Am 22. Dezember traf sich der türkische Außenminister Hakan Fidan in der syrischen Hauptstadt Damaskus mit Abu Mohammad al-Dschulani (Ahmed Hussein al-Scharaa), dem Anführer der al-Qaida-nahen Hayat Tahrir al-Scham (HTS).
Diplomaten aus den USA, Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich haben alle der neuen Führung in Damaskus bereits einen Besuch abgestattet, doch Fidan ist der bisher ranghöchste Besucher aus einem Nato-Mitgliedsstaat.
Das politische und mediale Establishment versucht, die Glaubwürdigkeit der HTS wiederherzustellen, die in der Türkei noch immer als Terrororganisation gilt. Gleichzeitig wird in der Türkei eine legale linke Partei als „terroristisch“ denunziert, deren Aktivitäten von der Verfassung geschützt sein müssten.
Fidans Besuch erfolgte kurz nach dem Regimewechsel in Damaskus in einer Situation, in der die USA, Israel und die Türkei weiterhin um die Aufteilung des Landes streiten. Er ist Teil von Ankaras Bemühungen, seinen Einfluss auf die Zukunft Syriens und die Führung der HTS zu vergrößern und die von Washington unterstützten kurdischen Kräfte auszuschalten.
Fidan und Dschulani umarmten sich vor dem Treffen und traten als die besten Freunde auf. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz nach dem Treffen erklärten beide, dass die von den USA verhängten Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden sollten.
Fidan erklärte: „Wir haben betont, dass die Herstellung von Stabilität in Syrien oberste Priorität hat. Zu diesem Zweck muss im ganzen Land zuerst für Sicherheit gesorgt werden. ... Außerdem müssen die Rechtsstaatlichkeit und der Schutz von Minderheiten gewährleistet werden. Es muss eine inklusive, von Syrern geführte und getragene Regierung gebildet werden, die keine religiöse oder ethnische Gruppe ausschließt.“
Einerseits will Fidan ein Syrien, das „keine religiöse oder ethnische Gruppe ausschließt“, andererseits fordert er, dass die Kurden, welche die Türkei als größte Bedrohung in Syrien betrachtet, keinen legalen Status erhalten. Die „Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien“ wird von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) geführt, die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehen. Sollte sie zu einer dauerhaften Institution werden, befürchtet Ankara die Schaffung eines kurdischen Staats, was ähnliche Tendenzen unter den Kurden in der Türkei ermutigen könnte.
Fidan betonte das Eintreten der Türkei für die territoriale Integrität Syriens: „Die Terrororganisation [PKK/YPG] besetzt das Land des syrischen Volks und stiehlt seine Rohstoffe. Wie in der Vergangenheit, werden wir auch heute nicht zulassen, dass der IS die Gelegenheit ausnutzt. Syrien wird nach seiner Befreiung aus der Dunkelheit des Baath-Regimes vom IS und der PKK gesäubert werden. Es gibt für die PKK/YPG keinen Platz in Syrien. Sie müssen sich so schnell wie möglich auflösen.“
Dschulani betonte die Rolle der Türkei im Kampf für den Regimewechsel: „Unser Freund die Türkei hat dem syrischen Volk seit Beginn der Revolution beigestanden, das werden wir nicht vergessen.“ Auf die Frage nach dem Nordosten Syriens antwortete er: „Wir können nicht zulassen, dass irgendeine Gruppe Waffen in den Händen behält, sei es in den Gebieten unter unserer Kontrolle oder in den Gebieten, welche die YPG kontrolliert.“ Es ist nicht klar, was das für die islamistischen Milizen der Syrischen Nationalarmee (SNA) bedeutet, die ebenfalls von der Türkei unterstützt werden, vor allem im Kampf gegen die YPG, und die nicht unter der Kontrolle von Damaskus stehen.
Derzeit vermeidet HTS Konfrontationen mit den kurdischen Kräften: Zu Beginn der letzten Operation ließ sie die von den (kurdischen) Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierten Gebiete von Aleppo unangetastet und hielt den Dialog aufrecht.
HTS hat zwar die Abschaffung bewaffneter Gruppen angekündigt, scheint es aber nicht so eilig zu haben wie Ankara, die Kontrolle über die von kurdischen Kräften gehaltenen Gebiete zu übernehmen. HTS will ihre Macht innerhalb des Landes und im Ausland konsolidieren, indem sie zwischen den USA und Israel manövriert. Die von dem kurdischen Bündnis SDF kontrollierten Gebiete, in denen sich Energievorkommen und Getreidevorräte befinden, werden jedoch früher oder später zur umkämpften Region werden.
Die USA haben derweil das Kopfgeld auf Dschulani aufgehoben und diplomatische Beziehungen zur HTS aufgenommen. Washington betrachtet den Regimewechsel in Syrien als Teil seines globalen Kriegs gegen den Iran, China und Russland.
