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Die Insel Rügen
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eBook366 Seiten4 Stunden

Die Insel Rügen

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Über dieses E-Book

Keine Geringere als Käthe Miethe schrieb das Vorwort zu dem Band von Wolfgang Rudolph, den der Maler Georg Hülsse illustrierte. Mit Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis führt der Autor über die Insel Rügen, erzählt von der Eigenart der Landschaft, von den Menschen und ihrer Geschichte. Da werden die vier Gesichter des Swantevit wieder lebendig und auch die Zeit, als Rügen noch Festland war.

Der Leser erfährt die Sicht von damals mit ihren Wertungen und Schlussfolgerungen und wird sich den Worten Käthe Miethes vorbehaltlos anschließen:

"Vollständigkeit ist ein Ziel, an das sich ein echtes Heimatbuch nie verlieren darf. Es soll sich an das Wesentliche halten. ... Rügen, so wie es sich heute zeigt, wie es die Rüganer kennen, die Gäste erleben und lieben, diese bunte Welt der Bodden und Beeken, der Wälder und Felder, Rügen, so wie es in Jahrtausenden geworden ist durch die See, die noch heute von allen Seiten in das Land einzieht, durch das Wirken der Menschen, die Insel der Schiffer, der Fischer und der Bauern - es läßt sich mit wenigen Worten nicht umreißen."
SpracheDeutsch
HerausgeberHinstorff Verlag
Erscheinungsdatum1. Juni 2015
ISBN9783356020069
Die Insel Rügen

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    Buchvorschau

    Die Insel Rügen - Wolfgang Rudolph

    Die vier Gesichter des Herrn Swantevit

    Mit Donnergetöse poltert der D-Zug über das stählerne Brückenwerk des Rügendammes hinweg. Gleich werden wir Altefähr passieren, den ersten Bahnhof jenseits des Festlandes, den ersten Bahnhof auf der Insel.

    Lächeln muß ich, wenn ich mich daran erinnere, was ich mir unter der „Insel Rügen vorstellte, als ich zum ersten Male hierher kam. Das war vor beinahe 15 Jahren. Damals schwamm unser Eisenbahnzug auf einem Fährschiff über das weite, blaue, im Sonnenglanz schimmernde Wasser – ein unsagbar schönes Erlebnis, das Erlebnis für einen kleinen Kerl, der seine erste Ferienreise macht. Die Wagen unseres Zuges wurden auf den Dampfer geschoben, und endlich hörte das Stillsitzen auf dem harten, von dicken Damen eingeengten Bankplatz auf. Das Schiff war Freiheit, die Nacht der stundenlangen Bahnfahrt war zu Ende. Im Morgenlicht des Sommertages lag der Hafen: Masten, Rauch und kühler Seewind. Drüben, am anderen Ufer, war es mit meiner Ruhe aus. Diesem ersten Erlebnis mußte ja, vielleicht schon in wenigen Minuten, die Entdeckung des noch nie gesehenen „ganz großen Meeres folgen – denn Rügen war doch eine Insel!

    So klein, wie ich es mir mit sechs Jahren vorgestellt hatte, ist unser Rügen nicht: kein Eiland, sondern an Fläche umfangreicher als der Raum von Groß-Berlin. Wo sollte auch sonst eine Inselbevölkerung Platz haben, die gut und gern die Einwohnerzahl einer Großstadt ausmachen könnte.

    Rügen ist mit seiner Fläche von 968 Quadratkilometern keine kompakte Masse, sondern ein unregelmäßiges Gebilde aus verschiedengestaltigen Inselkernen, die untereinander durch Nehrungen verbunden, von Buchten und Meerengen begrenzt und von Seen durchbrochen werden. Rügens Küsten sind nicht weniger als 573 km lang; das entspricht einer Strecke vom Rhein bei Köln bis zur Oder bei Küstrin.

