Nordsee: Die Geschichte einer Landschaft
Von Hansjörg Küster
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Nordsee - Hansjörg Küster
1 Die Nordsee, ein Meer
Wir fahren an die See, sagen viele Menschen in Deutschland, und sie meinen damit die Nord- oder auch Ostsee. Das versteht sich gewissermaßen von selbst, erfordert aber eine Erläuterung: »Die See« ist ein Meer, »der See« dagegen ein Binnengewässer. Im Hochdeutschen bezeichnet man die bis über den Horizont hinausreichende Wasserfläche als Meer, in Norddeutschland spricht man von »der See«, so wie im Englischen, Niederländischen oder in den skandinavischen Sprachen. Das umgrenzte stehende Gewässer ist dagegen im Hochdeutschen »der See«, im Niederdeutschen nennt man aber gerade dies »ein Meer«. Darum gibt es die Meere Nord- und Ostsee, aber die Seen Steinhuder Meer, Ewiges Meer und Zwischenahner Meer. Als die in den Niederlanden gelegene Zuiderzee, ursprünglich eine Bucht der Nordsee, durch einen Abschlussdeich vom Meer getrennt wurde und ihr Wasser aussüßte, brauchte sie nach allgemeiner Volksmeinung einen neuen Namen: Der See ist nun das »Ijsselmeer« oder »IJsselmeer« in niederländischer Schreibweise. Im Englischen ist man mit der Benennung von Wasserflächen am konsequentesten: Dort heißt das Binnengewässer immer »lake«, das große, weite Meer zwischen den Kontinenten »ocean« und das kleine Meer »sea«.
Im Sinne der englischen und auch der niederdeutschen Sprache ist die Nordsee eine See. Sie ist nicht nur ein relativ kleines, sondern auch ein weithin flaches Meer, ebenso wie die Ostsee. Aus geologischer Sicht gehört der Untergrund dieser Meere zum europäischen Kontinent. Man findet dort wie in den Festlandsbereichen ein sogenanntes Schelf, einen Kontinentalsockel, der tiefere Erdschichten überdeckt. Im Bereich von Nord- und Ostsee liegt die Oberfläche des europäischen Kontinentalsockels so niedrig, dass das Meer ihn überflutet. Ein Meer, das sich über einer Kontinentalmasse ausdehnt, bezeichnet man als Schelfmeer. Die Nordsee ist ein solches Schelfmeer: In der südlichen Nordsee gibt es kaum Stellen, an denen das Wasser tiefer als etwa 50 Meter ist. Anders verhält es sich nur vor der norwegischen Küste: Am tiefsten Punkt der Nordsee, in der Norwegischen Rinne beziehungsweise im Skagerrak, liegt der Meeresboden bis zu 725 Meter unter der Oberfläche.
Die Nordsee ist ein Nebenmeer des Atlantischen Ozeans. Ein Ozean ist bis zu mehreren tausend Metern tief, denn unter seiner Wassermasse befindet sich kein Kontinentalsockel. Die Nordsee hat zwei Verbindungen zum Atlantik. Die eine besteht nördlich der Britischen Inseln, die andere ist der Englische Kanal im Süden der Inseln, der auch Ärmelkanal genannt wird. Per Konvention wurden Nordsee und Atlantik zwischen den Kreidefelsen von Dover und Calais am Ärmelkanal abgegrenzt sowie im Gebiet zwischen dem nördlichen Schottland, den Shetlandinseln und der Stadt Åles und im Südwesten Norwegens. In neueren internationalen Abkommen wurde die Grenze der Nordsee dann noch ein Stück weit nach Norden versetzt und sehr schematisch vom norwegischen Geirangerfjord nach Westen gezogen. Die Shetlandinseln liegen demnach in der Nordsee, an die Ufer der weiter nordwestlich liegenden Inselgruppe der Färöer brandet der Atlantik.
