg. Vielleicht verbrannt, ohne da ich es be-
merkt htte. Oder gestohlen. Jedenfalls sind sie verschwunden.
Es tut mir leid, aber so ist es. Vielleicht knnte ich mein Einkom-
men ausnahmsweise aus dem Gedchtnis angeben, das wre am
einfachsten. Es war ohnehin ein sehr schwaches Jahr. Ich habe
praktisch so gut wie nichts verdient... Warten Sie...
Der Steuerbeamte klappte ein paarmal den Mund auf und zu.
Ein unartikuliertes Krchzen entrang sich seiner Kehle und ging
erst nach mehreren Versuchen in verstndliche Worte ber:
Entfernen Sie sich, Herr Stockler. Sie hren noch von uns...
Die Leute von der Steuerfahndung erschienen am frhen Mor-
gen, wiesen einen Hausdurchsuchungsbefehl vor, verteilten sich
auf die einzelnen Zimmer und begannen ihr Werk. Nach ungefhr
einer Stunde drang aus dem Schlafzimmer ein heiserer Jubelschrei:
Da sind sie!
Einer der Fahnder, ein Dnner mit randloser Brille, stand vor
dem Wscheschrank und hielt triumphierend drei umfangreiche
Faszikel hoch...

Die Verhandlung nherte sich dem Ende. Mit ungewhnlich


scharfen Worten resmierte der Anwalt der Steuerbehrde:

49
Hier, hohes Gericht, liegen die versteckten Bilanzen des
Parfmeurs Stockler. Herr Stockler hatte sich Hoffnungen ge-
macht, da wir eine aus dem Gedchtnis abgegebene Steuer-
erklrung akzeptieren und keine Nachschau nach seinen Bchern
halten wrden. Er war im Irrtum. Hohes Gericht, die Steuerbe-
hrde verlangt, da das Einkommen des Beklagten auf Grund
der von uns aufgefundenen Bcher bewertet wird. Aus ihnen,
und nur aus ihnen, geht sein wahres Einkommen hervor...
Auf der Anklagebank sa ein bleicher, glcklicher Stockler
und murmelte ein bers andere Mal vor sich hin: Sie glauben
mir... endlich glauben sie mir...
Dankbar umarmte er Jossele auf der Kaffeehausterrasse:
Und nchstes Jahr fatiere ich nur noch mein halbes Einkom-
men. Ich habe auch schon ein herrliches Versteck. Unter der
Matratze...
Lamento fr einen jungen Schauspieler

Lnder, die keine Aristokratie besitzen, versuchen,


eine zu schaffen. Alles ist relativ. Fr einen Ein-
wanderer des Jahres 1967 sind diejenigen, die
schon 1963 gekommen sind, Aristokraten. Und
die Kluft, die durch eine Einwanderungsdifferenz
von 38 Jahren entsteht, ist vollends unber-
brckbar.

PODMANITZKI: Sie, junger Mann! Kommen Sie fr einen Augen-


blick her!
BEN TIROSCH: Wer, ich?
PODMANITZKI: Ja, Sie.
BEN TIROSCH: Mit Vergngen, Herr Podmanitzki. Ich wollte
Ihnen schon lange sagen, Herr Podmanitzki, da es mir eine
groe Ehre ist, gemeinsam mit Herrn Podmanitzki auf der
Probe zu stehen.
PODMANITZKI: Gerade ber dieses Thema wollte ich sprechen,
mein Junge. Wie heit du?
BEN TIROSCH: Ben Tirosch. Joseph.
PODMANITZKI: Und wie lange bist du schon beim Theater?
BEN TIROSCH: Zwei Monate. Nchste Woche werden es genau
zwei Monate.
PODMANITZKI: Behandelt man dich anstndig?
BEN TIROSCH: Ich bin der glcklichste Mensch auf Erden, Herr
Podmanitzki. Es war immer mein Traum, neben einem
Schauspieler Ihres Kalibers auftreten zu drfen.
PODMANITZKI: Nimm Platz, mein Junge. Machs dir bequem.
BEN TIROSCH: Danke vielmals. Schon als Kind war ich ein
Podmanitzki-Verehrer. Sie knnen meine Mutter fragen,
wenn Sie wollen. Und jetzt spielen wir wirklich und
wahrhaftig im selben Stck. Auf jeder Probe habe ich
Lampenfieber.
PODMANITZKI: Das ist begreiflich, mein Junge.
BEN TIROSCH: Ich heie Ben Tirosch. Joseph Ben Tirosch.

51
PODMANITZKI: Wir verstehen einander. Und jetzt sprechen wir
ein wenig ber die Hinrichtungs-Szene. Du spielst meinen
Henker, wenn ich nicht irre.
BEN TIROSCH: Ja. Es ist mir eine Ehre.
PODMANITZKI: Sei so gut und unterbrich mich nicht. Mir gefllt
diese Szene. Auch wie du dich bei den Proben anstellst, ge-
fllt mir. Das heit: in schauspielerischer Hinsicht. Bis zu
dem Augenblick, wo du den Mund aufmachst. Was hast du
mir da zu sagen? Ich meine: wenn ich das Gerst ersteige.
Was sagst du mir da?
BEN TIROSCH: Wer, ich?
PODMANITZKI: Ja. La hren.
BEN TIROSCH: Meinen Text?
PODMANITZKI: Natrlich deinen Text. Was sagst du?
BEN TIROSCH: Mach schneller, sage ich. Nicht so langsam!
PODMANITZKI: Und weiter?
BEN TIROSCH: Oder soll ich dir Beine machen, du dreckiger
Lump?!
PODMANITZKI: Das sagst du mir?
BEN TIROSCH: Ja. Es ist mein Text.
PODMANITZKI: Dreckiger Lump?
BEN TIROSCH: Es ist mein Text.
PODMANITZKI: Wie alt bist du, mein Junge?
BEN TIROSCH: Zweiundzwanzig. Im Juli werde ich zweiund-
zwanzig.
PODMANITZKI: Zweiundzwanzig! Und du schmst dich nicht,
mit einem der ltesten Schauspieler dieses Landes so zu
sprechen? Mit einem in Ehren ergrauten Veteranen, der seit
achtunddreiig Jahren zu den fhrenden Krften der hebr-
ischen Bhne gehrt?
BEN TIROSCH: Aber wenn das doch mein Text ist, Herr Pod-
manitzki...
Es steht wrtlich so in meinem Rollenbuch, sehen Sie...
Und hier steht auch, da ich Herrn Podmanitzki... krf-
tig... also treten mu... also in den Hintern...
PODMANITZKI: Dazu kommen wir spter.
BEN TIROSCH: Die Rolle schreibt es so vor.
PODMANITZKI: Du hast nicht nur eine Rolle, du hast eine Pflicht!
Deine Pflicht ist es, zu lernen. Und Respekt zu haben vor
den Pionieren des israelischen Theaters. Wie war doch gleich
dein Name?
BEN TIROSCH: Tirosch. Ben Joseph.

52
PODMANITZKI: Ausgezeichnet. Und merk dir: wenn du es zu
etwas bringen willst, mut du immer daran denken, da
Yarden Podmanitzki fr das Publikum ein Begriff ist.
BEN TIROSCH: Auch fr mich, Herr Podmanitzki! Glauben Sie
mir, auch fr mich!
PODMANITZKI: Warum macht es dich dann so glcklich, mich
vor aller Augen zu beschimpfen und zu mihandeln?
BEN TIROSCH: Das macht mich glcklich? Wieso macht mich
das glcklich? Auer Sie meinen die Erklrung, die mir
unser Regisseur gegeben hat... aus Frankreich... Herr
Monsieur Boulanger. Der hat mir also gesagt, da es mir
eine innere Genugtuung bereitet. Sie zu hassen. Natrlich
nur im Stck. Weil Sie der Anfhrer der Rebellen sind, die
wir gefangen haben.
PODMANITZKI: Fr einen franzsischen Goj bin ich vielleicht
der Anfhrer der Rebellen. Fr dich, mein Junge, bin ich
Yarden Podmanitzki. Wie darfst du es wagen, mich in den
Hintern zu treten?
BEN TIROSCH: Ich dachte... die Rolle...
PODMANITZKI: Rolle, Schmolle. Wenn Mischa Honigmann den
Henker gespielt htte... er ist ein miserabler Schauspieler,
gewi, und trotzdem steht er seit dreiig Jahren auf der
Bhne. Aber du, du kleine Wanze aus dem Seminar, was
sage ich, aus dem Kindergarten du hast die Stirn, einem
Mann, der dein Vater sein knnte, du hast die Frechheit,
deinen Vater auf offener Szene zu verhhnen und in den
Dreck zu zerren?! Weit du, was ich in meinem Leben
schon alles gespielt habe? Helden! Propheten! Knige?
Schn, diesmal bin ich nur ein Rebellenfhrer. Einverstan-
den. Aber berechtigt dich das, mir ffentlich ins Gesicht zu
spucken?
BEN TIROSCH: Bou... Bou... Boulanger...
PODMANITZKI: Sprich mir nicht von diesem Kretin! Er hat keine
Ahnung vom Theater. Auerdem geht er nachher wieder
nach Paris zurck, und ich bleibe hier. Also.
BEN TIROSCH: Natrlich. Sie haben ganz recht, Herr Pod-
manitzki. Bitte bedenken Sie, da ich erst seit kurzer Zeit
beim Theater bin.
PODMANITZKI: Deshalb mache ich mir ja die Mhe, so ausfhr-
lich mit dir zu sprechen, mein lieber mein lieber
BEN TIROSCH: Ben Joseph. Tirosch.
PODMANITZKI: Eben. Und jetzt hr mir gut zu, mein Junge. Von

53
morgen an wird Yarden Podmanitzki auf der Bhne nicht
mehr vor dir niederknien. Hast du verstanden?
BEN TIROSCH: Wie sollte ich nicht, Herr Podmanitzki! Es wre
ja wirklich zum Lachen, wenn Sie, ein Podmanitzki, vor
mir, einem Anfnger
PODMANITZKI: Du hast es erfat. Ich werde also hoch aufgerich-
tet auf den Stufen stehen, die zum Galgen hinauffhren,
und du wendest dich an mich und sagst nun, was sagst du?
BEN TIROSCH: Ich sage: Mach schnell!
PODMANITZKI: Verrckt geworden? So kannst du vielleicht mit
deinesgleichen reden, mit den Statisten, aber nicht mit mir!
BEN TIROSCH: Entschuldigen Sie. Vielleicht sollte ich sagen:
Komm herauf!
PODMANITZKI: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf.
BEN TIROSCH: Jawohl. Kommen Sie herauf.
PODMANITZKI: Wenn ich bitten darf!
BEN TIROSCH: Das auch?
PODMANITZKI: Selbstverstndlich. Ist es dir zuviel?
BEN TIROSCH: Nein, keine Spur. Ich dachte nur...
PODMANITZKI: Denk nicht und sprich deinen Text. Den ganzen.
BEN TIROSCH: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf.
PODMANITZKI: Ich habe auch einen Namen, oder?
BEN TIROSCH: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf, Herr
Podmanitzki.
PODMANITZKI: Meinen Namen im Stck, du Idiot!
BEN TIROSCH: Ach ja, Verzeihung. Kommen Sie herauf, wenn
ich bitten darf, Herr Gonzales!
PODMANITZKI: Was heit da Gonzales? Federico Manuel Pedro
Gonzales y Zamorra!
BEN TIROSCH: Augenblick, ich schreibs mir auf.
PODMANITZKI: Schreib nur, mein Junge, schreib.
BEN TIROSCH: Vielleicht... wie wre das... vielleicht knnte
ich vor Herrn Podmanitzki auf die Knie fallen?
PODMANITZKI: Eine hochinteressante Idee. Du hast Theater-
instinkt, mein Junge. Recht begabt, was du da vorschlgst.
Und es ndert nicht das geringste an deiner Rolle. Das Un-
vermeidliche nimmt seinen Lauf, nicht wahr, du bist der
Henker, du bist sozusagen verpflichtet, den Rebellenfhrer
zu hassen aber wenn du mir dann Aug in Aug gegenber-
stehst, ist es vorbei. Du gertst in den magischen Bannstrahl
meiner Bhnenpersnlichkeit, du beginnst zu schrumpfen,
du wirst klein und immer kleiner, du stehst als lcher-

54
licher Zwerg vor einem Giganten des zeitgenssischen
Theaters.
BEN TIROSCH: Ja, Herr Podmanitzki! Ja! Ja!
PODMANITZKI: Und dann trete ich dich in den Hintern und sage:
Tu deine Pflicht, du rudiger Hund!
BEN TIROSCH: Herrlich! Schade, da ich nicht von selbst aber
da fllt mir ein: was wird Monsieur Boulanger dazu sagen?
PODMANITZKI: Er versteht kein Hebrisch.
BEN TIROSCH: Richtig, das hatte ich ganz vergessen. Und
dann... nachher... darf ich Herrn Podmanitzki dann auf-
hngen?
PODMANITZKI: Kmmer dich nicht. Ich hng mich selber auf.
BEN TIROSCH: Groartig. Also von der morgigen Probe ange-
fangen!
PODMANITZKI: Ja. Aber du brauchst niemanden davon zu er-
zhlen. Es ist ein Geheimnis zwischen uns beiden. Zwischen
mir, Yarden Podmanitzki, und dir na wie
BEN TIROSCH: Tirosch Joseph. Ben.
PODMANITZKI: Auch zu Boulanger kein Wort.
BEN TIROSCH: Natrlich nicht.
PODMANITZKI: Kann ich mich auf dich verlassen?
BEN TIROSCH: Ich schwre!
PODMANITZKI: Gut. Du hast eine groe Zukunft vor dir, mein
Junge.
BEN TIROSCH: Es wird immer mein hchstes Ziel sein. Ihr Ver-
trauen zu rechtfertigen, Herr Podmanitzki!
PODMANITZKI: Na schn. Also bis morgen, auf der Probe.
BEN TIROSCH: Ja, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen, Herr
Podmanitzki. Ich danke Ihnen fr alles!
(Er geht ab, taumelnd vor Glck und Seligkeit. Am nchsten
Tag wird er auf Anordnung Boulangers von der Probe gewiesen
und aus dem Vertrag entlassen, weil er seine Rolle eigenmchtig
gendert hat.)

55
Die Macht der Feder

Als Gott der Herr den Himmel und die Erde schuf,
achtete er darauf, da ein jegliches Geschpf wider
die Unbill der grausamen Natur geschtzt sei. Dem
Lwen gab er Strke, dem Reh die schnellen
Beine, der Schildkrte den Panzer. Nur ein einziges
seiner Geschpfe hat er vergessen: mich.

Meine obige Klage bezieht sich unverkennbar auf die Regierung


und die von ihr Beamteten. Das Gefhl der unrettbaren Hilf-
losigkeit, das mich vor amtlichen Pulten, Schaltern, Schiebefen-
stern und dergleichen berkommt, ist nicht zu schildern, nicht
einmal von mir. Wann immer ich einem Verkrperer staatlicher
Autoritt gegenberstehe, werde ich von wilden Zweifeln an
meiner Existenz gepackt und reduziere mich auf den Status eines
geistig zurckgebliebenen Kindes, das nicht nur kurzsichtig ist,
sondern auch stottert.
Eines Tages jedoch...
Eines Tages betrat ich das Postamt, um ein Paket abzuholen.
Der Beamte sa hinter den Gitterstben seines Schalters und
spitzte Bleistifte. Es gibt, wie man wei, viele Arten, Bleistifte zu
spitzen: mit einem der eigens dafr hergestellten Bleistift-
spitzer, oder mit einer dieser durch Handkurbel betriebenen
Spitzmaschinen, die man an der Wand befestigen kann, oder mit
einer Rasierklinge. Der Beamte, vor dem ich stand, verwendete
ein Renaissance-Taschenmesser, dessen eigentliche Bestimmung
irgendwann einmal das edle Schnitzhandwerk gewesen sein mu.
Er leistete harte Arbeit. Jedesmal, wenn er einen festen Ansatz-
punkt fr die Klinge gefunden hatte, rutschte sie ab. Wenn sie
ausnahmsweise einmal nicht abrutschte, ri sie groe Keile Holz
aus dem Bleistift. Manchmal nahm sie auch etwas Mine mit.
Lange Zeit sah ich ihm still und aufmerksam zu. Ich lie meine
strmische Jugend vor meinem geistigen Auge Revue passieren,
erwog und entschied einige brennende politische Probleme,

56
dachte auch ber Fragen des Haushalts nach und erinnerte mich
bei dieser Gelegenheit, da der undichte Wasserhahn in unserem
Badezimmer noch immer nicht repariert war. Da ich ein pedan-
tischer Mensch bin, zog ich Notizbuch und Bleistift hervor und
notierte das Stichwort Installateur, mit einem Rufzeichen da-
hinter.
Und dann geschah es.
Der bleistiftspitzende Beamte hrte mit dem Bleistiftspitzen
auf und fragte:
Darf ich fragen, was Sie da aufgeschrieben haben? Er fragte
das keineswegs hmisch, sondern hflich.
Ich habe mir eine Notiz gemacht, antwortete ich tapfer.
Darf man das nicht?
Der gesamte Bleistiftvorrat des Beamten verschwand mit
einem Hui in seiner Lade. Er selbst, der Beamte, setzte ein
Lcheln auf, das mir nicht ganz frei von einer leisen Nervositt
schien:
Entschuldigen Sie bitte, da ich nicht sofort zu Ihrer Verf-
gung war. Was kann ich fr Sie tun?
Er wurde immer hflicher, erledigte mein Anliegen auf die
liebenswrdigste Weise, entschuldigte sich nochmals, da er
mich hatte warten lassen, und bat mich, meiner Gemahlin seine
besten Empfehlungen zu berbringen.
Und das alles, weil ich offenbar im richtigen Augenblick und
mit dem richtigen Gesichtsausdruck etwas in mein Notizbuch
geschrieben hatte.
Kein Zweifel: ich war einer der umwlzendsten Entdeckun-
gen des Jahrhunderts auf die Spur gekommen. Ein zweckmig
verwendetes Notizbuch wirkt Wunder. Die Menschen im all-
gemeinen, und die vom Staat beamteten erst recht, stehen allem
Geschriebenen, dessen Inhalt sie nicht kennen, mit Mibehagen
und Angstgefhlen gegenber. Verba volant, scripta manent,
das wuten schon die alten Rmer. Gesprochenes verfliegt. Ge-
schriebenes bleibt.
Seit damals mache ich Notizen, wann immer ich die Gelegen-
heit fr gekommen erachte. Vor einigen Tagen ging ich in ein
Schuhgeschft und wurde bis Einbruch der Dmmerung nicht
bedient. Ich zckte das Notizbuch, zckte meinen Bleistift,
zhlte bis zehn und trug eine Sentenz in das Bchlein ein, die sich
mir aus Toussaint-Langenscheidts bungsbuch der franzsi-
schen Sprache unvergelich eingeprgt hat: Das Loch in der
Tasche meines Bruders ist grer als der Garten meines Oheims.

57
Es wirkte. Der Ladeninhaber hatte mich gesehen und nherte
sich ebenso bleich wie devot, um mich eigenhndig zu bedienen.
Nicht einmal Polizisten vermgen den geheimen Krften mei-
nes Zauberbuchs zu widerstehen. Alltglich, wenn die Stunde
der Strafzettelverteilung an parkende Autos kommt, lauere ich
im Hintergrund, trete im geeigneten Augenblick hervor und
trage mit meiner Fllfeder (niemals einen Kugelschreiber be-
ntzen!) aufs Geratewohl ein paar Worte in mein Bchlein ein.
Schon schmilzt das Auge des Gesetzes, schon entkrampft sich
seine offizielle Haltung, er schimpft nicht, er schreit nicht, er
fltet: Also gut, noch dieses eine Mal...
Denn auch er frchtet die Macht der Feder. Auch er beugt sich
vor dem, was da geschrieben steht.
Schlielich sind wir das Volk des Buches, nicht wahr.
Die Nacht, in der mein Haar ergraute

Eine alte jdische Tradition macht es dem Wohl-


habenden zur Pflicht, den Bettler von der Strae
an seinen Tisch zu laden. Diese Tradition hat sich
bis heute in unserem Staat erhalten nur ist es
heute sehr oft der Bettler, der die Rechnung zahlen
mu.

Die Premiere war vorber. Nachdem wir in den Knstler-


garderoben pflichtgem unsere Glckwnsche abgeliefert hat-
ten, versammelten wir uns beim Bhnenausgang, um ernsthaft
ber die Dinge zu reden. Wir befanden uns in bester Stimmung,
denn das Stck hatte einen einwandfreien Durchfall erlitten. Jetzt
galt es, die Ursachen zu analysieren.
Pltzlich fragte Kunstetter (ich erinnere mich ganz genau, da
die Frage von Kunstetter kam):
Wie wrs und wir gingen eine Kleinigkeit essen?
Sein Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Jemand empfahl das
neu erffnete Balalaika-Restaurant, das wie schon der Name
vermuten lie feinste franzsische Kche offerierte. Die Preise
in einem solchen Lokal liegen zwar etwas ber dem Durchschnitt,
aber nach einem schlechten Stck will man wenigstens gut essen.
Schon rein uerlich machte die Balalaika einen erstklassi-
gen Eindruck. Die holzgetfelten Wnde waren mit Gobelins
geschmckt, das Licht kam aus hohen Kerzenhaltern und die
Kellner aus Sdfrankreich. Sechs Tische wurden zusammenge-
schoben, und bei dieser Gelegenheit zeigte sich, da unsere Ge-
sellschaft aus mehr als zwanzig Personen bestand, darunter eine
Anzahl vllig Unbekannter. Das ist schon so beim Theater. Ge-
wisse Randfiguren des Betriebs hngen sich immer an die Be-
rhmtheiten an.
Obwohl die Preise unsere schlimmsten Befrchtungen ber-
trafen, bestellten wir allerlei kalte und warme Hors duvres und
als Hauptgericht die Spezialitten des Hauses. Alles schmeckte

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vorzglich, der Wein war spritzig, die Konversation desgleichen,
das Leben war schn, und zur Hlle mit kleinlichen Pfennig-
fuchsereien.
Ich hatte gerade den letzten Bissen meines Steak au poivre mit
einem krftigen Schluck Pommard heruntergesplt, als meine
Ehefrau, die beste von allen, mich am rmel zupfte.
Ephraim, flsterte sie. Schau!
Tatschlich: einige Pltze am Tisch waren leer. Ihre Inhaber
muten sich nach Beendigung der Mahlzeit verflchtigt haben.
Insgesamt tafelten noch zwlf Personen. Die als erste gehen,
werden fallen, lautet ein altes Wahrwort. Aber es ist nirgends
die Rede davon, da sie vorher zu zahlen haben...
Meine Blicke suchten den Oberkellner und fanden ihn. Er
hatte sich in eine strategisch wichtige Ecke placiert und stand in
seinem einwandfreien Frack beinahe reglos da. Nur von Zeit zu
Zeit hob er die buschigen Augenbrauen und machte Notizen.
Ich merkte, da auch die Blicke der anderen auf hnliche Art
beschftigt waren wie die meinen. Ihr sonderbares Flackern
schien eine geheime Furcht auszudrcken, die sich nicht in Worte
fassen lt, oder hchstens in die Worte: Wer wird das bezahlen?
Die nchste Bestandsaufnahme ergab zehn Verbliebene. Im
Schutz der intimen Kerzenbeleuchtung hatte ein weiteres Paar
den Raum verlassen.
Immer schleppender wurde die Konversation, immer dump-
fer die Spannung, die ber der Tafel lag. Niemand wagte seinen
Nachbarn anzusehen. Fast glaubte man das Klicken der inneren
Registrierkassen zu hren, die den Preis der einzelnen Bestellun-
gen zusammenrechneten.
Nach und nach richteten sich alle Augen auf Kunstetter. Rein
moralisch betrachtet, mte eigentlich er fr die Rechnung auf-
kommen. Die Einladung war ja von ihm ausgegangen. Ein ande-
rer wre gar nicht auf die Idee gekommen, nach einem so mise-
rablen Theaterabend auch noch ein kostspieliges Restaurant auf-
zusuchen. Wie hatte Kunstetter gesagt? Kommt, meine
Freunde, hatte er gesagt, kommt und speist mit mir! Mg-
licherweise hatte er sogar hinzugefgt: Ihr seid meine Gste
oder etwas hnliches. Jedenfalls stand fest, da er der Veran-
stalter des Unternehmens war. Und er war ein rechtschaffener
Mann. Er wrde zahlen. Ganz gewi wrde er zahlen. Oder?
Neun Augenpaare hefteten sich auf ihn.
Kunstetter beendete mit nervenzermrbender Gelassenheit
seine Mahlzeit und bestellte Kaffee. Wir hielten den Atem an.

60
Htte Kunstetter sich jetzt mit der Frage, ob jemand Kaffee
wnsche, in die Runde gewandt, so htte er sich damit eindeutig
als Gastgeber deklariert und die Verantwortung fr die finan-
zielle Seite der Angelegenheit auf sich genommen.
Kunstetter tat nichts dergleichen. Gleichmtigen Gesichts
schlrfte er seinen Kaffee und plauderte Belangloses mit Madame
Kunstetter.
Unterdessen hatten noch ein paar Ratten das sinkende Schiff
verlassen. Die Passagierliste war auf sieben verlorene Seelen ge-
schrumpft.
Wer zahlt?
Lngst waren alle Gesprche versickert. Dann und wann fiel
eine kurze Bemerkung ber Vietnam oder ber das jngste Ehe-
scheidungsgercht, aber das wahre Interesse der Anwesenden
galt nur noch eben dieser Anwesenheit: jede weitere Verminde-
rung wrde fr die Zurckbleibenden ein Anwachsen der Zah-
lungsgefahr bedeuten, dessen waren sich alle bewut.
Eine der Geiseln, Ben-Zion Ziegler, erhob sich mit demon-
strativer Gleichgltigkeit:
Entschuldigen Sie mich, bitte, sagte er. Ich mu einen
dringenden Anruf machen.
Ohne Hast, als wre es das Selbstverstndlichste von der Welt,
schlug er die Richtung zu der nahe beim Ausgang gelegenen
Telephonzelle ein.
Kalter Schwei trat auf unsere Stirnen. Erst jetzt fiel uns auf,
da Ziegler ohne seine Frau gekommen war, was ihm erhhte
Bewegungsfreiheit gewhrte.
Er kam nie zurck. Wochen spter berichtete ein angeblicher
Augenzeuge, da Ziegler tatschlich die Telephonzelle betreten
und hernach zu unserem Tisch zurckgewinkt htte, bevor er
das Lokal verlie. Niemand hatte ihn winken gesehen. Hat er
berhaupt gewinkt? Und wenn er berhaupt gewinkt hat: was
solls? Wer zahlt?
Die Runde brckelte weiter ab, die dumpfe Spannung nahm
weiter zu. Ich verfluchte die Unachtsamkeit, die meine Frau und
mich verfhrt hatte, unsere Pltze so zu whlen, da die Kellner
in unserem Rcken standen und da wir nicht sehen konnten, was
sie dort planten. Wir waren in grter Gefahr, ihrer Verschw-
rung zum Opfer zu fallen. Jeden Augenblick konnte sich der
Oberkellner von schrg seitwrts ber mich beugen und mir die
vornehm unter einer Serviette verborgene Rechnung zuschie-
ben. Ich hatte keine Ausweichmglichkeit. Ich war wehrlos.

61
Und dann geschah etwas Entsetzliches.
Mit dem Ausruf Um Himmels willen! sprang Kunstetter
auf, wobei er einen besorgten Blick auf seine Uhr warf. Unser
Babysitter! Und eh wir uns dessen versahen, hatte er mit seiner
Frau den Tisch verlassen.
Ing. Glick ffnete den Mund, als ob er ihm etwas nachrufen
wollte, brachte aber nur ein unartikuliertes Gurgeln hervor und
sank aschfahl in seinen Sessel zurck. Kunstetter war unsere
letzte Hoffnung. Jetzt, nach seiner feigen Flucht, bestand die
Zahl der Eingeschlossenen aus drei Ehepaaren: den Glicks, den
Bar-Honigs und uns. Ich sah mich um. Der Oberkellner stand
noch immer in seiner Ecke und fixierte uns unter buschigen
Augenbrauen. Nie im Leben habe ich so buschige Augenbrauen
gesehen.
Wie hoch die Rechnung wohl sein wrde? Kalte und warme
Vorspeisen, Steaks vom Infra-Grill, gepflegte Weine...
Pltzlich begann Frau Bar-Honig, mit ihrem Gatten polnisch
zu reden. Man brauchte keinen Dolmetscher, um zu verstehen,
worum es ging.
Ich war entschlossen, nicht nachzugeben. Wie zur Bekrfti-
gung fhlte ich die Hand der besten Ehefrau von allen in der mei-
nen. Es tut gut, in den wirklich kritischen Situationen, die uns das
Schicksal auferlegt, nicht allein zu sein. Ich erwiderte ihren
Hndedruck. Wir wuten, da jetzt der Kampf auf Tod oder
Leben begonnen hatte. Ein achtloser Schritt und du bist ver-
loren. Aufgepat, alter Junge! Wer jetzt eine Andeutung innerer
Schwche erkennen lt oder vielleicht gar eine kleine Gebrde
macht, die der Ober als Zeichen von Zahlungswilligkeit mi-
deuten knnte, hat es sich selber zuzuschreiben. Vor meinem
geistigen Auge tauchten die vielen tragischen Flle auf, in denen
ein Unschuldiger die Rechnung fr eine ganze Gesellschaft zah-
len mute, nur weil er unbedachter Weise die Hand gehoben hat,
um eine Fliege zu verscheuchen: schon war mit einem Satz der
Kellner da und drckte ihm den unheilvollen Wisch in die Hand.
Also keine Handbewegung. berhaupt keine Bewegung. Eiserne
Ruhe.
Es ging auf drei Uhr frh. Obwohl unser Tisch schon seit
zwei Stunden der einzige noch besetzte war, fhlten wir uns
untereinander vllig isoliert. Niemand wollte es riskieren, den
Aufbruch vorzuschlagen. Wer solches tte, wrde unweigerlich
die Aufmerksamkeit des Oberkellners auf sich ziehen und mte
die Rechnung zahlen.

62
Da was war das? Bar-Honig und Ing. Glick sprachen pltz-
lich mit auffallender Lebhaftigkeit aufeinander ein, ihre Gattin-
nen unterbrachen sie, fielen ihnen und sich selbst ins Wort, stei-
gerten das Gesprch zu immer grerer Intensitt... es war
klar, was hinter dem Manver steckte: der Kellner mute sich
auf den Weg zu unserem Tisch gemacht haben, und da die ande-
ren so tief in ihr Gesprch verwickelt waren, wrde er sich an
mich als an den einzig Zugnglichen wenden.
Mir blieben nur noch wenige Sekunden. Mein Hirn arbeitete
fieberhaft. Und dann hatte ich einen meiner bekannt genialen
Einflle. Ich wrde die anderen glauben machen, da ich tatsch-
lich bereit wre, die Rechnung zu bernehmen, wrde mittels
einiger gezckter Geldscheine ihr Vertrauen gewinnen, und
einer oder der andere wrde sich schlielich dazu verleiten lassen,
aus purer Formalitt eine Floskel zu murmeln wie: Nein... las-
sen Sie doch... oder dergleichen. Zu seiner namenlosen Be-
strzung wrde ich daraufhin mit einem eilfertigen Bitte sehr,
ganz wie Sie wnschen! die Rechnung an ihn weiterschieben
und wrde zusammen mit meiner Frau sofort verschwinden.
Diese Endspielvariante ist allgemein als Haifa-Rochade be-
kannt, weil sie von einem dortigen Industriellen anllich einer
Silvestereinladung zum ersten Mal praktiziert wurde.
Ich wandte mich also halb um und rief laut und deutlich:
Herr Ober! Die Rechnung, bitte!
Die Ehepaare Bar-Honig und Glick verstummten augenblick-
lich und lehnten sich erleichtert zurck, whrend ich mit un-
nachahmlicher Eleganz meine Brieftasche hervorzog und schein-
bar unbeteiligt auf den Effekt der Haifa-Rochade wartete.
Diesmal versagte sie klglich. Weder Glick noch Bar-Honig
rangen sich auch nur zu einem Ansatz jener guten Manieren
durch, die man von halbwegs zivilisierten Menschen fglich er-
warten darf. Sie saen stumm und mit gesenkten Augen, nur
ihre Nasenflgel vibrierten ein wenig, das war alles. Um die
Mundwinkel Ing. Glicks glaubte ich sogar ein schbiges Lcheln
spielen zu sehen, aber da handelte es sich wohl schon um eine
Fiebervision, wie sie auf einen zum Untergang Verurteilten ein-
dringt.
Mit zwei Fingern lftete ich die Serviette, gerade weit genug,
um die Endsumme der Rechnung ins Blickfeld zu bekommen.
Sie belief sich auf 160 Pfund.
Bitte nur zu unterschreiben, Monsieur, sagte der Kellner.
Herr Kunstetter hat alles auf sein Konto setzen lassen.

63
Ich krallte meine freie Hand ins Tischtuch. Nie werde ich
Kunstetter diese Nacht verzeihen. Nie. Warum hat er das ge-
tan? Warum hat er uns stundenlang in qualvollen ngsten
schmoren lassen? Was fr ein sadistischer Schuft mu er sein,
um auf eine solche Tcke zu verfallen!
Gleichmtig signierte ich die Rechnung, steckte meine Brief-
tasche wieder ein und verlie den Tisch, ohne mich nach den
schbigen Schnorrern umzusehen, die in starrer Bewunderung
dasaen. Jetzt hatten sie endlich einmal gesehen, wie ein wirk-
licher Gentleman sich als Herr der Lage zeigt.
Mein Ruf ist seither allenthalben gestiegen. Auch Sie werden
schon davon gehrt haben. Man kann so heit es immer
wieder man kann ber Kishon sagen, was man will: aber
grozgig ist er. Wirklich grozgig.
Paraphrase ber ein volkstmliches Thema

Die hebrische Sprache hat ein Wort, fr das es in


keiner andern Sprache ein Gegenstck gibt: Pro-
tektion. Es bedeutet Frderung (meistens unver-
diente Frderung) durch Briefe, persnliche Inter-
ventionen, Telephonanrufe, Querverbindungen
und dergleichen typisch jdische Dinge mehr. Der
belstand ist heute schon so weit gediehen, da
man in manchen Restaurants die Gste unterein-
ander fragen hrt: Meine Herren, wer hat Be-
ziehungen zum Kellner? Als ob man ohne Bezie-
hungen kein Steak serviert bekme! Das ist natr-
lich bertrieben. Man bekommt es. Vielleicht mit
einiger Versptung, vielleicht zh wie eine Schuh-
sohle, aber man bekommt es.