    Die Bodden, jene mit dem Meere verbundenen fischreichen Binnenwasser, schaffen die charakteristische zerlappte Gestalt der Insel. Sie stimmen den ewigen Dreiklang an aus dem Blau des Himmels, aus der Farbe des allgegenwärtigen Wassers und aus dem Bunt der Küstenkanten, sie machen Rügens Landschaftsbild so verwirrend und so schön.

    Die Ostsee ist die Seele der Insel.

    Die ausgeprägte Gliederung der Landschaft verursachte bis in die neueste Zeit hinein große Unterschiede in der Bevölkerung unserer Heimat: Sitten, Gebräuche und auch die Aussprache des Plattdeutschen wichen oft erheblich voneinander ab; auf allen Gebieten verlief die Entwicklung recht verschieden.

    So konnte es geschehen, daß die Mönchguter jahrhundertelang ein abgeschlossenes Dasein führten und sich entsprechend ihrer Arbeitsweise die alten Bräuche und Trachten erhielten, bis in unsere Zeit, die sich mit Hilfe der Technik den Zugang zur Halbinsel erzwang. Vorher hatten die Mönchguter mit dem eigentlichen Rügen kaum Verbindung gehalten und stattdessen den Bug ihrer Boote nach Stralsund und Greifswald gewandt.

    Ebenso war es auf Ummanz, der stralsundischen Insel am Westufer Rügens, und auch auf Hiddensee, das ja eigentlich ein Teil Rügens ist. Auch die Bewohner der Halbinsel Wittow sagen noch heute, wenn sie mit dem Kleinbahn-Trajekt über den Boddenstrom fahren: „Nu geiht dat na Rügen!", als wäre Wittow eine Insel für sich.

    Solche besonderen landschaftlichen Verhältnisse sind im Leben des Alltags alles andere als romantisch! Wir denken uns Rügen als „Ostsee-Insel-Großstadt; in ihr gibt es aber noch „Stadtviertel, wo elektrisches Licht unbekannt ist. Die ärztliche Betreuung und auch die kulturelle Arbeit mit der Bevölkerung wird in den entfernt gelegenen Ortschaften mitunter mühevoll, zumal die Straßen sich stellenweise noch recht wenig von den mittelalterlichen Landwegen unterscheiden. Es gibt auf Rügen rund 250 Einzelsiedlungen, Bahnwärterhäuschen, Leuchttürme, Mühlen, Forsthäuser, aber auch einsame Schulen, und die Entfernung solcher Ansiedlungen vom nächsten Dorf ist oft groß. Auch förderte diese Abgeschiedenheit ganzer Halbinseln manche Schildbürgereien, die zwar originell, aber durchaus nicht bewundernswert sind und nichts mit der gesunden, urwüchsigen Eigenart echter Inseloriginale gemein haben.

    In einem Land, auf dessen Hünengräbern nachts bei Neumond die Katzen Karten spielen, ist vieles möglich und erklärlich, vieles auch verzeihlich. Mich interessiert dabei nur, ob die spielwütigen Hünengrabkatzen einen handfesten Skat dreschen mögen, oder ob sie sich mit Doppelkopf begnügen. Leider war, als ich das einmal feststellen wollte, gerade kein Neumond …

    Einen entscheidenden Wandel erfuhr das unterschiedliche Gefüge der rügenschen Bevölkerung durch den Zustrom in den Jahren 1944 bis 1946, wobei sich die Einwohnerzahl der Insel verdoppelte. Vielen abgeschiedenen Orten tat der Zufluß neuen Blutes not; er wirkte ausgleichend und anpassend, lockerte erstarrte, überspitzte lokale Gegensätze auf und schliff sie allmählich ab.

    Ob Wittower, Jasmunder, Mönchguter, Ummanzer, Zudarer oder Rüganer von Putbus, Garz und Bergen: Alle diese 89000 Menschen umschließt das Band der blauen See, die das komplizierte Gebilde „Rügen" erst zu einer Einheit macht, so daß die Insel ganz ausgeprägte und gegenüber dem Festland unterschiedliche Züge trägt, die teilweise geschichtlich begründet sind.

