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Gar nicht Hollywood – ein Roadmovie mitten durch Europa.

Kiddo (2023)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Wie Bonnie und Clyde

Der Himmel ist groß, der Horizont weit entfernt, wenn man einmal die Stadt verlassen hat. Dann tut sich die Straße auf, von den Niederlanden geht es immer weiter in Richtung Osten bis nach Polen. Es ist eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich.

Ein waschechtes Roadmovie hat Zara Dwinger sich als Debüt-Langfilm selbst beschert, eine Mutter-Tochter-Geschichte der etwas herben Art noch dazu. In Kiddo bekommt Mitteleuropa die Weite Amerikas verpasst, die Autobahnen und Landstraßen führen durchs Nirgendwo, wo es nur Tankstellen, Rastplätze und amerikanisch anmutende Schnellrestaurants und Motels gibt, und irgendwann rauscht der rostige Chevrolet auf der Flucht einfach quer durch ein Maisfeld.

Lu (Rosa van Leeuwen) lebt in einer Pflegefamilie, ihre leibliche Mutter hat sich nach langer Zeit endlich einmal wieder angekündigt. Lu erzählt ihren Pflegegeschwistern davon: In Hollywood sei die Mutter gewesen, ihre Stunts mache sie alle selbst. Im Kopf der Elfjährigen wie auf der Leinwand gibt es dazu immer wieder kurze Filmausschnitte, ein sich überschlagendes Auto, Geräusche wie Spezialeffekte der Einbildung.

Aber die Mutter kommt nicht; und auch wenn ihre Pflegemutter (Aisa Winter) sie aufheitern will, Lu bleibt am nächsten Tag dann lieber im Bett, bleibt allein daheim. Und dann kommt sie eben doch: Karina (Frieda Barnhard) steht auf einmal vor der Tür, ein Arm geschient – ein Unfall, ja klar, bei einem Stunt, komm, Kiddo, lass uns einen kleinen Ausflug machen. Der Chevrolet steht um die Ecke herum, und ganz schnell wird aus dem Trip in die Innenstadt eine Reise, erst nur für eine Nacht, dann immer weiter.

Bei der Großmutter habe sie ganz viel Geld versteckt, das werde reichen für ein gemeinsames Haus, sagt Karina. An diesem Versprechen hält Lu sich fest, es trägt sie lange Zeit durch den Film, auch noch, als ihr langsam dämmert, dass ihre Mutter nicht die Mutter ihrer Wunschträume ist.

Die gewisse Distanz steckt schon im Rufnamen, der dem Film seinen Titel gibt: Kiddo – „Kleine”. Karina weiß wenig von Lu und bemüht sich auch nicht, das zu ändern. Stattdessen versucht sie, der Tochter ihre eigene Lebenshaltung mitzugeben – Erziehung im Zeitraffer, die Strecke ist ja lang genug. Alles oder nichts, Kiddo, wir sind Bonnie und Clyde, gemeinsam und manchmal auch gegen die Welt.

Und selbstverständlich ist die coole Mutter in Hotpants und Cowboystiefeln, die Sonnenbrille immer dabei, interessanter als das Heim mit seinen Stockbetten und viel zu vielen Kindern; hier bekommt sie exklusive Aufmerksamkeit, kleine Abenteuer wie Zechprellerei inklusive Flucht ins Maisfeld.

Diese Mutter braucht die Tochter vielleicht noch mehr als umgekehrt, als Anker und Spiegelung, dass nicht alles falsch sei in ihrem Leben. Die aufrichtigen Details tröpfeln erst nach einiger Zeit in die Erzählungen ein: „Sie geben dir Pillen, und dann wird alles leise…”

Und doch, so viel Magie erlaubt sich die Geschichte, erzählt Kiddo nicht von emotionalem Missbrauch, sondern von einer Kleinstfamilie, die sich so finden muss und erst kann, weil im institutionalisierten Rahmen der Begegnung wahrscheinlich nie Raum gewesen wäre für diese Wahrheiten, die am Schluss tatsächlich Versöhnung zulassen, und Selbstlosigkeit.

Dwinger und ihre Co-Autorin Nena van Driel versenken diese Geschichte in einem popkulturell informierten, aber nie aufgesetzten Mischmasch aus Niederländisch und Englisch, am Ende kommt noch ein wenig Polnisch dazu. Darin stecken Bedeutungs- und Erfahrungsebenen von Migration und Ausschlüssen, von einem Leben am Rand der Gesellschaft.

Douwe Henninks Bilder unterstreichen das, fast alle Landschaften wirken weit und einsam, von Großstädten und Großbürgertum keine Spur. Dafür ist da viel Sehnsucht nach einer Heimat, einer gemeinsamen womöglich, in der dieses ungleiche Paar, das sich so ähnlich sieht, doch einen Platz hat: „Home sweet home, here we come.“

Kiddo (2023)

Im Stockbett des Kinderwohnheims liegend, erzählt die elfjährige Lu träumerisch von ihrer Mutter. Karina sei eine berühmte Hollywoodschauspielerin, die nach Orangen duftet und mit den Sternen sprechen kann. Noch einmal schlafen, dann kommt sie endlich zu Besuch. Doch statt eines geordneten Treffens im niederländischen Heimatstädtchen findet sich Lu plötzlich in einem rostig-alten Chevrolet – mit Cowboystiefeln und Perücken im Gepäck. Das Ziel: ein Haufen Geld, der bei Lus Oma in Polen versteckt sein soll. Damit planen Mutter und Tochter, die ab jetzt nur noch Bonnie und Clyde heißen, endlich für immer zusammenzubleiben. Auf ihrem hollywoodreifen Roadtrip gen Osten, stets eine Autolänge vor der sie einholenden Wirklichkeit, versuchen sie ihrem Traum näher zu kommen.

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