Die wahre Geschichte, die ich im folgenden erzhle, beweist


nachhaltig, da Ehrlichkeit und Fairness in unserer verlotterten
Welt noch eine Chance haben. Der Held der Geschichte ist ein
Neueinwanderer aus dem europischen Osten mit Namen
Wotitzky. Sein Ehrgeiz war, von Kindesbeinen an, eine irgend-
wie amtliche Ttigkeit, und gleich nach seiner Ankunft bewarb
er sich um den Posten eines Portiers im Rathaus von Tel Aviv.
Wotitzky ist ein geborener Schlehmil mit zwei linken Fen
und groen, runden Augen, die verschreckt in eine unbegreif-
liche Welt blicken. Er spricht kein Wort Hebrisch. Aber soviel
wute er, da ber die Vergebung des Postens, fr den noch
Hunderte von Bewerbungen auer der seinen vorlagen, in
letzter Instanz ein gewisser Schulthei zu entscheiden hatte.
Wotitzky ging zu seinem Onkel, einem alteingesessenen
Israeli, und bat ihn um Hilfe. Sein Onkel hatte einmal erwhnt,
da er gelegentlich mit Schulthei im Kaffeehaus Schach spielte.
Der Onkel krmmte sich vor Verlegenheit, denn seine Be-
kanntschaft mit Schulthei war eine oberflchliche, gab aber
schlielich dem Drngen seines hilfsbedrftigen Neffen nach und
versprach ihm, bei nchster Gelegenheit mit Schulthei zu
sprechen.
Die nchste Gelegenheit kam erst Monate spter, nach einem
der vielen persnlichen Besuche, die der Neffe seinem Onkel
zum Zwecke des Drngens abstattete.
Ja, ich habe mit ihm gesprochen, sagte der Onkel. Und ich
habe ihn dazu bewegen knnen, deinen Namen in sein Geheim-

65
notizbuch einzutragen. Aber zur Sicherheit solltest du dich noch
um andere Interventionen umsehen.
Dankbar kte Wotitzky die Hand seines Wohltters, eilte zu
der fr ihn zustndigen Einwanderer-Hilfsorganisation und
warf sich dem geschftsfhrenden Sekretr zu Fen. Der
Sekretr lie sich erweichen und ging persnlich ins nahegele-
gene Rathaus, um bei Schulthei zu intervenieren. Wotitzky
wartete.
Es war nicht leicht, berichtete hernach der Sekretr. Ich
mute zuerst eine halbe Stunde antichambrieren und dann eine
Stunde lang in ihn hineinreden. Aber ich hatte Erfolg. Er zog
sein Geheimnotizbuch hervor und unterstrich den Namen
Wotitzky mit roter Tinte.
Wotitzky wute vor Seligkeit und Dankbarkeit nicht aus noch
ein. Fortan verrichtete er im Haus des Sekretrs niedrige Dienste,
schrubbte die Stiegen und fhrte den Hund spazieren. Zwischen-
durch bemhte er sich bei anderen wichtigen Persnlichkeiten
um die Untersttzung seines Anliegens. Ein Mitglied des Stadt-
rats, zu dem er sich Zutritt verschafft hatte, diktierte in seiner
Gegenwart einen Empfehlungsbrief, den er sofort am nchsten
Tag abzuschicken versprach. Wotitzky schwamm auf Wogen
von Glck. Wenige Tage spter begegnete er einem Landsmann
aus der alten Heimat, der es zu einer einflureichen Stellung im
kulturellen Leben der Stadt gebracht hatte und sich bei Schult-
hei persnlich fr seinen alten Freund verwenden wollte; auch
er wute alsbald Ermutigendes von Schulthei Reaktion zu er-
zhlen. Und es kamen noch andere hinzu, die alle bei Schulthei
vorsprachen und alle mit froher Botschaft fr Wotitzky zurck-
kehrten.
Und siehe, nach einem halben Jahr bestellte ihn Schulthei
selbst zu sich ins Rathaus:
Ich gratuliere Ihnen, sagte er. Sie haben den Posten be-
kommen. Und wissen Sie, warum gerade Sie? Unter Hunderten
von Bewerbern? Weil Sie der einzige waren, fr den niemand
interveniert hat!

66
Der Proze (nicht von Kafka) (oder doch?)

Auf Grund praktischer Erfahrungen und zahlrei-


cher Statistiken steht fest, da der durchschnittliche
israelische Brger eine heftige Vorliebe fr Ge-
richtsverhandlungen hat, gleichgltig, ob er an
ihnen als Klger, als Beklagter oder als Verteidiger
teilnimmt. Die einzige Funktion, in der er an einer
Gerichtsverhandlung nicht und niemals teilzu-
nehmen wnscht, ist die des Zeugen. Als Ange-
klagter kann man freigesprochen werden. Als
Zeuge auf keinen Fall.

In der letzten Zeit mute mein Freundeskreis wiederholt fest-


stellen, da ich fehlte. Ich fehlte nicht ohne Grund. Ich war in
eine gerichtliche Angelegenheit verwickelt, die einen Verkehrs-
unfall mit tdlichem Ausgang zum Gegenstand hatte und die
mich zweifeln lt, ob ich in Hinkunft jemals wieder erhobenen
Hauptes und offenen Blicks vor das Angesicht meiner ehrlichen,
gesetzestreuen Mitbrger treten darf.
Der Verkehrsunfall, dessen Zeuge ich geworden war, hatte
sich auf der Autostrae nach Tel Giborim zugetragen, und zwar
um die Mittagszeit, und zwar stie eine Regierungslimousine
mit einem Radfahrer zusammen, der den Unfall nicht berlebte.
Die Limousine hatte ein rotes Halt-Signal berfahren, bentzte
eine Einbahnstrae in falscher Richtung und wurde von einem
unzweifelhaft Volltrunkenen gesteuert. Als einziger am Tatort
vorhandener Zeuge lie ich mir von der Polizei das Versprechen
abnehmen, bei der Gerichtsverhandlung zu erscheinen und aus-
zusagen, die Wahrheit, die volle Wahrheit, und nichts als die
Wahrheit.
Der Gerichtssaal war dicht gefllt. Es hatte sich herumge-
sprochen, da der Fahrer der Limousine eine bekannte Persn-
lichkeit war, die im Scheinwerferlicht der ffentlichkeit stand,
wenn auch in keinem vorteilhaften. Da die Persnlichkeit ber
betrchtliche Barmittel verfgte, stand ihr als Verteidiger einer
der fhrenden Anwlte des Landes zur Seite, der sich sorgfltig
auf die Verhandlung vorbereitet hatte. Wie sorgfltig, sollte ich
bald zu merken bekommen.

67
Entsprechend meinem Rang als einziger Augenzeuge wurde
ich gleich zu Beginn der Verhandlung einvernommen und
nach Beantwortung der blichen Fragen dem Verteidiger der
beklagten Partei ausgeliefert. Dieser erhob sich und informierte
den Gerichtshof in kurzen, przisen Worten von seiner Ab-
sicht, mich als einen unverantwortlichen Lgner und kriminel-
len Charakter zu entlarven, dessen Aussagen keinerlei Anspruch
auf Glaubwrdigkeit besen. Dann wandte er sich zu mir und
begann mit dem Kreuzverhr, das ungefhr folgenden Verlauf
nahm:
Verteidiger: Herr Kishon, ist es wahr, da Sie im Jahre 1951
wegen eines bewaffneten Raubberfalls von der Interpol gesucht
wurden?
Ich: Das ist nicht wahr.
Verteidiger: Wollen Sie damit sagen, da es kein bewaffneter
Raubberfall war, weswegen Sie von der Interpol gesucht
wurden?
Ich: Ich will damit sagen, da ich berhaupt nicht gesucht
wurde. Warum htte ich pltzlich von der Interpol gesucht wer-
den sollen?
Verteidiger: Wenn es also nicht die Interpol war von wel-
cher Polizei wurden Sie dann gesucht?
Ich: Ich wurde berhaupt nicht gesucht.
Verteidiger: Warum nicht?
Ich: Wie soll ich das wissen?
Das war ein Fehler, ich merkte es sofort. Meine Antwort htte
lauten mssen: Ich wurde von keiner wie immer gearteten Poli-
zei der Welt jemals gesucht, weil ich mich nie im Leben gegen ein
Gesetz vergangen habe. Offenbar hatten mir die Nerven ver-
sagt. Nicht nur die groe, angespannt lauschende Zuschauer-
menge machte mich nervs, sondern mehr noch die zahlreichen
Pressephotographen und Reporter, die schon whrend meiner
Aussage zu den Telephonen strzten, um ihre Zeitungen ber
jedes von mir gesprochene Wort zu unterrichten.
Der Verteidiger wechselte ein paar leise Worte mit seinem
Mandanten und setzte das Kreuzverhr fort.
Verteidiger: Trifft es zu, Herr Kishon, da Sie wegen Ver-
fhrung einer Minderjhrigen zu einer Gefngnisstrafe von zwei
Jahren und acht Monaten verurteilt wurden?
Ich: Nein, das trifft nicht zu.
Verteidiger: Nicht? Zu welcher Strafe wurden Sie wegen
Verfhrung einer Minderjhrigen verurteilt?

68
Ich: Ich wurde wegen Verfhrung einer Minderjhrigen
weder verurteilt noch angeklagt.
Verteidiger: Sondern? Was fr eine Anklage war es, die zu
Ihrer Verurteilung gefhrt hat?
Ich: Es gab keine Anklage.
Verteidiger: Wollen Sie behaupten, Herr Kishon, da man
in unserem Land zu Gefngnisstrafen verurteilt werden kann,
ohne da es eine Anklage gibt?
Ich: Ich war nie im Gefngnis.
Verteidiger: Ich habe nicht gesagt, da Sie im Gefngnis
waren. Ich habe nur gesagt, da Sie zu einer Gefngnisstrafe ver-
urteilt wurden. Verdrehen Sie mir nicht das Wort im Mund,
Herr Kishon. Antworten Sie mit Ja oder Nein.
Ich: Ich wurde nie zu einer Gefngnisstrafe verurteilt und
bin nie im Gefngnis gesessen.
Verteidiger: Dann sagen Sie mir doch bitte, welches Urteil
gegen Sie wegen Verfhrung einer Minderjhrigen gefllt
wurde!
Ich: Es wurde berhaupt kein Urteil gefallt.
Verteidiger: Warum nicht?
Ich: Was heit das: warum nicht? Weil es keinen solchen
Proze gegen mich gegeben hat!
Verteidiger: Was fr einen Proze hat es denn sonst ge-
geben?
Ich: Wie soll ich das wissen?
Abermals hatte er mich erwischt. Kein Wunder. Ich war ge-
kommen, um ber einen Verkehrsunfall auszusagen, und statt
dessen berrumpelte man mich mit unmglichen autobiogra-
phischen Fragen. Zudem irritierte mich die feindselige Haltung
der Zuschauer immer mehr. Ununterbrochen flsterten sie mit-
einander, stieen sich gegenseitig an, deuteten auf Bekannte und
verzogen ihre Gesichter zu sarkastischem Grinsen. Am Beginn
der fnften Stunde meines Kreuzverhrs schlich sich auch noch
ein Zeitungsverkufer in den Saal ein und erzielte reienden
Absatz mit einer Sptausgabe der Abendzeitung. Die Schlag-
zeile lautete: KISHON VERFHRT MINDERJHRIGE.
Darunter, in bedeutend kleinerer Type: BESTREITET ALLES VER-
HR DAUERT AN.
Mir zitterten die Knie, als ich das las, und der Gedanke an
meine arme Frau verursachte mir groe Bangigkeit. Meine Frau
verfgt ber eine Reihe vortrefflicher Eigenschaften, aber ihr
geistiger Zuschnitt ist eher simpel, und da sie den Unterschied

69
zwischen Gerichtshof und Rechtsanwalt vielleicht nicht
ganz genau ermessen kann, wird sie am Ende glauben, da all
diese absurden Anschuldigungen vom Gericht erhoben worden
wren und nicht vom Anwalt des Angeklagten... Aber was
halfs.
Verteidiger: Stimmt es, Herr Kishon, da Ihre erste Frau sich
von Ihnen scheiden lie, nachdem Sie aus einer Irrenanstalt ent-
sprungen waren, und da sie die Hilfe der Polizei in Anspruch
nehmen mute, um wieder in den Besitz der von Ihnen verpfn-
deten Schmuckstcke zu gelangen?
Der Vorsitzende machte mich aufmerksam, da ich Fragen
ber meinen Ehestand nicht beantworten msse. Nach einigem
Nachdenken beschlo ich, von dieser Mglichkeit Gebrauch zu
machen, um so mehr, als meine Frau sich von mir niemals schei-
den lie und mir in treuer ehelicher Liebe zugetan ist. Leider
wurde die Animositt des Publikums durch mein Schweigen
noch weiter gesteigert, und eine Dame mit Brille, die in der ersten
Reihe sa, spuckte mir sogar ins Gesicht. Ich aber trotzte allen
Fhrnissen und verweigerte auch die Antwort auf die nchsten
Fragen des gegnerischen Anwalts: ob es zutreffe, da ich im
Jahre 1948 vom Militr desertiert sei? Und ob ich meinen kleinen
Sohn mit Stricken oder mit einer Kette ans Bett zu fesseln pflege?
An dieser Stelle kam es zu einem bedauerlichen Zwischenfall.
Der Vorwurf der Kindesmihandlung erregte einen Auto-
mechaniker im Zuschauerraum so sehr, da er unter wilden
Flchen aufsprang und nur mit Mhe daran gehindert werden
konnte, sich auf mich zu strzen. Der Vorsitzende lie ihn aus
dem Saal weisen, womit die Wrde des Gerichts wieder herge-
stellt war. Auf meine eigene Position indessen wirkte sich das
alles hchst nachteilig aus, und als ich in der Hand des Verteidi-
gers die lange Liste der Fragen sah, die er noch an mich zu richten
plante, erlitt ich den lngst flligen Nervenzusammenbruch. Mit
schluchzender Stimme rief ich aus, da ich ein Gestndnis abzu-
legen wnsche: ich, nur ich und niemand als ich htte den Rad-
fahrer auf der Strae nach Tel Giborim berfahren.
Der Vorsitzende belehrte mich, da ich bis auf weiteres nur als
Zeuge hier stnde, und das Kreuzverhr nahm seinen Fortgang.
Verteidiger: Trifft es zu, Herr Kishon, da Sie zum Lohn fr
eine hnliche... hm... Zeugenaussage in Sachen eines Ver-
kehrsunfalls, der sich im Dezember vorigen Jahres zutrug, von
einem der reichsten Importeure des Landes mit drei kostbaren
Perserteppichen beschenkt wurden?

70
Ich: Nein.
Verteidiger: Heit das, da Sie keine Teppiche in Ihrer
Wohnung haben?
Ich: Doch, ich habe Teppiche in meiner Wohnung.
Verteidiger: Heimische oder auslndische?
Ich: Auslndische.
Verteidiger: Und wieviele?
Ich: In jedem Zimmer einen.
Verteidiger: Wieviele Zimmer hat Ihre Wohnung, Herr
Kishon?
Ich: Drei.
Verteidiger: Danke. Ich habe keine weiteren Fragen.
Mit selbstgeflliger Grandezza begab sich der Verteidiger auf
seinen Platz. Im Publikum brach ein Beifallssturm los. Der Vor-
sitzende drohte mit der Rumung des Saales, meinte das jedoch
nicht ganz ernst. Im gleichen Augenblick erschien der Zeitungs-
verkufer mit einer neuen Sptausgabe. Auf der Titelseite sah ich
ein offenbar whrend des Verhrs aufgenommenes Photo von
mir, und dazu in balkendicken Lettern die berschrift: TEP-
PICHSKANDAL IM GERICHT AUFGEROLLT / KISHON:
BESITZE AUSLNDISCHE TEPPICHE, ABER NICHT
VOM IMPORTEUR! / GEGENANWALT: LGNER!
Ich bat, mich entfernen zu drfen, aber der Staatsanwalt hatte
noch einige Fragen an mich. Sie betrafen, zu meiner nicht ge-
ringen berraschung, den Verkehrsunfall von Tel Giborim.
Der Staatsanwalt fragte mich, ob der Beklagte meiner Meinung
nach rcksichtslos gefahren sei. Ich bejahte und wurde entlassen.
Ein Gerichtsdiener schmuggelte mich durch einen Seitenein-
gang hinaus, um mich vor der wtenden Menge zu schtzen, die
sich nach Erscheinen der dritten Sptausgabe zusammengerottet
hatte und mich lynchen wollte.
Seither lebe ich, wie schon eingangs angedeutet, uerst
zurckgezogen und gehe nur selten aus. Ich warte, bis gengend
Zeit verstrichen ist und die Fragen des Anwalts allmhlich dem
Gedchtnis der ffentlichkeit entschwinden.

71
Tragisches Ende eines Feuilletonisten

Der Begriff der Rache erfreut sich im Orient an-


haltender Beliebtheit und zahlreicher Variationen.
Auch unser junger Staat immer bemht, sich in
den greren Rahmen einzufgen hat auf diesem
Gebiet ein paar ungewhnliche Begabungen her-
vorgebracht, die es mit der schrfsten Konkurrenz
aufnehmen knnen.

Haben Sie in der letzten Zeit den bekannten Feuilletonisten


Kunstetter gesehen? Sie htten ihn nicht wiedererkannt. Denn
dieser Stolz der israelischen Publizistik, dieser berragende Mei-
ster der Feder ist zu einem Schatten seines einst so stolzen Selbst
herabgesunken. Seine Hnde zittern, seine Augen flackern, sein
ganzes Wesen atmet Zusammenbruch.
Was ist geschehen? Wer hat diesen Giganten von seinem
Piedestal gestrzt?
Ich, sagte mein Freund Jossele und nahm einen Schluck aus
seiner Tasse trkischen Kaffees, gelassen, gleichmtig, ein Sinn-
bild menschlicher Teilnahmslosigkeit. Ich konnte diesen Kerl
nie ausstehen. Schon die aufdringliche Bescheidenheit seines
Stils war mir zuwider.
Und wie ist es dir gelungen, ihn fertigzumachen?
Durch Lob...
Und dann enthllte mir Jossele eine der abgefeimtesten
Teufeleien des Jahrhunderts:
Nachdem ich mich zur Vernichtung Kunstetters entschlos-
sen hatte, schrieb ich ihm einen anonymen Verehrerbrief. Ich
lese jeden Ihrer wunderbaren Artikel, schrieb ich. Wenn ich
die Zeitung zur Hand nehme, suche ich zuerst nach Ihrem Bei-
trag. Gierig verschlinge ich diese unvergleichlichen kleinen
Meisterwerke, die so voll von Weisheit, Delikatesse und Ver-
antwortungsgefhl sind. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aus
ganzem Herzen, ich danke Ihnen...
Ungefhr eine Woche spter schickte ich den zweiten Brief ab:

72
Meine Bewunderung fr Sie wchst von Tag zu Tag. In Ihrem
letzten Essay haben Sie einen stilistischen Hhepunkt erklom-
men, der in der Geschichte der Weltliteratur nicht seinesgleichen
hat. Du weit ja, wie diese eitlen Schreiberlinge sind, nicht wahr.
So verstiegen kann ein Kompliment gar nicht sein, da sie es
nicht ernst nehmen wrden, diese selbstgeflligen Idioten. Hab
ich nicht recht?
Mglich, antwortete ich khl. Aber Komplimente haben
noch keinen Schriftsteller umgebracht.
Warts ab. Insgesamt schickte ich Kunstetter etwa zwanzig
Lobeshymnen. Ich philosophierte in seine banale Zeilenschin-
derei alle mglichen Tiefsinnigkeiten hinein, ich pries seine
albernen Kalauer als stilistische Finessen, ich zitierte wrtlich
seine Formulierungen, mit Vorliebe die dmmsten. Als ich ganz
sicher war, da meine tglichen Begeisterungsausbrche zu
einem festen, unentbehrlichen Bestandteil seines Lebens ge-
worden waren, bekam er den ersten, leise enttuschten Brief:
Sie wissen, wie sehr ich die Meisterwerke Ihrer Feder bewun-
dere, schrieb ich. Aber gerade das Ausma meiner Bewunde-
rung berechtigt nein, verpflichtet mich. Ihnen zu sagen, da
Ihre letzten Artikel nicht ganz auf der gewohnten Hhe waren.
Ich bitte Sie instndig: nehmen Sie sich zusammen!
Eine Woche spter kam der nchste, schon etwas deutlichere
Aufschrei: Um Himmels willen, was ist geschehen? Sind Sie ein
andrer geworden? Sind Sie krank und lassen Sie einen Ersatz-
mann unter Ihrem Namen schreiben? Was ist los mit Ihnen!
Kunstetters Feuilletons wurden um diese Zeit immer lnger,
immer blumiger, immer ausgefeilter. Er machte bermenschliche
Anstrengungen, um sich wieder in meine Gunst zu schreiben.
Vergebens. Gestern bekam er den Abschiedsbrief: Kunstetter!
Es tut mir leid, aber nach Ihrem heutigen Artikel ist es aus zwi-
schen uns. Auch der gute Wille des verehrungsvollsten Lesers
hat seine Grenzen. Mit gleicher Post bestelle ich mein Abonne-
ment ab. Leben Sie wohl... Und das war das Ende.
Jossele zndete sich eine Zigarette an, wobei ein diabolisches
Grinsen ganz kurz ber sein Gesicht huschte. Mich schauderte.
Kleine, kalte Schweiperlen traten mir auf die Stirn. Ich mu
gestehen, da ich mich vor Jossele zu frchten begann. Und ich
frage mich, warum ich ihn eigentlich erfunden habe.

73
Erholung in Israel

Zur Erinnerung an den Besuch des berhmten


amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck.
Und zur Mahnung.

Kellner! Herr Ober!


Jawohl, Herr Sternberg.
Frhstck fr zwei, bitte.
Jawohl. Zweimal Frhstck. Sofort. Ich wollte Sie nur noch
rasch etwas fragen, Herr Sternberg. Sind Sie der Schriftsteller,
ber den man jetzt so viel in den Zeitungen liest?
Mein Name ist John Steinbeck.
Aha. Erst gestern habe ich ein Bild von Ihnen in der Zeitung
gesehen. Aber da hatten Sie einen greren Bart, kommt mir
vor. Es war auch ein Artikel dabei, da Sie einen Monat hier
bleiben wollen und da Sie inkognito sind, damit man Sie nicht
belstigt. Ist das Ihre Frau?
Ja, das ist Frau Steinbeck.
Schaut aber viel jnger aus als Sie.
Ich habe das Frhstck bestellt.
Sofort, Herr Steinberg. Sie mssen wissen, da alle mglichen
Schriftsteller in dieses Hotel kommen. Erst vorige Woche hatten
wir einen hier, der Exodus geschrieben hat. Haben Sie Exodus
gelesen?
Nein.
Ich auch nicht. So ein dickes Buch. Aber Alexis Sorbas
habe ich gesehen. Wann haben Sie Alexis Sorbas geschrie-
ben?
Ich habe Alexis Sorbas nicht geschrieben.
Hat mir groartig gefllen, der Film. An einer Stelle wre ich
vor Lachen beinahe zersprungen. Wissen Sie, dort wo

74
Ich htte zum Frhstck gerne Kaffee. Und Tee fr meine
Frau.
Sie haben Sorbas nicht geschrieben?
Nein. Das sagte ich Ihnen ja schon.
Fr was hat man Ihnen dann den Nobelpreis gegeben?
Fr die Frchte des Zorns.
Also Kaffee und Tee, richtig?
Richtig.
Sagen Sie, Herr Steinberg: wieviel bekommt man fr so einen
Preis? Stimmt es, da er eine Million Dollar einbringt?
Knnten wir dieses Gesprch nicht nach dem Frhstck
fortsetzen?
Da habe ich leider keine Zeit mehr. Warum sind Sie eigentlich
hergekommen, Herr Sternberg?
Mein Name ist Steinbeck.
Sie sind aber kein Jude, nicht wahr?
Nein.
Hab ich mir gleich gedacht. Amerikanische Juden geben kein
Trinkgeld. Schade, da Sie ausgerechnet jetzt gekommen sind, wo
es fortwhrend regnet. Jetzt gibt es hier nichts zu sehen. Oder viel-
leicht sind Sie in Israel an etwas ganz Speziellem interessiert?
Ich mchte ein weich gekochtes Ei.
Drei Minuten?
Ja.
Sofort. Ich wei, Herr Steinberg, in Amerika ist man es nicht
gewhnt, sich mit Kellnern so ungezwungen zu unterhalten. In
Israel ist das anders. Wir haben Atmosphre. brigens war ich
nicht immer ein Kellner. Ich habe Orthopdie studiert, zwei Jahre
lang. Leider braucht man hierzulande Protektion, sonst kommt
man nicht weiter.
Bitte bringen Sie uns das Frhstck, mit einem weichen Ei.
Drei Minuten, Herr Steinberg, ich wei. Aber dieser Sorbas
- das war vielleicht ein Film! Auch wenn Sie gegen Schlu ein
wenig zu dick aufgetragen haben. Unser Koch hat mir gesagt,
da es von Ihnen auch noch andere Theaterstcke und Filme
gibt. Ist das wahr?
Ja.
Was, zum Beispiel?
Zum Beispiel Jenseits von Eden.
Hab ich gesehn! Mein Ehrenwort, das hab ich gesehn! Zum
Brllen komisch! Besonders diese Szene, wo sie versuchen, die
Bume aus dem Wald zu transportieren

75
Das kommt in Alexis Sorbas vor.
Ja, richtig. Da haben Sie recht. Also was schreiben Sie sonst?
Von Musen und Menschen.
Mickeymaus?
Wenn ich nicht bald das Frhstck bekomme, mu ich ver-
hungern, mein Freund.
Sofort. Nur noch eine Sekunde. Muse, haben Sie gesagt.
Das ist doch die Geschichte, wo die Batja Lancet mit diesem
Idioten ins Bett gehen will.
Wie bitte?
Und das ist so ein dicker Kerl, der Idiot, das heit, in Wirk-
lichkeit ist er gar nicht so dick, aber sie stopfen ihm lauter Kissen
unter die Kleider, damit er dick aussieht, und sein Freund neben
ihm ist ganz mager, und der dicke Kerl will immer Muse fangen
und wieso wissen Sie das eigentlich nicht?
Ich kenne den Inhalt meiner Stcke.
Natrlich. Wenn Sie glauben. Jedenfalls mu man auf diesen
dicken Idioten immer aufpassen, damit er die Leute nicht ver-
prgelt, aber wie der Sohn vom Boss dann mit der Batja Lancet
frech wird, steht er ganz ruhig auf und geht zu ihm hinber und
Kann ich mit dem Geschftsfhrer sprechen ?
Nicht ntig, Herr Steinberg. Es wird alles sofort da sein.
Aber diese Muse haben mir wirklich gefallen. Nur der Schlu
der Geschichte, entschuldigen Sie also der hat mich enttuscht.
Da htte ich von Ihnen wirklich etwas Besseres erwartet. Warum
mssen Sie diesen dicken Kerl sterben lassen? Nur weil er ein
bichen schwach im Kopf ist? Deshalb bringt man einen Men-
schen nicht um, das mu ich Ihnen schon sagen.
Gut, ich werde das Stck umschreiben. Nur bringen Sie uns
jetzt endlich
Wenn Sie wollen, lese ichs mir noch einmal durch und sage
Ihnen dann alles, was falsch ist. Das kostet Sie nichts, Herr
Steinberg, haben Sie keine Angst. Vielleicht komme ich einmal
nach Amerika und besuche Sie. Ich htte viel mit Ihnen zu reden.
Privat, meine ich. Aber das geht jetzt nicht. Ich habe zu viel zu
tun. Wenn Sie wten, was ich alles erlebt habe. Daneben ist
Alexis Sorbas
Bekomme ich mein weiches Ei oder nicht?
Bedaure, am Sabbath servieren wir keine Eier. Aber wenn ich
Ihnen einmal meine Lebensgeschichte erzhle, Herr Steinberg,
dann knnen Sie damit ein Vermgen verdienen. Ich knnte sie
natrlich auch selbst aufschreiben, jeder sagt mir, ich bin ver-

76
rckt, da ich nicht einen Roman schreibe oder eine Oper oder
sowas hnliches. Die denken alle nicht daran, wie mde ich am
Abend bin. Hab ich ihnen allen gesagt, sie sollen mich in Ruh
lassen und ich gebs dem Steinberg. Was sagen Sie dazu?
Das Frhstck, oder
Zum Beispiel vor zwei Jahren. Im Sommer. Schon mehr
gegen Ende des Sommers, wie ich mit meiner Frau nach Sodom
gefahren bin. Pltzlich bleibt das Auto stehen, der Chauffeur
steigt aus, hebt die Khlerhaube, steckt den Kopf hinein und
wissen Sie, was er gesagt hat?
Lassen Sie geflligst meinen Bart los! Loslassen!!
Er hat gesagt: Der Vergaser ist hin. Stellen Sie sich das vor!
Mitten am Weg nach Sodom ist der Vergaser hin. Sie werden
vielleicht glauben, ich hab das erfunden? Es ist die reine Wahr-
heit. Der Vergaser war hin. Die ganze Nacht muten wir im
Wagen sitzen. Und es war eine kalte Nacht, eine sehr kalte Nacht.
Sie werden das schon richtig schreiben, Herr Steinberg. Sie
werden schon einen Bestseller draus machen. Ich sage Ihnen: es
war eine Nacht, in der nicht einmal Alexis Sorbas... he, wohin
gehen Sie? Ich bin noch nicht fertig, Herr Steinberg! Ich habe
noch eine ganze Menge Geschichten fr Sie! Wie lange bleiben
Sie noch?
Ich fliege mit dem nchsten Flugzeug ab!
Herr Steinberg! So warten Sie doch, Herr Steinberg... Und
zuerst hat er gesagt, da er einen ganzen Monat bleiben will. So
siehst du aus...

77
Wie man sichs abgewhnt

Ein widerborstiges Volk nannte uns der All-


mchtige, womit er schonend ausdrcken wollte,
da wir strrisch sind wie die Maulesel. Zum Bei-
spiel leben wir seit 5000 Jahren in der stndigen
Versuchung, unseren Glauben aufzugeben aber
wir glauben noch immer. Seit 2000 Jahren bemht
man sich, uns anderswo anzusiedeln aber wir
siedeln wieder in Jerusalem. Und jetzt verlangt
man von uns, das Rauchen aufzugeben.

Entschuldigen Sie bitte haben Sie vielleicht eine Zigarette?


Leider. Ich rauche nicht mehr. Seit ich diese alarmierenden
Berichte in der Zeitung gelesen habe...
Auch ich habe sie gelesen. Aber ich habs berwunden.
Wie ist Ihnen das geglckt?
Willenskraft, nichts weiter. Am Anfang glaubte ich es nicht
ertragen zu knnen. Es ist ja keine Kleinigkeit, wenn man Tag
fr Tag lesen mu, da man einem Lungenkrebs entgegen-
steuert oder Magengeschwren und Hmoglobin und der-
gleichen. An dem Tag, an dem in der Jerusalem Post das
Gutachten des amerikanischen Gesundheitsamtes ber die
schdlichen Auswirkungen des Rauchens erschien, verfiel ich
in Panik. An diesem Tag stand mein Entschlu fest. Ich hrte
auf, Zeitungen zu lesen.
Ein genialer Einfall!
Warten Sie. So einfach ist das alles nicht. Eine Woche lang
stand ich es durch. Ich las nicht einmal die berschriften, ich
las keine Leitartikel und keine Sportberichte, nichts. Aber um
die Mitte der zweiten Woche hats mich erwischt. Wenn ich
jetzt nicht sofort eine Zeitung lese, dann, das fhlte ich, brechen
meine Nerven zusammen. Man kann sich ja nicht vollkommen
von der Umwelt isolieren, nicht wahr. Ich wurde schwach. Ich
ging zu meinen Nachbarn und borgte mir die gestrige Zeitung
aus. Ich habe sie von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Was
sage ich: gelesen. Verschlungen! Die erste Zeitung nach mehr
als einer Woche!

78
Kann ich mir gut vorstellen.
Gar nichts knnen Sie sich vorstellen. Auf der dritten Seite
stand ein Artikel, der sich mit den jngsten Forschungsergeb-
nissen eines englischen Nikotin-Experten beschftigte. Ein
Keulenschlag! Dreiig Zigaretten im Tag, so hie es dort,
ziehen unweigerlich den Verlust der Mnnlichkeit nach sich.
Und ich rauche im Tag zwei Pckchen.
Hm. Dann allerdings...
Es war mir klar, da ich jetzt zu drastischen Manahmen
greifen mte, um diesem Alpdruck nicht vllig zum Opfer zu
fallen. Die Zeitungslektre einfach aufzugeben, gengt nicht.
Man mu sich, sagte ich mir, beherrschen knnen. Man mu
imstande sein, zu lesen, was man lesen will, und nicht zu lesen,
was man nicht lesen will. Ein furchtbarer innerer Kampf begann.
Am ersten Tag meines freiwilligen Entwhnungsprozesses
wute ich mir keinen anderen Rat, als die Zeitung zu verbrennen.
Sonst wre ich der Versuchung erlegen, den Artikel einer aner-
kannten medizinischen Kapazitt ber das sogenannte Raucher-
bein zu lesen. Es war nicht leicht, glauben Sie mir. Aber nach
ein paar Tagen begann sich mein Zustand zu bessern. Ich las die
politischen Meldungen und den Leitartikel, berschlug rasch
die nchsten Seiten, und nahm erst wieder die Theater- und
Sportberichte zur Kenntnis. Auf diese Weise ging es eine Zeit-
lang ganz gut. Bis eines Nachts der Teufel mich aufs neue
versuchte: mein Blick fiel auf eine vom Weizmann-Institut aus-
gearbeitete Statistik der Kreislaufstrungen mit tdlichem Aus-
gang bei Rauchern und Nichtrauchern. Die Lockung war frch-
terlich. Was htte ich nicht alles drum gegeben, die Tabellen
wenigstens zu berfliegen! Aber ich blieb stark. Ich bi meine
Lippen blutig, stopfte mir ein Taschentuch in den Mund und
bltterte weiter. Ich habe kein einziges Wort des Artikels an mich
herangelassen, kein Wort und keine Ziffer.
Ich bewundere Sie aufrichtig.
Es war die Entscheidung. Jetzt kann mir nichts mehr ge-
schehen. Wenn ich jetzt einen Artikel dieser Art in der Zeitung
sehe, gleitet mein Auge achtlos darber hinweg. Es interessiert
mich nicht mehr. Und glauben Sie mir: seither fhle ich mich
wie neugeboren.