    Als sich um die Wende des ersten Jahrtausends das Christentum über den Ostseeraum ausbreitete, Pommern, Mecklenburger, Dänen, Schweden und Polen längst christlich geworden waren, verteidigten die damaligen Bewohner unserer Insel ihren alten Glauben mit einem bewundernswerten Fanatismus und einer erstaunlichen Zähigkeit. Niemals war Rügens insularer Charakter auch geistig so ausgeprägt wie damals und – im Jahre 1920!

    Als in den Tagen des Kapp-Putsches die Reichsregierung zum Generalstreik aufrief und überall in Deutschland die Eisenbahner und Postler ihre Arbeit niederlegten, fragte man sich auf Rügen achselzuckend: „Wat sall dat? „Was kümmert uns das Festland?

    Und nach wie vor rollten die Züge fahrplanmäßig über die Insel, von Saßnitz bis zum Sund. Weiter ging es nicht, weil sich auch die Trajektbesatzungen dem Generalstreik angeschlossen hatten. Rügens Briefträger hingen sich mit Schwung ihre leeren Taschen um und trugen das Bündelchen lokaler Post aus, ganz wie früher, von Arkona bis zum Palmer Ort.

    So geschehen noch in unseren Tagen!

    Der alte Wendengott Swantevit, dessen Standbild auf Arkona ragte, besaß vier Gesichter; viergestaltig ist auch das heutige Antlitz seiner Insel.

    Entlang der Küste liegen Rügens Ostseebäder, acht an der Zahl: Thiessow, Göhren, Baabe, Sellin und Binz bilden die Gruppe auf der Südhälfte der Insel, Lohme, Breege-Juliusruh und Dranske sind die Bäder im Norden. Sie haben alle etwas Verwandtes, eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung im selben Zeitraum und in der gleichen räumlichen und geistigen Richtung.

    Nach 1871 entstanden in diesen Orten die großen Hotels und Fremdenheime; damit wurde der Schritt vom Fischerdorf zum Badeort getan. „Butenlandsche" wanderten zu, wodurch sich die Einwohnerzahlen der Küstenorte verzehnfachten. Häuser schossen aus der Erde; größtenteils waren es Bauten, die gar nicht zur Landschaft der Insel paßten. Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Seebrücken wurden erbaut, Licht-, Wasser- und Kanalisationsleitungen gelegt, Kursäle, Kinos, Warmbäder und Tennisplätze errichtet. Dadurch glich das äußere Bild dieser früheren Fischerdörfer weit eher dem einer Stadt auf dem Festland, als etwa einer der Inselstädte Garz oder Bergen, wo man teilweise noch heute den guten alten Brauch übt, die Abwässer einfach auf die Straße zu gießen, wo die Hausfrauen ganzer Viertel gezwungen sind, sich ihr Wasser eimerweise aus dem städtischen Brunnen zu holen.

    Der herrliche Wald der Küstengebiete wich den Villenbauten, sein Saum wurde von Schuttabladeplätzen verschandelt. Am Strande machten Netze und Teerkessel den Badeanstalten und Liegekörben Platz. So manches Fischerboot verfaulte am Ufer, weil sein Besitzer dem alten Handwerk untreu geworden war.

    Allsommerlich strömten fortan Zehntausende von Erholungssuchenden in die Rügenbäder; bereits um die Jahrhundertwende waren es fast 50000!

    Ein Höchststand wurde 1913 mit rund 90000 Kurgästen erreicht. Heute dürften, da Rügen wie noch nie zuvor der Jugend durch Kinderheime, Wanderherbergen und Ferienlager erschlossen wurde, jährlich mehr als 100000 Besucher im Sommer auf die Insel kommen, von denen etwa zwei Drittel Kurgäste der Badeorte sind.

