Kritische
Männlichkeits
forschung in
der Theologie
Peter-Ben Smit
Männlichkeiten werden kon
struiert. Wie es dabei um Macht,
Normen und Beziehung geht,
zeigt die Kritische Männlichkeits
forschung. Erst langsam nähern
sich Theologie, Religionswissen
schaften und Männlichkeitsfor
schung an. Wenn dies geschieht,
kann es spannend werden.
«Ich wusste nicht, dass ich auch ein Gender
habe.» Als ein Student mir dies sagte, brachte er
damit auf den Punkt, weswegen es so etwas wie
kritische Männlichkeitsforschung braucht. Als
Geschlecht ist Männlichkeit häufig unsichtbar.
Männliche Rollen in Gesellschaft und Religion
wurden in der feministischen Forschung und in
der Frauenforschung durchaus angesprochen
und problematisiert. Ein Beispiel bezüglich
Männlichkeit in Religion und Theologie ist
Mary Dalys berühmte Aussage: «If God is male,
then the male is God.» Weiblichkeit stand aber
bei den Analysen der feministischen Forschung
häufig im Vordergrund, oder sie konzentrierte
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sich auf Personen mit sexueller Orientierung,
die nicht dem Mainstream entspricht, wie in der
frühen Lesben und Schwulenforschung.
Diese Formen von Forschung haben zum
Verständnis der Konstruktion von Weiblich
keit und vielfältigen sexuellen Orientierungen
sehr viel beigetragen. Aber diese Fokussierung
führte auch dazu, dass Männlichkeit als (kon
struiertes) Geschlecht eher wenig erforscht
wurde und deswegen auch weniger gut
besprechbar war. Männlichkeit funktionierte
sozusagen als der Elefant im Raum, domi
nant anwesend, aber nicht thematisiert. Denn:
Wissen wir nicht alle, was «normale Männer»
sind und was «Männlichkeit» ist? Die Antwort:
Nein, das wissen wir nicht, denn die Ansichten
haben sich diesbezüglich im Laufe der Zeit
und in diversen Kontexten heterogen entwi
ckelt. Gleichzeitig kommen in einer Gesell
schaft ganz unterschiedliche Ideale vor: Galt
im Mittelalter für manche zum Beispiel, dass
echte Männer Sex haben und Kinder zeugen,
war für andere genau dies äusserst unmännlich:
Echte Männer leben zölibatär und haben ihre
Lust im Griff!
Seit den frühen 1980er Jahren hat sich die
ses Bild in der Geschlechterforschung geän
dert. Und seit den (frühen) 1990er Jahren wurde
kritische Männlichkeitsforschung auch in der
Theologie und der Religionswissenschaft
rezipiert, obwohl sie dort noch immer ein
eher marginales Phänomen darstellt. Es wird
relativ wenig erforscht, welche Formen von
Männlichkeit in religiösen und theologischen
Diskursen eine Rolle spielen, wie sie dies tun,
wie sie zustande kommen und welche Effekte
sie haben. Dies ist erstaunlich angesichts der
Tatsache, dass Personen, die Männlichkeit
verkörpern (sprich: meist Personen mit einem
X und einem YChromosom), in der Gesell
schaft und den religiösen Gemeinschaften eine
dominante Rolle spielen. Im Folgenden wer
den Hauptlinien kritischer Männlichkeitsfor
schung dargestellt. Zwei Beispiele illustrieren,
wie gewinnbringend diese Forschung einge
setzt werden kann.
Aus der Rippe von Eva
Die Entstehung kritischer Männlichkeitsfor
schung, die sich übrigens lange kaum für Reli
gion interessierte, lässt sich als Schöpfungs
geschichte mit Rollentausch beschreiben: Wo
nach Genesis 2 Gott Eva aus der Rippe Adams
kreiert, ist in der Geschlechterforschung
die Männlichkeitsforschung, etwas verkürzt
gesagt, aus der Frauenforschung entstanden.