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Im neuen Jahr wird alles anders

Folterungen, unter denen selbst der strkste Mann


zusammenbricht, galten frher einmal als Speziali-
tt der Geheimpolizei in Diktaturstaaten. Heute
sind sie berall ohne Mhe erhltlich. Alles, was
man dazu braucht, ist ein versperrtes Zimmer, ein
Bett, Nylonstrmpfe, einige Kleidungsstcke,
einige Handtaschen und eine Ehefrau.

Ephraim! rief meine Frau, bekanntlich die beste Ehefrau von


allen, aus dem Nebenzimmer. Ich bin beinahe fertig!
Es war halb neun Uhr am Abend des 31. Dezember. Meine
Frau sa seit Einbruch der Dmmerung vor dem groen Spiegel
ihres Schlafzimmers, um fr die Silvesterparty, die unser Freund
Tibi zu Ehren des Gregorianischen Kalenders veranstaltete,
Toilette zu machen. Die Dmmerung bricht am 31. Dezember
kurz nach drei Uhr nachmittags ein. Aber jetzt war sie beinahe
fertig, meine Frau.
Es sei auch schon Zeit, sagte ich, denn wir haben Tibi ver-
sprochen, sptestens um zehn Uhr bei ihm zu sein.
Mit einer Viertelstunde Versptung rechne ein Gastgeber
sowieso, replizierte die beste Ehefrau von allen, und eine weitere
Viertelstunde wrde nicht schaden. Parties, besonders Silvester-
parties, seien am Anfang immer langweilig. Die Atmosphre
entwickle sich erst nach und nach. Und berdies, so schlo sie
ab, wisse sie noch immer nicht, welches Kleid sie nehmen solle.
Lauter alte Fetzen. Ich habe nichts anzuziehen, sagte die beste
Ehefrau von allen.
Sie sagt das bei jeder Gelegenheit, gleichgltig wann und zu
welchem Zweck wir das Haus verlassen. Dabei kann sie die Tre
ihres Kleiderschranks kaum noch ins Schlo pressen, denn er
birst vor lauter Garderobe. Da Bemerkungen wie die oben
zitierte dennoch zum Wortschatz ihres Alltags gehren, hat einen
anderen Grund: sie will mir zu verstehen geben, da ich meinen
Unterhaltspflichten nicht genge, da ich zu wenig Geld ver-

80
diene, da ich minderwertig sei. Ich meinerseits, das gebe ich
gerne zu, verstehe nichts von Frauenkleidern. Ich finde sie ent-
setzlich, alle ohne Ausnahme. Dessen ungeachtet schiebt meine
Frau die Entscheidung, was sie heute anziehen soll, jedesmal auf
mich ab.
Ich knnte das glatte Schwarze nehmen, erwog sie jetzt.
Oder das hochgeschlossene Blaue.
Ja, sagte ich.
Was: ja? Also welches?
Das Hochgeschlossene.
Pat zu keiner Silvesterparty. Und das Schwarze ist zu feier-
lich. Wie wrs mit der weien Seidenbluse?
Klingt nicht schlecht.
Aber wirkt eine Bluse nicht zu sportlich?
Eine Bluse sportlich? Keine Spur!
Eilig sprang ich herzu, um ihr beim Zuziehen des Reiver-
schlusses behilflich zu sein und einer neuerlichen Meinungs-
nderung vorzubeugen. Whrend sie nach passenden Strmpfen
Ausschau hielt, zog ich mich ins Badezimmer zurck und rasierte
mich.
Es scheint ein elementares Gesetz zu sein, da passende
Strmpfe niemals paarweise auftreten, sondern immer in Unika-
ten. So auch hier. Von den Strmpfen, die zur Bluse gepat ht-
ten, war nur ein einziger vorhanden, und zu den Strmpfen, von
denen ein Paar vorhanden war, pate die Bluse nicht. Folglich
mute auf die Bluse verzichtet werden. Die Suche unter den
alten Fetzen begann von vorne.
Es ist zehn Uhr vorbei, wagte ich zu bemerken. Wir kom-
men zu spt.
Wenn schon. Dann versumst du eben ein paar von den
abgestandenen Witzen, die dein Freund Stockler immer er-
zhlt.
Ich stand fix und fertig da, aber meine Frau hatte die Frage
Perlmutter oder Silber noch nicht entschieden. Von beiden
Strumpfgattungen gab es je ein komplettes Paar, und das er-
schwerte die Entscheidung. Vermutlich wrde sie bis elf Uhr
nicht gefallen sein.
Ich lie mich in ein Fauteuil nieder und begann die Tages-
zeitungen zu lesen. Meine Frau suchte unterdessen nach
einem zu den Silberstrmpfen passenden Grtel. Den fand
sie zwar, fand aber keine Handtasche, die mit dem Grtel
harmonierte.

81
Ich bersiedelte an den Schreibtisch, um ein paar Briefe und
eine Kurzgeschichte zu schreiben. Auch fr einen lngeren
Essay schwebte mir bereits ein Thema vor.
Fertig! ertnte von nebenan die Stimme meiner Frau.
Bitte hilf mir mit dem Reiverschlu!
Manchmal frage ich mich, was die Frauen tten, wenn sie
keine Mnner als Reiverschluhelfer htten. Wahrscheinlich
wrden sie dann nicht auf Silvesterparties gehen.
Meine Frau hatte einen Mann als Reiverschluhelfer und
ging trotzdem nicht. Sie setzte sich vor den Spiegel, schmckte
sich mit einem schicken Nylon-Frisierumhang und begann an
ihrem Make-up zu arbeiten. Erst kommt die flssige Teintgrund-
lage, dann Puder. Die Augen sind noch unberhrt von Wimpern-
tusche. Die Augen schweifen umher und hoffen auf Schuhe zu
stoen, die zur Handtasche passen wrden. Das eine Paar in
Beige ist leider beim Schuster, die schwarzen mit den hohen Ab-
stzen sind wunderschn, aber nicht zum Gehen geeignet, die
mit den niedrigen Abstzen sind zum Gehen geeignet, aber sie
haben niedrige Abstze.
Es ist elf! sagte ich und stand auf. Wenn du noch nicht
fertig bist, gehe ich allein.
Schon gut, schon gut! Warum die pltzliche Eile?
Ich bleibe stehen und sehe, wie meine Frau den Nylonumhang
ablegt, weil sie sich nun doch fr das schwarze Cocktailkleid ent-
schieden hat. Aber wo sind die dazugehrigen Strmpfe?
Um halb zwlf greife ich zu einer List. Ich gehe mit weithin
hrbaren Schritten zur Wohnungstre, lasse einen wtenden
Abschiedsgru erschallen, ffne die Tre und schlage sie kra-
chend zu, ohne jedoch die Wohnung zu verlassen. Dann drcke
ich mich mit angehaltenem Atem an die Wand und warte.
Nichts geschieht. Es herrscht Stille.
Eben. Jetzt hat sie den Ernst der Lage erkannt und beeilt sich.
Ich habe sie zur Raison gebracht. Ein Mann mu gelegentlich
auch seine Souvernitt hervorkehren knnen.
Fnf Minuten sind vergangen. Eigentlich ist es nicht der Sinn
der Silvesternacht, da man sich in einem dunklen Vorzimmer
reglos an die Wand pret.
Ephraim! Komm und zieh mir den Reiverschlu zu!
Nun, wenigstens hat sie sich jetzt endgltig fr die Seiden-
bluse entschieden (am schwarzen Kleid war eine Naht geplatzt).
Sie ist auch schon im Begriff, die Strmpfe zu wechseln. Perl-
mutter oder Silber.

82
So hilf mir doch ein bichen, Ephraim! Was wrdest du mir
raten?
Da wir zu Hause bleiben und schlafen gehen, sagte ich,
entledigte mich meines Smokings und legte mich ins Bett.
Mach dich nicht lcherlich. In sptestens zehn Minuten bin
ich fertig...
Es ist zwlf Uhr. Das neue Jahr hat begonnen. Mit Orgelton
und Glockenklang. Gute Nacht. Ich drehe die Bettlampe ab
und schlafe ein. Das letzte, was ich im alten Jahr noch gesehen
habe, war meine Frau, die sich vor dem Spiegel die Wimpern
tuschte, den Nylonumhang umgehngt. Ich hate diesen Um-
hang, wie noch kein Umhang je gehat wurde. Der Gedanke an
ihn verfolgte mich bis in den Schlaf. Mir trumte, ich sei der
selige Charles Laughton, und zwar in der Rolle Knig Hein-
richs VIII. Sie erinnern sich, sechs Frauen hat er kpfen lassen.
Eine nach der anderen wurde unter dem Jubel der Menge zum
Schafott gefhrt, eine nach der anderen bat um die letzte Gunst,
sich noch einmal im Nylonumhang zurechtmachen zu dr-
fen...
Nach einem tiefen, wohlttigen Schlummer erwachte ich im
nchsten Jahr. Die beste Ehefrau von allen sa in einem blauen,
hochgeschlossenen Kleid vor dem Spiegel und pinselte sich die
Augenlider schwarz. Eine groe innere Schwche kam ber mich.
Ist dir klar, mein Junge, hrte ich mein Unterbewutsein
wispern, da du eine Irre zur Frau hast?
Ich sah nach der Uhr. Es ging auf halb zwei. Mein Unter-
bewutsein hatte recht: ich war mit einer Wahnsinnigen ver-
heiratet. Schon zweifelte ich an meiner eigenen Zurechnungs-
fhigkeit. Mir war zumut wie den Verdammten in Sartres Bei
geschlossenen Tren. Ich war zur Hlle verdammt, ich war in
einen kleinen Raum gesperrt, zusammen mit einer Frau, die sich
ankleidete und auskleidete und ankleidete und auskleidete fr
immer und ewig...
Ich frchte mich vor ihr. Jawohl, ich frchte mich. Eben jetzt
hat sie begonnen, eine Unzahl von Gegenstnden aus der groen
schwarzen Handtasche in die kleine schwarze Handtasche zu tun
und wieder in die groe zurck. Sie ist beinahe angekleidet, auch
ihre Frisur steht beinahe fest, es fragt sich nur noch, ob die Stirne
frei bleiben soll oder nicht. Die Entscheidung fllt zugunsten
einiger Haarstrhnen, die ber die Stirne verteilt werden. So
schwinden nach lngerer Betrachtung die letzten Zweifel, da
eine freie Stirne doch besser wirkt.

83
Ich bin fertig, Ephraim! Wir knnen gehen.
Hat das denn jetzt berhaupt noch einen Sinn, Liebling?
Um zwei Uhr frh?
Mach dir keine Sorgen. Es werden noch genug von diesen
ungeniebaren kleinen Zahnstocherwrstchen brig sein...
Sie ist mir offenbar ein wenig bse, die beste Ehefrau von allen,
sie nimmt mir meine hemmungslose Ungeduld und mein bruta-
les Drngen bel. Aber das hindert sie nicht an der nunmehr
definitiven Vollendung ihres Make-up. Sie hat sogar den kleinen,
schicken Nylonumhang schon abgestreift. Er liegt hinter ihr auf
dem Fuboden. Leise, mit unendlicher Behutsamkeit, manv-
riere ich mich an ihn heran...
Ich habe den Nylonumhang eigenhndig verbrannt. In der
Kche. Ich hielt ihn ins Abwaschbecken und zndete ihn an und
beobachtete die Flammen, die ihn langsam auffraen. So hnlich
mu Nero sich gefhlt haben, als er Rom brennen sah.
Als ich ins Zimmer meiner Frau zurckkam, war sie tatschlich
so gut wie fertig. Ich half ihr mit dem Reiverschlu ihres schwar-
zen Cocktailkleides, wnschte ihr viel Erfolg bei der Strumpf-
suche, ging in mein Arbeitszimmer und setzte mich an den
Schreibtisch.
Warum gehst du weg? rief schon nach wenigen Minuten
meine Frau. Gerade jetzt, wo ich beinahe fertig bin? Was
treibst du denn?
Ich schreibe ein Theaterstck.
Mach schnell! Wir gehen gleich!
Ich wei.
Die Arbeit ging zgig vonstatten. In breiten Strichen umri
ich die Hauptfigur es mte ein bedeutender Knstler sein,
vielleicht ein Maler oder ein Klaviervirtuose oder ein satiri-
scher Schriftsteller er hat voll Tatendrang und Lebenslust
seine Laufbahn begonnen die aber nach einiger Zeit hoff-
nungslos versickert und versandet, er wei nicht warum. End-
lich kommt er drauf: seine Frau bremst und lhmt ihn, hemmt
seine Bewegungsfreiheit, hlt ihn immer wieder zurck, wenn
er etwas vorhat. Er kanns nicht lnger ertragen. Er wird sich
aus ihren Fesseln befreien. In einer langen, schlaflosen Nacht
beschliet er, sie zu verlassen. Schon ist er auf dem Weg zur
Tre
Da sieht er sie im Badezimmer vor dem Spiegel stehen, wo
sie gerade ihr Gesicht subert. Die Farbe ihres Lidschattens
hat ihr mifallen, und sie will einen neuen auflegen. Dazu mu

84
man das ganze Make-up ndern, mit allem was dazugehrt,
abschmieren, l wechseln, Batterie nachschauen, alles.
Nein, ein solches Leben hat keinen Sinn. Hoffentlich ist der
Strick, den ich neulich in der Gertekammer liegen sah, noch
dort. Und hoffentlich hlt er...
Irgendwie mu meine Frau gesprt haben, da ich bereits auf
dem Stuhl unterm Fensterkreuz stand.
Ephraim! rief sie. La den Unsinn und mach mir den Rei-
verschlu zu! Was ist denn jetzt schon wieder los?
Ach nichts. Gar nichts ist los. Es ist halb drei am Morgen, und
meine Frau steht im Badezimmer vor dem Spiegel und sprht
mit dem Zerstuber Parfm auf ihr Haar, whrend ihre andere
Hand nach den Handschuhen tastet, die seltsamerweise im
Badezimmer liegen. Und seltsamerweise beendet sie beide Ope-
rationen erfolgreich, die Parfumzerstubung und die Handschuh-
suche. Es ist so weit. Kaum zu fassen, aber es ist so weit.
Ein leiser, schwacher Hoffnungsstrahl schimmert durch das
Dunkel. So wars also doch der Mhe wert, geduldig auszu-
harren. In einer kleinen Weile werden wir wirklich weggehen,
zu Tibi, zur Silvesterparty, es ist zwar schon drei Uhr frh, aber
ein paar Leute werden bestimmt noch dort sein und noch in
guter Stimmung, genau wie meine kleine Frau, sie funkelt von
Energie und Unternehmungslust, sie tut die Gegenstnde aus
der groen schwarzen Handtasche in die kleine weie, sie wirft
einen letzten Blick in den Spiegel, und ich stehe hinter ihr, und
sie wendet sich scharf zu mir um und sagt:
Warum hast du dich nicht rasiert?!
Ich habe mich rasiert, Liebling. Vor langer, langer Zeit. Als
du begannst, Toilette zu machen. Da habe ich mich rasiert. Aber
wenn du meinst...
Ich ging ins Badezimmer. Aus dem Spiegel starrte mir das
zerfurchte Gesicht eines jh gealterten, von Schicksalsschlgen
heimgesuchten Melancholikers entgegen, das Gesicht eines ver-
heirateten Mannes, dessen Gattin im Nebenzimmer steht und
von einem Fu auf den andern steigt, bis sie sich nicht mehr be-
herrschen kann und ihre mahnende Stimme an sein Ohr dringt:
So komm doch endlich! Immer mu man auf dich warten!

85
Praktische Winke fr den Alltag

Der regsame Geist der Juden, den man weniger


wohlwollend auch als berdreht oder rabuli-
stisch bezeichnet, hat der Menschheit schon viele
brillante Erfindungen geschenkt. Hier folgen
einige weitere. Und vielleicht ist berdreht doch
das richtige Wort? Oder vielleicht sind wir nur
bernchtig und sollten schlafen gehen?

Jossele und ich saen im Caf California und starrten trbe in


unsere Mokkatassen. Es war spt in der Nacht oder frh am
Morgen, ganz wie mans nimmt. Jossele schob mimutig die
Tasse von sich.
Warum, fragte er, warum erfindet man nicht endlich Kaffee-
tassen fr Linkshnder? Mit dem Griff an der linken Seite der
Tasse? Das wre doch ganz einfach.
Du weit, wie die Menschen sind, erinnerte ich ihn. Gerade
das Einfache interessiert sie nicht.
Seit fnftausend Jahren machen sie die gleichen langweiligen
Trinkgefe. Ob es ihnen jemals eingefallen wre, den Griff
innen anzubringen, damit das glatt gerundete uere nicht ver-
unstaltet wird?
Niemals wre ihnen das eingefallen. Niemals.
Immer nur die sture Routine. Jossele hob die konventionell
geformte Tasse widerwillig an die Lippen und nahm einen
Schluck. Keine Beziehung zu den Details, kein Gefhl fr
Nuancen. Denk nur an die Nhnadeln! Pro Stunde stechen sich
auf der Welt mindestens hunderttausend Menschen in den Fin-
ger. Wenn die Fabrikanten sich entschlieen knnten. Nadeln
mit sen an beiden Enden zu erzeugen, wrde viel weniger Blut
flieen.
Richtig. Sie haben eben keine Phantasie. Darin stehen sie den
Kammfabrikanten um nichts nach. Die erzeugen ja auch keine
zahnlosen Kmme fr Glatzkpfige.
La den Unsinn. Manchmal bist du wirklich kindisch!

86
Ich verstummte. Wenn man mich krnkt, dann verstumme ich.
Jossele fuhr fort, mich zurechtzuweisen:
Du hast nichts als dummes Zeug im Kopf, whrend ich ber
ernste, praktische Dinge spreche. Zum Beispiel, weil wir schon
bei Kmmen sind: Haarschuppen aus Plastik. In handlichen
Cellophansckchen. Selbst der Ungeschickteste kann sie sich
ber den Kopf streuen.
Sie werden nie wie die echten aussehen, sagte ich bockig.
Ich garantiere dir, da man nicht einmal durchs Vergre-
rungsglas einen Unterschied merkt. Wir leben in einer Zeit, in
der neues Material neuen Zwecken dienstbar gemacht wird.
Hte aus Glas, zum Beispiel.
Wozu soll ein Hut aus Glas gut sein?
Wenn man ihn fallen lt, braucht man sich nicht nach ihm
zu bcken.
Das klang logisch. Ich mute zugeben, da die Menschheit
Fortschritte macht.
Und was, fragte ich, hieltest du von einem Geschirrschrank,
der auch oben vier Fe hat?
Jossele sah mich berrascht an. Das hatte er mir nicht zu-
getraut.
Ich verstehe, nickte er anerkennend. Wenn der Schrank
oben staubig wird, dreht man ihn einfach um. berhaupt gibt es
im Haushalt noch viel zu verbessern. Was mir zum Beispiel
schon seit Jahren fehlt, sind runde Taschentcher !
Die man nicht falten mu?
Eben. Nur zusammenknllen.
Auch ich denke ber Neuerungen an Kleidungsstcken nach.
Und vor kurzem ist mir etwas eingefallen, wofr ich sofort das
Patent angemeldet habe.
Nun?
Es ist eine Art elektronisches Miniatur-Instrument fr den
eleganten Herrn. Ein Verkehrslicht mit besonderer Bercksich-
tigung der Hose. Wenn ein Toilettefehler entsteht, blinkt ein
rotes Licht auf, das zur Sicherheit von einem leisen Summton
begleitet wird.
Zu kompliziert. Jossele schttelte den Kopf. Des-
halb konnte ich ja auch der Kuckucksfalle nichts abgewin-
nen. Du erinnerst dich: man wollte sie an den Kuckucks-
uhren anbringen, oberhalb der Klappe, aus der alle Stunden
der Kuckuck herauskommt. Und im gleichen Augenblick,
in dem er seinen idiotischen Kuckucksruf ausstoen will,

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fllt ihm von oben ein Hammer auf den Kopf. Zu kompli-
ziert.
Dir wrde wohl die Erfindung des berhmten Agronomen
Mitschurin besser zusagen?
Die wre?
Eine Kreuzung von Wassermelonen mit Fliegen.
Damit sich die Kerne von selbst entfernen, ich wei. Ein alter
Witz. Wenn schon kreuzen, dann Maiskolben mit Schreibma-
schinen. Sobald man eine Kornreihe zu Ende genagt hat, ertnt
ein Klingelsignal, der Kolben rutscht automatisch zurck, und
man kann die nchste Reihe anknabbern.
Nicht schlecht.
Jedenfalls zweckmig und bequem. Das ist das Wichtigste.
In Amerika wurde eine landwirtschaftliche Maschine erfunden,
die allerdings noch verbessert werden mu, weil sie zuviel Raum
einnimmt. Sie pflanzt Kartoffeln, bewssert sie, erntet sie ab,
wscht sie, kocht sie und it sie auf.
Ja, ja. Der Mensch wird allmhlich berflssig. Angeblich
gibt es in Japan bereits einen Computer, mit dem man Schach
spielen kann.
Dann wrde ich mir gleich zwei kaufen, sagte Jossele.
Die knnen miteinander spielen, und ich gehe ins Kino.
Gut, sagte ich. Gehen wir.

88
Baby-Sitting und was man dafr tun mu

Die Herrschaft des Kindes in der israelischen


Familie ist, anderslautenden Gerchten zum Trotz,
keine absolute. Absolut herrscht der Baby-Sitter,
dessen Manahmen und Entscheidungen inappel-
label sind. Dem Parlament liegt seit einiger Zeit
ein Gesetzentwurf vor, der die sozialen Rechte der
Eltern sichern soll. Bis zur Annahme dieses Ge-
setzes kann der Baby-Sitter die Eltern fristlos und
ohne Abfertigung entlassen, wenn sie sich des ge-
ringsten disziplinarischen Vergehens schuldig
machen.

Frau Regine Popper mu nicht erst vorgestellt werden. Sie gilt


allgemein als bester Baby-Sitter der Nation und hat wiederholt
mit weitem Vorsprung die Staatsligameisterschaft gewonnen. Sie
ist pnktlich, tchtig, zuverlssig, loyal und leise kurzum, eine
Zauberknstlerin im Reich der Windeln. Noch nie hat unser
Baby Amir sich ber sie beklagt. Frau Popper ist eine Perle.
Ihr einziger Nachteil besteht darin, da sie in Tel Giborim
wohnt, von wo es keine direkte Verbindung zu unserem Haus
gibt. Infolgedessen mu sie sich der Institution des Pendelver-
kehrs bedienen, wie er hierzulande von den Autotaxis betrieben
wird und jeweils vier bis fnf Personen befrdert. Diese In-
stitution heit hebrisch Scherut. Mit diesem Scherut gelangt
Frau Popper bis zur Autobus-Zentrale, und dort mu sie auf
einen andern Scherut warten, und manchmal gibt es keinen
Scherut, und dann mu sie ihre nicht unbetrchtliche Leibesflle
in einen zum Platzen vollgestopften Bus zwngen, und bei sol-
chen Gelegenheiten kommt sie in vllig desolatem und zerrt-
tetem Zustand bei uns an, und ihre Blicke sind ein einziger stum-
mer Vorwurf und sagen:
Schon wieder kein Scherut.
Allabendlich gegen acht beginnen wir, um einen Scherut fr
Frau Popper zu beten. Manchmal hilft es, manchmal nicht. Das
macht uns immer wieder groe Sorgen fr die Zukunft, denn
Frau Popper ist unersetzlich. Schade nur, da sie in Tel Giborim
wohnt. Ohne Telephon.
Was soll diese lange Einleitung? Sie soll zu jenem Abend ber-

89
leiten, an dem wir das Haus um halb neun verlassen wollten, um
ins Kino zu gehen. Bis dahin hatte ich noch ein paar wichtige
Briefe zu schreiben. Leider flo mein Stil mglicherweise in-
folge der lhmenden Hitze an jenem Abend nicht so glatt wie
sonst, und ich war, als Punkt halb neun die perfekte Perle Popper
erschien, noch nicht ganz fertig. Ihre Blicke offenbarten sofort,
da es wieder einmal keinen Scherut gegeben hatte.
Ich bin gelaufen, keuchte sie. Was heit gelaufen? Gerannt
bin ich. Zu Fu. Wie eine Verrckte.
In solchen Fllen gibt es nur eines: man mu sofort aus dem
Haus, um Frau Poppers Marathonlauf zu rechtfertigen. Andern-
falls htte sie sich ja ganz umsonst angestrengt.
Aber ich wollte unbedingt noch mit meinen wichtigen Briefen
fertig werden, bevor wir ins Kino gingen.
Schon nach wenigen Minuten ffnete sich die Tre meines
Arbeitszimmers:
Sie sind noch hier?
Nicht mehr lange...
Unglaublich. Ich renne mir die Seele aus dem Leib und Sie
sitzen gemtlich hier und haben Zeit!
Er wird gleich fertig sein. Die beste Ehefrau von allen stellte
sich schtzend vor mich.
Warum lassen Sie mich berhaupt kommen, wenn Sie so-
wieso zu Hause bleiben?
Wir bleiben nicht zu Hause. Aber wir wrden Sie selbstver-
stndlich auch bezahlen, wenn
Das ist eine vollkommen berflssige Bemerkung! Frau
Regine Popper richtete sich zu majesttischer Gre auf. Fr
nicht geleistete Arbeit nehme ich kein Geld. Nchstens ber-
legen Sie sich bitte, ob Sie mich brauchen oder nicht.
Um weiteren Auseinandersetzungen vorzubeugen, ergriff ich
die Schreibmaschine und verlie eilends das Haus, ebenso eilends
gefolgt von meiner Frau. In der kleinen Konditorei gegenber
schrieb ich die Briefe fertig. Das Klappern der Schreibmaschine
erregte anfangs einiges Aufsehen, aber dann gewhnten sich die
Leute daran. Ins Kino kamen wir an diesem Abend nicht mehr.
Meine Frau nicht nur die beste Ehefrau von allen, sondern auch
von bemerkenswertem realpolitischem Flair schlug vor, das
noch verbleibende Zeitminimum von drei Stunden mit einem
Spaziergang auszufllen. Bei Nacht ist Tel Aviv eine sehr schne
Stadt. Besonders der Strand, die nrdlichen Villenviertel, das alte
Jaffa und die Ebene von Abu Kabir bieten lohnende Panoramen.

90
Kurz vor Mitternacht waren wir wieder zu Hause, mde, zer-
schlagen, mit Wasserblasen an den Fen.
Wann, fragte Frau Regine Popper, whrend wir ihr den fl-
ligen Betrag von 5.75 Pfund einhndigten, wann brauchen Sie
mich wieder?
Eine rasche, klare Entscheidung, wie sie dem Manne ansteht,
war dringend geboten. Andererseits durfte nichts Unbedachtes
vereinbart werden, denn da Frau Popper kein Telephon besitzt,
lt sich eine einmal getroffene Vereinbarung nicht mehr rck-
gngig machen.
bermorgen? fragte Frau Popper. Um acht?
bermorgen ist Mittwoch, murmelte ich. Ja, das pat uns
sehr gut. Vielleicht gehen wir ins Kino...
Der Mensch denkt, und Gott ist dagegen. Mittwoch um 7 Uhr
abend begann mein Rcken zu schmerzen. Ein pltzlicher
Schweiausbruch warf mich aufs Lager. Kein Zweifel: ich
fieberte. Die beste Ehefrau von allen beugte sich besorgt ber
mich:
Steh auf, sagte sie und schnippte ungeduldig mit den Fin-
gern. Die Popper kann jeden Moment hier sein. Wir mssen
gehen.
Ich kann nicht. Ich bin krank.
Sei nicht so wehleidig, ich bitte dich. Oder willst du riskieren,
da sie uns noch zu Hause trifft und fragt, warum wir sie fr
nichts und wieder nichts den weiten Weg aus Tel Giborim ma-
chen lassen? Komm. Steh auf.
Mir ist schlecht.
Mir auch. Nimm ein Aspirin und komm!
Die Schweizer Przisionsmaschine, die sich unter dem Namen
Popper in Israel niedergelassen hat, erschien pnktlich um acht,
schwer atmend.
Schalom, zischte sie. Schon wieder kein...
In panischer Hast kleidete ich mich an. Wre sie mit einem
Scherut gekommen, dann htte man sie vielleicht umstimmen
knnen. So aber, nach einer langen Fahrt im qualvoll heien
Autobus und einem vermutlich noch lngeren Fumarsch, er-
stickte ihre bloe Erscheinung jeden Widerstand im Keim. Wir
verlieen das Haus, so schnell mich meine vom Fieber ge-
schwchten Beine trugen.
Drauen mute ich mich sofort an eine Mauer lehnen. Kaum
hatte ich den Schwindelanfall berwunden, packte mich ein
Schttelfrost. An den geplanten Kinobesuch war nicht zu den-

91
ken. Mit Mhe schleppte ich mich am Arm meiner Frau zu
unserem Wagen und kroch hinein, um mich ein wenig auszu-
strecken. Ich bin von eher hohem Wuchs, und unser Wagen ist
eher klein.
O Herr! sthnte ich. Warum, o Herr, mu ich mich hier
zusammenkrmmen, statt zu Hause im Bett zu liegen?
Aber der Herr gab keine Antwort.
Mein Zustand verschlimmerte sich von Viertelstunde zu Vier-
telstunde. Ich glaubte, in dem engen, vom langen Parken in der
Sonne noch glhend heien Wagen ersticken zu mssen. Auch
die einbrechende Dunkelheit brachte mir keine Linderung.
La mich heimgehen, Weib, flsterte ich.
Jetzt? Unheilkndend klang die Stimme der besten Ehefrau
von allen durch das Dunkel. Nach knappen eineinhalb Stun-
den? Glaubst du, eine Regine Popper kommt wegen eineinhalb
Stunden eigens aus Tel Giborim herunter?
Ich glaube gar nichts. Ich will nicht sterben fr Regine
Popper. Ich bin noch jung, und das Leben ist schn. Ich will
leben. Ich gehe nach Hause.
Warte noch zwanzig Minuten. Oder wenigstens dreiig.
Nein. Nicht einmal eine halbe Stunde. Ich bin am Ende. Ich
gehe.
Weit du was? Knapp vor dem Haustor fing sie mich ab.
Wir schlpfen heimlich ins Haus, so da sie uns nicht hrt,
setzen uns still ins Schlafzimmer und warten...
Das klang halbwegs vernnftig. Ich stimmte zu. Behutsam
ffneten wir die Haustre und schlichen uns ein. Aus meinem
Arbeitszimmer drang ein Lichtstrahl. Dort also hatte Frau Pop-
per sich eingenistet. Interessant. Wir setzten unseren Weg auf
Zehenspitzen fort, wobei uns die Kenntnis des Terrains sehr zu-
statten kam. Aber kurz vor dem Ziel verriet uns ein Knarren der
Holzdiele.
Wer ist da? rhrte es aus dem Arbeitszimmer.
Wir sinds! Rasch knipste meine Frau das Licht an und
schob mich durch die Tre. Ephraim hat das Geschenk ver-
gessen.
Welches Geschenk? Wie kam sie darauf? Was meinte sie da-
mit? Aber da war, mit einem giftigen Seitenblick nach mir, die
beste Ehefrau von allen schon an das nchste Bcherregal heran-
getreten und entnahm ihm die Geschichte des englischen
Theaters seit Shakespeares, ein schwerer Band im Lexikonfor-
mat, den sie mir sofort in die zittrigen Arme legte. Dann, nach-

92
dem wir uns bei Frau Popper fr die Strung entschuldigt hatten,
gingen wir wieder.
Drauen brach ich endgltig zusammen. Von meiner Stirne
rann in unregelmigen Bchen der Schwei, und vor meinen
Augen sah ich zum erstenmal im Leben kleine, rote Punkte flim-
mern. Bisher hatte ich das immer fr ein billiges Klischee gehal-
ten, aber es gibt sie wirklich, die kleinen roten Punkte. Und sie
flimmern wirklich vor den Augen. Besonders wenn man unter
einem Haustor sitzt und weint.
Die beste Ehefrau von allen legte mir ihre khlenden Hnde
auf die Schlfen:
Es gab keine andere Mglichkeit. Wie fhlst du dich?
Wenn Gott mich diese Nacht berleben lt, sagte ich, dann
bersiedeln wir nach Tel Giborim. Am besten gleich in das Haus,
wo Frau Regine Popper wohnt.
Eine halbe Stunde spter war ich so weit zu Krften gekom-
men, da wir einen zweiten Versuch wagen konnten. Diesmal
ging alles gut. Wir hatten ja schon bung. Lautlos fiel die Haus-
tre ins Schlo, ohne Knarren passierten wir den Lichtschein,
der aus dem Arbeitszimmer drang, und unentdeckt gelangten
wir ins Schlafzimmer, wo wir uns angekleidet hinstreckten; es
standen uns noch drei Stunden bevor.
ber die anschlieende Lcke in meiner Erinnerung kann ich
naturgem nichts aussagen.
Ephraim! Wie aus weiter Ferne klang mir die Stimme meiner
Frau ans Ohr. Es ist halb sechs! Ephraim! Halb sechs! Jetzt
erst merkte ich, da sie unablssig an meinen Schultern rttelte.
Ich blinzelte ins Licht des jungen Tages. Schon lange, schon
sehr lange hatte kein Schlaf mich so erquickt. Rein strategisch
betrachtet, waren wir allerdings bel dran. Wie sollten wir Frau
Popper aus ihrer befestigten Stellung herauslocken?
Warte, sagte die beste Ehefrau von allen und verschwand.
Aus Amirs Zimmer wurde pltzlich die gellende Stimme eines
mit Hochfrequenz heulenden Kleinkindes hrbar. Kurz darauf
kehrte meine Frau zurck.
Hast du ihn gezwickt? fragte ich.
Sie bejahte von der halboffenen Tre her, durch die wir jetzt
Frau Poppers fllige Gestalt in Richtung Amir vorbersprinten
sahen.
Das gab uns Zeit, das Haus zu verlassen und es mit einem lau-
ten, frhlichen Guten Morgen! sogleich wieder zu betreten.
Eine feine Stunde, nach Hause zu kommen! bemerkte

93
tadelnd Frau Regine Popper und wiegte auf fleischigen Armen
den langsam ruhiger werdenden Amir in den Schlaf. Wo waren
Sie so lange?
Bei einer Orgie.
Ach Gott, die heutige Jugend...
Frau Regine Popper schttelte den Kopf, brachte den nun
wieder friedlich schlummernden Amir in sein Bettchen zurck,
bezog ihre Gage und trat in den khlen Morgen hinaus, um
nach einem Scherut Ausschau zu halten, der sie nach Tel Gibo-
rim brchte oder wenigstens bis zur Autobus-Zentrale.
Schreckensrotkppchen

Fr das Motto dieser Geschichte hat bereits die


vorangegangene gesorgt. Frau Regine Popper
liebt es, Kindermrchen als Hinschlferungsmittel
zu verwenden. Und wir unternehmen nichts da-
gegen. Die Kleinen sollen nur rechtzeitig merken,
da das Leben kein Honiglecken ist.