    All das bunte Leben und Treiben beschränkte sich aber früher auf wenige Sommerwochen, in denen es die Rügenbäder an Komfort mit mancher Großstadt aufnehmen konnten. Bereits im September lagen jedoch diese selben Orte wieder wie ausgestorben da. Bald deckte das Herbstlaub seinen Mantel über die Spuren der Badegäste am Wege, über zerbrochene Thermosflaschen, weggeworfene Sardinendosen, Keks- und Zigarettenschachteln und über vergilbte Zeitungen.

    Erst wenn die Buchenwälder wieder junges Grün entrollten, begannen die Arbeiter der Kurverwaltungen, die winterlichen Frost- und Sturmflutschäden an Promenaden, Seebrücken, an Hochufer und Wegen auszubessern. Zu Pfingsten wurden die Strandkörbe aus dem Schuppen geholt und gelüftet. Die Saison konnte von neuem beginnen! In längst vergangenen Jahren putzten nun auch die jungen Fischer und manchmal sogar der Amtsvorsteher ihre Kieker, um die ersten badebehosten „Maikatzen" am Strande besser beobachten zu können.

    Der zunehmende Bombenterror der letzten Kriegsjahre brachte leidvolles Leben auch in die Winterstarre und Winterruhe der Rügenbäder. Menschen, die Haus und Habe verloren hatten, suchten eine Unterkunft. Ganze Schulen rückten mit allem Mobiliar an, mit Globussen, Elektrisiermaschinen, mit Knochengerüsten und Korbflaschen voll Säure.

    Dieser ersten Welle der Not folgte nach Kriegsende eine zweite, stärkere: die der umgesiedelten Neubürger. Die örtlichen Schwierigkeiten wuchsen bedrohlich an. Die wenigen freien Wohnräume waren nicht winterfest; Seuchen flackerten auf. Es fehlte an Verkehrsmitteln, an Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen, sogar die Friedhöfe wurden zu klein. Größter Mangel herrschte an Arbeitsmöglichkeiten. Überall hatte auch auf Rügen der Hitlerkrieg seine Spuren hinterlassen.

    Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht konnten die ersten Schritte auf dem mühseligen Wege aus diesem Chaos getan werden, zumal sich Frauen und Männer gefunden hatten, die nicht nur jammerten und stöhnten oder argwöhnisch abwarteten, sondern anpackten und mithalfen.

    Den unbekannten Frauen, die als erste Helferinnen in die Typhusmassenquartiere gingen, die sich um den Unterricht der Flüchtlingskinder kümmerten, allen Frauen und Mädchen, die im Schneesturm der eisigen Wintertage die Straßen zur Kreisstadt freischippten, – ebenso den Männern, die die erkalteten Kessel der rügenschen Kleinbahnlokomotiven mit Holzfeuern wieder unter Dampf setzten, Autowracks zu Omnibussen zusammenbauten, Telefonleitungen wiederherstellten und sich, von allen Seiten angefeindet, in der Verwaltung für eine sinnvolle, gerechte Wohnraumverteilung einsetzten, war es allein zu verdanken, daß der Wille zum neuen Aufbau gestärkt wurde und bereits 1946 einige Rügenbäder wieder Kurgäste empfangen konnten.

    Längst sind aber nicht alle Probleme gelöst; besonders die Wohnverhältnisse der Neubürger sind in Rügens Bädern teilweise schlechter als auf dem Festlande. Doch die geleistete Arbeit der letzten Jahre verheißt einen weiteren planvollen Aufbau unserer Badeorte.

    Die Industrie prägt Rügens zweites Antlitz.

    Die Anfänge einer industriellen Verwertung rügenscher Bodenschätze lassen sich bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen; Ansätze verschiedener Industrien – eine Zuckerfabrik, eine Papiermühle, eine Tuchfabrik, Ziegeleien – waren in mehreren Orten zu erkennen. Ein regelrechter Industriebezirk entstand bei uns jedoch erst durch die Gründung moderner großer Kreidewerke auf Jasmund. Seither gehören deren Schlämmanlagen und weiße Bruchwände als Wahrzeichen zum Bilde der rügenschen Landschaft.