Verkürzt ist diese Aussage deshalb, weil auch
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Kritische Männlichkeitsforschung
zeigt auf, dass
es weder eine «natürliche» oder noch
eine «normale»
Männlichkeit gibt.
die Lesben und Schwulenforschung, wie sie in
den 1970er Jahren genannt wurde, eine Rolle
spielte. Als Anfang wird häufig ein Aufsatz von
Carrigan, Connell und Lee erwähnt, in dem die
Autor*innen für eine Soziologie der Männ
lichkeit plädieren. Sie bezeichnen damit eine
Forschungsagenda, die Männlichkeit auch als
etwas sozial Konstruiertes untersucht. Die Auf
merksamkeit ist auf Fragen der Macht und Nor
mativität gerichtet. Unter diesen Forschenden
entwickelte sich Connell zur wichtigsten theo
retischen Stimme.In der Theorie der kritischen
Männlichkeitsforschung wird «Männlichkeit»
nicht als etwas Statisches verstanden. Männ
lichkeiten sind jene Verhaltensmuster, die von
einer Gesellschaft oder von einer Gruppe in
einer Gesellschaft als männlich betrachtet wer
den. Das ist eine sehr offene Definition: Klare,
feste, immer gültige Merkmale von Männlich
keit gibt es nicht – sogar biologische Merkmale,
wie das XYChromosomenpaar («biologisches
Geschlecht») sind gar nicht immer bestimmend
für das, was als «männlich» betrachtet wird.
Das heisst nicht, dass Biologie unwichtig sei,
sie ist aber nicht alles bestimmend.
Männlichkeitsforschung geht davon aus,
dass Männlichkeiten konstruiert werden. Sie
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ändern sich im Lauf der Geschichte, werden
aufgrund von bestimmten Einflüssen revidiert
und entstehen immer innerhalb spezifischer
Kontexte wie beispielsweise der Gesellschafts
schicht. Diese historische und kulturelle Plu
ralität wird dadurch verstärkt, dass es auch
innerhalb einer Gruppe unterschiedliche
Männlichkeiten geben kann. Connell spricht
dabei von hegemonialer Männlichkeit als
Form von Männlichkeit, die die Beziehungen
zwischen Männern (mit unterschiedlichen For
men von Männlichkeit) und Frauen (und ande
ren) bestimmt.
Hegemoniale Männlichkeit wird in der
Regel sowohl als die «natürlichste» wie auch
als ideale Form von Männlichkeit betrach
tet. Sie gilt innerhalb einer Gruppe als Norm,
obwohl es oftmals nur wenige Männer gibt,
die sie wirklich verkörpern. Wie Menschen
hegemoniale Männlichkeit verkörpern bzw.
wie ihre Identität sich zu diesem «stärksten»
Geschlecht verhält, bestimmt vieles, vor allem
auch ihren Zugang zu Macht und welchen Sta
tus solche Personen innerhalb einer Gruppe
oder Gesellschaft haben.
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Männlichkeit ist
nie einfach da
Hegemoniale Männlichkeit ist, wie auch
andere Formen von Männlichkeit, ein relatio
naler Begriff: Sie existiert nur in Beziehung
zu anderen Geschlechtern und gestaltet diese
Beziehung auch stark mit. Eine zweite, nicht
hegemoniale Form sind komplizitäre Männ
lichkeiten. Sie finden sich bei Männern, die
das hegemoniale Modell selber nicht verkör
pern, aber von den Beziehungen zwischen den
Geschlechtern profitieren. Sie kommen also
aufgrund des hegemonialen Modells zustande
und erhalten es deswegen auch aufrecht. Zum
Dritten kommen «untergeordnete» Formen
von Männlichkeit dazu. Das sind Formen von
Männlichkeit, die als weniger männlich gelten
und beispielsweise als «abweichend» oder auch
«feminin» betrachten werden. Viertens gibt es
marginalisierte Männlichkeiten von Männern,
die wegen ihrer Klassenzugehörigkeit, Ethni
zität oder ihres Alters diskriminiert werden.