Zeit: 9 Uhr abend. Die Eltern sind im Kino. Rafi, fnf Jahre alt,
ist in der Obhut der unvergleichlichen Regine Popper zurck-
geblieben. Sein kleiner Bruder Amir schlft im Nebenzimmer,
Rafi selbst liegt mit offenen Augen im Bettchen und kann nicht
einschlafen. Die Straenbeleuchtung wirft unheimliche Licht-
und Schattengebilde in die Ecken des Zimmers. Drauen strmt
es. Der Wstenwind trgt ab und zu das Geheul von Schakalen
heran. Manchmal wird auch der klagende Ruf eines Uhus hrbar.
FRAU POPPER: Schlaf, Rafilein! Schlaf doch endlich!
RAFI: Will nicht.
FRAU POPPER: Alle braven Kinder schlafen jetzt.
RAFI: Du bist hlich.
FRAU POPPER: Mchtest du etwas zum Trinken haben?
RAFI: Eiscreme.
FRAU POPPER: Wenn du brav einschlfst, bekommst du Eis-
creme. Soll ich dir wieder so eine schne Geschichte erzh-
len wie gestern?
RAFI: Nein! Nein!
FRAU POPPER: Es ist aber eine sehr schne Geschichte. Die Ge-
schichte von Rotkppchen und dem bsen Wolf.
RAFI: wehrt sich verzweifelt Will kein Rotkppchen! Will keinen
bsen Wolf!
FRAU POPPER: vereitelt seinen Fluchtversuch So. Und jetzt sind wir
hbsch ruhig und hren brav zu. Es war einmal ein kleines
Mdchen, das hie Rotkppchen.
RAFI: Warum?

95
FRAU POPPER: Weil sie auf ihrem kleinen Kpfchen immer ein
kleines rotes Kppchen trug.
RAFI: Eiscreme!
FRAU POPPER: Morgen. Und was tat das kleine Rotkppchen?
Es ging seine Gromutter besuchen, die mitten im Wald in
einer kleinen Htte lebte. Der Wald war frchterlich gro,
und wenn man einmal drin war, fand man nie wieder heraus.
Die Bume reichten bis in den Himmel. Es war ganz finster
in diesem Wald, entsetzlich finster.
RAFI: Will nicht zuhren!
FRAU POPPER: Jeder kleine Junge kennt die Geschichte vom
Rotkppchen. Was werden Rafis Freunde sagen, wenn sie
erfahren, da Rafi die Geschichte nicht kennt?
RAFI: Wei nicht.
FRAU POPPER: Siehst du? Rotkppchen ging durch den Wald,
durch den schrecklich groen, finstern Wald. Sie war ganz
allein und hatte solche Angst, da sie an allen Gliedern zit-
terte und bebte...
RAFI: Gut, ich schlaf jetzt ein.
FRAU POPPER: Du darfst Tante Regine nicht unterbrechen. Das
kleine Rotkppchen ging immer weiter, ganz allein, immer
weiter, ganz allein. Ihr kleines Herzchen klopfte zum Zer-
springen, und sie bemerkte gar nicht, da hinter einem Baum
ein groer Schatten lauerte. Es war der Wolf.
RAFI: Welcher Wolf? Warum der Wolf? Will keinen Wolf!
FRAU POPPER: Es ist ja nur ein Mrchen, du kleiner Dummkopf.
Und der Wolf hatte so groe Augen und so gelbe Zhne sie
demonstriert es hrr, hrr!
RAFI: Wann kommt Mammi zurck?
FRAU POPPER: Und der groe, bse Wolf lief zu der Htte, wo
die Gromutter schlief ffnete leise die Tre schlich bis
zum Bett und hamm, hamm fra die Gromutter auf.
RAFI: stt einen Schrei aus, springt aus dem Bett und versucht zu fliehen
FRAU POPPER: in wilder Jagd rund um den Tisch Rafi! Rafael! Geh
sofort ins Bett zurck, sonst erzhl ich dir die Geschichte
nicht weiter! Komm, Liebling, komm... Weit du, was
das kleine Rotkppchen tat, als es den Wolf in Gromutters
Bett liegen sah? Es fragte: Gromutter, warum hast du so
groe Augen? Und warum hast du so groe Ohren? Und
warum hast du so schreckliche Krallen an den Hnden?
Und
RAFI: springt aufs Fensterbrett, stt das Fenster auf Hilfe! Hilfe!

96
FRAU POPPER: reit ihn zuriick, gibt ihm einen Klaps auf den Popo,
schliet das Fenster Und pltzlich sprang der Wolf aus dem
Bett und hamm, hamm
RAFI: Mammi, Mammi!
FRAU POPPER: Fra das kleine Rotkppchen auf, mit Haut und
Haar und Kppchen hamm, hamm, hrr, krr!
RAFI: kriecht heulend unters Bett, drckt sich gegen die Wand
FRAU POPPER: legt sich vor das Bett Hrr, krr, hamm, hamm... Aber
auf einmal kam der Onkel Jger mit seinem groen Schie-
gewehr und puff, bumm scho den bsen Wolf tot. Gro-
mutter und Rotkppchen aber sprangen frhlich aus dem
bsen Bauch des bsen Wolfs.
RAFI: steckt den Kopf hervor Ist es schon aus?
FRAU POPPER: Noch nicht. Sie fllten den Bauch des bsen Wolfs
mit groen Steinen, mit vielen, entsetzlich groen Steinen,
und plopp, plumps warfen ihn in den Bach.
RAFI: oben auf dem Schrank Aus?
FRAU POPPER: Aus, mein kleiner Liebling. Eine schne Ge-
schichte, nicht wahr?
MAMMI: soeben nach Hause gekommen, tritt ein Rafi, komm sofort
herunter! Was ist denn los, Frau Popper?
FRAU POPPER: Das Kind ist heute ein wenig unruhig. Ich habe
ihm zur Beruhigung eine Geschichte erzhlt.
MAMMI: indem sie Rafis schweiverklebtes Haar streichelt Danke,
Frau Popper. Was tten wir ohne Sie?

97
Du sprechen rumnisch?

Das nachfolgende Gesprch wurde im Interesse


der israelischen Behrden aufgezeichnet und will
als Bitte um verschrfte Einwanderungskontrolle
verstanden sein.

Gestern, an einem besonders staubigen Nachmittag, rief ich bei


Weinreb an in einer ganz bestimmten Angelegenheit, die hier
keine Rolle spielt. Jedenfalls hatte ich die Absicht, ihm grndlich
meine Meinung zu sagen.
Der Hrer wurde abgehoben.
Hallo, sagte eine zaghafte Frauenstimme. Hallo.
Hallo, antwortete ich. Wer spricht?
Wei nicht. Niemanden kennen.
Ich habe gefragt: wer spricht.
Hier?
Ja, dort.
Dort?
Auch dort. Mit wem spreche ich?
Wei nicht. Niemanden kennen.
Sie mssen doch wissen, wer spricht!
Ja.
Also wer?
Ich.
Wer sind Sie?
Ja. Neues Mdchen.
Sie sind das neue Mdchen?
Ich.
Gut. Dann rufen Sie bitte Herrn Weinreb.
Herrn Weinreb. Wohin?
Zum Telephon. Ich warte.
Ja.

98
Haben Sie verstanden? Ich warte darauf, da Sie Herrn Wein-
reb zum Telephon rufen!
Ja. Ich rufen. Du warten.
Daraufhin geschah zunchst gar nichts. Dann rusperte sich
etwas in der Muschel.
Weinreb? fragte ich hoffnungsfroh.
Nein. Neues Mdchen.
Aber ich habe Sie doch gebeten, Herrn Weinreb zu
rufen.
Du sprechen rumnisch?
Nein! Rufen Sie Herrn Weinreb!!
Kann nicht rufen.
Dann holen Sie ihn!
Kann nicht. Wei nicht. Kann nicht holen.
Warum nicht? Was ist denn los? Ist er nicht zu Hause?
Wei nicht. Hallo.
Wann kommt er zurck?
Wer?
Weinreb! Wann er wieder nach Hause kommt! Wo ist
er?
Wei nicht, schluchzte das neue Mdchen. Ich kommen aus
Rumnien. Jetzt. Niemanden kennen.
Hren Sie, mein Kind. Ich mchte mit Herrn Weinreb
sprechen. Er ist nicht zu Hause. Gut. Sie wissen nicht, wann er
zurckkommt. Auch gut. Dann sagen Sie ihm wenigstens, da
ich angerufen habe, ja?
Angerufen habe ja. Abermals ertnte das Schluchzen des
neuen Mdchens. Hallo.
Was gibt es jetzt schon wieder?
Kann Weinreb nicht sagen.
Warum nicht?
Was ist das: Weinreb?
Was heit das: was ist das? Kennen Sie ihn nicht?
Du sprechen rumnisch? Bichen rumnisch?
Sagen Sie mir, mit wem ich verbunden bin. Mit welcher
Wohnung.
Kostelanetz. Emanuel. Hallo.
Welche Nummer?
Dreiundsiebzig. Zweiter Stock.
Ich meine: welche Telephonnummer?
Wei nicht.
Ist sie denn nicht auf dem Telephon aufgeschrieben?

99
Was?
Die Nummer!
Wo?
Auf dem Telephon!!
Hier ist kein Telephon...
Der Ku des Veteranen

In einem Land, das erst seit relativ kurzer Zeit un-


abhngig ist, kann man auf der Erfolgsleiter noch
mehrere Sprossen auf einmal nehmen. Das bedeu-
tet aber nicht, da der Mann auf der obersten
Sprosse ausgewechselt werden mte. Im Gegen-
teil, er bleibt oben, und er bleibt, obwohl er oben
bleibt, der gute alte jdische Kumpan, der er schon
vorher war und der sich immer freuen wird, mit
einem andern guten alten jdischen Kumpan zu-
sammenzutreffen. Die Frage ist nur: fr wann hat
die Personalkanzlei das Zusammentreffen fest-
gesetzt?

Die Festlichkeiten anllich des 16jhrigen Bestands Jubilums


der Siedlung Sichin wurden seinerzeit vom ganzen Land mit
grtem Interesse verfolgt. Sogar der damalige Ministerprsi-
dent David Ben Gurion kndigte seinen Besuch in der ehrwrdi-
gen Veteranensiedlung an. Nachdem diese Ankndigung offi-
ziell besttigt worden war, begannen in Sichin die Vorbereitun-
gen fr das historische Ereignis. Alles ging gut bis Munik
Rokotowsky sich einschaltete. Munik Rokotowsky, eines der
ltesten Mitglieder der alten Siedlung, kndigte seinerseits an,
da er die Gelegenheit ausntzen wrde, seinen Lebenstraum
zu verwirklichen und den Ministerprsidenten zu kssen.
David, so erklrte er leuchtenden Auges, wird einen Ku
von mir bekommen, da er vor Freude einen Luftsprung macht.
Wie schon angedeutet, war Rokotowsky ein Siedlungsveteran.
Als solcher hatte er bei den Feiern zweifellos Anspruch auf einen
Platz in der vordersten Reihe der Feiernden. Die jetzt von ihm ge-
uerte Absicht verbreitete jedoch ein gewisses Unbehagen, und
das Organisationskomitee lud ihn zu einer Besprechung ein:
Genosse Rokotowsky es kursieren Gerchte, da du den
Ministerprsidenten und Verteidigungsminister bei seinem Be-
such in Sichin kssen willst. Willst du das wirklich?
Und wie! besttigte Rokotowsky. Kaum da ich David
sehe, schmatze ich ihm einen Ku auf die Wange!
Hast du schon darber nachgedacht. Genosse Rokotowsky,
ob das dem Ministerprsidenten und Verteidigungsminister
auch recht sein wird?

101
Was ist das fr eine Frage? Rokotowskys Stimme verriet
hochgradiges Befremden. Warum soll es ihm nicht recht sein?
Schlielich haben wir beide vor fnfzig Jahren gemeinsam auf
einer Zitrusplantage gearbeitet. Meine Baracke war die dritte
links um die Ecke von der seinen. Ich sage euch, er wird auer
sich sein vor Freude, wenn er mich sieht!
Auf der nchsten Sitzung des Gemeinderats wurde die delikate
Angelegenheit zur Sprache gebracht und fhrte zu heftigen De-
batten. Ein anderer Siedlungsveteran namens Jubal warf den Mit-
gliedern des Rates vor, da sie die Feierlichkeiten zur Strkung
ihrer persnlichen Machtposition mibrauchen wollten und da
sie Nepotismus betrieben.
Wenn Rokotowsky ihn kt, drohte Jubal, dann k ich
ihn auch!
Genossen! Genossen! Der Vorsitzende schlug mit beiden
Fusten so lange auf den Tisch, bis Ruhe eintrat. Das hat keinen
Zweck! Wir mssen abstimmen!
Munik Rokotowsky wurde mit einer Majoritt von vier
Stimmen zum offiziellen Ministerprsidenten-Ksser bestellt.
Um jedes Risiko auszuschlieen, sandte der Gemeinderat den
folgenden Brief eingeschrieben an die Kanzlei des Ministerpr-
sidenten :
Werte Genossen! Wir haben die Ehre, Euch mitzuteilen, da
Munik Rokotowsky, ein Mitglied unserer Siedlung, sich mit der
Absicht trgt, den Ministerprsidenten und Verteidigungsmini-
ster anllich seines Besuchs bei den Feiern zum 16jhrigen Be-
standsjubilum der Siedlung Sichin zu kssen. Der Gemeinderat
hat diese Absicht nach kurzer Debatte gutgeheien, machte je-
doch den Genossen Rokotowsky darauf aufmerksam, da auch
die Kanzlei des Ministerprsidenten ihre Zustimmung erteilen
mte. Wir bitten Euch deshalb, werte Genossen, um Bekannt-
gabe Eures Standpunktes und gegebenenfalls um die ntigen
Instruktionen.
In der Hoffnung, da die oberwhnte Absicht eines alten
Siedlungs- und Parteimitglieds auf keine Hindernisse stoen
wird, verbleiben wir,
fr den Gemeinderat der Siedlung Sichin
(Unterschriften)
Zwei Wochen spter kam die briefliche Zustimmung der Pr-
sidialkanzlei zu dem von Rokotowsky geplanten Ku. Der
Ministerprsident, so hie es in dem Schreiben, kann sich zwar
an einen Genossen des Namens Rokotowsky nicht oder nur sehr

102
dunkel erinnern, mchte aber angesichts der besonderen Um-
stnde den emotionalen Aspekten der Angelegenheit in jedem
Falle Rechnung tragen. Im weiteren Verlauf des Schreibens
wurde hervorgehoben, da der Ku in einmaliger, kultivierter
und wrdiger Form zu verabfolgen sei, am besten, wenn der
Ministerprsident seinen Wagen verlassen wrde, um sich in das
Verwaltungsgebude der Siedlung zu begeben. Bei dieser Ge-
legenheit sollte Genosse Rokotowsky aus dem Spalier der ju-
belnden Dorrbewohner ausbrechen und den geplanten Ku auf
die Wange des Ministerprsidenten und Verteidigungsministers
drcken, wobei er ihn auch kameradschaftlich umarmen knne;
doch sollte diese Umarmung keinesfalls lnger als 30 Sekunden
dauern. Aus Sicherheitsgrnden erbitte man ferner die bersen-
dung von vier Aufnahmen Rokotowskys in Paformat, sowie
Ausstellungsdatum und Nummer seiner Identittskarte.
Der Brief wurde von der Einwohnerschaft der Siedlung Sichin
mit groer Befriedigung zur Kenntnis genommen, da er den be-
vorstehenden Feierlichkeiten einen nicht alltglichen persn-
lichen Beigeschmack sicherte. Der einzig Unzufriedene war der
Vater des Gedankens, Munik Rokotowsky:
Was heit das: dreiig Sekunden? Warum nur dreiig Se-
kunden? Wofr halten die mich? Und was, wenn David mich
nicht loslt und mich vor lauter Freude immer aufs neue um-
armt?
Es sind offizielle Manahmen, erklrte man ihm. Das
Arrangement beruht auf langjhriger Erfahrung und ist in jedem
Detail grndlich berlegt. Die Zeiten haben sich gendert. Ge-
nosse Rokotowsky. Wir leben in einem modernen Staat, nicht
mehr unter trkischer Herrschaft wie damals.
Gut, antwortete Rokotowsky. Dann eben nicht.
Was: eben nicht?
Dann werde ich David eben nicht kssen. Wir haben auf der-
selben Zitrusplantage gearbeitet, meine Baracke lag um die Ecke
von der seinen, die dritte von links, vielleicht sogar die zweite.
Wenn ich einen alten Freund nicht umarmen kann, wie ich will,
dann eben nicht.
Nicht? Was heit nicht? Wieso nicht? drang es von allen
Seiten auf den starrkpfigen Alten ein. Wozu haben wir uns um
die offizielle Bewilligung fr dich bemht? Wie wird das jetzt
ausschauen? Der Ministerprsident steigt aus, will gekt wer-
den, und niemand ist da, der ihn kt?!
Die Erregung der Verantwortlichen war begreiflich. Hatten

103
sie doch der Presse gegenber schon Andeutungen durchsickern
lassen, da es beim bevorstehenden Besuch des Ministerprsiden-
ten in Sichin, der ganz bestimmte sentimentale Hintergrnde
htte, zu einer ungewhnlichen Wiedersehensfeier kommen
knnte... Die Blamage wre nicht auszudenken.
K ihn, Munik, k ihn! beschworen sie den Rebellen.
Wenn du ihn nicht kt, dann lassen wir ihn von einem andern
kssen, du wirst schon sehen.
Gut, sagte Munik Rokotowsky. Dann kt ihn eben ein
anderer.
Es war nichts zu machen mit Rokotowsky. Er schlo sich in
seine Wohnung ein, er kam auch nicht zu der ad hoc einberufe-
nen Sondersitzung, auf der sein Fall strmisch diskutiert wurde.
Genosse Jubal beanspruchte den freigewordenen Jubilums-
ku fr sich und machte geltend, da er alters- und siedlungs-
mig unmittelbar auf Rokotowsky folgte. Der Vorsitzende
wollte die Streitfrage durch den demokratischen Vorgang des
Losens geschlichtet sehen. Andere Ratsmitglieder schlugen vor,
einen erfahrenen Ksser von auswrts kommen zu lassen. Nach
langen Debatten einigte man sich auf einen neuerlichen Brief an
die Prsidialkanzlei:
Werte Genossen! Aus technischen Grnden, die sich unserer
Einflunahme leider entziehen, mssen wir auf die fr den Be-
such des Ministerprsidenten vorgesehenen Kudienste des Ge-
nossen Rokotowsky verzichten. Da jedoch unsere fieberhaften
Vorbereitungen fr dieses Ereignis, dem die gesamte Bewohner-
schaft unserer Siedlung freudig und erwartungsvoll entgegen-
sieht, schon sehr weit gediehen sind, bitten wir Euch, uns bei der
Wahl eines neuen Ku-Kandidaten behilflich zu sein. Selbstver-
stndlich wrde sich der neugewhlte Kandidat streng an die von
Euch schon frher erteilten Instruktionen halten...
Wenige Tage spter erschien ein offizieller Delegierter der
Prsidialkanzlei, der sofort seine Sichtungs- und Siebungsttig-
keit aufnahm und zunchst alle Hochgewachsenen und alle
Schnurrbarttrger aus der Liste der Kandidaten strich. Schlie-
lich entschied er sich fr einen freundlichen, gedrungenen, glatt-
rasierten Mann mittleren Alters, der zufllig mit dem Sekretr
der rtlichen Parteileitung identisch war. Auf einer Generalkarte
der Siedlung Sichin wurde sodann der Weg, den das Auto des
Ministerprsidenten und anschlieend er selbst nehmen wrde,
genau eingezeichnet; eine gestrichelte Linie markierte die Weg-
spanne, die der begeistert aus dem Spalier Ausbrechende bis zur

104
Wange des Ministerprsidenten zurckzulegen htte. Sowohl
der Ausbruchspunkt als auch der Punkt der tatschlichen Ku-
Szene wurden rot eingekreist.
Am Vortag der Festlichkeiten fanden mehrere Stellproben
statt, um einen glatten Verlauf der Aktion zu gewhrleisten. Be-
sonders sorgfltig probte man die Intensitt der Umarmung, da
ja die Statur und das Alter des Ministerprsidenten und Vertei-
digungsministers zu bercksichtigen waren. Das Problem der
Zeitdauer wurde dadurch gelst, da der Ksser leise bis 29
zhlen und bei 30 den Ministerprsidenten unverzglich los-
lassen sollte. Bei allen diesen Arrangements erwies sich die Hilfe
des Delegierten als beraus wertvoll. Er sorgte auch fr die Ver-
teilung der Geheimpolizisten und fr die richtige Placierung der
Pressephotographen, damit sie zum fraglichen Zeitpunkt die
Sonne im Rcken htten.
Dank dieser sorgfltigen Planung ging die Zeremonie glatt
vonstatten. Der Ministerprsident traf mit seinem Gefolge kurz
nach 11 in Sichin ein, entstieg an der zuvor fixierten Stelle seinem
Wagen und wurde auf dem Weg zum Verwaltungsgebude pro-
grammgem von einem ihm Unbekannten gekt und um-
armt, wobei ihm auffiel, da der Unbekannte die Umarmung
mit den Worten: Achtundzwanzig neunundzwanzig aus!
beendete. Der Ministerprsident lchelte herzlich, wenn auch
ein wenig verlegen, und setzte seinen Weg fort, bis er auf das
kleine Mdchen mit den Blumen stie und neuer Jubel im
Spalier der Bewohner von Sichin aufbrauste...
Nur ein einziger hatte an der allgemeinen Freude kein Teil.
Munik Rokotowsky stand ganz allein im Hintergrund und konnte
die Trnen nicht zurckhalten, als er den Ministerprsidenten
im Tor des Verwaltungsgebudes verschwinden sah. Vor fnf-
zig Jahren hatten sie zusammen in der selben Zitrusplantage ge-
arbeitet. Das war sein Ku. Der Ku, den er niemals kssen wird.

105
Les Parents Terribles

Komplexbeladene Psychiater behaupten, da jedes


jdische Kind von seinen Eltern malos verwhnt
wird, weil es alles haben soll, was wir nicht hat-
ten. Daran ist etwas Wahres. Ich, zum Beispiel,
habe in meiner ganzen unglcklichen Kindheit
kein einziges Mal das betrende Aroma von ge-
streiftem Kaugummi genossen. Infolgedessen
wrde ich heute, um Kaugummi fr mein Kind
herbeizuschaffen, bis ans Ende der Welt fahren.
Ohne Kind, natrlich.

Als wir uns erst einmal zu dieser Erholungsreise entschlossen


hatten, meine Frau und ich, machten wir uns an die Ausarbeitung
eines detaillierten Reiseplans. Alles klappte, nur ein einziges
Problem blieb offen: was werden die Kinder sagen? Nun, Rafi
ist schon ein groer Junge, mit dem man vernnftig reden kann.
Er begreift, da Mammi und Pappi vom Knig der Schweiz
eingeladen wurden und da man einem Knig nicht Nein sagen
darf, sonst wird er wtend. Das wre also in Ordnung. Aber was
machen wir mit Amir? Amir zhlt knapp zweieinhalb Jahre, und
in diesem Alter ist das Kleinkind bekanntlich am heftigsten an
seine Eltern attachiert. Wir wissen von Fllen, in denen verant-
wortungslose Eltern ihr Kind fr zwei Wochen allein lieen
und das arme Wurm trug eine Unzahl von Komplexen davon,
die schlielich zu seinem vlligen Versagen im Geographie-
unterricht fhrten. Ein kleines Mdchen in Natanja soll auf diese
Art sogar zur Linkshnderin geworden sein.
Ich besprach das Problem beim Mittagessen mit meiner Frau,
der besten Ehefrau von allen. Aber als wir die ersten franzsi-
schen Vokabeln wechselten, legte sich ber das Antlitz unseres
jngsten Sohnes ein Ausdruck unbeschreiblicher, herzzerreien-
der Trauer. Aus groen Augen sah er uns an und fragte mit
schwacher Stimme: Walum? Walum?
Das Kind hatte etwas gemerkt, kein Zweifel. Das Kind war
aus dem inneren Gleichgewicht geraten. Er hngt sehr an uns,
der kleine Amir, ja, das tut er.
Ein kurzer Austausch stummer Blicke gengte meiner Frau

106
und mir, um uns den Plan einer Auslandsreise sofort aufgeben
zu lassen. Es gibt eine Menge Ausland, aber es gibt nur einen
Amir. Wir fahren nicht, und damit gut. Wozu auch? Wie knnte
uns Paris gefallen, wenn wir ununterbrochen daran denken
mten, da Amir inzwischen zu Hause sitzt und mit der linken
Hand zu schreiben beginnt? Man hlt sich Kinder nicht zum
Vergngen, wie Blumen oder Zebras. Kinder zu haben, ist eine
Berufung, eine heilige Pflicht, ein Lebensinhalt. Wenn man sei-
nen Kindern keine Opfer bringen kann, dann lt man besser
alles bleiben und geht auf eine Erholungsreise.
Das war genau unser Fall. Wir hatten uns sehr auf diese
Erholungsreise gefreut, wir brauchten sie, physisch und geistig,
und es wre uns sehr schwer gefallen, auf sie zu verzichten. Wir
wollten ins Ausland fahren.
Aber was tun wir mit Amir, dem traurigen, dem grougigen
Amir?
Wir berieten uns mit Frau Golda Arje, unserer Nachbarin. Ihr
Mann ist Verkehrspilot, und sie bekommt zweimal im Jahr Frei-
flugtickets. Wenn wir sie richtig verstanden haben, bringt sie
ihren Kindern die Nachricht jeweils stufenweise bei, beschreibt
ihnen die Schnheiten der Lnder, die sie berfliegen wird, und
kommt mit vielen Photos nach Hause. So nimmt das Kind an
der Freude der Eltern teil, ja es hat beinahe das Gefhl, die Reise
miterlebt zu haben. Ein klein wenig Behutsamkeit und Ver-
stndnis, mehr brauchts nicht. Noch vor hundert Jahren wren
Frau Golda Arjes Kinder, wenn man ihnen gesagt htte, da ihre
Mutti nach Amerika geflogen ist, in hysterische Krmpfe ver-
fallen oder wren Taschendiebe geworden. Heute, dank der
Psychoanalyse und dem internationalen Flugverkehr, finden sie
sich mhelos mit dem Unvermeidlichen ab.
Wir setzten uns mit Amir zusammen. Wir wollten offen mit
ihm reden, von Mann zu Mann.
Weit du, Amirlein, begann meine Frau, es gibt so hohe
Berge in
Nicht wegfahren! Amir stie einen schrillen Schrei aus.
Mammi Pappi nicht wegfahren! Amir nicht allein lassen! Keine
Berge! Nicht fahren!
Trnen strmten ber seine zarten Wangen, angstbebend
prete sich sein kleiner Kinderkrper gegen meine Knie.
Wir fahren nicht weg! Beinahe gleichzeitig sprachen wir
beide es aus, gefat, trstend, endgltig. Die Schnheiten der
Schweiz und Italiens zusammengenommen rechtfertigen keine

107
kleinste Trne in unseres Lieblings blauen Augen. Sein Lcheln
gilt uns mehr als jedes Alpenglhen. Wir bleiben zu Hause.
Wenn das Kind etwas lter ist, sechzehn oder zwanzig, wird man
weitersehen. Damit schien das Problem gelst.
Leider trat eine unvorhergesehene Komplikation auf: am
nchsten Morgen beschlossen wir, trotzdem zu fahren. Wir lie-
ben unseren Sohn Amir, wir lieben ihn ber alles, aber wir lieben
auch Auslandsreisen sehr. Wir werden uns von dem kleinen
Unhold nicht um jedes Vergngen bringen lassen.
In unserem Bekanntenkreis gibt es eine geschulte Kinder-
psychologin. An sie wandten wir uns und legten ihr die delikate
Situation genau auseinander.
Ihr habt einen schweren Fehler gemacht, bekamen wir zu
hren. Man darf ein Kind nicht anlgen, sonst trgt es seeli-
schen Schaden davon. Ihr mt ihm die Wahrheit sagen. Und
unter gar keinen Umstnden drft ihr heimlich die Koffer packen.
Im Gegenteil, der Kleine mu euch dabei zuschauen. Er darf
nicht das Gefhl haben, da ihr ihm davonlaufen wollt...
Zu Hause angekommen, holten wir die beiden groen Koffer
vom Dachboden, klappten sie auf und riefen Amir ins Zimmer.
Amir, sagte ich geradeheraus und mit klarer, krftiger
Stimme, Mammi und Pappi
Nicht wegfahren! brllte Amir. Amir liebt Mammi und Pap-
pi! Amir nicht ohne Mammi und Pappi lassen! Nicht wegfahren!
Das Kind war ein einziges, groes Zittern. Seine Augen
schwammen in Trnen, seine Nase tropfte, seine Arme flatterten
in hilflosem Schrecken durch die Luft. Er stand unmittelbar vor
einem nie wieder gutzumachenden Schock, der kleine Amir.
Nein, das durfte nicht geschehen. Wir nahmen ihn in die Arme,
wir herzten und kosten ihn:
Mammi und Pappi fahren nicht weg... warum glaubt Amir,
da Mammi und Pappi wegfahren... Mammi und Pappi haben
Koffer heruntergenommen und nachgeschaut, ob vielleicht
Spielzeug fr Amir drinnen... Mammi und Pappi bleiben zu
Hause... immer... ganzes Leben... nie wegfahren... immer
nur Amir... nichts als Amir... Europa pfui...
Aber diesmal war Amirs seelische Erschtterung schon zu gro.
Immer wieder klammerte er sich an mich, in jedem neuen Auf-
schluchzen lag der Weltschmerz von Generationen. Wir selbst
waren nahe daran, in Trnen auszubrechen. Was hatten wir da an-
gerichtet, um Himmels willen? Was ist in uns gefahren, da wir
diese kleine, zarte Kinderseele so brutal verwunden konnten?

108
Steh nicht herum wie ein Idiot! ermahnte mich meine Frau.
Bring ihm einen Kaugummi!
Amirs Schluchzen brach so bergangslos ab, da man bei-
nahe die Bremsen knirschen hrte:
Kaugummi? Pappi blingt Amir Kaugummi aus Eulopa?
Ja, mein Liebling, ja, natrlich. Kaugummi. Viel, viel Kau-
gummi. Mit Streifen.
Das Kind weint nicht mehr. Das Kind strahlt bers ganze Ge-
sicht:
Kaugummi mit Stleifen, Kaugummi mit Stleifen! Pappi
Amir Kaugummi aus Eulopa holen! Pappi wegfahren! Pappi
schnell wegfahren! Viel Kaugummi fr Amir!
Das Kind hpft durchs Zimmer, das Kind klatscht in die
Hnde, das Kind ist ein Sinnbild der Lebensfreude und des
Glcks:
Pappi wegfahren! Mammi wegfahren! Beide wegfahren!
Schnell, schnell! Walum Pappi noch hier! Walum, walum...
Und jetzt strzten ihm wieder die Trnen aus den Augen, sein
kleiner Krper bebte, seine Hnde krampften sich am Koffer-
griff fest, mit seinen schwachen Krften wollte er den Koffer zu
mir heranziehen.
Wir fahren ja, Amir, kleiner Liebling, beruhigte ich ihn.
Wir fahren sehr bald.
Nicht bald! Jetzt gleich! Mammi und Pappi jetzt gleich weg-
fahren!
Das war der Grund, warum wir unsere Abreise ein wenig vor-
verlegen muten. Die letzten Tage waren recht mhsam. Der
Kleine gab uns allerlei zu schaffen. In der Nacht weckte er uns
durchschnittlich dreimal aus dem Schlaf, um uns zu fragen,
warum wir noch hier sind und wann wir endlich fahren. Er
hngt sehr an uns, Klein-Amir, sehr. Wir werden ihm viele ge-
streifte Pckchen Kaugummi mitbringen. Auch die Kinder-
psychologin bekommt ein paar Pckchen.

109
Vorbereitungen fr ein Sportfest

Israel ist ein kleines, armes Land, das fr seinen


Sportbetrieb nur ein minimales Budget erbrigen
kann. Unsere Sportler bekommen das besonders
bei internationalen Veranstaltungen zu merken,
an denen wir uns bestenfalls mit einem Drittel der
auf Grund ihrer Leistungen hierfr qualifizierten
Funktionre beteiligen.