    Wie überall in der Welt spiegelt sich auch hier auf der Insel die jeweilige Lage der Arbeiterklasse in den Ereignissen um ihre Betriebe wider. Die Streiks der polnischen Kreidebrucharbeiter um 1900, die Lohnkämpfe der zwanziger Jahre und schließlich die Übernahme der größten Werke in das Eigentum des Volkes waren Stationen der vorwärtsdrängenden Entwicklung.

    Am Rande des Industriegebietes entstand aus bescheidenen Anfängen der Hafen von Saßnitz, in dem das sinnvolle Wirken friedlichen Handels und völkerverbindenden Verkehrs im Nazireich mehr und mehr von den Kriegsvorbereitungen überschattet wurde. Die Bomben des 6. März 1945 beendeten diesen Zustand, und wenig später wurde auch der Schlußstrich unter die Epoche der Konzernbetriebe in der benachbarten Kreideindustrie gezogen.

    Arbeiter und Ingenieure der Kreidewerke waren es, die die verbliebenen Anlagen umgruppierten, den Produktionsvorgang von der Rohkreidegewinnung auf die Schlämmkreideherstellung umstellten und die Betriebe wieder in Gang brachten, so daß man heute in der Lage ist, sogar qualitativ hochwertige Exportlieferungen durchzuführen.

    Auch aus dem Hafengebiet von Saßnitz wurden die Trümmer des Hitlerkrieges geräumt und die schweren Bombenschäden an der Hafenmole in jahrelangem verbissenen Kampf gegen die elementaren Vernichtungskräfte der Herbst- und Frühjahrsstürme beseitigt, die beschädigten Trajektanlagen instand gesetzt.

    Das alles geschah unter den denkbar größten Schwierigkeiten, weil der Rügendamm, der Lebensnerv der Insel, unsere Verbindung mit dem Festland, durch die von den Nazis befohlenen Sprengungen zerstört worden war. Seine Wiederherstellung war eine Tat.

    Die Ernährungslage der sowjetischen Besatzungszone forderte den raschen Aufbau einer Flotte leistungsfähiger Fischereifahrzeuge, als deren Standort der Hafen von Saßnitz ausgesucht worden war. Am 7. Februar 1949 trafen hier die ersten zwölf Kutter des volkseigenen Betriebes „Fischfang" ein. Heute fahren fast 200 Saßnitzer Kutter zu ihren Fangplätzen, von der Doggerbank bis zum Gotlandtief. Ihnen bahnten die Männer eines anderen Volksbetriebes den Weg; die Taucher und Bergungsarbeiter, die den zahlreichen Wracks der von Bomben und Minen zerfetzten, vor Saßnitz und vor der rügenschen Ostküste gesunkenen Schiffe zu Leibe gingen und so zu treuen Helfern der Fischerei und Schiffahrt wurden.

    Da der gelandete Fisch schnell verarbeitet werden muß, wenn man seine Qualität erhalten will, entstanden nach 1951 im Saßnitzer Hafen die großräumigen Werkhallen des Fischkombinates, das seine Konserven, Räucherwaren, Marinaden und Salzheringe in die gesamte Republik versendet und mehr als tausend Werktätigen Beschäftigung gibt.

    Die Kutterbesatzungen sowie die Frauen und Männer der Verarbeitungsbetriebe brauchten Wohnungen in der Nähe ihrer Arbeitsstellen. Weil Saßnitz keine Unterkünfte mehr bieten konnte, begann der Neubau von Wohnungen, der damals allerdings einfallslosen Architekten als Versuchsobjekt dafür diente, wie weit sich durch unverputzte, mietskasernenartige Wohnblöcke der Geschmack der Arbeiter verletzen ließ. Erst die später errichteten Häuser und die eben fertiggestellte neue Stadtschule zeigen eine erfreuliche Wendung zum Besseren. Als Bauvorhaben über mehrere Jahre hinaus wurde ein neues Wasserwerk in Angriff genommen.