Donald Trump, der am 20. Januar sein Amt als neuer US-Präsident antreten wird, hat offen zugegeben, dass die USA Kriege zur Plünderung von natürlichen Ressourcen führen. Am deutlichsten machte er dies mit seiner Forderung, die USA sollten dem Irak „das Öl wegnehmen“. Berichten zufolge hat das US-Militär die Zahl seiner Soldaten in Syrien bereits von 900 auf 2.000 erhöht.
Nachdem die HTS am 27. Oktober ihre Operation begonnen hatte, eroberten ihr nahestehende Milizen Tal Rifaat und Manbidsch, das von kurdischen Kräften unter Leitung der YPG gehalten wurde. Die geplanten türkischen Angriffe auf Kobane östlich des Euphrat wurden letzte Woche durch einen von den USA ausgehandelten, vorläufigen Waffenstillstand vorläufig beendet.
Auf Ankaras Beharren auf der Forderung nach physischer Eliminierung der PKK/YPG durch neue Militärschläge hat die US-Regierung mit einer Drohung reagiert. Die Senatoren Chris Van Hollen (Demokraten) und Lindsey Graham (Republikaner) kündigten in einer gemeinsamen Erklärung am 20. Dezember an, sie hätten einen Gesetzentwurf für Sanktionen gegen die Türkei mit dem Titel „Countering Turkish Aggression Act of 2024“ vorbereitet. In der gemeinsamen Erklärung stellten die beiden Senatoren fest:
Die Angriffe der von der Türkei unterstützten Kräfte auf unsere kurdischen Partner in Syrien gefährden die Sicherheit in der Region und die Bemühungen, ein Wiederaufleben des IS zu verhindern. Heute haben Senator Graham und ich einen Gesetzentwurf für Sanktionen gegen die Türkei eingebracht, den wir umsetzen sollten, wenn sie einen Waffenstillstand und eine entmilitarisierte Zone nicht akzeptieren. Wir wollen ein vereintes, inklusives und stabiles Syrien für alle Syrer, und die Unterstützung unserer syrisch-kurdischen Partner ist von entscheidender Bedeutung für die Erreichung dieses Ziels.
Vor kurzem hat der SDF-Kommandant Mazlum Abdi in einer Erklärung die Bemühungen betont, eine Einigung mit der Türkei und HTS zu erreichen. Gegenüber der Website Sharq erklärte er: „Wir haben nicht um eine föderale Verwaltung in Syrien gebeten. Wir wollen eine dezentralisierte Verwaltung und Selbstregierung. Wir sind für die Einigkeit Syriens, nicht für seine Spaltung.“ Zuvor hatte Abdi gegenüber Reuters angekündigt, wenn es zu einem vollständigen Waffenstillstand mit der Türkei käme, würden alle nicht-syrischen kurdischen Kämpfer im Norden und Osten des Landes (Rojava) nach Hause zurückkehren.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Gleichzeitig ist Ankara zutiefst beunruhigt über das zunehmende Eindringen und den Einfluss Israels in Syrien. Fidan erklärte auf der Pressekonferenz: „Israels Usurpation syrischer Gebiete, bei der es die derzeitige Lage ausnutzt, darf nicht toleriert werden. Israel sollte Syriens Souveränität und territoriale Integrität respektieren und die Sicherheit in der Region nicht weiter gefährden. Die internationale Staatengemeinschaft muss auf Israels rechtswidriges Vorgehen eine konkrete Antwort geben.“
Eine solche Erklärung ist ebenfalls ein Beispiel von Heuchelei. In Wirklichkeit ist die herrschende Klasse der Türkei genauso eine fremde Invasionsmacht in Syrien wie das zionistische Regime. Tatsächlich setzen die beiden Staaten, die zwei der wichtigsten Verbündeten des US-Imperialismus in der Region sind, Methoden ein, die das Völkerrecht verletzen, während sie ihren Rivalen dafür kritisieren. Dazu gehört es auch, Journalisten als Terroristen einzustufen und sie anzugreifen.
Am Donnerstag wurde Berichten zufolge ein Fahrzeug mit den Journalisten Nazim Daştan und Cihan Bilgin, die über die Zusammenstöße zwischen syrischen und kurdischen Kräften in Nordsyrien berichteten, mehrfach von türkischen Drohnen angegriffen. Beide wurden getötet. Die Polizei intervenierte gegen eine Gruppe von Personen, die am Samstag in Istanbul mit einer Presseerklärung gegen die Tötung von Journalisten protestieren wollten, und nahm 59 von ihnen fest. Mindestens neun davon, darunter sechs Journalisten, wurden in Gewahrsam behalten.
Dabei hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch Ende November darauf hingewiesen, dass seit dem 7. November 2023 in Gaza 189 Pressevertreter getötet wurden, und Israels gezielte Angriffe auf Journalisten mit den Worten verurteilt: „Hunderte von Journalisten sind bereits verwundet und von Kugeln und Bomben getroffen worden.“
Israel behauptet, die Journalisten, die es in Gaza angreift, seien keine Vertreter der Presse, sondern „Mitglieder von Terrororganisationen“.
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