Auch zwischen Nord- und Ostsee gibt es keine klare Grenze. Am ehesten kann man sie zwischen die dänischen Inseln legen. Dabei werden Skagerrak und Kattegat, die Verbindungen zwischen Nord- und Ostsee, zur Nordsee gerechnet. Aber es gibt auch die Ansicht, die Nordostgrenze der Nordsee zwischen den markanten Leuchtturm von Lindesnes in Norwegen und Hanstholm im Norden Jütlands zu ziehen. Das hätte zur Konsequenz, dass Oslo und die Westküste Schwedens nicht zur Nordsee gehören würden. Und auch die tiefste Stelle im Skagerrak läge dann nicht in der Nordsee, sondern »nur« im Skagerrak.
Die Unklarheiten zu den Abgrenzungen eines Meeres wie der Nordsee verweisen darauf, dass jede Grenze, die man diesem oder einem anderen Meer, auch einem Land gibt, ausschließlich einer Idee entspringt. Die Nordsee definiert sich keineswegs von ihren Grenzen her. Auch Angaben zu ihrer Größe und ihren Wassermengen darf man nicht als absolute Daten auffassen, durch die der Charakter der Nordsee eindeutig zu bestimmen wäre. Unter der Prämisse einer auf bestimmte Weise gezogenen Grenze lässt sich eine Fläche von etwa 550 000 bis 600 000 Quadratkilometer errechnen. Damit enthält die Nordsee dann zwischen 50 000 und 60 000 Kubikkilometer Wasser. Die Grenzen eines Gebietes, sei es nun ein Stück Land oder ein Stück Meer, müssen dann definiert werden, wenn man es beschreiben, nutzen, schützen oder verwalten will. Es muss – im Fall der Nordsee – klar sein, welcher der Anliegerstaaten für welchen Bereich des so definierten Meeresgebietes zuständig ist. Aber mit seinen ökologischen Gegebenheiten, seinem Charakter, seinem land- oder »meerschaftlichen« Eindruck haben künstlich gezogene Grenzen nichts zu tun.
Ihrem Charakter nach ist die Nordsee gerade kein abgegrenzter Raum. Große Bedeutung haben für sie die offenen Verbindungen zum Atlantik, denn sowohl über den Ärmelkanal als auch über die Meeresstraßen nördlich von Schottland dringt Wasser aus dem Atlantischen Ozean ein; dieses Wasser hat für weit im Norden liegende Breiten eine ungewöhnlich hohe Temperatur, denn es stammt aus Mittelamerika. Mit dem Golfstrom gelangt Wasser aus den Tropen, aus der Karibik, an die europäischen Westküsten. Vom Zustrom dieser recht warmen Wassermassen in den Nordatlantik und die Nordsee profitiert die gesamte Umgebung der Nordsee. Dort ist es viel wärmer als in entsprechenden Breiten anderer Weltteile, etwa in Amerika oder Ostasien. Nirgends sonst auf der Welt kann man derart weit nördlich – sogar bis über den Polarkreis hinaus – Getreide anbauen wie im nordwestlichen Europa. Ursache ist die Zuführung warmen Wassers aus den Tropen und dessen Speicherung in den nordeuropäischen Schelfmeeren. Das Wasser der flachen Meere wird im Sommer zusätzlich von der Sonne aufgeheizt, danach halten sich die hohen Wassertemperaturen bis weit in den Herbst, so dass es vor allem in der zweiten Jahreshälfte an Nord- und Ostsee ungewöhnlich mild ist. Bis in den September hinein kann das Korn auf den Feldern bleiben und reifen. Kälteeinbrüche drohen dann in aller Regel noch nicht.
Weil große Wassermengen zwischen dem Atlantik und der Nordsee ausgetauscht werden, ähneln sich die Salzgehalte der beiden Meere. An den Flussmündungen und vor allem zur Ostsee hin nimmt der Salzgehalt des Wassers dann ab. In die Ostsee gelangt etwa doppelt so viel Süßwasser wie in die Nordsee. Durch die Mischung dieses Süßwassers mit dem aus der Nordsee zuströmenden Salzwasser entsteht die größte Menge an Brackwasser auf der Welt. Während die Mengen an Süßwasser, die in die Ostsee gelangen, weitgehend stabil sind, unterscheiden sich die Salzwassermengen, die zwischen den Inseln und über flache Schwellen aus der Nordsee in die Ostsee gedrückt werden, von Jahr zu Jahr erheblich, und entsprechend variiert der Salzgehalt des Wassers, das der Nordsee aus der Ostsee zufließt.