    So wurde Saßnitz aus einer Hafenanlage am Rande des rügenschen Industriegebietes zu dessen Mittelpunkt, zu einem Ort von 8000 Einwohnern, der in einer hoffnungsvollen Entwicklung steht.

    Ein zweites, kleineres Industriezentrum bildete sich nach 1945 um Putbus und Lauterbach. Auch hier bestanden bereits Ansatzpunkte in Form vorhandener Betriebe, wie die Kalksandsteinfabrik, die nahe Ziegelei Ketelshagen und die Fischkonservenfabrik Lauterbach.

    Um den Bedarf der Fischerei an Bootsneubauten und Reparaturen zu decken, wurde die Lauterbacher Werft erweitert. Seit 1946 arbeitet in diesem Ort auch eine Flachsröste. Der Hafen, eine Fischer-Genossenschaft, ein Sägewerk und Torfbrüche sowie die Maschinen-Traktorenstation in Putbus sind fernerhin Teile dieses ebenfalls neuen Industriebezirkes auf Rügen.

    Swantevits drittes Gesicht blickt auf die Landwirtschaft seiner Insel, ein Gesicht voller Runzeln und Falten, die die Gletscher der Eiszeit aus dem Boden formten. Als ist das Bauernland Rügen, so alt wie das Menschengeschlecht darauf.

    Unsere Landwirtschaft unterscheidet sich nicht wesentlich von der Landwirtschaft, wie man sie an den benachbarten norddeutschen Küsten treibt. Nur bedingt die Witterung im nördlichsten Kreis der Republik, daß hier die Feldarbeit erst später einsetzen kann, als im Westen und Süden Mecklenburgs. Selbst innerhalb der Insel gibt es noch spürbare Klimaunterschiede, für jeden beim Beginn der Obstbaumblüte und der Herbstverfärbung des Laubes sichtbar. Am 1. Mai eines der letzten Jahre brachen zum Beispiel die Blüten der Kirschbäume in Altefähr auf; am 4. Mai tat’s in Bergen mein Kirschbaum im Garten, und erst sechs Tage später konnten sich die Blüten auf Arkona entfalten.

    Steinsätze und Hünengräber, Burgwälle und die alten Dorfkirchen gehören mit zum Bilde des Bauernlandes Rügen, das in seinen hauptsächlichsten Grundtönen seit Jahrtausenden das gleiche blieb: Noch immer wird es beherrscht von jenem geheimnisvollen Rhythmus der Natur, der Wachstum, Reife und Ernte bedeutet und von den Menschen, deren Arbeit des Säens und Pflügens, deren Fürsorge um den Boden und seine Früchte stets die gleichen blieben, ob sie nun in der Vorzeit hinter dem Hakenpflug gingen oder heute auf dem Traktor sitzen. Sie prägten dieser Landschaft ihre Züge auf.

    Aus dem alten Kirchdorf Rügen, dargestellt etwa von einem Ortstyp wie Gingst, dem Mittelpunkt des bäuerlichen und handwerklichen Lebens in diesem Sprengel, das zeitweise von den nur selten humanen Besitzern der umliegenden Herrenhöfe zur Ansiedlung von Leibeigenen und Gutsarbeitern herabgewürdigt wurde, entsteht in unseren Tagen das neue Dorf mit seinen neuen Bauten, im Schatten der alten Kirche, mit Kulturhaus, Landambulatorium, Zentral-Schule, Kindergarten, staatlichen Speichern und Werkstätten. Aus dem Kirchdorf der Vergangenheit wurde der ländliche Bezirksmittelpunkt in der Gegenwart.

    Das rauschende, wogende Meer blanker Getreidefelder, die weiten Getreidefelder, die weiten Wiesen am Boddenufer, der Kirchturm über dem entfernten Dorf, ein rohrgedeckter Einzelhof unter uralten Pappeln, die Zeile rotbedachter Neubauernhäuser, moderne Speicher, das Schweinehüttendorf eines volkseigenen Gutes, – die Schlosser und Schweißer einer Maschinen-Traktoren-Station, die Bauern einer Produktions-Genossenschaft bei gemeinschaftlicher Aussaat hinter ihren Drillmaschinen, ein einsamer Schäfer mit Hund und Hütestock, und auch die Möwen, die hinter dem schälenden Traktor flattern und sich auf die Engerlinge im aufgepflügten, duftenden Boden stürzen: Das ist das dritte Antlitz Swantevits!