Die sogenannte Asiatische Olympiade ist fr die Teilnehmer


genauso wichtig wie die wirklichen Olympischen Spiele, und
fr unser kleines Land gilt das erst recht. Infolgedessen wird die
Frage der Beschickung schon Monate vorher in der ganzen
ffentlichkeit lebhaft diskutiert.
Von Anfang an war es klar, da wir die Asiatischen Spiele in
Bangkok unmglich mit allen Funktionren beschicken knn-
ten, die dafr trainierten. Eine solche Belastung htte der Staats-
haushalt nicht vertragen. Man darf nicht vergessen, da die
Funktionre unvermeidlicherweise von einer Anzahl aktiver
Sportler begleitet sein mssen. Schlielich einigte man sich auf
eine Quote von zwei Funktionren je Teilnehmer, legte jedoch
in Anbetracht des bedrohlichen Mangels an Aktiven einen
Schlssel fest, der die ffentlich kontrollierbare Leistungsfhig-
keit der Funktionre auf den internationalen Standard abstimmte.
Dieses Bangkok-Minimum verlangte von den Funktionren
folgende Leistungsnachweise:
1. Mitgliedschaft in einer erstklassigen Koalitionspartei.
2. Beschaffung von mindestens 8 Empfehlungsbriefen innerhalb
48 Stunden.
3. Anwendung eines Drucks von mindestens 50 Kubikmetern
auf die Mitglieder des Auswahlkomitees.
4. Bereitschaft zu rcksichtsloser Intrige.
Die Ausscheidungskmpfe waren so schwierig, da sie tat-
schlich nur von den Besten bestanden werden konnten. Schon
in den ersten Vorlufen kam es zu erschtternden menschlichen

110
Tragdien. Der israelische Rekordhalter L. J. Slutzkovski, ein
kampfgesthlter Veteran und Vorstandsmitglied in nicht weni-
ger als 21 Sportorganisationen, zeigte sich zwar dem Parteien-
test mhelos gewachsen und wies auch die ntigen Nervengeher-
Qualitten nach, brachte es aber im ersten Anlauf nur zu 6
Empfehlungsbriefen. Man gewhrte ihm einen zweiten, doch
kam er auch hier nur auf sieben Briefe und eine mndliche Emp-
fehlung, womit er endgltig unter dem vorgeschriebenen Limit
blieb und ausscheiden mute. Sein Trainer protestierte gegen
diese Entscheidung und machte geltend, da der fr Slutzkovski
unentbehrliche Handelsminister von den EWG-Verhandlungen
in Brssel nicht rechtzeitig zurckgekehrt sei. Der Protest ist
derzeit noch in Schwebe.
Wir glauben an Slutzi, uerte ein prominentes Mitglied
des Auswahlkomitees. Aber wir wollen uns keine wie immer
geartete Protektion vorwerfen lassen und mssen uns daher an
die reine Leistung halten. Wer die Ausscheidungskmpfe be-
steht, fhrt nach Bangkok. Wer sie nicht besteht, fhrt nicht.
Demgegenber gelang es beispielsweise dem in bester Kon-
dition antretenden Meisterfunktionr Benzion Schultheiss, sich
die Fahrkarte nach Bangkok bereits in den Vorkmpfen zu sichern.
Er legte allerdings mit leichtem Rckenwind die Strecke vom
Sitzungssaal des Auswahlkomitees zum Unterrichtsministerium
in der hervorragenden Zeit von 23:52.2 zurck und erzielte
nicht weniger als 11 (!) Empfehlungsbriefe in einer einzigen
Nacht. Zweifellos ein Ergebnis, das sich berall in der Welt
sehen lassen kann und das Schultheiss die grten Chancen gibt,
sich in die Spitzenklasse der Begleitfunktionre vorzukmpfen.
Nach zuverlssigen Berichten aus den verschiedenen Trainings-
lagern werden seine Leistungen nur von den japanischen Funk-
tionren bertroffen, deren langjhriger Meister Taku Muchiko
im zweiten Vorlauf auf 138 Telephongesprche pro Stunde kam.
Auch die indonesischen Funktionre drfen nicht unter-
schtzt werden, informierte uns ein guter Kenner der dortigen
Verhltnisse. Sie leisten vor allem als Intriganten ganz Erstaun-
liches...
Der Ausscheidungskampf zwischen den beiden israelischen
Altmeistern Birnbaum und Dr. Bar-Honig verlief besonders
dramatisch. Bar-Honig zeigte sich in hervorragender Verfas-
sung, bestand den Druckausbungs-Test mhelos mit 52 Kubik-
metern im Sitzen und bewies auch auf dem Gebiet der persn-
lichen Verbindungen eine berdurchschnittliche Leistungs-

111
fhigkeit. Im Finish verzeichnete jedoch sein Rivale Birnbaum
eine Interventionsserie durch acht amtierende Kabinettsmit-
glieder und arbeitete einen Vorsprung von drei Empfehlungs-
briefen heraus. Durch den berraschenden Nachweis, da er
heimlich Massage studiert hatte, vermochte Bar-Honig im letzten
Augenblick gleichzuziehen, und da auch der zustzlich ange-
setzte Ellenbogen-Test keine Entscheidung brachte, beschlo das
Auswahlkomitee, beide Anwrter nach Bangkok zu entsenden.
Unser Funktionrs-Team wird den Staat Israel ohne Zweifel
wrdig vertreten. Die Mitglieder in ihren schmucken blauen
Uniformen werden nach ihrem Eintritt in das Stadion in Vierer-
reihen ber die Laufbahn defilieren, an der Spitze der Elf-Briefe-
Rekordmann Schultheiss als Flaggentrger. Den Abschlu bildet
unser aktiver Teilnehmer.
Keine Gnade fr Glubiger

Liebe deinen Nchsten wie dich selbst, lautet ein


altes hebrisches Gebot, das, wie man wei, allge-
mein respektiert und befolgt wird. Seine etwas
vulgrere Fassung ist das Sprichwort: Was du
nicht willst, da man dir tu, das fg auch keinem
andern zu. Jedenfalls empfiehlt es sich, seinem
Nchsten kein Geld zu borgen. Denn wer mchte
selbst in die Lage geraten, seinem Nchsten Geld
schuldig zu sein?

7. September. Traf heute zufllig Manfred Toscanini (keine Ver-


wandtschaft) auf der Strae. Er war sehr aufgeregt. Wie aus
seinem von Flchen unterbrochenen Bericht hervorging, hatte
er sich von Jascha Obernik 100 Pfund ausborgen wollen, und
dieser Lump, dieser Strauchdieb, dieses elende Stinktier hatte
sich nicht entbldet, ihm zu antworten: Ich habe sie, aber ich
borge sie dir nicht! Der kann lange warten, bis Manfred wieder
mit ihm spricht!
Ob wir denn wirklich schon so tief gesunken wren, fragte
mich Manfred. Ob es denn auf dieser Welt keinen Funken An-
stndigkeit mehr gbe, keine Freundschaft, keine Hilfsbereit-
schaft?
Aber Manfred! beruhigte ich ihn. Wozu die Aufregung?
Und ich hndigte ihm lssig eine Hundertpfundnote ein.
Endlich ein Mensch, stammelte Manfred und kmpfte tapfer
seine Trnen nieder. In sptestens zwei Wochen hast du das
Geld zurck, verla dich darauf!
Wenn ich meine Frau richtig verstanden habe, bin ich ein
Idiot. Aber ich wollte Manfred Toscanini den Glauben an die
Menschheit wiedergeben. Und ich will ihn nicht zum Feind
haben.

18. September. Als ich das Caf Rio verlie, stie ich in Manfred
Toscanini hinein. Wir setzten unseren Weg gemeinsam fort. Ich
vermied es sorgfltig, das Darlehen zu erwhnen, doch schien
gerade diese Sorgfalt Manfreds Zorn zu erregen. Nur keine

113
Angst, zischte er. Ich habe dir versprochen, da du dein Geld
in vierzehn Tagen zurckbekommst, und diese vierzehn Tage
sind noch nicht um. Was willst du eigentlich? Ich verteidigte
mich mit dem Hinweis darauf, da ich kein Wort von Geld
gesprochen htte. Manfred meinte, ich sei nicht besser als alle
anderen, und lie mich stehen.

3. Oktober. Peinlicher Zwischenfall auf der Kaffeehausterrasse.


Manfred Toscanini sa mit Jascha Obernik an einem Tisch und
fixierte mich. Er war sichtlich verrgert. Ich sah mglichst un-
verfnglich vor mich hin, aber das machte es nur noch schlimmer.
Er stand auf, trat drohend an mich heran und sagte so laut, da
man es noch drin im Kaffeehaus hren konnte: Also gut, ich
bin mit ein paar Tagen in Verzug. Na wenn schon. Deshalb wird
die Welt nicht einstrzen. Und deshalb brauchst du mich nicht
so vorwurfsvoll anzuschauen! Ich htte nichts dergleichen
getan, replizierte ich. Daraufhin nannte mich Manfred einen
Lgner und noch einiges mehr, was sich der Wiedergabe ent-
zieht. Ich frchte, da es Komplikationen geben wird.
Meine Frau sagte, was Frauen in solchen Fllen immer sagen:
Hab ichs dir nicht gleich gesagt? sagte sie.

11. Oktober. Wie ich hre, erzhlt Manfred Toscanini berall


herum, da ich ein hoffnungsloser Morphinist sei und da
auerdem zwei bekannte weibliche Rechtsanwlte Vaterschafts-
klagen gegen mich eingebracht htten. Natrlich ist an alledem
kein wahres Wort. Morphium! Ich rauche nicht einmal.
Meine Frau ist trotzdem der Meinung, da ich um meiner
inneren Ruhe willen auf die 100 Pfund verzichten soll.

14. Oktober. Sah Toscanini heute vor einem Kino Schlange


stehen. Bei meinem Anblick wurden seine Augen starr, seine
Stirnadern schwollen an, und seine Nackenmuskeln ver-
krampften sich. Ich sprach ihn an: Manfred, sagte ich gut-
mtig, ich mchte dir einen Vorschlag machen. Vergessen
wir die Geschichte mit dem Geld. Das Ganze war ohnehin
nur eine Lappalie. Du bist mir nichts mehr schuldig. In
Ordnung? Toscanini zitterte vor Wut. Gar nichts ist in
Ordnung! fauchte er. Ich pfeife auf deine Grozgigkeit.
Hltst du mich vielleicht fr einen Schnorrer? Er war auer
Rand und Band. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ober-
nik, mit dem er das Kino besuchte, mute ihn zurckhalten,

114
sonst htte er sich auf mich geworfen. Ich machte rasch kehrt
und lief nach Hause.
Meine Frau sagte: Hab ichs dir nicht gleich gesagt?

29. Oktober. Immer wieder werde ich gefragt, ob es wahr ist,


da ich mich freiwillig zum Viet-Kong gemeldet habe und
wegen allgemeiner Krperschwche zurckgewiesen wurde.
Ich wei natrlich, wer hinter diesen Gerchten steckt. Es
drfte derselbe sein, der mir in der Nacht mit faustgroen Stei-
nen die Fenster einwirft. Als ich gestern das Caf Rio betrat,
sprang er auf und brllte: Darf denn heute schon jeder Vaga-
bund hier hereinkommen? Ist das ein Kaffeehaus oder ein Asyl
fr Obdachlose? Um Komplikationen zu vermeiden, drngte
mich der Caftier zur Tre hinaus.
Meine Frau hatte es gleich gesagt.

8. November. Heute kam mein Lieblingsvetter Aladar zu mir


und bat mich, ihm 10 Pfund zu leihen. Ich habe sie, aber ich
borge sie dir nicht, antwortete ich. Aladar ist mein Lieblings-
vetter, und ich mchte unsere Freundschaft nicht zerstren. Ich
habe ohnehin schon genug Schwierigkeiten. Das Innenministe-
rium hat meinen Pa eingezogen. Wir erwarten Nachricht aus
Nordvietnam, lautete die kryptische Antwort auf meine Frage,
wann ich den Pa wiederbekme. Soviel zu meinem Plan, ins
Ausland zu fliehen.
Meine Frau deren Warnungen ich in den Wind geschlagen
hatte, als es noch Zeit war lt mich nicht mehr allein ausgehen.
In ihrer Begleitung suchte ich einen Psychiater auf. Toscanini
hat Sie, weil Sie ihm Schuldgefhle verursachen, erklrte er
mir. Er leidet Ihnen gegenber an einem verschobenen Vater-
komplex. Sie knnten ihm zum Abreagieren verhelfen, wenn Sie
sich fr einen Vatermord zur Verfgung stellen. Aber das ist
wohl zu viel verlangt? Ich bejahte. Dann gbe es, vielleicht,
noch eine andere Mglichkeit. Toscaninis mrderischer Ha
wird Sie so lange verfolgen, als er Ihnen das Geld nicht zurck-
zahlen kann. Vielleicht sollten Sie ihn durch eine anonyme Zu-
wendung dazu in die Lage setzen. Ich dankte dem Seelenfor-
scher berschwenglich, sauste zur Bank, hob 500 Pfund ab und
warf sie durch den Briefschlitz in Toscaninis Wohnung.

11. November. Auf der Dizengoff-Strae kam mir heute Tosca-


nini entgegen, spuckte aus und ging weiter. Ich erstattete dem

115
Psychiater Bericht. Probieren geht ber studieren, sagte er.
Jetzt wissen wir wenigstens, da es auf diese Weise nicht geht.
Eine verlliche Quelle informiert mich, da Manfred eine
groe Stoffpuppe gekauft hat, die mir hnlich sieht. Jeden Abend
vor dem Schlafengehn, manchmal auch whrend des Tages,
sticht er ihr feine Nadeln in die Herzgegend. Die Polizei weigert
sich, einzuschreiten.

20. November. Unangenehmes Gefhl im Rcken, wie von kleinen


Nadelstichen. In der Nacht wachte ich schweigebadet auf und
begann zu beten. Ich habe gefehlt, o Herr! rief ich aus. Ich
habe einem Nchsten in Israel Geld geliehen! Werde ich die Fol-
gen meines Aberwitzes bis ans Lebensende tragen mssen? Gibt
es keinen Ausweg?
Von oben hrte ich eine tiefe, vterliche Stimme: Nein!

1. Dezember. Nadelstiche in den Hften und zwischen den Rip-


pen, Vaterkomplexe berall. Auf einen Stock und auf meine Frau
gesttzt, suchte ich einen praktischen Arzt auf. Unterwegs sahen
wir auf der gegenberliegenden Straenseite Obernik. Ephraim,
flsterte meine Frau, schau ihn dir einmal ganz genau an! Das
rundliche Gesicht... die leuchtende Glatze... eine ideale Vater-
figur!
Sollte es noch Hoffnung fr mich geben?

3. Dezember. Begegnete Toscanini vor dem Kaffeehaus und hielt


ihn an. Danke fr das Geld, sagte ich rasch, bevor er mich nie-
derschlagen konnte. Obernik hat deine Schuld auf Heller und
Pfennig an mich zurckgezahlt. Er hat mich zwar gebeten, dir
nichts davon zu sagen, aber du sollst wissen, was fr einen guten
Freund du an ihm hast. Von jetzt an schuldest du also die hundert
Pfund nicht mir, sondern Obernik. Manfreds Gesicht entspannte
sich. Endlich ein Mensch, stammelte er und kmpfte tapfer seine
Trnen nieder. In sptestens zwei Wochen hat er das Geld zurck.

22. Januar. Als wir heute Arm in Arm durch die Dizengoff-Strae
gingen, sagte mir Manfred: Obernik, diese erbrmliche Kreatur,
sieht mich in der letzten Zeit so unverschmt an, da ich ihm dem-
nchst ein paar Ohrfeigen herunterhauen werde. Gut, ich schulde
ihm Geld. Aber das gibt ihm noch nicht das Recht, mich wie einen
Schnorrer zu behandeln. Er wird sich wundern, verla dich darauf!
Ich verlasse mich darauf.

116
Das siebente Jahr

Ich glaube schon erwhnt zu haben, da wir ein


sehr traditionsbewutes Volk sind. Genauer ge-
sagt: unsere Traditionen halten uns unbarmherzig
umklammert. Man braucht nur an jenes Gebot aus
dem Buch der Bcher zu denken, welches uns auf-
erlegt, in jedem siebenten Jahr unser Land nicht
zu bebauen. Was macht man da? Wenn wir das
Land brachliegen lassen, mssen wir verhungern.
Wenn wir es bebauen, rufen wir den Zorn des All-
mchtigen auf uns herab. Ein Kompromi tut not.
Um Gottes willen, ein Kompromi!

Die himmlischen Regionen lagen in strahlendem Licht. Allber-


all herrschte majesttische Ruhe. Gott der Herr sa auf Seinem
Wolkenthron und lchelte zufrieden vor Sich hin, wie immer,
wenn alles nach Seinen Wnschen ging.
Einer der Himmelsbeamten, ein nervser kleiner Kerl mit
schtterem Spitzbart, bat um Gehr.
Allmchtiger Weltenherr, hub er an. Verzeih die St-
rung...
Was gibts?
Es handelt sich schon wieder um Israel.
Ich wei. Gott machte eine resignierte Handbewegung.
Die unreinen Fleischkonserven aus Argentinien.
Wenn es nur das wre! Aber sie bearbeiten das Land. Auch
auf den Kibbuzim der religisen Parteien.
Sollen nur arbeiten. Es wird ihnen nicht schaden.
Herr der Welt, sagte der Beamte und hob beschwrend die
Hnde. Heuer ist ein Schmitta-Jahr. Ein siebentes Jahr, Herr,
ein Jahr, in dem alle Landarbeit zu ruhen hat, auf da Dein Wille
geschehe.
Der Herr der Welt schlo nachdenklich die Augen. Dann
widerhallte Seine Stimme durch den Weltenraum:
Ich verstehe. Sie bearbeiten das Land, das Ich ihnen gegeben
habe, auch im Jahr der Sabbatruhe. Sie miachten Meine Ge-
bote. Das sieht ihnen hnlich. Wo ist Bunzl?
Geschftiges Durcheinander entstand. Himmlische Boten flo-
gen in alle Richtungen, um Ausschau zu halten nach dem Ver-

117
treter der Orthodoxen Partei Israels im Himmel, Isidor Bunzl
(frher Pressburg). Blitze durchzuckten das All.
Bunzl kam angerannt. Sein Gebetmantel flatterte hinter ihm
her.
Warum bebaut ihr euer Land in einem Schmitta-Jahr? don-
nerte der Herr. Antworte!
Isidor Bunzl senkte demtig den Kopf:
Adonai Zebaoth, wir bebauen unser Land nicht. Wir besitzen
gar kein Land in Israel.
Sprich keinen Unsinn! Was ist los mit eurem Land?
Es wurde vom Rabbinat an einen Araber verkauft. Alles
Land. In ganz Israel befindet sich derzeit kein Land in jdischen
Hnden. Deshalb knnen wir unser Land auch nicht bebauen.
Das Antlitz des Herrn verfinsterte sich:
An einen Araber verkauft? Ganz Israel? Unerhrt! Wo ist
Mein Rechtsberater?
Im nchsten Augenblick schwebte Dr. Siegbert Krotoschiner
herbei:
Herr der Heerscharen, begann er seine Erklrung, wir
stehen einer rechtlich vollkommen klaren Situation gegenber.
Das Ministerium fr religise Angelegenheiten hat auf Grund
einer Vollmacht, die ihm vom Landwirtschaftsministerium er-
teilt wurde, das gesamte israelische Ackerland fr die Dauer
eines Jahres an einen Araber verkauft. Die Vertragsunterzeich-
nung erfolgte in Jerusalem, im Beisein von Vertretern der Re-
gierung und des Rabbinats.
Und warum verkauft man das Land ausgerechnet in einem
Schmitta-Jahr? Die Stirne des Herrn legte sich in tiefe Furchen.
Und ausgerechnet fr die Dauer eines Jahres? Alles Land? An
einen Araber? Sehr merkwrdig.
Die Beteiligten haben den Vertrag ordnungsgem gezeich-
net und gesiegelt und in einem Banksafe deponiert, erluterte
Dr. Krotoschiner. Er ist juristisch unanfechtbar.
Wurde das Schofar geblasen? fragte Gott der Herr.
Selbstverstndlich, beruhigte Ihn Isidor Bunzl. Selbstver-
stndlich.
Gott der Herr war noch nicht berzeugt. Sturmwolken zogen
auf, einige Engel begannen zu zittern.
Mir gefllt das alles nicht, sprach der Herr. Nach Meinem
Gebot soll das Land in jedem siebenten Jahre ruhen, und es
ruhe auch der, welcher es bebaut. Nie habe Ich gesagt, da dieses
Gebot auf verkauftes Land nicht anzuwenden ist.

118
Verzeih, Allmchtiger! Isidor Bunzl warf sich dem Herrn
zu Fen. Schlage mich, wenn Du willst, mit starker Hand
aber in dieser Sache kenne ich mich besser aus als Du. Es steht
ausdrcklich geschrieben
Was steht ausdrcklich geschrieben? unterbrach ihn zr-
nend der Herr. Ich mchte das Protokoll sehen!
Moses, Moses! schallte es durch den Raum.
Der Gerufene erschien unter Sphrenklngen, die fnf Proto-
kollbcher unterm Arm. Freundlich nickte der Herr ihm zu.
Lies Mir die diesbezgliche Stelle vor. Mein Kind!
Schon nach kurzem Blttern hatte Moses die Stelle gefunden:
In meinem dritten Buch, Kapitel 25, Absatz 2, 3 und 4, heit
es wie folgt. Rede mit den Kindern Israels, und sprich zu ihnen:
Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, so soll
das Land dem Herrn die Feier halten.
Da habt ihrs! Gott blickte triumphierend in die Runde. Ich
wute es ja.
Sechs Jahre sollt ihr eure Felder besen, fuhr Moses fort,
und eure Weinberge beschneiden und die Frchte einsammeln.
Im siebenten Jahre aber soll das Land seine groe Feier dem
Herrn feiern, und sollt eure Felder nicht besen noch eure Wein-
berge beschneiden.
Moses klappte das Protokollbuch zu. Eine Pause entstand.
Dann nahm Bunzl das Wort:
Du siehst, Knig der Knige es heit ausdrcklich: eure
Felder. Somit bezieht sich Dein Gebot nicht auf fremden Land-
besitz.
Von Landbesitz ist nirgends die Rede, widersprach Gott,
aber es klang ein wenig unsicher.
Herr der Welt, das Rabbinats-Gremium der Orthodoxen
Partei hat diese Interpretation des Textes auf einer eigens ein-
berufenen Tagung feierlich gebilligt.
Wurde das Schofar geblasen?
Selbstverstndlich.
Hm...
Der Heilige, gepriesen sei Sein Name, schien sich allmh-
lich mit dem Arrangement abzufinden. Ein erleichtertes Auf-
atmen ging durch Sein Gefolge. Aber da verfinsterte sich
Gottes Antlitz von neuem, und Seine Stimme erhob sich
grollend:
Ihr knnt sagen, was ihr wollt da stimmt etwas nicht. Ir-
gendwo steckt ein Betrug. Wenn Ich nur wte, wo...

119
Herr, flsterte Isidor Bunzl mit leisem Vorwurf. Herr, Du
willst doch nicht sagen
Ruhe! Ich bitte mir Ruhe aus! Also wie war das? Das Mini-
sterium fr religise Angelegenheiten hat eine Vollmacht vom
Landwirtschaftsministerium bekommen?
Ja, o Herr. Eine schriftliche Vollmacht.
Wie darf ein Ministerium sich die Macht anmaen. Mein
Land zu verkaufen? An einen Araber? Fr wieviel haben sie es
verkauft?
Fr fnfzig Pfund, antwortete Dr. Krotoschiner. Und
selbst diese Summe hat man dem arabischen Kufer rcker-
stattet.
Die Geschichte wird immer undurchsichtiger, zrnte der
Ewige. Was soll das alles? Ich habe dieses Land, in welchem
Milch und Honig fliet, den Nachkommen Abrahams zu eigen
gegeben fr alle Zeiten und dann kommt irgendein Landwirt-
schaftsminister und verschleudert es fr fnfzig Pfund!
Wir haben das Schofar geblasen, versuchte Isidor Bunzl zu
beschwichtigen.
Auf Gott den Herrn machte das keinen Eindruck mehr. Gott
der Herr erhob sich. Gewaltig drhnte Seine Stimme durch das
All, gewaltige Donnerschlge begleiteten sie.
Ich lege Berufung ein! sprach der Herr. Und wenn ntig,
bringe ich den Fall vor das Jngste Gericht!
Damit wandte Er sich ab. Aber einige Engel wollen gesehen
haben, da Er in Seinen Bart schmunzelte.

120
Seid nett zu Touristen!

Zu den eintrglichsten Geschftszweigen der Welt


gehrt der Tourismus. Das gilt besonders fr ein
Land, in dem Moses, Jesus und Mohammed nur
durch eine verhltnismig geringfgige Zeit-
differenz daran gehindert wurden, sich zu einem
Symposion ber das Thema Der Monotheismus
und sein Einflu auf den Fremdenverkehr zusam-
menzusetzen. Dementsprechend unterhlt Israel
ein eigenes Ministerium zur Frderung des Frem-
denverkehrs, das der einheimischen Bevlkerung
immer wieder erklrt, wie wichtig die zuvorkom-
mende Behandlung auslndischer Besucher fr die
Wirtschaft des Landes ist und warum man dafr
auch eine kleine Unbequemlichkeit in Kauf neh-
men mu. Um die Wahrheit zu sagen: mit der Hf-
lichkeit ist es in unserem Lande noch nicht weit
her. Aber mit der Unbequemlichkeit klappt es
hervorragend.

Die Feuchtigkeit. Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft. Die Hitze


knnte man ja noch ertragen aber die Feuchtigkeit! Sie ist es,
die den Menschen in die nrdlichen Gegenden des Landes treibt.
Unter der Woche kriecht er schwitzend und keuchend durch die
engen, dampfenden, brodelnden Straen Tel Avivs, und der
einzige Gedanke, der ihn am Leben hlt, ist die Hoffnung auf ein
khlendes Wochenende am Ufer des Tiberias-Sees.
Wir hatten ein Doppelzimmer im grten Hotel von Tiberias
reserviert und konnten das Wochenende kaum erwarten. Hoff-
nungsfroh kamen wir an, und schon der Anblick des Hotels,
seine Exklusivitt, seine moderne Ausstattung mit allem Kom-
fort einschlielich Klimaanlage, verursachte uns ein Hoch- und
Wohlgefhl sondergleichen.
Die Khle, fr die der Ort berhmt ist, schlug uns bereits aus
dem Verhalten des Empfangschefs entgegen.
Ich bedaure aufrichtig, bedauerte er im Namen der Direk-
tion. Einige Teilnehmer der soeben beendeten internationalen
Weinhndler-Tagung haben sich bei uns angesagt, weshalb wir
Ihnen, sehr geehrter Herr und sehr geehrte gndige Frau, leider
kein Zimmer zur Verfgung stellen knnen, oder hchstens im
alten Flgel des Hauses. Und selbst dieses erbrmliche Loch
mten Sie morgen mittag freiwillig rumen, weil Sie sonst mit

121
Brachialgewalt entfernt werden. Ich zweifle nicht, Monsieur,
da Sie Verstndnis fr unsere Schwierigkeiten haben.
Ich habe dieses Verstndnis nicht, erwiderte ich. Sondern
ich protestiere. Mein Geld ist so viel wert wie das Geld eines
andern.
Wer spricht von Geld! Es ist unsere patriotische Pflicht, aus-
lndischen Touristen den Aufenthalt so angenehm wie mglich
zu machen. Auerdem geben sie hhere Trinkgelder. Ver-
schwinden Sie, mein Herr und meine Dame. Mglichst rasch,
wenn ich bitten darf.
Wir suchten in grter Hast den alten Flgel des Hauses auf,
um den Empfangschef nicht lnger zu reizen. Ein Empfangschef
ist schlielich kein hergelaufener Niemand, sondern ein Emp-
fangschef.
Unser kleines Zimmer war ein wenig dunkel und stickig, aber
gut genug fr Einheimische. Wir packten aus, schlpften in
unsere Badeanzge und hpften frhlichen Fues zum See
hinunter.
Ein Manager vertrat uns den Weg:
Was fllt Ihnen ein, in einem solchen Aufzug hier herumzu-
laufen? Jeden Augenblick knnen die Touristen kommen.
Marsch zurck ins Loch!
Als wir vor unserem Zimmer ankamen, stand ein Posten da-
vor. Auer den Weinhndlern hatten sich auch die Teilnehmer
eines Tontaubenschieens aus Malta angesagt. Unser Gepck
war bereits in einen Kellerraum geschafft worden, der sich in
nchster Nhe der Heizungskessel befand. Er grenzte geradezu
an sie.
Sie knnen bis elf Uhr bleiben, sagte der Posten, der im
Grunde seines Herzens ein guter Kerl war. Aber nehmen Sie
kein warmes Wasser. Die Touristen brauchen es.
Um diese Zeit wagten wir uns nur noch schleichend fortzube-
wegen, meistens entlang der Wnde und auf Zehenspitzen.
Ein tiefes Minderwertigkeitsgefhl hatte von uns Besitz er-
griffen.
Glaubst du, da wir ffentlich ausgepeitscht werden, wenn
wir hierbleiben? flsterte meine Frau, die tapfere Gefhrtin
meines Schicksals.
Ich beruhigte sie. Solange wir uns den Anordnungen der h-
heren Organe nicht widersetzen, drohte uns keine unmittelbare
physische Gefahr.
Einmal sahen wir einen Direktionsgehilfen durch das israe-

122
lische Elendsviertel des Hotels patrouillieren, eine neun-
schwnzige Katze in der Hand. Wir wichen ihm aus.
Nach dem Mittagessen htten wir gerne geschlafen, wurden
aber durch das Getse einer motorisierten Kolonne aufge-
schreckt. Durch einen Mauerspalt sphten wir hinaus: etwa ein
Dutzend gerumiger Luxusautobusse war angekommen, und
jedem entstieg eine komplette Tagung.
Ich rief zur Sicherheit in der Reception an:
Gibt es unterhalb des Kesselraums noch Platz?
Ausnahmsweise.
Unser neues Verlies war gar nicht so bel, nur die Fledermuse
strten. Das Essen wurde uns durch eine Luke hereingeschoben.
Um fr alle Eventualitten gerstet zu sein, blieben wir in den
Kleidern.
Tatschlich kamen kurz vor Mitternacht noch einige Touri-
sten-Autobusse. Abermals wies man uns einen neuen Aufent-
halt zu, diesmal ein kleines Flo auf dem See drauen: Wir hatten
Glck, denn es war beinahe neu. Weniger glckliche unter den
Eingeborenen muten sich mit ein paar losen Planken zufrieden-
geben. Drei ertranken im Lauf der Nacht. Gott sei Dank, da die
Touristen nichts bemerkt haben.

123
Sequenz und Konsequenz

Die israelische Filmindustrie entwickelt sich mit


wahren Zwergenschritten. Es ist allerdings sehr
schwer, in einem so kleinen Land Filme zu produ-
zieren. Neuesten Berechnungen zufolge mu jeder
Bewohner des Landes jeden Film mindestens drei-
mal sehen, damit die Kosten hereinkommen. Und
manche Bewohner des Landes mssen sogar mit-
wirken, wenn sie als Zuschauer bei Auenaufnah-
men gefangengenommen werden.