Das Meer vernichtet und segnet, wie man sagt. Das heißt: Jede Küste ist einem beständigen Wandel unterworfen. Pausenlos werden Küsten abgetragen oder zerstört und an anderer Stelle neu gebildet. Will man sie beschreiben, muss man zugleich auf deren Wandel hinweisen und auf ihre Geschichte eingehen.
Für die Grenzziehung von Küstenlinien gilt das Gleiche wie für die Abgrenzung von Meeren: Jede Landkarte, jede Grenze darauf ist Ausdruck von Ideen, Abstraktionen. Alle Küstenlinien werden ebenso per Übereinkunft festgelegt wie die Abgrenzungen eines Meeres. Dass die Realität im Gelände einem idealen Erscheinungsbild einer Küstenlinie auf der Landkarte nicht entspricht oder nicht entsprechen kann, ist leicht zu erkennen, vor allem an der südöstlichen Nordsee, an der deutschen Nordseeküste also. Dort kann die jeweils aktuelle Grenzlinie zwischen Wasser und Land um mehrere Kilometer von der auf der Landkarte dargestellten Küstenlinie abweichen. An der Nordsee verändert sich die tatsächliche Grenze zwischen Land und Meer von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde. Man kann das sehen und dabei erleben, wie Küsten verändert werden: Geschichte spielt sich dann vor unseren Augen ab. Auch die Fixierung von Küstenlinien auf einer Landkarte dient einzig dazu, wirtschaftliche oder politische Zuständigkeiten zu regeln. Für die Darstellung der Ökologie spielen die auf der Karte vermerkten Grenzlinien keinerlei Rolle.
Ein weiterer Grund, warum viele Menschen meinen, dass es eine stabile Küstenlinie gibt, ist die Tatsache, dass alle Orte auf einer Landkarte eine genau festgelegte Meereshöhe haben – Angaben dazu findet man überall, auch in küstenfernen Regionen. An manchen Bahnhöfen sind alte Täfelchen angebracht, auf denen die Meereshöhe auf den Zentimeter oder gar den Millimeter genau angegeben ist. Sie sind auf ein Normalnull bezogen, das 1879 festgelegt wurde. Es entspricht keinem konstanten Wasserstand, sondern ist definiert als der Mittelwert zwischen den höchsten und den niedrigsten Wasserständen, die an einer Küste beobachtet wurden. Die Schwankungen können verschiedene Ursachen haben, etwa durch Gezeiten oder wechselnde Winde ausgelöst sein, die Wasser zeitweilig zur Küste drücken oder von der Küste fernhalten. Seit 1992 folgt man bei der Festlegung von Meereshöhen internationalen Vorgaben; durch die Einführung der neuen Bezugsgröße des Normalhöhennulls haben sich manche Höhenangaben von Bergen auf Landkarten geringfügig geändert, aber sie sind nun überall in Europa auf das gleiche Niveau bezogen.
Wie stark Küstenlinien sich tatsächlich verändern und welche unterschiedlichen Ursachen es dafür gibt, lässt sich sehr gut im Gebiet der südlichen Nordsee zeigen, also dem Bereich der Deutschen Bucht. Es sind deutliche, sich überlagernde Spuren dieses Küstenwandels zu finden, der von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, in Zeiträumen von Jahrhunderten, Jahrtausenden oder Jahrmillionen auftrat und auftritt. Zunächst sollen nun die Küstenveränderungen beschrieben werden, die viele Millionen von Jahren in Anspruch nahmen.
Die Nordsee ist eigentlich ein sehr altes Meer; sie hatte nur immer wieder eine andere Form. Südlich des ebenfalls schon sehr lange bestehenden skandinavischen Gebirges und rings um weitere alte Mittelgebirge in Mitteleuropa, beispielsweise den Harz, gab es immer wieder flache Meere. An ihren Ufern blieb Sand liegen, und in den flachen Meeresbecken bildeten sich kalkhaltige Ablagerungen. In Tiefseebereichen entstanden sie nicht, weil dort der Druck des über dem Meeresboden liegenden Wassers zu stark ist. In flachen Meeresbereichen setzte sich aber nicht immer