    Rügen war nie eine „Fischerinsel, etwa wie Hiddensee bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts; dazu ist unsere Insel zu groß. Dennoch erachte ich den Fischer für den typischen Bewohner meiner Heimat, denn außer ihm versteht es niemand, in gleicher Weise Pinne, Schoot und Zeese wie Zügel, Pflug und Sense zu führen. Die meisten rügenschen Fischer sind heute noch „Fischerbauern, sie besitzen außer Boot und Netz ein Stück Ackerland, das sie mit der gleichen Sorgfalt bestellen, mit der sie ihrem Beruf auf dem Wasser nachgehen.

    Von den 58 rügenschen Gemeinden sind nur neun von der Seeoder Boddenküste ausgeschlossen! Rund 900 Fischer sind in den rügenschen Genossenschaften vereint, deren älteste, Saßnitz, bereits 1928 zur Abwehr der Ausbeutung durch Fischaufkäufer und Händler entstand.

    Der Harpunenfund aus dem Moor von Venz bei Gingst zeigt, daß unsere Fischerei ebenso alt ist, wie die Landwirtschaft. Dieses Fanggerät stammt aus der ältesten Steinzeit, aus der Ancylus-periode der Ostsee.

    Der Heringsfang geschieht teilweise auch heute noch mit dem klassischen „Großen Garn, von dem es schon 1296 in der Schenkungsurkunde des Klosters Usedom heißt „dictio vulgariter grote Garne. Nicht viel jüngeren Ursprungs sind die Zeesener der Boddengewässer, die eine Stralsunder Chronik 1449 „Zeeskähne" nennt. Immer noch setzen diese Eineinhalb-Master ihre braunen Segel; Boote, die gekennzeichnet sind durch ihr langes Bugspriet und den gleichlangen Driftbaum überm Achtersteven. An den beiden Auslegern über Bug und Heck schleppen sie, vor dem Wind treibend, die Flundernzeese. Gegen den purpurschummerigen Abendhimmel stehen die Zeesener wie ein Geschwader spinnenbeiniger Gespenster über dem Wasser des Boddens.

    Vermutlich aus Dänemark wurde um 1820 eine umwälzende Fangmethode an unseren Küsten eingeführt: die großen Reusen. Heute stehen 170 dieser Ungetüme längs der Insel; mit ihren Wehren und den raffinierten Kopfkehlen wurden sie zu der Massenfalle für ziehende Herings- und Aalschwärme, die mehr als die Hälfte aller auf Rügen angelandeten Fänge liefert. Anschaffungs- und Unterhaltungskosten sowie die Handhabung dieses riesigen Produktionsmittels übersteigen die Kräfte eines einzelnen und forderten daher noch mehr als das „Große Garn" den Zusammenschluß von Fischern zu Partien oder, wie es bei uns meistens heißt, zu Kommünen oder Reusen-Kompanien, in denen gleiche Rechte gleiche Pflichten bedingen und der Gewinn aufgeteilt wird. Mehr als ein Drittel der rügenschen Fischer sind heute Angehörige solcher Reusen-Kompanien.