Der Morgen dmmerte, als ich durch ein sonderbares Gerusch


geweckt wurde. Ich sprang aus dem Bett. Auf dem Balkon stand
im Pyjama mein Wohnungsnachbar aus dem oberen Stockwerk,
Morris Kalaniot, und hmmerte verzweifelt gegen die Glastre.
Hilfe, sthnte er. Verstecken sie mich!
Was ist los, Herr Kalaniot? fragte ich, whrend ich ihn
einlie.
Ich bin in einer Sequenz...
Der Mann zitterte am ganzen Krper, zog sein linkes Bein
nach und bot berhaupt einen jammervollen Anblick. Wenn
seine Augen sich nicht gerade in konvulsivischen Zuckungen
schlossen, waren sie angstvoll geweitet und starrten zur Decke.
Dort oben lag seine Wohnung, die er fluchtartig verlassen hatte,
um zu mir herunterzuklettern.
Ich drehte den Wasserhahn auf, lie das Wasser einige Minu-
ten laufen und gab meinem verstrten Besucher ein Glas zu
trinken. Unter der Einwirkung der lauwarmen Flssigkeit be-
ruhigte er sich allmhlich. Dann begann er seine vermeintlich
aufregende Geschichte zu erzhlen. In Wahrheit ist es die Ge-
schichte einer ganz normalen Filmkarriere.
An jenem schicksalsschweren Abend (so begann er) war ich
etwas lnger im Bro geblieben, weil ich auf Wunsch meines
sehr strengen Chefs ein paar Rechnungen neu ausschreiben
mute. Gegen neun Uhr machte ich mich zu Fu auf den Heim-
weg. Vor einem nahegelegenen Eckhaus sah ich eine groe Men-
schenansammlung, Scheinwerfer strahlten auf, Krane mit Mikro-

124
phonen schwenkten hin und her, aufgeregte Rufe wurden von
vlliger Stille abgelst mit einem Wort: es wurde ein israelischer
Film gedreht. Die Kamera war auf den Hauseingang gerichtet,
aber weiter konnte man nichts sehen. Zwei massige, halbnackte
Gestalten, die wie japanische Ringkmpfer aussahen, stieen je-
den Herankommenden erbarmungslos zurck. Der junge Mann
mit dem schreiend bunten Hemd, der neben der Kamera stand,
mute der Regisseur sein, denn er schrie am lautesten von allen.
Dann erkannte ich den berhmten Schauspieler Schlomo
Emmanueli. Er sa in einem Klappsessel mit Armlehne und
schien sich um nichts zu kmmern.
Pltzlich lie der Regisseur seine unter der Schirmkappe
flackernden Blicke in die Runde schweifen und brllte:
Verdammt, ich brauche noch irgendein Idiotengesicht fr
den Hintergrund!
Wenn ein Regisseur brllt, beginnen seine smtlichen Helfer
sofort durcheinander zu rennen. Sonst tun sie nicht viel, aber im
Durcheinanderrennen sind sie gro. Einer von ihnen rannte jetzt
auf die Zuschauermenge los:
Wer von euch will in dieser Sequenz mitwirken, Leute?
Die Menge drngte mit wildem Aufschrei vorwrts. Ich wurde
gegen meinen Willen mitgerissen. Und da war das Auge des
Assistenten auch schon auf mich gefallen:
Heda, Sie! Sie sind der Richtige! Es dauert nur ein paar
Minuten. Kommen Sie!
Ich habe noch nie in einem Film mitgewirkt und dachte immer,
das sei so hnlich wie im Theater: der Film wird auf einen Sitz
heruntergedreht, in zwei oder drei Stunden, und Schlu. Wie
kompliziert es in Wirklichkeit dabei zugeht, ahnte ich nicht. Aber,
so sagte ich mir, es kann nicht schaden, in einem Film mitzu-
wirken. Meiner Frau erzhle ich nichts davon und eines Tags
sieht sie mich pltzlich auf der Leinwand. Schlecht? Zur Sicher-
heit fragte ich den Assistenten, ob ich mein ueres irgendwie
verndern msse, vielleicht eine neue Frisur, einen Schnurrbart
oder so. Aber da schrie der Regisseur schon auf mich ein, ich
sollte geflligst den Mund halten und stehenbleiben, wo man
mich hinstellt. Im brigen war meine Rolle ganz einfach: ich
hatte wie zufllig im Haustor zu stehen, whrend Schlomo Em-
manueli herausgestrzt kam und Taxi! Taxi! rief.
Natrlich beneideten mich alle, da ich die Rolle bekommen
hatte, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Jeder Mensch mu
seine Chance selbst wahrnehmen, nicht wahr. Die beiden Ring-

125
kmpfer, die aus der Nhe nicht wie Japaner aussahen, sondern
mehr wie Gorillas, hoben mich auf und setzten mich in einen
Kreidekreis unter dem Haustor ab. Genau innerhalb dieses Krei-
ses mute ich stehenbleiben, so verlangte es das Drehbuch, denn
Schlomo Emmanueli mute mir zugleich mit seinem Taxi,
Taxi! Ruf auf die Fe steigen. Es tat ein bichen weh, aber
wer wrde der Kunst nicht ein kleines Opfer bringen. Nach fnf
schmerzhaften Proben war es so weit. Der Regisseur rief Fertig,
seine Assistenten riefen durcheinander Ruhe, Achtung,
Schieen oder Klappe, dicht vor meiner Nase wurde ein
Holzbrett auf eine schwarze Tafel geklappt und die Aufnahme
begann. Mittendrin brllte der Regisseur pltzlich Schnitt und
winkte einem seiner Assistenten:
Sagen Sie diesem Idioten damit meinte er mich er soll
nicht immer in die Kamera glotzen!
Es hat mich, bitteschn, niemand darauf aufmerksam ge-
macht, da das verboten ist, bemerkte ich zaghaft.
Der Assistent deutete mit dem Daumen nach mir:
Soll ich ihn hinauswerfen, Boss?
Ist ja egal, fauchte der Regisseur. Der Nchste wre genau
so ein Idiot. Es gibt ja nur Idioten.
Dann wurde die Aufnahme nochmals von Anfang an gedreht,
und dann wollte ich nach Hause gehen, weil mir hei war. Das
ganze Leben sehnt man sich danach, einmal im Licht der Jupiter-
lampen zu stehen, und wenn mans dann endlich erreicht hat,
schwitzt man den Kragen durch. Leider war es mit dem Weg-
gehen Essig. Jede Aufnahme wird, was ich nicht wute, minde-
stens zwanzigmal gedreht, bevor der Regisseur zufrieden ist und
sie in den Kasten schickt, wie wir Filmleute sagen. Nun, das
wre noch nicht das Schlimmste gewesen. Aber da gab es einen
jungen Mann mit Brille und Schreibblock, das sogenannte
Scriptgirl, dessen Aufgabe darin besteht, auf alle uerlich-
keiten scharf aufzupassen, damit sie sich whrend der Aufnahme
nicht verndern. Infolgedessen durfte ich nicht einmal von
einem Fu auf den anderen steigen. Schlomo Emmanueli trat
mir neunmal aufs linke Hhnerauge, und jedesmal rief ich :Oj!.
Ja, beim Film herrscht eiserne Disziplin. Zum Beispiel versuchte
ein Mann whrend der Aufnahme verzweifelt, in das Haus zu ge-
langen fragen Sie nicht, was er da vom Regisseur zu hren be-
kam! Zur Hlle mit Ihnen, Sie hinkender Krppel! Sie sehen
doch, da wir hier drehen! Der Mann behauptete, er wohne
hier und mchte zu Bett gehen. Nehmen Sie sich ein Hotel-

126
zimmer! brllte der Regisseur. Und stren Sie uns nicht!
Gegen halb drei Uhr frh wurde ich entlassen. Offenbar war ich
nicht schlecht, denn einer der Assistenten notierte meine Adresse
und lie mich berdies von einem Stck Kse abbeien, das er
auf der Treppe gefunden hatte. Meine Frau, die mich ein wenig
nervs empfing, meinte allerdings, ich htte mich neppen lassen,
und fr eine Filmrolle bekme man mindestens tausend Dollar.
Ich gab ihr zu bedenken, da ich ja schlielich noch kein Star
wre, und wer wei, wann eine solche Gelegenheit wieder-
kme...
Sie kam gleich am Morgen. Schon um sechs filmte ich wieder.
Um fnf hatte es an meiner Wohnungstr gelutet, eines dieser
langen Klingelsignale, denen man anmerkt, da der Finger am
Druckknopf bleibt. Als meine Frau endlich ffnete, drangen die
beiden Ringkmpfer wortlos ins Schlfzimmer ein, der eine
packte mich, der andere raffte meine Kleidungsstcke zusam-
men, und gleich darauf saen wir in einem wartenden Taxi. Der
Regisseur braucht Sie noch einmal, sagten sie mir. Ich zog mich
whrend der Fahrt an, was nicht ganz leicht war, denn wir fuhren
in einem Hllentempo. Sie wissen ja, da beim Film jede Minute
Geld kostet. Eine einstndige Drehzeit verschlingt mindestens
20000 Pfund, das macht pro Minute 333.33 Pfund und pro
Sekunde 5.55. Wenn der Regisseur whrend der Aufnahme zwei-
mal niest, so ist das ein Verlust, der ungefhr meinem halben
Monatseinkommen entspricht.
Beim Aussteigen sagte ich dem Regisseur sofort, da ich in
Eile sei und nicht zu spt ins Bro kommen drfe.
Was heit das: Sie sind in Eile? brllte er mich an. Sie sind
in einer Sequenz, und sonst interessiert mich nichts.
Damals habe ich das Wort zum erstenmal gehrt. Sequenz! Es
bedeutet, da man von dem Augenblick an, da man in einer Auf-
nahme drin ist, immer in dieser Aufnahme drin bleiben mu,
sonst ist die Sequenz unterbrochen, und der Film kann nicht ge-
schnitten werden. Sie verstehen? Meine Szene, zum Beispiel. Ich
stehe im Hintergrund, wenn Schlomo Emmanueli nach einem
Taxi ruft und mir dabei auf die Hhneraugen steigt. Und ich
mu immer wieder im Hintergrund stehen, sonst wrden die
Zuschauer stutzig werden und sagen: He, was ist los? Wo ist
Morris Kalaniot? Vor einem Augenblick war er noch da, und
jetzt ist er weg! Deshalb wurde ich wieder zu den Aufnahmen
geholt. Der Regisseur wollte Schlomo Emmanueli in einer neuen
Einstellung zeigen, von ganz nah, mit mir im Hintergrund, wie

127
immer. Die Szene wurde achtmal gedreht. Mein linker Fu war
schon ziemlich geschwollen.
Pltzlich rief der junge Mann mit der Brille und dem Notiz-
block, also das Scriptgirl: Halt! Stop! Schnitt! Aus! Der Kerl
hat ja ein anderes Hemd an!!
Vor lauter Zorn htte sich der Regisseur beinahe zu Hand-
greiflichkeiten hinreien lassen. Sie Volltrottel, brllte er.
Jetzt haben Sie uns zwei Stunden Dreharbeit verpatzt! Ver-
gebens beteuerte ich, da eigentlich die beiden Gorillas schuld
wren, weil sie mir nichts davon gesagt hatten, da ich im selben
Hemd kommen mte wie gestern, und meine Frau versteht ja
nichts von Sequenzen, die legt mir am Morgen ein frisches Hemd
heraus, und damit hat sichs. Um diese Zeit war der Regisseur
bereits knallrot im Gesicht. Hemd! brllte er und seine Stimme
berschlug sich. Sofort Hemd! Selbes Hemd! Sofort!! Man
stie mich in ein Taxi und brachte mich eilig nach Hause. Der
Schmutzwschekorb wurde umgestlpt, aber das Hemd war
schon in der Wscherei. Glcklicherweise konnten wir es aus der
schon angelaufenen Waschmaschine herausziehen. Die beiden
Gorillas zwngten mich in das klatschnasse Hemd und stellten
mich zum Trocknen vor eine 25000-Volt-Jupiterlampe. Was-
ser, flehte ich, Wasser. Aber sie hatten nur ein hmisches
Grinsen fr mich.
Vierzehn weitere Aufnahmen folgten. Vierzehnmal rief
Schlomo Emmanuel! Taxi! Taxi!, und vierzehnmal trat er mir
auf die Hhneraugen. Dann wurde meine linke Gesichtshlfte
rasiert, die im Bild zu sehen war. Auch das ist eine Angelegenheit
der Sequenz. Da ich am Vortag rasiert war, mute ich auch dies-
mal rasiert sein. Das begreift jedes Kind.
Um drei Uhr nachmittags war ich endlich im Bro. Meinem
Chef erzhlte ich, ein Lastwagen htte mich erfat und zur Seite
geschleudert, worauf er sagte, da man mir das anshe. Etwas
spter schlief ich ber meinen Akten ein. Gerade als ich mit dem
Schreckensruf Achtung, Aufnahme! emporfuhr, kam der
Chef durchs Zimmer. Es mifiel ihm.
Am nchsten Morgen gelangte ich ungestrt ins Bro und
begann, die versumte Arbeit nachzuholen. Pltzlich hrte ich
von drauen einen vertrauten, einen entsetzlich vertrauten Lrm.
He, wo steckt er? brllten die Gorillas. Wir brauchen ihn!
Heraus mit dir, Bursche!
Vor den Augen meines Chefs schleppten sie mich ab. An der
Tre konnte ich mich noch umdrehen und zurckrufen: Der

128
Regisseur braucht mich..., dann sa ich im Taxi und bekam
wieder das alte Hemd ber den Kopf gezogen, das sie offenbar
aus der Wscherei gestohlen hatten.
Die Szene wird noch einmal gedreht, erklrte mir einer der
Assistenten. Wir wollen Ihr schmerzverzerrtes Gesicht in
Groaufnahme zeigen und dabei Ihren gequlten Aufschrei
hren.
Die Dreharbeiten begannen. Ich verzerrte mein Gesicht und
schrie auf. Wutschnaubend unterbrach der Regisseur:
Das nennen Sie Schmerzensschrei? Einen Hammer her!
Einen schweren Hammer!
Die Assistenten rannten durcheinander und brachten das Ge-
wnschte. Da die Kamera bei einer Groaufnahme bekanntlich
nur das Gesicht zeigt, blieben meine unteren Krperpartien
auerhalb des Bildes, so da der Assistent genau zielen konnte.
Neunmal sauste der Hammer auf die berreste meiner linken
kleinen Zehe, und neunmal erklang mein Oj!, ehe das Ergeb-
nis den Regisseur knstlerisch befriedigte. Dann wandte er sich
mit verhltnismig ruhiger Stimme an mich: Hinaus, sagte
er. Hau ab! Marsch!
Als ich kurz nach der Mittagspause ins Bro zurckkam, er-
klrte mir mein Chef, dies sei das letzte Mal gewesen, da er sich
ein solches Benehmen gefallen liee. Vergebens suchte ich ihm
auseinanderzusetzen, was eine Sequenz ist und da man da nicht
so einfach ausscheiden kann. Mein Chef ist ein sturer Geschfts-
mann ohne jede Beziehung zur Kunst.
Kurz vor vier hrte ich drauen wieder die unheilkndenden
schweren Tritte. Ich floh auf die Toilette und verriegelte sie. Die
beiden Gorillas brachen die Tre ein und zerrten mich ins Taxi.
Auf der Stiege hrte ich noch die Stimme meines Chefs, der mich
jeder weiteren Verpflichtung seiner Firma gegenber enthob.
Wie sich zeigte, mute mein Schmerzensschrei noch einmal
aufgenommen werden. Gestern waren zu viele Straengerusche
dazwischengekommen. So etwas heit in unserer Fachsprache
Playback.
Man hielt mir ein Mikrophon vor den Mund, und jedesmal,
wenn der Hammer zuschlug, rief ich Oj! Ich selbst fand den
Ausruf vollkommen natrlich, aber der Regisseur war unzu-
frieden. Er machte kein Hehl daraus, da er mich hate. Ich
htete mich, ihn zu verstimmen, sonst wrde er mich vielleicht
nie wieder engagieren. Mitten in der elften Aufnahme bekam ich
einen Hustenanfall und verhustete ungefhr 200 Pfund in bar.

129
Diese Migeburt bringt mich noch ins Grab! sthnte der
Regisseur. Noch einmal!
Kurz vor Mitternacht durfte ich gehen. Der Regisseur selbst
jagte mich mit einem langen Stecken davon. Meinen Posten und
meine linke kleine Zehe hatte ich eingebt, aber alles in allem
war es doch ein recht hbsches Erlebnis.

Morris Kalaniot hatte geendet. Abermals richtete er den Blick


angstvoll zu seiner Wohnung empor:
Gestern nacht, flsterte er, habe ich wieder von ihnen ge-
trumt. Da sie mich holen kmen. Und sie sind wirklich gekom-
men. Er braucht dich noch einmal! brllten sie schon an der
Tre. Eine der Einstellungen ich wei nicht, ob von gestern
oder vorgestern, mein Zeitgefhl funktioniert nicht mehr rich-
tig , jedenfalls: eine der Aufnahmen mute wiederholt werden.
Wir Filmleute nennen das Pech. Aber ich wollte nicht mehr. Ich
konnte nicht mehr. Ich versteckte mich unterm Bett und schickte
meine Frau hinaus. Sie sagte den beiden Gorillas, ich htte die
Anstrengungen nicht ausgehalten und wre heute nacht ge-
storben. Macht nichts, lautete die Antwort. Wir drehen sowie-
so ohne Ton. Man mu ihn nur im Hintergrund sehen. Dort bin-
den wir ihn schon irgendwie an. Wo ist die Leiche? Als ich das
hrte, schwang ich mich aus dem Fenster und lie mich an der
Dachrinne auf ihren Balkon herunter. Retten Sie mich! Um
Himmels willen, retten Sie mich! Die beiden Gorillas durch-
suchen das Haus nach mir!
Er hielt inne und lauschte in schreckensbleicher Anspannung.
Aus dem Stiegenhaus hrte man schwere Schritte, die sich lang-
sam nherten...
Morris Kalaniot hat sich brigens niemals im Film gesehen.
Seine Szene wurde herausgeschnitten.

130
Wiener Titelwalzer

Die nachfolgende Geschichte widme ich einem


Bewohner der titelreichen Stadt Wien, Herrn
Kammerschriftsteller Hofrat Prof. Dr. Friedrich
Torberg, meinem Freund und bersetzer.

Kaum war unser Flugzeug auf dem Wiener Flughafen zum Still-
stand gekommen, als ber den Lautsprecher die folgenden Worte
hrbar wurden:
Professor Kishon wird hflich gebeten, sich beim Informa-
tionsschalter melden zu wollen. Vielen Dank im voraus.
Whrend der Zollformalitten erklang die einladende Stimme
zum zweiten Mal:
Herr Doktor Kishon wird beim Ausgang erwartet. Wir bitten
Herrn Professor Doktor Kishon zum Ausgang. Danke schn.
Ich habe fr ffentliche Scherze solcher Art keine Verwendung
und gab das den Herren am Empfangskomitee, die mich am Aus-
gang erwarteten, sofort zu verstehen:
Fein, da ihr da seid, Jungens! sagte ich ungezwungen.
brigens bin ich weder Professor noch Doktor.
Gewi, gewi. Der Fhrer der Delegation, ein vornehmer
Gentleman-Typ mit grauen Schlfen, nickte verstndnisvoll.
Darf ich Sie jetzt mit meinen Assistenten bekannt machen, lieber
Professor... Damit begann er, meine tapfere kleine Frau und
mich die Empfangsreihe entlang zu fhren, die sich mittlerweile
mit lssiger Eleganz formiert hatte:
Doktor Kishon, das ist Hofrat Professor Manfred Wasser-
lauf... Gestatten Sie, Professor Kishon, da ich Ihnen Herrn
Kommerzialrat Professor Doktor Steinach-Irdning vorstelle...
und hier, Professor Kishon, ist unser Stadtverkehrsexperte, Park-
rat Doktor Willy...
Dr. Willy war, wie sich alsbald herausstellte, der Fahrer unseres

131
Wagens, prsentierte sich aber wie alle anderen in dunklem An-
zug mit silbergrauer Krawatte. Er grte uns mit einer untade-
ligen Verbeugung, ehe er sich ber die Hand meiner errtenden
Ehefrau neigte und seinem wohltnenden K die Hand,
Gndigste die dazugehrige Aktion folgen lie.
Die sind meschugge, raunte ich meiner Gefhrtin zu. Das
kann doch unmglich ernst gemeint sein.
Sie irren, uerte Kommerzialrat Prof. Dr. Steinach-Irdning
in flieendem Hebrisch. So macht man das hier in Wien. Daran
werden Sie sich gewhnen mssen.
Whrend der Fahrt ins Hotel brachte er noch ein wenig ge-
dmpftes Licht in die Sachlage.
Eigentlich heie ich Stein, sagte er. Mosche Stein. Ich bin
vor drei Jahren in einer geschftlichen Angelegenheit aus Israel
hergekommen. Auch ich habe anfnglich immer widersprochen,
wenn man mich Professor nannte. Aber nach einiger Zeit gab ich
nach. Es war sinnlos. Spter fgte ich meinem Namen der Ein-
fachheit halber ein ach-Irdning an, und zum Geburtstag bekam
ich von meinem Schwager, der im Rathaus arbeitet, den Doktor-
titel.
Aber Sie sind doch auch Kommerzialrat, nicht?
Natrlich. Ich habe im Stadtzentrum ein kleines Textilge-
schft aufgemacht.
Wie der einstige Mosche Stein uns weiter belehrte, bestand
seit dem Tag, an dem sterreichs barocke Feudalmonarchie sich
in eine gemigt demokratische Republik verwandelt hatte,
unter den Einwohnern des Landes eine unstillbare Sehnsucht
nach den klingenden Titeln der verklungenen Zeit.
Hierzulande gibt es zum Beispiel keine Brieftrger, sondern
Postoberoffiziale, erklrte uns der Kommerzialrat Professor
Doktor. Keine Kellner, sondern Ober. Keine Beamten, son-
dern Kanzleirte. Und jeder fhrt auer seinem Amtstitel noch
mindestens einen Doktor oder einen Professor.
Und wo sind diese Titel erhltlich?
Es gibt mehrere Quellen. Ganz am Anfang wurde der Pro-
fessortitel vom Staatsprsidenten verliehen, auf Grund der Emp-
fehlung einer ffentlichen Krperschaft oder einer der beiden
Koalitionsparteien. Spter begannen die Brgermeister der gr-
eren Stdte auf eigene Rechnung Doktorate zu verteilen. Und
heute gibt es auf der Krtnerstrae bereits eine Buchhandlung,
wo man ohne groe Mhe den Titel eines Privatkonsulenten fr
Literatur erwerben kann.

132
Aber diese Titel werden doch vollkommen wertlos, wenn
jeder sie trgt! Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen, lieber Herr?
Damit mgen Sie nicht ganz unrecht haben. Trotzdem darf
ich Sie bitten, mich mit Professor anzureden.
Im Hotel angelangt, fllte ich den Meldezettel aus. Der Amtie-
rende Verwaltungsrat fr Hotelangelegenheiten, in manchen
rckstndigen Lndern Portier genannt, nahm mir das Formu-
lar aus der Hand, streifte mich mit einem tadelnden Blick und
schrieb Professor vor meinen Namen. Nachdem er die ebenso
vorsorglich wie nonchalant hingehaltene Hand meiner Gemah-
lin gekt hatte, wies er uns zum Lift.
Pardon, Exzellenz in welches Stockwerk? fragte der
Liftboy.
Dritter Stock, Professor.
Wir glaubten bereits annhernd im Bilde zu sein, aber gleich
darauf unterlief mir ein schwerer Schnitzer. Als wir wieder in die
Halle zurckkamen, traten wir auf eines der wartenden Mitglieder
des Empfangskomitees zu:
Gestatten Sie, Professor, sagte ich, auf meine Gattin deu-
tend, da ich Sie mit meinem persnlichen Sekretariatsvorstand
bekannt mache.
Zu meiner berraschung lie es der Angesprochene bei einem
sehr flchtigen Handku bewenden und wandte sich sichtlich
verrgert ab.
Empfangsrat Stein, der die kleine Szene bemerkt hatte, eilte
herbei:
Haben Sie den Herrn vielleicht mit Professor angesprochen?
fragte er aufgeregt.
Ja.
Um Himmels willen! Damit haben Sie ihn tdlich beleidigt.
Aber wieso?
Weil er wirklich ein Professor ist...
Offenbar hatten wir uns zu rasch an den sterreichischen
Lebensstil gewhnt und gar nicht mehr bedacht, da es irgend-
wo noch Menschen geben knnte, die an Universitten lehrten
und wirkliche Professoren waren.
Wie htte ich ihn denn anreden sollen? erkundigte ich mich
zaghaft.
Mindestens mit Hofrat Universittsprofessor Privatdozent
Doktordoktor. Das ist das absolute Minimum.
Ich begab mich sofort zu dem von mir so schwer Getroffenen
zurck und verbeugte mich:

133
Hochverehrter Herr Hofrat Universittsprofessor Privat-
dozent Doktordoktor wie geht es Ihnen?
In Ordnung, nickte der Angesprochene, und seine Stimme
lockerte sich wohlwollend. Danke, Professor. Sie sind offenbar
erst vor kurzem hier angekommen, wie?
Allerdings, Herr Hofrat Universittsprofessor Privatdozent
Doktordoktor...
Jetzt hatte ich den richtigen Ton heraus. Es war ein wenig er-
mdend, aber nicht ohne Reiz, und ich begann zu verstehen,
warum die sterreicher heute um so viel glcklicher sind als vor
dem Krieg. Nach zwei Tagen ertappte ich mich bei deutlichen
Gefhlen der Abneigung gegen Leute, die mir meinen Doktor-
oder Professortitel verweigerten. Jedem das Seine, wenn ich
bitten darf. Auch meine Ehefrau, die beste von allen, machte
sichs zur Gewohnheit, wann immer das Gesprch auf mich kam,
ein unaufflliges mein Mann, der Oberliteraturrat einzuflech-
ten. Ich nannte sie dafr Doktorin der Musikologie (sie spielt
ein wenig Klavier).
Titel haben etwas fr sich, es lt sich nicht leugnen. Man sitzt
beispielsweise in der Hotelhalle, sieht einen sehr jungen Pro-
fessor in Liftboykleidung mit einer Namenstafel herankommen
und hrt ihn rufen: Professor Doktor Ephraim Kishon zum
Telephon, bitte! Dagegen ist nichts einzuwenden. Man lt ihn
mehrmals die ganze Hotelhalle durcheilen und freut sich des Rufs.
Wenn man gerade Lust hat, kann man sich auch selbst anrufen,
damit man ausgerufen wird.
Kein Wunder, da uns beinahe das Herz brach, als wir die
gastliche Hauptstadt der Republik sterreich verlassen muten.
Professor, sagte meine Frau, whrend wir in die El-Al-
Maschine kletterten, hier war es wirklich schn.
Wunderschn, Frau Doktor, sagte ich und kte ihr die
Hand.
K die Hand.
ber dem Mittelmeer verfiel ich in einen tiefen, levantinischen
Schlummer. Im Traum erschien mir die erlauchte Gestalt des
Kaisers Franz Joseph I. in strahlender, ordensgeschmckter
Uniform.
Majestt, stotterte ich erschauernd. Kaiserlich-Kniglich
Apostolische Majestt... Allergndigster Herr...
La den Unsinn, unterbrach mich der Gesalbte. Sag Franzl
zu mir.

134
Eine historische Begegnung

Das Bedrfnis, die Menschheit zu retten, notfalls


auch gegen ihren Willen, ist eine typisch jdische
Eigenschaft. Besonders deutlich trat sie bei einem
Rabbinerssohn aus Trier hervor, der unter dem
Namen Karl Marx bekannt wurde. Er trumte von
der Gleichheit aller Menschen, von klassenloser
Gesellschaft, von Produktion ohne Ausbeutung
und von anderen schnen Dingen, die sich als
praktisch undurchfhrbar erwiesen haben abge-
sehen von einigen Ausnahmen in Galila und im
Negev.

Unlngst hatte ich in Haifa zu tun und machte auf der Rckfahrt
in einem Einkehrgasthaus halt, um einen kleinen Imbi zu neh-
men. Am Nebentisch sah ich einen lteren Juden in kurzen
Khakihosen sitzen. Ein nicht alltglicher, aber noch kein be-
sonders aufregender Anblick. Erst der buschige graue Vollbart
machte mich stutzig. berhaupt kam mir die ganze Erscheinung
sonderbar bekannt vor. Immer sonderbarer, und immer be-
kannter. Wre es mglich...?
Entschuldigen Sie. Ich trat an seinen Tisch. Sind wir ein-
ander nicht irgendwo begegnet?
Kann sein, antwortete der ltere Jude in den kurzen Khaki-
hosen. Wahrscheinlich bei irgendeinem ideologischen Seminar.
Da stt man manchmal auf mich. Mein Name ist Marx. Karl
Marx.
Doch nicht... also doch! Der Vater des Marxismus?
Das Gesicht des Alten leuchtete auf:
Sie kennen mich? fragte er errtend. Ich dachte schon, da
mich alle vergessen htten.
Vergessen? Aber keine Spur! Proletarier aller Lnder, ver-
einigt euch!
Wie bitte?
Ich meine wissen Sie nicht Proletarier aller Lnder
Ach ja, richtig. Irgend so etwas habe ich einmal... ja, ich er-
innere mich. Kam damals bei den Massen ganz gut an. Aber das
ist schon lange her. Nehmen Sie Platz.
Ich setzte mich zu Karl Marx. Vor Jahren, drben in der alten

135
Heimat, hatte ich ihn studiert. Besonders gut wute ich ber den
Zyklen-Charakter konomischer Krisen und ber das Ende
des Monopolkapitalismus Bescheid. Es war ein unverhofftes
Erlebnis, dem Schpfer dieser groartigen Theorien jetzt persn-
lich zu begegnen. Er sah zerknittert und verfallen aus, viel lter,
als es seinen 130 Jahren entsprochen htte. Ich wollte etwas zur
Hebung seiner Laune tun.
Vorige Woche war in der Wochenschau Ihr Bild zu sehen,
sagte ich.
Ja, man hat mir davon erzhlt. In China, nicht wahr?
Beim Maiaufmarsch in Peking. Mindestens eine halbe Million
Menschen. Sie trugen groe Bilder von Ihnen und Mao Tse-tung.
Mao ist ein netter Junge, nickte mein Gegenber. Vor ein
paar Wochen hat er mir sein Photo geschickt.
Behutsam holte der Patriarch ein Photo im Postkartenformat
hervor. Es zeigte Maos Kopf und eine handschriftliche Wid-
mung: Lekowed mein groissen Rebbe, Chawer Karl Marx, mit
groisser Achting Mao.
Schade, da ich nicht chinesisch verstehe, sagte Marx, wh-
rend er das Bild wieder in die Tasche steckte. Mit den Chinesen
ist alles in Ordnung. Aber die anderen...
Sie meinen die Russen?
Bitte den Namen dieser Leute in meiner Gegenwart nicht zu
erwhnen! Sie sind meine bitterste Enttuschung, Pioniere der
Weltrevolution da ich nicht lache! ber kurz oder lang wird
man sie von den Amerikanern nicht mehr unterscheiden knnen.
Meister, wagte ich zu widersprechen. Sie haben doch selbst
in Ihrem kommunistischen Manifest das Verschwinden aller
nationalen Gegenstze als eines der Endziele der gesellschaft-
lichen Entwicklung bezeichnet.
Ich? Das htte ich gesagt?
Jawohl, Sie. Ganz deutlich. Das Endziel der gesellschaft-
lichen Entwicklung ist
Eben. Das Endziel. Aber die Entwicklung steht ja erst am
Anfang. Zuerst mu man die Kapitalisten mit allen Mitteln be-
kmpfen und vernichten.
Und was ist mit der friedlichen Koexistenz?
Gibts nicht. Von friedlicher Koexistenz habe ich niemals ge-
sprochen, das wei ich zufllig ganz genau. Mu eine Erfindung
der Kreml-Banditen sein. Die wollen den Kapitalismus dadurch
berwinden, da sie mehr Fernsehapparate erzeugen. Mao hat
ganz recht. In Moskau wei man nicht mehr, was Marxismus ist.

136
Und das Moskauer Marx-Lenin-Institut?
Ein Schwindel. Dort lesen sie Gedichte ber die Schnheit
von Mtterchen Ruland. Als ein Student einmal fragte, wie der
Sturz des kapitalistischen Systems schlielich zustande kommen
wrde, antwortete ihm der Instruktor: durch die Einkommen-
steuer!
Vielleicht ist das gar nicht so falsch.
Und der Klassenkampf? Und die Diktatur des Proletariats?
Warum ist man von alledem abgekommen? Es ist eine Schande.
Trotzdem wurden einige Ihrer Ideen verwirklicht, versuchte
ich den alten Herrn zu trsten. Die Menschheit macht Fort-
schritte.
Darauf kommt es nicht an! Das ist purer Revisionismus! Nur
die Chinesen wissen, um was es geht. Die werden der Welt den
Kommunismus schon beibringen. Die werden Proletarier aus
euch machen, da euch eure eigenen Mtter nicht mehr erken-
nen.
Das wird noch einige Zeit dauern.
Die haben Zeit genug. Zeit und 700 Millionen Menschen.
700 Millionen Marxisten. 700 Millionen Beweise fr meine im
Dialektischen Materialismus aufgestellte These, da der Um-
schlag der Quantitt in Qualitt... einerseits durch den ideolo-
gischen berbau... andererseits durch den konomischen
Unterbau... regulative Funktion... offen gestanden: mir ist
niemals klar geworden, was ich da sagen wollte. Aber die Chine-
sen haben die Atombombe. Das ist die Hauptsache.
Er erhob sich ein wenig mhsam und wandte sich zum Gehen:
Ich mu zu meinem Kibbuz zurck. Man hat mir dort eine
leichte Arbeit in der Hhnerfarm zugewiesen. Die Mapam*
benimmt sich berhaupt ganz anstndig. Ja, ja. Das ist alles, was
von mir briggeblieben ist: die Chinesen und die Mapam. Gut
Schabbes!
* Eine linke Absplittcrung der Mapai .

137
Warum Israels Kork bei Nacht hergestellt wird

Eine Industrie, die blhen und gedeihen will,


braucht ein groes Reservoir organisierter, tch-
tiger, geschickter, fachkundiger, leistungsfhiger
Arbeitskrfte. Die wichtigste von allen diesen
Qualitten ist die zuerst genannte. Das zeigt sich
auch bei uns in Israel, dem Land der mchtigen
Gewerkschaften. Jeder israelische Industrielle
wei, da es zu seinen vornehmsten Pflichten ge-
hrt, mindestens einmal vierteljhrlich seinen Ar-
beitern einen halbwegs brauchbaren Vorwand fr
einen Streik zu liefern. Verstt er gegen diese
Pflicht, dann gibt es nur noch eins: streiken.

Die Israelische Kork G.m.b.H., erst vor wenigen Jahren ge-


grndet, zhlt heute zu den erfolgreichsten Unternehmungen
unseres prosperierenden Wirtschaftslebens. Sie deckt nicht nur
den heimischen Korkbedarf, sondern hat beispielsweise auch in
Zypern Fu gefat und den dortigen Markt erobert. Gewi, die
Firma erfreut sich besonderen Entgegenkommens seitens der
israelischen Behrden und erhlt fr jeden Export-Dollar eine
Subvention von 165%. Aber man mu bedenken, da die von
ihr verwendeten Rohmaterialien aus der Schweiz kommen und
die von ihr beschftigten Arbeiter aus der Gewerkschaft. Jeden-
falls gilt die Israeli Kork als ein hervorragend gefhrtes und
hchst rentables Unternehmen, dessen Gewinne sich noch ganz
gewaltig steigern werden, wenn wir erst einmal den lang ersehn-
ten Anschlu an die Europische Wirtschafts-Gemeinschaft ge-
funden haben.

Der Beginn der Krise steht auf den Tag genau fest. Es war der
27. September.
An diesem Tag lie Herr Steiner, der Grnder der Ge-
sellschaft und Vorsitzender des Verwaltungsrats, den von
der Gewerkschaft eingesetzten Betriebsobmann rufen, einen
gewissen Joseph Ginzberg, und sprach zu ihm wie folgt:
Die Fabriksanlage ist in der Nacht vollkommen un-
beaufsichtigt, Ginzberg. Eigentlich ein Wunder, da sie
noch nicht ausgeraubt wurde. Es fllt zwar nicht in
Ihre Kompetenz, aber der Ordnung halber teile ich Ihnen

138
mit, da wir beschlossen haben, einen Nachtwchter anzu-
stellen.
Wieso fllt das nicht in meine Kompetenz? fragte Joseph
Ginzberg. Natrlich fllt das in meine Kompetenz, Steiner.
Der Betriebsrat mu ja eine solche Manahme erst bewilli-
gen.
Ich brauche keine Bewilligung von Ihnen, Ginzberg, sagte
Steiner. Aber wenn Sie Wert darauf legen bitte sehr.
Die Kontroverse erwies sich als berflssig. Der Betriebs-
rat bewilligte ohne Gegenstimme die Einstellung eines lteren
Fabriksarbeiters namens Trebitsch als Nachtwchter, voraus-
gesetzt, da er eine angemessene Nacht-Zulage bekme und
ein Drittel seines Gehalts steuerfrei, da sollen die Zeitungen
schreiben, was sie wollen. Der Verwaltungsrat ging auf diese
Bedingungen ein, und der alte Trebitsch begann seine Nacht-
wache.
Am nchsten Tag erschien er beim Betriebsobmann:
Ginzberg, sagte er, ich habe Angst. Wenn ich die ganze
Nacht so allein bin, habe ich Angst.
Der Betriebsobmann verstndigte unverzglich den Firmen-
inhaber, der prompt einen neuen Beweis seiner arbeiterfeind-
lichen Haltung lieferte: er verlangte, da Trebitsch, wenn er
fr den Posten eines Nachtwchters zu alt, zu feig oder aus
anderen Grnden ungeeignet sei, wieder auf seinen frheren
Posten zurckkehre.
Daraufhin bekam er aber von Joseph Ginzberg einiges zu
hren:
Was glauben Sie eigentlich, Steiner? Mit einem Menschen
knnen Sie nicht herumwerfen wie mit einem Stck Kork!
Auerdem haben wir fr Trebitsch bereits einen neuen Mann
eingestellt und den werden wir nicht wieder wegschicken, nur
weil Sie unsozial sind. Im Interesse Ihrer guten Beziehungen zu
den Arbeitnehmern lege ich Ihnen dringend nahe, den alten
Mann in der Nacht nicht allein zu lassen und noch einen zweiten
Nachtwchter anzustellen.
Steiners Produktionskosten waren verhltnismig niedrig,
etwa 30 Piaster pro Kork, und er hatte kein Interesse an einer
Verschlechterung des Arbeitsklimas. In der folgenden Nacht
saen in dem kleinen Vorraum, der bei Tag zur Ablage versand-
bereiter Detaillieferungen diente, zwei Nachtwchter.
Ginzberg erkundigte sich bei Trebitsch, ob jetzt alles in
Ordnung wre.