Und schliesslich gibt es «protestierende Männ
lichkeiten», Formen von Hypermaskulinität,
die entwickelt werden, um mit marginalisie
renden sozialen Verortungen klarzukommen.
Bei der Konstruktion von Männlichkei
ten geht es um einiges mehr als das «blosse
biologische Geschlecht». Der Begriff «Inter
sektionalität», der der Forschung Schwarzer
Feminist*innen entstammt, bringt dies auf den
Punkt: Geschlecht, und deswegen auch Männ
lichkeit, kommt sozusagen auf der Kreuzung
von verschiedenen Dimensionen einer Person
zustande: Verhalten (mutig, feige und so weiter),
Sexualität, Ethnizität, Beruf, Alter, Gesundheit
und so weiter. Je nach Gruppe werden solche
Eigenschaften anders gewichtet. Wo für die
eine Gruppe zum Beispiel Beschneidung ein
Zeichen von Unmännlichkeit ist, eine Qua
siKastrierung, ist sie für eine andere Gruppe
der Inbegriff von Männlichkeit überhaupt, ein
Symbol der «Beschneidung» sexueller Lustge
fühle und damit Grundlage für einen morali
schen Lebenswandel. So wurde Beschneidung
wenigstens in der Antike kontrovers und durch
aus auch antisemitisch – «Race» und Konst
ruktion von Geschlecht sind eng miteinander
verbunden – thematisiert (siehe Neutel und
Anderson). Heutzutage gibt es ähnliche Bei
spiele: Wo für die eine Gruppe ein «Hausmann»
der Inbegriff moderner, aufgeschlossener
Männlichkeit ist, gilt er für andere als Weich
ling, der es zulässt, dass die Frau zu Hause die
Hosen trägt.
Kritische Männlichkeitsforschung ist
keine Alternative zu Frauenforschung oder
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feministischer Forschung, sondern möchte
diese hinsichtlich Männlichkeit weiterent
wickeln. Sie ist weit davon entfernt, neue For
men von «Genderessenzialismus» einzuführen,
also die Kategorie Männlichkeit auf bestimmte
wesentliche Merkmale festzuschreiben. Dass
der Blick auf Männlichkeit gerichtet wird, hat
ganz einfach damit zu tun, dass sie in vielen
Kontexten von Bedeutung ist und bisher wenig
erforscht wurde. Kritische Männlichkeitsfor
schung zeigt dabei immer wieder auf, dass mit
«Männlichkeit» alles Mögliche gemeint sein
kann und es weder stabile Merkmale noch eine
«natürliche» oder sogar «normale» Männlich
keit gab oder gibt.
Paulus und die
hegemoniale Männlichkeit
Wie Männlichkeitsforschung funktioniert,
lässt sich am besten anhand von Fallbeispielen
darlegen. Diese sind fast überall zu finden, in
christlichtheologischem Kontext ist das Neue
Testament und dessen Rezeptionsgeschichte
eine einladende Fundgrube.
Im Römerbrief lautet eine berühmtbe
rüchtigte Passage folgendermassen: «Darum
lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften
aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen
Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso
gaben die Männer den natürlichen Verkehr
mit der Frau auf und entbrannten in Begierde
zueinander; Männer trieben mit Männern
Unzucht und erhielten den ihnen gebühren
den Lohn für ihre Verirrung.» (Röm 1,26–27)
Dieser Text wurde und wird als Aussage gele
sen, in der Paulus Homosexualität grundsätz
lich zurückwies. Interessanter wird es, wenn
man sich diesen Text aus der Perspektive der
Männlichkeitsforschung anschaut, insbeson
dere mit Blick auf die Rolle von Männern im
Text. Forschungsarbeiten haben nachgewiesen,
dass die Berufung von Paulus auf die «Natur»
faktisch eine Berufung auf eine bestimmte Art
von hegemonialer Männlichkeit ist.