    Gegen Ende des Ersten Weltkrieges tauchte wiederum eine neue Produktionsweise auf, die aber heute eigenartigerweise sogar bei alten Rüganern schon nahezu wieder vergessen ist: der Hochseefang mit Fischdampfern. Acht dieser Fahrzeuge waren 1919 in Saßnitz beheimatet. Der erste war „Die Oie von Eduard Rahn. Es handelte sich allerdings nicht um den Typ der bekannten Island-Trawler, sondern um kleinere, umgebaute Schiffe, mit denen erstmalig den von der Küste abwandernden Plattfisch-Schwärmen nachgesetzt werden konnte, und zwar in Fanggebiete, die damals den kleinen und schwachen Motorkuttern unerreichbar waren. Das Wirken dieser Fischdampfer, die fast alle den Inflationsjahren zum Opfer fielen, hatte zu einem interessanten Pressekrieg geführt, der in den Spalten der „Saßnitzer Zeitung für und wider die Ostseefischerei mit Dampfern ausgetragen wurde.

    Fritz Schmidts „Senta", das zweite dieser Schiffe, scheint unsterblich zu sein. Zuerst war sie ein Regierungsfahrzeug, wurde danach zum Fischdampfer umgebaut, fuhr noch eine Weile als Schutenschlepper, ehe sie jahrelang in der Krisenzeit im Saßnitzer Hafen herumlag. Endlich wurde der alte Pott zum zweiten Male umgebaut, diesmal zum Motor-Fischkutter. Als solcher dient er noch heute zur Versorgung der Werkküche im VEB Seehafen Wismar.

    In den zwanziger Jahren folgten in raschem Tempo weitere Neuerungen, die alle diese Fangmethoden über den Haufen warfen und eine Umstellung der gesamten rügenschen Hochseefischerei mit sich brachten:

    Im September 1928 verwendeten in Saßnitz die Gebrüder Meltmann zum ersten Male eine Kutterzeese zum Fang auf Blankfisch, also auf Hering und Sprott. Bald probte auch der Kutterführer Falk diese neue Methode aus und vervollkommnete sie soweit, daß er als Bahnbrecher der Herings-Zeesenfischerei auf Rügen bezeichnet wird.

    Aus Dänemark kam das „Tucken" auf, das paarweise Schleppen eines großen Heringsnetzes durch zwei starke Kutter. Der erste Saßnitzer, der 1932 eine Tuck-Partie aufstellte, war Otto Rink. Zwei Jahre später tuckten bereits alle rügenschen Kutter.

    Die materielle Hilfe der Regierung für die Fischer begünstigt auch ein anderes, mit der Fischerei eng verbundenes bodenständiges Handwerk, die Bootsbauerei. In den letzten Jahren erhielten bei uns 80 Umsiedlerfischer staatliche Kredite zum Bau neuer Boote und zum Kauf von Motoren, wodurch die Bootsbauer und Schlosser auf den Werften der Insel ständig mit Arbeit versorgt sind.

    Die Fischerei war – falls es jemand noch nicht bemerkt haben sollte – „Swantevits viertes Gesicht".

    „Mit Gott per Dampf quer durch die Insel"

    An einem Sommertag liegt der Bahnhof Bergen im Sonnenschein. Rasch entwickelt sich das gewohnte Ferienbild: Auf dem linken Gleis stehen die vier, fünf Wagen des Zuges nach Putbus, der natürlich schon längst voll besetzt ist. Bei der Ankündigung, daß der D-Zug aus Berlin Einfahrt hat, stecken die Rüganer im Putbuser Zuge die Köpfe aus den Abteilfenstern. Jetzt gibt es gleich etwas zu sehen! Denn wenn auf dem gegenüberliegenden Gleis der Schnellzug hält, ist es ein Hochgefühl, als Sitzplatz-Inhaber und „neutraler" Zuschauer an dem beginnenden Kampfe um die Plätze teilnehmen zu können.

    Am D-Zug fliegen die Türen auf, lassen aus allen Wagen Reisende hervorquellen; Koffer purzeln ihren Besitzern voraus, Kinder weinen, ihr Spielzeug-Segelschiff fest an sich gedrückt – Lärm umbrandet den Bahnsteig auf voller Länge. Ein kurzes orientierendes Umschauen, ein Atemholen, dann beginnt der Sturm auf den Putbuser Zug. Fluchend und schwitzend drängen sich die Badegäste vor den Türen. Man schiebt nach, drückt die Zögernden

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