139
So weit, so gut, antwortete Trebitsch. Aber wenn wir die
ganze Nacht dasitzen, bekommen wir natrlich Hunger. Wir
brauchen ein Buffet.

Diesmal erreichte der Zusammensto zwischen Steiner und sei-


nem Betriebsobmann grere Ausmae. Zur Anstellung einer
Kchin und zur Versorgung der beiden Nachtwchter mit Kaf-
fee und heier Suppe wre der Verwaltungsrat noch bereit
gewesen. Aber da Ginzberg obendrein die Anstellung eines
Elektrikers verlangte, der das Licht am Abend andrehen und
bei Morgengrauen abdrehen sollte das war zuviel.
Was denn noch alles?! ereiferte sich Steiner. Knnen die
beiden Nachtwchter nicht mit einem Lichtschalter umgehen?!
Erstens, Steiner, schreien Sie nicht mit mir, weil mich das
kalt lt, erwiderte Ginzberg mit der fr ihn typischen Gelas-
senheit. Und zweitens knnen die beiden Nachtwchter natr-
lich sehr gut mit einem Lichtschalter umgehen, denn sie sind
keine kleinen Kinder. Jedoch! Die In- und Auerbetriebsetzung
elektrischer Schaltvorrichtungen stellt eine zustzliche Arbeits-
leistung dar und erscheint geeignet, einer hierfr geschulten
Arbeitskraft die Arbeitsstelle vorzuenthalten, Steiner. Wenn die
Direktion zwei Nachtwchter beschftigen will, hat der Be-
triebsrat nichts dagegen einzuwenden. Aber ein Nachtwchter
ist nicht verpflichtet, auch noch als Elektriker zu arbeiten.
Ginzberg, sagte Steiner, darber zu entscheiden, ist aus-
schlielich Sache der Direktion.
Steiner, sagte Ginzberg, dann mssen wir den Fall vor die
Schlichtungskommission bringen.
Das geschah. Wie zu erwarten, beriefen sich beide Teile auf
27, Abs. 1 des Kollektivvertrags, der da lautet: ... dem Ar-
beitgeber steht das Recht zu, innerhalb des Betriebs alle techni-
schen Manahmen zu treffen, soweit dadurch keine Vernderung
in den Arbeitsbedingungen eintritt.
Da haben Sies, sagte Ginzberg. Es tritt eine Vernderung
ein, Steiner.
Es tritt keine Vernderung ein, Ginzberg.
Es tritt!
Es tritt nicht!
Nachdem die abwechslungsreiche Auseinandersetzung 36
Stunden gedauert hatte, schlug der Sekretr der zustndigen
Gewerkschaft ein Kompromi vor, das dem Standpunkt der
Arbeiterschaft Rechnung trug und zugleich der Israeli Kork

140
die Mglichkeit gab, ihr Gesicht zu wahren. Mit anderen Wor-
ten: es wurden sowohl eine Kchin fr das Nachtbuffet als auch
ein hochqualifizierter Elektriker fr die Beleuchtung angestellt,
aber in Wahrheit wrde nicht der Elektriker das Licht an- und
abdrehen, sondern die Kchin, wobei dem Elektriker lediglich
die technische Oberaufsicht vorbehalten bliebe.
Es ist, erklrte der Sekretr nach der feierlichen Unterzeich-
nung der Vertragsdokumente, meine aufrichtige Hoffnung und
berzeugung, da es fortan auf diesem wichtigen Sektor unserer
heimischen Industrie zu keinen Miverstndnissen mehr kom-
men wird, so da alle aufbauwilligen Krfte sich knftighin den
groen Zielen unserer neuen Wirtschaftspolitik widmen knnen,
der Wachstumsrate unserer Produktion, dem Einfrieren der
Gehlter
An dieser Stelle wurde er von Ginzberg unterbrochen. Und
die Zeremonie war beendet.

Die nchsten zwei Tage verliefen ohne Strung.


Am dritten Tag wurde der Obmann des Betriebsrats neuerlich
zum Vorsitzenden des Verwaltungsrats gerufen, der ihm ein
groes Blatt Papier entgegenschwenkte:
Was ist das schon wieder?! zischte er. Was bedeutet das?!
Ein Ultimatum, antwortete Ginzberg. Warum?
Das Papier in Steiners Hand enthielt die Forderungen der vier
Nachtarbeiter, die den rangltesten Nachtwchter Trebitsch zu
ihrem Vertreter gewhlt hatten. Die wichtigsten Punkte waren:
a) Einstellung eines qualifizierten Portiers, der fr die Nacht-
belegschaft das Tor zu ffnen und zu schlieen htte;
b) 15%ige Erhhung jenes Teils der Gehlter, der nicht zur
Kenntnis der Steuerbehrde gelangt, wobei die Bilanzver-
schleierung der Direktion berlassen bliebe;
c) Ankauf eines jungen, krftigen Wachthundes;
d) Pensionen und Versicherungen;
e) Anschaffung einer ausreichenden Menge von Decken und
Matratzen.
Diese Forderungen wurden von ihren Urhebern als abso-
lutes Minimum bezeichnet. Fr den Fall einer unbefriedigenden
Antwort wurden scharfe Gegenmanahmen in Aussicht gestellt.
Ginzberg, rchelte Steiner, auf diese Unverschmtheiten
gehe ich nicht ein. Lieber schliee ich die Fabrik, mein Ehrenwort.
Das wre eine Aussperrung der kollektivvertraglich ge-
schtzten Arbeiter. Das wrde die Gewerkschaft nie zulas-

141
sen. Und wer sind Sie berhaupt, Steiner, da Sie uns immer
drohen?
Wer ich bin?! Der Inhaber dieser Firma bin ich! Ihr Grn-
der! Ihr Leiter!
ber so kindische Bemerkungen kann ich nicht einmal
lachen, Steiner. Die Fabrik gehrt denen, die hier arbeiten.
Wer arbeitet denn hier? Das nennen Sie arbeiten? Wo uns die
Herstellung eines einzigen Flaschenkorks schon 55 Piaster
kostet?
Joseph Ginzberg ging eine Weile im Zimmer auf und ab, ehe
er vor Steiner stehen blieb:
Steiner, sagte er traurig, Sie sind entlassen. Holen Sie sich
Ihr letztes Monatsgehalt ab und verschwinden Sie...

Indessen wartete auf Ginzberg ein harter Rckschlag: die Fach-


gruppe Korkarbeiter der Gewerkschaft erklrte sich mit Steiners
Entlassung nicht einverstanden.
Genosse Ginzberg, sagten die Vertrauensmnner gleich zu
Beginn der improvisierten Sitzung, einen Mann, der ber eine
fnfzehnjhrige Erfahrung als Chef verfgt, kann man nicht
hinauswerfen, ohne ihm eine grere Abfertigung zu zahlen.
Deshalb wrden wir dir nahelegen, auf den einen oder anderen
Punkt des Ultimatums zu verzichten. Wozu, beispielsweise,
brauchst du einen jungen Wachthund?
Genossen, antwortete Ginzberg trocken, ihr seid Knechte
des Monopolkapitalismus, Lakaien der herrschenden Klasse und
Verrter an den Interessen der Arbeiterschaft. Bei den nchsten
Wahlen werdet ihr die Quittung bekommen. Genossen!
Und er warf drhnend die Tre hinter sich zu.

Die Gruppe Trebitsch befand sich nun schon seit drei Tagen in
passiver Resistenz. Die beiden Nachtwchter machten ihre
Runde mit langsamen, schleppenden Schritten, die Kchin
kochte die Suppe auf kleiner Flamme und servierte sie mit Tee-
lffeln. Als es zu Sympathiekundgebungen verwandter Fach-
gruppen kam und die Brauerei- und Nachtklubarbeiter einen
zwei Minuten langen Warnstreik veranstalteten, griff das Zentral-
komitee der Gewerkschaft ein. Der Grokapitalist, der diese
ganze Entwicklung verursacht hatte, wurde zu einer Besprechung
ins Gewerkschaftshaus geladen, wo man ihm gtlich zusprach:
Im Grunde geht es ja nur um eine Lappalie, Genosse Steiner.
Haben Sie doch ein Herz fr den alten Genossen Trebitsch!

142
Erhhen Sie einen Teil seines Gehalts, ohne da es die Genossen
von der Einkommensteuer erfahren. Matratzen und Decken
knnen Sie aus unserem Ferien-Fonds haben, fr den Portier
und den Hund lassen sich vielleicht Gelder aus dem Entwick-
lungsbudget flssig machen. Und was die Pensionen betrifft
bevor die Mitglieder der Gruppe Trebitsch pensionsreif werden,
haben Sie sowieso schon alle Eigentumsrechte an Ihrer Fabrik
verloren, und das Ganze geht Sie nichts mehr an. Seien Sie ver-
nnftig.
Steiner blieb hart:
Nichts zu machen, meine Herren. Schaffen Sie mir die
Trebitsch-Bande vom Hals, dann reden wir weiter.
Ein letzter Vorschlag zur Gte, Genosse Steiner. Wir erlassen
Ihnen den Ankauf eines Wachthundes, wenn Sie einwandfrei
nachweisen, da er berflssig ist. Aber dazu mten Sie Ihre
gesamte Produktion auf Nachtschicht umstellen.

So kam es, da die Israelische Kork G.m.b.H. zur Nacht-


arbeit berging. Die Belegschaft bestand aus einer einzigen
Schicht und umfate alle sechs Arbeiter, die Sekretrin und
Herrn Steiner selbst. Anfangs ergaben sich berschneidungen
mit bestimmten Abendkursen der Volkshochschule oder mit
kulturellen Ereignissen, aber die Schwierigkeiten wurden mit
Hilfe technischer Verbesserungen und eines langfristigen Re-
gierungsdarlehens berwunden. Es gelang dem Unternehmen
sogar, den Preis exportfhiger Korke auf 1 Pfund pro Stck zu
fixieren. Die Gemter beruhigten sich, die Produktion normali-
sierte sich.
Eines Nachts lie der Vorsitzende des Verwaltungsrats den
Obmann des Betriebsrats kommen und sprach zu ihm wie folgt:
Die Fabriksanlage ist den ganzen Tag unbeaufsichtigt, Ginz-
berg. Es fllt zwar nicht in Ihre Kompetenz, aber der Ordnung
halber teile ich Ihnen mit, da wir beschlossen haben, einen
Wchter anzustellen...

143
Gut fr die Juden

Jude sein ist kein Zustand, sondern ein Beruf wie


- beispielsweise der des Meteorologen. Man mu
immer mglichst genau vorhersagen knnen,
wann das nchste Gewitter losgehen und wo der
nchste Blitz einschlagen wird, und ob es nicht
vielleicht doch eine Mglichkeit gibt, ihn abzu-
lenken.

Na also. Die Gerechtigkeit hat gesiegt.


Gott sei Dank.
Lyndon Johnson wurde mit ungeheurer Majoritt zum
Prsidenten der Vereinigten Staaten gewhlt, und Barry Gold-
water hat eine schmhliche Niederlage erlitten. Er bekam insge-
samt 39% der Stimmen, also nur um weniges mehr als unsere
eigene Regierungspartei bei den letzten Wahlen.
Was fr eine Blamage!
In der Tat. Aber das kann uns nur recht sein. Johnson ist ein
loyaler Freund unseres Landes, Goldwater hingegen hat sich
immer von Israel distanziert. Wahrscheinlich wegen seiner jdi-
schen Abstammung.
Psychologisch vollkommen einleuchtend. Wirklich, wir kn-
nen von Glck sagen, da Johnson gewonnen hat.
Ja, wenn das so sicher wre... Eben weil Johnsons Sympa-
thien fr Israel allgemein bekannt sind, wird er jetzt uns gegen-
ber Zurckhaltung ben mssen. Schon um zu beweisen, da
die jdischen Whlerstimmen keinen Einflu auf seine Politik
haben.
Das ist aber schlimm!
Unter diesem Gesichtspunkt wre es sogar besser fr uns
gewesen, wenn Goldwater gewonnen htte. Goldwater gilt
als israelfeindlich und htte sich infolgedessen bemht, die-
sen Ruf zu entkrften. Vielleicht htte er sogar versucht, Frie-
densverhandlungen zwischen uns und den Arabern in die Wege
zu leiten.

144
Hm. Eigentlich schade, da Johnson Prsident geworden
ist. Wenn man es genauer betrachtet, wre Goldwater besser fr
die Juden gewesen, weil er gegen sie ist.
Stimmt, Andrerseits wenn Goldwater fr uns eingetreten
wre, htte man ihm sofort seinen jdischen Grovater vorge-
worfen. Und dann htte er erst recht seine israelfeindliche Ein-
stellung beweisen mssen. Aber Johnson kann sich nicht gegen
Israel stellen, weil man ihn sonst verdchtigen wrde, da er
seine proisraelische Haltung nur vorgetuscht hat, um sich die
jdischen Whlerstimmen zu sichern.
Dann ist es also doch gut fr die Juden, da Johnson gewhlt
wurde.
Ich wei nicht. Goldwater steht uns infolge seiner jdischen
Abstammung nher.
Wie schn wre es, wenn Johnson einen jdischen Gro-
vater htte!
Gott behte. Damit auch er gegen die Juden ist?!
Das alles verwirrt mich ein wenig. Knnten Sie mir nicht in
klaren, einfachen Worten sagen: was ist gut fr die Juden?
Israel.

145
Frisch geplant ist halb zerronnen

Man mag an unseren arabischen Nachbarn man-


ches auszusetzen haben in der Organisation ihres
staatlichen Eigenlebens machen sie enorme Fort-
schritte. Wo vor wenigen Jahren noch heillose
Anarchie herrschte, ist heute alles bis zum letzten
Attentat sorgfltig geplant.

Ein fiktives Interview mit einem fiktiven arabischen Staatsoberhaupt

Herr Prsident Abdul Abdel Abdallah, gestatten Sie mir, Sie


im Namen der von mir vertretenen Zeitung zu Ihrem Amts-
antritt zu beglckwnschen. Unsere Leser wren glcklich,
etwas ber Ihre knftigen Plne zu erfahren.
Ich habe meine Plne noch nicht im Detail ausgearbeitet,
werde aber whrend der kommenden Monate hauptschlich mit
der Strkung unserer nationalen Einheit beschftigt sein. Schon
in den nchsten Tagen erlasse ich eine Amnestie fr Kommuni-
sten und Mitglieder der Bath-Partei. Damit hoffe ich alle Hinder-
nisse aus dem Weg zu rumen, die der Verwirklichung unserer
sozialistischen Ziele noch entgegenstehen.
Und auf volkswirtschaftlichem Gebiet, Herr Prsident?
Eine bessere Auswertung unserer nationalen Einnahmequel-
len ist ebenso dringend erforderlich wie eine Revision unserer
Vertrge mit den auslndischen lgesellschaften. Die sofortige
Beendigung der Feindseligkeiten mit den Kurden sollte das ge-
eignete Klima fr die ntigen Reformen unseres Erziehungs-
wesens schaffen. Alle diese Plne hoffe ich bis Mitte Juni ver-
wirklicht zu haben.
Warum gerade bis Mitte Juni, wenn ich fragen darf?
Weil ich Mitte Juni das erste Komplott gegen mein Regime
aufdecken werde.
Offiziere des Generalstabs?
Ausnahmsweise nicht. An der Spitze der Verschwrung steht

146
der Garnisonskommandant des Militrdistriktes Nord, einer
meiner zuverlssigsten Kampfgefhrten, den ich nchste Woche
sogar zum Brigadegeneral ernennen werde.
Wird die Verschwrung Erfolg haben?
Nein. Der Bruder des Garnisonskommandanten lt der
Geheimpolizei rechtzeitig eine Geheiminformation zugehen.
Anschlieend kommt es zu einer rcksichtslosen Suberung des
Offizierskorps und zu Massenverhaftungen unter Kommunisten
und Mitgliedern der Bath-Partei. Der Fhrer der Rebellen wird
von mir eigenhndig aufgehngt. Aber das ist vertraulich. Bitte
erwhnen Sie in Ihrem Bericht nichts davon.
Ganz wie Sie wnschen, Herr Prsident. Wann werden die
Suberungen abgeschlossen sein?
Ungefhr Mitte August. Am 20. August fliege ich nach
Kairo, um mit Prsident Nasser die Vereinigung unserer beiden
Schwesterrepubliken und die Befreiung Palstinas zu bespre-
chen. Ich bin sicher, da wir dabei auf die denkbar gnstigsten
Umstnde rechnen knnen. Unglcklicherweise wird gerade auf
dem Hhepunkt der Verhandlungen die Nachricht von einer
neuen Offensive der jemenitischen Royalisten eintreffen. Das
soll mich aber nicht hindern, aus Kairo mit genauen Plnen fr
eine sofortige Vereinigung unserer beiden Staaten zurckzu-
kehren.
Dann werden wir also Ende August mit gypten vereinigt
sein?
Leider nicht. Whrend meiner Ansprache an die Absolventen
der Kadettenschule wird ein Attentat auf mich verbt, und die
Maschinengewehrsalve
Um Allahs willen!
Beruhigen Sie sich. Nur der Verteidigungsminister und
der Befehlshaber der 6. Infanteriedivision fallen dem Atten-
tat zum Opfer. Ich selbst begnge mich mit einem Streif-
schu an der linken Schulter und richte noch vom Spitalsbett
aus eine Rundfunkrede an die Nation. Diese Rede, an der
ich bereits arbeite, wird von mir in wenigen Tagen auf Band
gesprochen, so da sie unter allen Umstnden rechtzeitig ver-
fgbar ist.
Darf ich etwas ber den Inhalt der Rede erfahren, Herr
Prsident?
Zunchst danke ich Allah fr die Rettung meines Lebens
und unseres Landes. Sodann kndige ich eine umfassende Su-
berung unter den progyptischen Mitgliedern des Offizierskorps

147
an, die meine Besprechungen in Kairo dazu ausgentzt haben,
um das Attentat zu organisieren.
Wissen Sie schon, wer Sie bei dieser Suberungsaktion unter-
sttzen wird?
Der Kommandant der Panzertruppen. Ich ernenne ihn dafr
Mitte September zu meinem Stellvertreter, was ich Ende Novem-
ber tief bedauern werde. Aber dann ist es schon zu spt.
Und bis dahin, Herr Prsident?
Bis dahin erfolgt die Nationalisierung der Banken und ein
unvorhergesehenes Massaker unter den Anhngern der Linken.
Der anschlieende Proze wird durch den Rundfunk bertragen,
die anschlieenden Hinrichtungen durch das Fernsehen. Es
werden insgesamt neun Kommunistenfhrer gehngt.
Wieder von Ihrer eigenen Hand?
Diesmal nicht. Ich halte mich zur betreffenden Zeit in Moskau
auf, um mit den Sowjets ber eine neue Waffenlieferung zu ver-
handeln. Der stellvertretende Generalstabschef wird mich be-
gleiten.
Nicht der Generalstabschef selbst, Herr Prsident?
Er ist unabkmmlich. Er mu ein Attentat auf mich vorbe-
reiten, das in der ersten Oktoberwoche stattfinden wird.
Maschinengewehr?
Bomben. Der Kommandant unserer Luftwaffe macht sich
die erneut ausgebrochenen Kampfhandlungen gegen die Kurden
zunutze und bombardiert am Morgen des 6. Oktober meine
Privatresidenz.
Wird Ihre Leiche unter den Trmmern gefunden, Herr
Prsident?
Nein. Meinen Plnen zufolge werde ich wie durch ein Wun-
der gerettet, denn ich befinde mich zufllig im Keller, whrend
die Bomben in mein Arbeitszimmer fallen. Von dem Sessel, auf
dem Sie sitzen, und vom Bchergestell zu Ihrer Rechten bleiben
nur Holzsplitter brig.
Das wre also am 6. Oktober, wenn ich recht verstehe?
Mit einer Verzgerung von ein bis zwei Tagen mu man
natrlich immer rechnen. Aber an meinem Terminkalender wird
sich nichts Wesentliches ndern. Hier, in diesem kleinen Notiz-
buch, ist alles genau aufgezeichnet... lassen Sie mich nachse-
hen... ja. Fr Mitte Oktober steht eine umfangreiche Suberung
auf dem Programm, dann folgen umfangreichere Suberungen,
und Ende Oktober wird der Justizminister hingerichtet.
Eine Verschwrung?

148
Ein Irrtum. Anschlieend Blutbad, allgemeines Ausgehver-
bot, noch ein Blutbad und Belagerungszustand. Der Gouver-
neur des Regierungsbezirks Sdwest wird verhaftet. Am 1. No-
vember trifft eine Goodwill-Mission der Vereinigten Staaten ein
und berbringt eine grere Anzahlung auf die soeben bewil-
ligte Entwicklungshilfe sowie einen neuen Waffenlieferungs-
vertrag, dessen Kosten gegen die nchste Rate der Entwick-
lungshilfe gestundet werden. Eine Verschwrung des neuen
Verteidigungsministers scheitert.
Und fr wann, Herr Prsident, ist Ihr eigentlicher Sturz vor-
gesehen?
Er sollte plangem zwischen dem 8. und 11. November er-
folgen.
Der stellvertretende Generalstabschef?
Ist in die Sache verwickelt. Aber die fhrende Rolle spielt der
Kommandant der Panzertruppen, den ich im September so vor-
eilig zu meinem Stellvertreter gemacht hatte.
Ich verstehe. Darf ich fragen, wie das Ganze vor sich gehen
wird?
Motorisierte Truppen besetzen unter der Vorspiegelung von
Routine-Manvern das Rundfunkgebude. Mein Vetter, den
ich im Oktober zum Innenminister ernannt haben werde, richtet
einen Aufruf an die Nation und nennt mich... warten Sie, auch
das mu ich irgendwo haben... richtig. Er nennt mich einen
Bluthund mit triefenden Pranken und einen stinkenden Schakal
im Dienste auslndischer Hynen. Zum Schlu appelliert er an
die nationale Einheit.
Sehr vernnftig, Herr Prsident. Nur noch eine kleine Frage:
warum lassen Sie da Ihnen ja das genaue Datum des Aufstands
bekannt ist das Rundfunkgebude nicht in die Luft sprengen,
bevor es die Aufstndischen besetzen?
Ich erteile tatschlich einen solchen Befehl. Aber mein zuver-
lssigster Vertrauensmann, der fr den Sender verantwortliche
Garnisonskommandant, schlgt sich leider auf die Seite der
Rebellen.
Schade. Werden Sie kmpfen, Herr Prsident?
Nein. Ich fliehe in einem blaugestreiften Pyjama. Nach mei-
nen Berechnungen sollte man mich zwei Tage spter gefangen-
nehmen, gerade als ich in Frauenkleidern ein Versteck auerhalb
der Hauptstadt zu erreichen versuche. Bald darauf werde ich
gekpft.
Wird man Ihren Leichnam durch die Straen schleifen?

149
Selbstverstndlich. Zumindest durch die Hauptstraen.
Und Ihre Plne fr die weitere Zukunft, Herr Prsident?
Sie enden ungefhr hier. Meine Sendung als Fhrer dieses
Landes ist ja um diese Zeit bereits erfllt.
Und wer, wenn Sie gestatten, wird Ihr Nachfolger?
In meinem Testament empfehle ich den von mir eingesetzten
Garnisonskommandanten, der mich spter verraten hat.
Was sind seine Plne?
Ich vermute: Strkung der nationalen Einheit, allgemeine
Amnestie fr Kommunisten und Mitglieder der Bath-Partei,
Befreiung Palstinas aber vielleicht fragen Sie besser ihn selbst,
so um den 15. November herum. Ich bin nur fr meine eigene
Planung verantwortlich. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich
mu eine Siegesparade abnehmen.
Kunst und Wirtschaft

Zu den vielen Gefahren, die unseren Staat be-


drohen, ist neuerdings die Gefahr einer intensiven
industriellen Entwicklung hinzugekommen. Wenn
einmal eine Woche ohne Erffnung einer neuen
Fabrik vorbergeht, wird die Magengrube unseres
Finanzministers von einem qulenden Gefhl der
Leere befallen, das nach sofortigen Gegenmanah-
men verlangt.

DER FINANZMINISTER: Sonst noch etwas?


DIE RATGEBER: Das Unterrichtsministerium wiederholt sei-
nen seit zwei Jahren unerledigten Antrag, dem unter Leitung
von Josua Bertini stehenden Kammerorchester eine einmalige
Subvention von 75000 Pfund zu gewhren. In der Antrags-
begrndung heit es, wie schon seit zwei Jahren, da die Ttig-
keit dieser Musikvereinigung einen wertvollen Beitrag fr das
kulturelle Leben unseres Landes leistet und
DER FINANZMINISTER: Sonst noch etwas?
Wenn ich nicht irre, ist hier das Finanzministerium und kein
Kulturausschu.
DIE RATGEBER: Das Kammerorchester hat dem Finanzmini-
sterium bisher insgesamt sieben Subventionsansuchen unter-
breitet.
DER FINANZMINISTER: Meinetwegen knnen sie noch ein
Dutzend unterbreiten. Die scheinen uns fr einen Goldesel zu
halten, der sich von jeder hergelaufenen Artistentruppe... also
melken kann man nicht gut sagen, aber jedenfalls lt. Was bil-
den die sich eigentlich ein?
DIE RATGEBER: Kammermusikalische Darbietungen knnen
erfahrungsgem nur mit einem begrenzten Publikum rechnen
und sind auf Subventionen angewiesen.
DER FINANZMINISTER: Meine Herren, lassen wir Zahlen spre-
chen. Wie oft treten die mit ihrer Kammermusik auf? Ich meine:
wieviel Vorstellungen geben sie?
DIE RATGEBER: Ungefhr 40 im Jahr.
151
DER FINANZMINISTER: Und wieviele Sitze hat so ein Konzert-
saal?
DIE RATGEBER: Eine Schnittberechnung der in Betracht
kommenden Sle ergibt 483 Sitze. Aber es ist nicht immer aus-
verkauft.
DER FINANZMINISTER: Danke. So habe ichs mir vorgestellt.
40 483 macht 19320, und davon mu man noch die leeren
Sitze abziehen. Fr diese klglichen Ziffern sollen wir eine
Subvention flssig machen? Auerdem mssen wir schon fr
unsere Oper sorgen. Ist dieser Herr Bretoni, oder wie er heit,
einmal auf den Gedanken gekommen, sich mit dem Institut zur
Frderung von Produktionsziffern zu beraten?
DIE RATGEBER: Wahrscheinlich nicht.
DER FINANZMINISTER: Das dachte ich mir! Es ist ja auch viel
leichter und bequemer, zur Regierung zu rennen und eine
Subvention zu verlangen, nicht wahr. Nein, meine Herren, so
baut man keinen Staat auf. Dieses bankrotte Unternehmen soll
geflligst ein vernnftigeres Produktionssystem einfhren. Sen-
kung der Kosten bei gleichzeitiger Steigerung des Ausstoes.
Abzge von den Gehltern, Zuschlge zu den Eintrittskarten.
Gestaffelte Provisionen. Und berhaupt. Dann werden sie kon-
kurrenzfhig sein.
DIE RATGEBER: Wir mchten darauf hinweisen, da unser
Kammerorchester von Kritikern und Sachverstndigen als eines
der besten seiner Art bezeichnet wird und internationales An-
sehen geniet.
DER FINANZMINISTER : Internationales Ansehen! Wieviel
macht das in Pfund? Und was sind das fr Fachleute, die nicht
wissen, da ein mit Verlust arbeitendes Unternehmen nicht
lebensfhig ist?
DIE RATGEBER: Aber vom knstlerischen Standpunkt
DER FINANZMINISTER: Ich bin kein Knstler, meine Herren,
ich bin Volkswirtschaftler. Bitte den nchsten Punkt! Was gibt
es sonst noch?
DIE RATGEBER: Das Offert eines italienischen Textilfabrikan-
ten, in Israel eine Kunststoff-Fabrik zu errichten.
DER FINANZMINISTER: Groartig! Die erste israelische Kunst-
stoff-Fabrik!
DIE RATGEBER: Nicht ganz die erste. Wir haben schon drei.
DER FINANZMINISTER: Dann sollte auch noch Platz fr eine
vierte sein.
DIE RATGEBER: Im vergangenen Monat haben zwei von den

152
drei Fabriken mit einem Gesamtverlust von 4,6 Millionen den
Betrieb eingestellt.
DER FINANZMINISTER: Ich bitte Sie, meine Herren! Manche
Dinge stehen ber der trockenen Statistik.
DIE RATGEBER: Wir mssen trotzdem noch einige Ziffern
nennen. Der italienische Textilmann verlangt einen Kredit von
9 Millionen, wofr er sich bereit erklrt, 5 Millionen in die
Fabrik zu investieren.
DER FINANZMINISTER: Bringt er neue Maschinen?
DIE RATGEBER: Es ist anzunehmen.
DER FINANZMINISTER: Groe, schne Maschinen, ja?
DIE RATGEBER: Soviel wir wissen, sind sie eher klein und flach.
DER FINANZMINISTER: Aber sie haben schne, groe Hebel.
Sie werden unsere Industrie ankurbeln. Hebrischer Kunststoff
wird den Weltmarkt erobern. Mit eingewebtem Staatswappen.
Made in Israel. Was ist Kunststoff?
DIE RATGEBER: Ein Stoff aus knstlichem Material.
DER FINANZMINISTER: Macht nichts. Sollen wir uns ber De-
tails den Kopfzerbrechen, wenn vor unserem geistigen Auge ein
Markstein auf unserem Weg zur wirtschaftlichen Unabhngig-
keit neue Blten treibt?
DIE RATGEBER: Wozu brauchen wir
DER FINANZMINISTER: Meine Herren, ich hre vor meinen
geistigen Ohren das Summen der Maschinen, wie sie sich in den
Produktionsproze einschalten, ich sehe Hunderte geschulter
Facharbeiter, wie sie
DIE RATGEBER: zwei Fabriken zusperren
DER FINANZMINISTER: Und aus den Maschinen strmt in nicht
endenwollendem Strom das unvergleichlich zarte Webprodukt,
glitzernd und blinkend im Sonnenschein wie ein goldenes Vlies,
dessen heller Klang unserer Nation auf dem Weg zu neuen
Hhen voranweht... Kunststoff! Kunststoff!
DIE RATGEBER: Aber gleich 9 Millionen Pfund...
DER FINANZMINISTER: Hren Sie mir mit den ewigen Ziffern
auf! Haben Sie denn kein Verstndnis fr die erhabene Musik, die
in dem allen liegt? Neue, zukunftweisende Musik, schpferische
Kunst...
DIE RATGEBER: Vom wirtschaftlichen Standpunkt
DER FINANZMINISTER: Ich bin kein Volkswirtschaftler, meine
Herren, ich bin Knstler.

153
Mit den nachfolgenden Beitrgen hat Ephraim Kishon whrend des
israelisch-arabischen Kriegs und unmittelbar danach zu den Ereignissen
Stellung genommen. Der erste dieser Beitrge, die aus einer greren
Anzahl ausgewhlt wurden, erschien am dritten Kriegstag (dem 7. Juni),
der letzte am 22. Juni 1967 in der hebrischen TageszeitungMaariw.
(Anmerkung des bersetzers)
Offene Briefe

An Knig Hussein An Knig Hussein

Lieber Knig!
Entschuldigen Sie die vertrauliche Anrede, aber Sie wissen ja,
da Sie uns nicht nur geographisch nahestehen. Wir hatten seit
jeher eine Schwche fr Sie. Wir gaben immer wieder zu erken-
nen, da wir Sie fr etwas besseres halten als die brigen arabi-
schen Landesvter. Wir haben den Thron, den Ihr Gropapa als
erster bestieg und an dem Sie so tapfer hngen, mehr als einmal
durch allerlei Winkelzge vor dem gierigen Zugriff Nassers
bewahrt. Wir haben Sie gehegt und gepflegt und gehtschelt.
Gerade da wir Ihnen keine Waffen geliefert haben. Und jetzt,
pltzlich was ist in Sie gefahren, alter Freund Hussein? Warum
muten Sie mit diesem Nasser, von dem Sie sich zwlf Jahre
lang nicht kleinkriegen lieen, zwei Tage vor seinem Debakel
gemeinsame Sache machen? Jetzt haben Sie die Bescherung.
Sie waren allerdings nicht der einzige, der uns auf den Leim
gegangen ist. Groe, erfahrene Staatsmnner tappten gleich
Ihnen in die Falle, an der wir insgeheim schon seit langem ge-
bastelt hatten, um unsere Feinde und sogar unsere Freunde zu
tuschen. Oder haben Sie wirklich geglaubt, dies alles wre nicht
ganz genau berechnet gewesen? Hussi, Hussi... Also damit
Sies wissen:
Vor sechs oder sieben Jahren faten wir den Entschlu,
die Altstadt von Jerusalem ihrer ursprnglichen Bestimmung
zuzufhren und ihre erzwungene Abtrennung die wir als wider-
natrliches Ergebnis eines gegen uns gerichteten Angriffskriegs
empfanden rckgngig zu machen. Aber, so sagten wir uns,
um das tun zu knnen, mten wir aufs neue angegriffen werden.
Und wie, so fragten wir uns, sollten wir die Araber dazu verlei-
ten, uns anzugreifen? Die denken doch gar nicht daran. Die
haben ganz andere Sorgen. Und keinesfalls werden sie sich auf
etwas einlassen, solange Ben Gurion an unserer Spitze steht.
Es war klar: der Alte mute weg. Zu diesem Zweck erfanden
wir die Lavon-Affaire, einen miglckten Spionagefall, ber den
wir manches verffentlichten und manches nicht. Sie erinnern

157
sich noch. Tatschlich hatten wir die Genugtuung, da diese un-
durchsichtige Angelegenheit allenthalben als Ursache fr den
Rcktritt des Alten akzeptiert wurde. Der Anfang war gemacht.
Dann begannen wir Levi Eschkol als weichlichen Kompromi-
ler aufzubauen. Auch das klappte. Und Abba Eban wute sich
einen hnlichen Ruf zu verschaffen.
So brachten wir Nasser allmhlich auf den Gedanken, da die
Zeit fr unsere heilige Vernichtung reif sei und da er leichtes
Spiel mit uns haben wrde. Nur eines stand unseren Plnen noch
im Weg: die Blauhelme der Vereinten Nationen im Gazastreifen.
Nun, da vertrauten wir auf U Thant und wahrlich, er hat uns
nicht enttuscht. Die UNO-Truppen wurden abgezogen. Nasser
bezog seine Angriffsstellungen auf der Halbinsel Sinai und schlo
die Meerenge von Tiran, ganz so, wie wirs geplant hatten.
Aber das alles war uns nicht so wichtig wie die Altstadt von
Jerusalem. Um die ging es uns ja in erster Linie. Und dazu war es
unerllich, da Sie, lieber Knig, sich mit unserem lieben Nasser
verbndeten. Von Stund an beschftigte uns nur noch die Frage,
wann dieser Pakt zustande kme.
Tag um Tag verstrich, ohne da etwas geschah. Die Spannung
wuchs ins Unertrgliche. Wir wandten die tckischsten Mittel
an, um den Abschlu des Paktes herbeizufhren, wir baten die
groen Seemchte um Rechtsschutz, damit sie in aller Offenheit
vertragsbrchig werden konnten, wir berredeten de Gaulle,
uns fallen zu lassen. Was taten wir nicht alles, um Sie und Nasser
zusammenzubringen!
Endlich ging unsere Rechnung auf. Sie flogen nach Kairo,
kten Nasser waffenbrderlich auf beide Backen, kehrten in
Begleitung Ihres alten Freundes Shukeiri nach Hause zurck
und lieen Ihre Truppen gegen uns aufmarschieren. Es war so
weit. Wir unsererseits nahmen Mosche Dajan in die Regierung,
und der Rest ist Geschichte.
Da sie auf Ihre Kosten gehen mute, lieber Knig, tut uns
aufrichtig leid, aber wir knnen uns nicht helfen. Gegen unsere
brennende Sehnsucht nach Jerusalem sind sogar wir selbst
machtlos. Seit rund 2000 Jahren ist diese Sehnsucht in unseren
Gebeten verankert und seit rund 20 Jahren in unseren hautnahen
Vorstellungen und Lebensbedrfnissen. Man knnte beinahe
von einer Zwangsneurose sprechen. Jedesmal, wenn wir Jeru-
salem als heilige Stadt bezeichnet hren, zucken wir zusammen
und fragen uns, wer es denn eigentlich zur heiligen Stadt gemacht
hat. Und dann vergessen wir alles andere. Wir vergessen, da

158
Jerusalem schon immer zweigeteilt war, da das Mandelbaum-
tor schon immer die einzige und fr uns unpassierbare Verbin-
dung zwischen den beiden Stadtteilen darstellte, da man aus
dem arabischen Teil schon immer in den jdischen herberschie-
en konnte wir vergessen, kurzum, da Jerusalem durch uralte
Tradition mit dem ehrwrdigen Knigreich Jordanien verbun-
den ist. Wir sind unzurechnungsfhig. Als gestern an der Klage-
mauer das Schofar geblasen wurde, haben mehr als zwei Millionen
erwachsene Menschen geweint wie die Kinder. Sie mssen Nach-
sicht mit uns haben, lieber Knig.
Die hlichen Armeebefehle, mit denen Sie Ihre Soldaten zur
Ausrottung unseres Volkes aufforderten, wollen wir Ihnen nicht
weiter nachtragen. Auch Sie haben unter Zwang gehandelt. Jetzt
sind wir beide den Zwang losgeworden. Vielleicht sollten wir
das zum Anla eines neuen Beginnens nehmen? Es wrde auch
Ihnen nur gut tun. Lassen Sie sich von Ihren gyptischen Freun-
den, die bis zum letzten Jordanier gekmpft haben, nicht mehr
fr dumm verkaufen und machen Sie von den heimlichen
Sympathien Gebrauch, die wir Ihnen nach wie vor entgegen-
bringen. Wir erwarten Ihre Nachricht. Jerusalem, altpost-
lagernd.

An Gamal Abdel Nasser An Gamal Abdel Nasser

Lieber Gamal!
Ich mu mich auf diesem Weg an Dich wenden, da der Postver-
kehr zwischen unseren beiden Lndern noch nicht wiederherge-
stellt ist. Hoffentlich brauchen wir jetzt nicht mehr lange darauf
zu warten.
Du hast Dir alles ganz anders vorgestellt, ich wei. Nachdem
Du der ganzen Welt erklrt hattest, was Du mit uns zu tun planst,
und die ganze Welt mit verschrnkten Armen Deinen Vorberei-
tungen zusah, mutest Du ja berzeugt sein, da auch alles
weitere wunschgem vonstatten gehen wrde. Wir wrden uns
abschlachten lassen, hast Du geglaubt, und wrden hchstens in
den Vorzimmern der UNO um Hilfe betteln: Bitte, das steht
doch im Widerspruch zum Absatz soundsoviel der Charter...
bitte, wir haben doch Vertrge und Garantien... man hat uns

159
doch damals, 1956, feierlich zugesichert... undsoweiter. Nun,
diesmal ist nicht damals, das haben wir zum Glck noch recht-
zeitig bemerkt. Und zwar warst es Du selbst, der uns darauf auf-
merksam gemacht hat. In einer Deiner blutrnstigen Drohreden
hie es ganz ausdrcklich: Wir schreiben jetzt 1967, nicht 1956,
das sollten sich die Israelis gesagt sein lassen! Und genau das
haben wir getan.
Dabei hat es uns sehr geholfen, da die groen Seemchte, die
Schirmherren unserer Durchfahrtsgarantien, uns wissen lieen,
da sie gegen provokative Durchfahrten sind, und uns empfah-
len, auf friedlichem Wege ein bereinkommen ber die Proze-
dur unserer Vernichtung zu treffen. Daraufhin lieen wir alle
Knste unserer Diplomatie spielen und hatten tatschlich einen
sensationellen Erfolg zu verzeichnen: unser Vertrags- und Ga-
rantiepartner Amerika ist diesmal nicht gegen uns, sondern
bleibt neutral. Phantastisch, wie?
Fr Dich mu das eine unvergeliche Zeit gewesen sein, lieber
Gamal. Sogar Deine Enkelkinder werden Dich eines Tages fra-
gen: Erzhl uns doch, Gropapa, wie war das damals bis zum
5. Juni 1967, acht Uhr morgens? Und Du wirst ihnen erzhlen,
da bis dahin jeder Tag ein Tag des Sieges war, ein Tag des bei-
fallumrauschten Triumphs Deiner unumstrittenen Fhrerschaft
in der arabischen Welt. Was nach diesem Datum geschah, ist
nicht der Mhe wert, rekonstruiert zu werden. Man kann sich
schlielich nicht alles merken.
Soeben hren wir im Radio, da die Sowjets von beiden Par-
teien den Rckzug auf die Ausgangspositionen und die eigenen
Grenzen verlangen. Damit sind offenbar auch wir gemeint. Und
da sich innerhalb unserer Grenzen niemand auer uns aufhlt,
schlieen wir, da israelische Truppen die gyptischen Grenzen
berschritten haben, oder mit anderen Worten, da Du den
Krieg verloren hast. Lieber Gamal, wenn ich Dir raten darf,
dann hrst Du von jetzt an ausschlielich Radio Kairo, da gibt es
nur Siegesnachrichten.
Aber ich mu zugeben, da wir Dir gegenber einen unfairen
Vorteil hatten. Du, lieber Gamal, mutest Deine Plne und Ma-
nahmen mit einem halben Dutzend Alliierter koordinieren. Wir
hingegen haben nicht einen einzigen Verbndeten. Wir kmpfen
ganz allein.
Da ist es natrlich keine Kunst, einen Krieg zu gewinnen.

160
An General de Gaulle An General de Gaulle

Mon Gnral!
Sicherlich wuten Sie, da wir Ihnen heute schreiben wrden.
Sie wissen ja alles im voraus.
Wir schreiben Ihnen mit groer Trauer im Herzen, obwohl wir
an Enttuschungen gewhnt sind und uns ber die internationale
Politik keine Illusionen machen. Die Volksmeinung ist immer
fr uns, und die Auenministerien sind immer gegen uns. Das ist
das Gesetz der groen Zahlen, und damit haben wir uns abge-
funden. Aber da auch Sie, mon Gnral, uns verraten haben,
tut weh. Nicht nur deshalb, weil ein Wortbruch zu einem General
besonders schlecht pat, noch viel schlechter als zu den anderen,
die jetzt wortbrchig geworden sind. Und nicht nur deshalb,
weil wir Sie bisher fr unseren einzigen echten Freund und Ver-
bndeten gehalten haben. Sondern weil Ihr Wortbruch auch
noch ein politischer Fehler war, wie wir ihn gerade von Ihnen
nicht erwartet htten. Sie haben sich mit ein paar jmmerlichen,
bankrotten Diktatoren angebiedert und fr ihr anerkennendes
Schulterklopfen die Sympathien der ganzen freien Welt hinge-
geben, vielleicht sogar die Sympathien Ihres eigenen Volkes. Das
soll gute Politik sein? So handelt der groe Europer de Gaulle,
dieser Leuchtturm staatsmnnischer Weisheit, dessen Licht ber
ganz Europa strahlte?
Aber auch als General knnen wir Sie nicht mehr so hoch ein-
schtzen wie frher. Sie verurteilen uns als Aggressoren, weil
wir angeblich den ersten Schu abgefeuert haben. Mit dieser
albernen Phrase nehmen Sie es ganz genau, viel genauer als mit
dem uns gegebenen Wort. Aber selbst wenn Sie im Recht wren,
mon Gnral: drfen wir fragen, wie Sie in der gleichen Lage
gehandelt htten? Htten Sie einem zahlenmig weit ber-
legenen Gegner, der sich aus lngst vorbereiteten Stellungen von
allen Seiten her zu Ihrer Vernichtung anschickt, auch noch ge-
stattet, gemchlich den fr ihn gnstigsten Augenblick zu be-
stimmen, in dem geschossen werden soll? Mit dieser Auffassung
von Strategie sind Sie General geworden?
Wie traurig, wenn sich ein Feldherr pltzlich in einen Rekru-
ten verwandelt und ein Leuchtturm in eine Taschenlampe...
Es ist Ihr gutes Recht, alles zu tun, wovon Sie glauben, da es
den Interessen Frankreichs ntzt. Uns bleibt nur das Recht, eine
der schmerzlichsten Enttuschungen zu schlucken, die uns je-
mals zugefgt wurden. Im brigen wird sich an der Politik und

161
an der Haltung Israels nichts ndern. Wir werden, wenn Sie sich
entschlieen, wieder Geld von uns zu nehmen, auch weiterhin
franzsische Flugzeuge kaufen, wir werden das franzsische
Volk, die franzsische Sprache und Kultur weiterhin lieben.
Aber wir werden heuer im Sommer nicht nach Paris fahren und
berhaupt bis auf weiteres nicht. Aus Rcksicht auf Sie, mon
Gnral. Es knnte ja sein, da Sie einem von uns begegnen und
vielleicht wren Sie dann nicht imstande, ihm in die Augen zu
schauen. Vielleicht schmen Sie sich ein wenig, mon Gnral.

An Kossygin An Kossy gin

Werter Genosse Kossygin!


Ob Sie es glauben oder nicht wir haben erst gestern von Ihnen
gesprochen, meine Frau und ich. Weit du, was ich tte, wenn
ich Kossygin wre? fragte ich sie. Was? fragte sie zurck.
Ich wrde mich subern, sagte ich. Warum? fragte sie. Und
daraufhin begann ich es ihr zu erklren.
Sie msse sich vorstellen, sagte ich, wie dem werten Genossen
zumut sei, wenn er die Ereignisse der letzten Zeit berdenkt. Da
waren also 60 Millionen Araber, deren Ziel darin bestand, den
Staat Israel auszulschen und seine 2, Millionen Juden ins Meer
zu treiben. Nun hat der werte Genosse, wie so viele fortschritt-
liche Menschen, die Juden nicht besonders gern, denn sie stren
den Fortschritt. Sie stren ihn dadurch, da sie ihn ernst nehmen
oder da sie an Gott glauben oder an Menschlichkeit und Ge-
rechtigkeit. Auerdem sind sie immer wieder in Pogrome und
hnliche schmutzige Angelegenheiten verwickelt. Kurz und gut:
sie stren. Schon aus diesem Grund hat also der werte Genosse
gegen die Plne der Araber nichts einzuwenden. Sein groes
sozialistisches Herz weitet sich, und seine friedliebenden Waffen-
lager ffnen sich. Nehmt, Brder, nehmt, sagt er. Und die
Araber bestellen. Bitte 100 Migs zu verpacken... und 15 neue
U-Boote... auch von diesen hbschen grnen Panzerwagen
mchten wir ein paar Dutzend haben... und was man eben
braucht.
Natrlich braucht man dazu auch eine gewisse Schulung. Also
bt man im Jemen das Zusammenschieen von Beduinen, bt

162
Bombenangriffe auf wehrlose Drfer und weil man doch auch
selbst eine Kleinigkeit beisteuern will die Verwendung von
Giftgas. Das Ergebnis ist so eindrucksvoll, da die Vereinten
Nationen und ihr hoch ber dem Getriebe stehender General-
sekretr vor Respekt verstummen. Nachdem die gelehrigen
Schler noch bei diversen Siegesparaden ihren auerordent-
lichen Kampfgeist bewiesen haben, besteht kein Zweifel mehr,
da sie bereit und fhig sind, ihre lang proklamierten Vernich-
tungsplne gegen Israel zu verwirklichen. Der werte Genosse
gibt seinen Segen, der werte Generalsekretr wird in Kairo von
einer begeisterten Menschenmenge mit dem tobenden Ruf Wir
wollen Krieg, wir wollen Krieg! empfangen, und da es nicht
seine Aufgabe ist, dem Volkswillen entgegenzuhandeln, erlt
er sofort die entsprechenden Anordnungen: er schickt die Feuer-
wehr nach Hause, damit sie den Brand nicht gefhrdet.
Jetzt ist alles wunschgem vorbereitet, nur die USA, diese
ewigen Kriegshetzer, stehen noch im Wege, wenn auch nicht
sehr. Der werte Genosse greift zum Privattelephon und bringt
die Sache durch ein intimes Gesprch mit Prsident Johnson in
Ordnung. Auf meiner Seite stehen zehn Kmpfer und auch auf
deiner Seite steht einer, sagt er. Wenn niemand von uns beiden
sich einmischt, siegt die Gerechtigkeit. Wohl oder bel mu
sich Johnson dieser Logik beugen. Und schon gehts los. Kairo
meldet schwere Straenkmpfe in Tel-Aviv, die arabische Legion
vollendet die Eroberung Jerusalems, die Syrer machen die israe-
lischen Siedlungen, die immer auf ihre Bergstellungen hinauf-
geschossen haben, dem Erdboden gleich. Und der werte Genosse
geht mit dem wunderbaren Gefhl schlafen, da wieder ein gro-
er Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus getan ist. Am
nchsten Morgen wacht er auf und ruft den Chef seines Nach-
richtendienstes. Nun, fragt er, wo stehen Nassers Truppen?
Auf dem Papier, antwortet jener. In Wirklichkeit laufen sie.
Und die unbezwinglichen Legionre des jordanischen Sozialis-
mus? Bekamen von ihrem fortschrittlichen Knig soeben
den Befehl, die feindlichen Panzer mit Zhnen und Fingerngeln
zu vernichten. Etwas anderes haben sie nicht mehr.
In diesem Augenblick lutet das Telephon, und Johnson er-
kundigt sich aus Washington, wie das Wetter in Moskau ist. Und
das, so erklrte ich meiner Frau, war der Augenblick, in dem ich
mich, wenn ich Kossygin wre, gesubert htte.
Werter Genosse Kossygin, man kann sich wirklich auf nichts
und niemanden verlassen, nicht auf Johnson und nicht auf die

163
Araber und nicht einmal auf Eschkol. Auch er ist umgefallen.
Denn da er sich im letzten Augenblick entschlossen hat, Mosche
Dajan in die Regierung zu nehmen, war einfach niedertrchtig.
Ihr UNO-Vertreter Fedorenko hatte ganz recht, uns mit den
Nazis zu vergleichen. berhaupt mu seine Rede auf jeden an-
stndigen Menschen den tiefsten Eindruck gemacht haben. Im-
mer, wenn er auf seinen Zettel sah, um sich eine neue Inspiration
zu holen, diente er der Sache des Friedens und des Fortschritts:
Aggressoren... Gangster... Lgner... Mrder... Kriegs-
verbrecher... Faschisten... Nazis... der Wucht dieser Ar-
gumente konnte sich niemand verschlieen. Was half es da unse-
rem Vertreter Rafael, in der gehssigsten Weise die Erinnerung
an das Jahr 1940 heraufzubeschwren, als Sie gewisse Schwierig-
keiten hatten, die Aggression des finnischen Kolonialismus zu-
rckzuschlagen. Was half es unserem Auenminister, die zahl-
losen Verletzungen der UNO-Charter aufzuzhlen, deren Ihr
Land im Laufe der Jahre schuldig geworden ist. Die wahren
Provokateure sind wir. Einfach dadurch, da wir vorhanden
sind.
Und wissen Sie was, werter Genosse Kossygin? Wir gedenken
es zu bleiben.

164
Das waren Zeiten

Jetzt, da der leichtere Teil des Kriegs beendet ist und die besten
Krfte unseres Landes sich zum entscheidenden Kampf mit der
Rafi-Partei* rsten, erinnern wir uns voll Wehmut jener mes-
sianischen Tage, die wir vor Ausbruch des Kriegs und whrend
seiner kurzen Dauer erleben durften. Die abrupte Vernderung
unseres Volkscharakters begann mit dem Abzug der UNO-Trup-
pen aus dem Gazastreifen. Damals geschah es, da auf den Straen
unserer Stdte, im glhenden Schatten der Verkehrsampeln, die
Besitzer hebrischer Fahrzeuge einander nicht mehr mit ab-
grundtiefem Widerwillen ansahen; manchmal blinkten in ihren
Augen sogar ganz kleine Funken einer freundschaftlichen, ja
familiren Annherung auf.
Ihr dort, sagten die Blicke, wir gehren zusammen, nicht
wahr.
Mit jeder neuen Voreiligkeit Nassers wurden neue, erhabene
Mastbe fr unseren Alltag gesetzt. Hflichkeit, Entgegen-
kommen und gute Manieren griffen wie ein verzehrendes Feuer
um sich. Nachbarn grten einander, Kinder hatten Respekt vor
Erwachsenen, in den Geschften herrschte ein angenehm kulti-
vierter Ton:
Nach Ihnen, gndige Frau. Sie haben Eile. Aber ich bitte
Sie, mein Herr. Sind wir denn nicht alle Juden?
Unser Dasein nahm biblische Formen an. Wir liebten unseren
Nchsten wie uns selbst. Als der unheimlich instinktsichere
Hussein nach Kairo flog, um sich in Nassers Arme zu werfen,
gingen bei uns wildfremde Menschen Arm in Arm durch die
Straen und beteten zu Chaim Herzog und Jizchak Rabin. Wir
verehrten die Armee, die Feuerwehr und den Steuerbeamten,
wir bewunderten den Verkehrspolizisten, der sein verantwor-
tungsvolles Amt bekanntlich unter schweren Bedingungen aus-
bt. Wir waren vorbildliche Brger, wir blieben gelassen, wir
sprachen leise, selbst ber die uns bevorstehenden Prfungen
diskutierten wir in aller Ruhe, wie es sich fr das Volk des Buches
* Die von Ben-Gurion gefhrte Rafi, der auch Mosche Dajan angehrt, ist eine Abspaltung der
regierenden Mapai des Ministerprsidenten Eschkol. Bald nach Beendigung des Kriegs wurden Ver-
handlungen aufgenommen, um die beiden Parteien wieder zusammenzufhren.

165
geziemt. Wenn jemand in der ffentlichkeit nieste, trafen ihn
tadelnde Blicke: Jetzt? Wo die irakischen Truppen gerade in
Jordanien einmarschieren?!
Es war eine groe Zeit. Man erzhlt, da im Norden Tel
Avivs von mysteriser Seite Schulden gezahlt wurden, die nicht
lter waren als sechs oder sieben Jahre. Unbekannte junge
Mnner gingen graben, ganz egal was. Ihre Schwestern wurden
Luftschutzhelferinnen, ihre Mtter Schwestern. An dem Tag,
als de Gaulle bekanntgab, da er uns nicht nur keine Flug-
zeuge mehr liefern wrde, sondern auch keine Ersatzteile
fr die schon gelieferten an diesem herrlichen Tag war es
in Jaffa unmglich, Kinokarten zu kaufen, weil jeder, der an
die Kasse kam, sofort erklrte, der Nchste sei vor ihm an der
Reihe.
Und erst das edle Brauchtum des Autostops! Die mensch-
liche Sprache reicht nicht aus, um zu schildern, was sich da
an Aufopferung und Uneigenntzigkeit abspielte. Kaum hatte
uns Genosse Fedorenko in den Vereinten Nationen mit den
Nazis verglichen, sah man stdtische Autobuslenker ganz deut-
lich nach einsamen Soldaten Ausschau halten, um ihnen eine
Gratisfahrt anzubieten. Die Besitzer von Privatautos luden
grundstzlich nur ltere Damen mit Brille zum Mitfahren
ein, damit nur ja kein Zweifel an ihren Absichten entstnde.
Nach einiger Zeit machten sich allerdings gewisse Zerset-
zungserscheinungen bemerkbar. Als wir den Suezkanal erreicht
hatten, wurden zwar immer noch bebrillte Damen mitgenom-
men, aber die Dickeren unter ihnen muten warten. Nach der
Eroberung von Ramallah wurden Mnner, die mit allzu vielen
Paketen beladen waren, unauffllig bersehen. Und als nach
Hussein und Nasser auch die Syrer klein beigaben, drohte der
altgewohnte Mittelmeerstil sich wieder breitzumachen. Gestern
wurde ich bereits von einem Lastwagenfahrer angebrllt, weil
ich sein Vorfahrtsrecht nicht beachtet hatte:
He! brllte er. Siehst du nicht, da ich von rechts komme,
du Idiot?
He, brllte ich zurck. Weit du nicht, da die Russen
neue Panzer an gypten liefern?
Fahren Sie, mein Herr, lautete die Antwort. Ich kann
warten.
Nein, die Zeit der Normalisierung ist noch nicht gekom-
men. Noch wirken sich die Manahmen der friedliebenden
sozialistischen Staaten vorteilhaft auf unsere Lebensfhrung

166
aus, und unser neues Minderheiten-Amt hat alle Hnde voll
zu tun, um sich der jdischen Bevlkerung anzunehmen. Aber
wer wei, wie lange der Hflichkeits-Ausnahmezustand dauern
wird...
Unfair zu Goliath

Ein beschmender Abschnitt in der Geschichte Israels liegt


hinter uns. Es wird Zeit, ihn einer nchternen Analyse zu unter-
ziehen.
Der Ablauf der Ereignisse darf als bekannt vorausgesetzt wer-
den: Nach lngerem Manvrieren auf beiden Seiten hatten die
Philister in Sichtweite der israelischen Armee, bei Sochon, Stel-
lung bezogen und bemhten sich, die von den Israelis knstlich
gesteigerte Spannung in ertrglichen Grenzen zu halten. Auf
dem Hhepunkt der Krise begab sich der philistinische Ober-
stabswachtmeister Goliath in das Niemandsland zwischen den
beiden Lagern, wo er wir zitieren einen absolut zuverlssigen
Bericht seine Stimme erhob, um greren Kampfhandlungen
und unntigem Blutvergieen vorzubeugen. Ein Angehriger
der israelischen Streitkrfte namens David, ein bekannter Gro-
wildjger, reagierte darauf mit einem berraschungsangriff
gegen Goliath, den er brutal zu Fall brachte und abschlachtete.
Soweit die Tatsachen.
Rein militrisch betrachtet, kann der israelischen Aktion eine
gewisse Qualitt nicht abgesprochen werden. Vom moralischen
Standpunkt jedoch fhlen wir uns verpflichtet, das Vorgehen
Davids und seiner Auftraggeber grndlich zu durchleuchten
und eine an Geschichtsflschung grenzende Legende im Keim
zu ersticken. Dabei leiten uns keinerlei Hagefhle gegen das
Volk Israels. Im Gegenteil mchten wir dem ohnehin zweifel-
haften Ruf dieses ewig rastlosen Stammes eine neue, schwere Be-
lastung ersparen.
Wir sind durchaus nicht der Meinung, da der Begriff des sol-
datischen Kampfes ein vlliges Gleichgewicht in der beiderseiti-
gen Bewaffnung und der beiderseitigen Schlagkraft voraussetzt.
Aber die elementaren Grundstze der Fairness verlangen eine
zumindest annhernde Gleichartigkeit der am Kampf Beteilig-
ten. Wir bedauern, feststellen zu mssen, da in der Auseinander-
setzung zwischen David und Goliath eine solche Balance nicht
gegeben war. Vielmehr lagen von Anfang an alle Vorteile auf
Seiten Davids.
Das zeigte sich bereits an der Ausrstung. Oberstabswacht-

168
meister Goliath wir sttzen uns abermals auf den oben er-
whnten Gewhrsmann hatte einen ehernen Helm auf seinem
Haupte, und einen schuppichten Panzer an, und das Gewicht
seines Panzers war fnftausend Sekel Erzes; und hatte eherne
Beinharnische an seinen Schenkeln, und einen ehernen Schild
auf seinen Schultern. Das heit, da er etwa 60-70 kg zu schlep-
pen hatte. Demgegenber war David, wie man wei, lediglich
mit einer Hirtentasche und einer Schleuder bewaffnet, was ihm
den unschtzbaren Vorteil der leichteren Beweglichkeit sicherte.
Hinzu kam, da der philistinische OSTWAM sechs Ellen und
eine Handbreit hoch war eine geradezu riesenhafte Krper-
gre (fast 4 m!), die ihn dem kleinen, untersetzten Israeli gegen-
ber noch weiter benachteiligte. Bedenkt man schlielich den
taktischen Effekt des berraschungsangriffs, der sich gleichfalls
zuungunsten Goliaths auswirken mute, so darf man ruhig be-
haupten, da der ungleiche Kampf im voraus entschieden war.
Die Frage, wer ihn begonnen hat, wird die Experten noch
lange beschftigen. Genaue Nachforschungen haben ergeben,
da whrend der 40 Tage, die dem Ausbruch der Feindseligkei-
ten vorangingen, keinerlei Truppenbewegungen stattfanden und
da sich zum Schlu sogar Anzeichen einer Entspannung be-
merkbar machten, die eine Lsung auf diplomatischem Weg
mglich erscheinen lie. Warum diese Mglichkeit scheiterte,
lt sich ohne besondere Mhe der schon mehrfach zitierten
Quelle entnehmen: Goliath trat hervor und ging einher, wh-
rend David, der gleichen Quelle zufolge, eilete und lief vom
Zeuge gegen den Philister. Damit drften die letzten Zweifel
beseitigt sein, wer im vorliegenden Fall als Aggressor zu be-
zeichnen ist.
Indessen soll auch die menschliche Seite des Vorfalls nicht zu
kurz kommen. Das Wort hat der junge Schildtrger Goliaths,
der sich im Militrspital nur langsam von den Folgen des er-
littenen Schocks erholt:
Oberstabswachtmeister Goliath griff niemals als erster an,
sagte uns der junge Kriegsversehrte, wobei er mhsam Haltung
annahm. Er war ein grundgtiger Mensch, voll Lebensfreude
und Humor. Manche Leute hielten ihn auf Grund seiner ueren
Erscheinung fr einen brbeiigen Krieger, aber die rauhe
Schale verbarg einen weichen Kern. Er liebte Musik, versuchte
sich an der Harfe und stimmte am Lagerfeuer gern ein kleines
Liedchen an, wie etwa: Ich hab nicht Vater noch Mutter, ihr
Juden, habt Mitleid mit mir... Der Oberstabswachtmeister

169
war nmlich als Waise aufgewachsen und hatte schon damals
unter seinen ungewhnlichen Krpermaen zu leiden. Nichts
lag ihm ferner als Raufhndel, nichts hate er so sehr wie den
Krieg. Sicherlich wollte er diesem Hebrerjngel eine Kompro-
milsung vorschlagen, die fr beide Teile annehmbar gewesen
wre. Und seine abflligen Bemerkungen ber den Gott der
Hebrer waren wirklich nicht bse gemeint. Das sagt man so,
ohne sich viel dabei zu denken. Mein guter OSTWAM dachte
nur an sein Heim und seine Familie. Er wollte in Ruhe seinen
Acker bestellen, nichts weiter. Ich werde es nie verwinden, da
er seinen Lieben auf so hinterhltige Weise entrissen wurde.
Zu diesem Bild des biederen, friedfertigen Landbewohners,
wie es hier aus der Schilderung eines unmittelbar Beteiligten er-
steht, lt sich wohl kaum ein peinlicherer Gegensatz denken als
die wendige Figur seines gefinkelten, mit allen stdtischen Salben
geschmierten Gegners, dessen berechnende Wesensart schon
daraus hervorgeht, da er lang vor dem Kampf Erkundigungen
einzog, welcher Lohn denjenigen erwarte, der diesen Philister
erschlgt und wendet die Schande von Israel. Erst nachdem er
sich zahlreicher materieller Vergnstigungen aus der kgl. Saul-
schen Privatschatulle versichert hatte, war er bereit, in den Kampf
zu ziehen bei dem er sich (was nicht einmal von israelischer
Seite geleugnet wird) einer unkonventionellen, auerhalb aller
internationalen Abkommen stehenden Waffengattung bediente.
Da er diese Waffen, eine Art steinerner Dum-Dum-Geschosse,
planmig und zielbewut aus den israelischen Wasserlufen ge-
wonnen hatte, also schon seit geraumer Zeit heimliche Kriegs-
vorbereitungen betrieb, bedarf keines weiteren Nachweises und
erhrtet die von neutralen Beobachtern aufgestellte Aggres-
sionsthese. Wenn man seine provokatorischen Auslassungen vor
Beginn des Kampfes genauer auf ihren Inhalt prft, erwartete er
im Bedarfsfall sogar Hilfe von oben. Man wei, was das be-
deutet.
Der Kampf als solcher hat, wie wir schon sagten, der Ge-
schichte Israels kein Ruhmesblatt hinzugefgt. Nach berein-
stimmenden Augenzeugenberichten mu die Kampfweise Da-
vids geradezu barbarisch genannt werden. Keiner, der dabei war,
wird je vergessen, wie dieser entfesselte Hysteriker auf seinen
unbeweglichen Gegner losstrzte und unbarmherzig auf den
schon Gestrauchelten einschlug, whrend seine vorsichtig im
Hintergrund verbliebenen Kohnnationalen ein ohrenbetuben-
des Triumphgeheul anstimmten. Es war einfach widerlich.

170
OSTWAM Goliath gehrt fr alle Zeiten zu den tragischen
Heldengestalten der Kriegsgeschichte. In seiner rhrenden
Naivitt hatte er geglaubt, da die Stunde der Befreiung fr das
besetzte Palstina gekommen wre. Er fiel fr die Freiheit der
Philister, er fiel im Kampf gegen einen bermchtigen Gegner,
dem er sich arglos gestellt hatte. Seiner hart geprften Witwe
wendet sich die allgemeine Anteilnahme zu. Zum Abschlu
geben wir ein Gesprch wieder, das wir mit Frau Franziska
Goliath im Kreise ihrer vierzehn Kinder fhren durften:
Ich habe keinen Mann und meine Kinder haben keinen Vater
mehr, sagte sie schlicht. Das Leben wird schwer fr uns sein.
Was wir besaen, ist uns von der plndernden Soldateska Israels
geraubt worden. Nein, ich will nicht weinen. Aber wenn diese
armen Waisenkinder mich immer wieder fragen: Wo ist Pappi
Goliath? Kommt er bald zurck? Hat er schon alle Juden er-
schlagen? dann bricht mir das Herz. Und die Welt schaut zu,
ohne etwas zu tun...
Wir senkten ergriffen den Kopf vor dieser Frau und Mutter,
die einem unverschuldeten Schicksal tapfer die Stirn bietet. Das
Rad der Geschichte ist ber das kleine Volk der Philister hin-
weggerollt. David hat gesiegt. Es war ein Sieg der rohen Kraft
ber den Geist des Friedens. Goliath das wird kein wahrheits-
liebender Mensch noch lnger bezweifeln wurde das Opfer
einer schamlosen Aggression.
Ephraim Kishon, der israelische Satiriker
von internationalem Rang, trifft mit seinen
neuen Geschichten wieder mitten
ins Schwarze der ungefhr mittelgroen
Alltagsprobleme. Ironisch, selbstkritisch, aber
immer mit Chuzpe, geht er
den Dingen auf den Grund. Einem
Rohrbruch zum Beispiel, der orientalischen
Gastfreundschaft, dem Nepotismus oder dem
Rtsel der dritten Schraube...

Ein echter Kishon!

DM 3.80

dtv Deutscher
Taschenbuch
Verlag

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