Verkürzt gesagt: Sobald Paulus sich auf
die «Natur» bezieht, dürfte damit nicht in ers
ter Linie die biologische Empirie gemeint sein,
sondern gesellschaftlich bestimmende Auffas
sungen darüber, was als «natürlich» männlich
bezeichnet wird – hegemoniale Männlichkeit
(Connell). Diese beinhaltet normative Auf
fassungen über die Beziehung zwischen den
Geschlechtern. «Echte» Männer sollten sich
dabei, wenigstens nach der Auffassung, der
Paulus hier folgt, weder anderen Männern
sexuell zur Verfügung stellen noch andere
Männer in dieser Weise «entmännlichen».
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Wenn das der Hintergrund dieses Texts ist, was
sich aus der Sicht kritischer Männlichkeitsfor
schung begründen lässt, ist das Anliegen von
Paulus hier nicht die Ablehnung von Homose
xualität. Es geht ihm darum, dass bei homo
sexuellem Sex wesentliche Aspekte «echter
Männlichkeit» verloren gehen. Für die Ver
wendung dieses kanonischen Textes in neuen
Kontexten hat das Folgen: Nur wenn man auch
der Auffassung ist, dass gleichgeschlechtliche
Sexualität zum Verlust von Männlichkeit führt,
ist man genötigt, Paulus zu folgen. Wer dies
nicht so sieht, ist frei, andere Wege zu gehen.
So oder so: Männlichkeit spielt in diesem Text
eine wichtige Rolle und macht einen herme
neutischen Unterschied.
Jesus als Opfer
sexualisierter Gewalt
Ein zweites Beispiel entstammt einem For
schungsprojekt der in Neuseeland arbeitenden
peruanischen Theologin Rocío Figueroa und
des ebenfalls in Neuseeland tätigen Theologen
David Tombs. Sie erforschten aus geschlechter
sensibler Perspektive die Passionsgeschichte
Jesu in der Überlieferung der vier Evangelien.
Dabei stellten sie fest, dass eine Erniedrigung
wie jene, die Jesus ertragen muss, durchaus ver
geschlechtlicht ist. Das bedeutet ganz verkürzt
gesagt: Wenn eine grosse Gruppe von Männern
einen anderen Mann öffentlich kaputtmacht,
ist es naheliegend, dass dem Opfer auch sein
Status als «echter Mann» abgesprochen wird.
Dazu kommt, dass die Folter, die Jesus
zugefügt wird, plausiblerweise einen sexuellen
Aspekt hat. Deshalb betrachten die Forscher
Jesus auch als ein Opfer sexualisierter Gewalt.
Der Messias ist ein missbrauchter Mann, der –
in der Auferstehung – gleichzeitig von Gott
die höchstmögliche Würde zugesprochen
bekommt. Aufgrund dieser neuen Sicht auf
Jesus, die kritischer Männlichkeitsforschung
viel verdankt, haben Figueroa und Tombs das
Gespräch mit männlichen Opfern sexualisier
ter Gewalt im Kontext einer religiösen Bewe
gung in Peru gesucht. Die Frage war dabei, ob
dieses Verständnis von Jesus als MitOpfer und
von Gott als einem Gott, der dem Opfer Würde
zuspricht, auch therapeutisch etwas verändern
könnte. Für manche Opfer beziehungsweise
Überlebende – sicher nicht für alle – war dies
tatsächlich relevant. Das weist darauf hin, dass
Ergebnisse kritischer Männlichkeitsforschung
auch im therapeutischen oder im pastoralen
Bereich Beiträge leisten können.
In diesem knappen Durchgang durch kri
tische Männlichkeitsforschung wurden einige
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Hauptlinien und zwei Fallbeispiele vorgestellt.
Dabei konnte die Existenz von einer immer
reichhaltigeren Forschung nur angedeutet wer
den; es gibt sie aber durchaus in den Bereichen
der Theologie, der Religionsgeschichte und
der Religionswissenschaft. Ein Schlüsselwerk
bleibt der 2009 von Krondorfer veröffentlichte
Reader Men and Masculinities in Christianity
and Judaism.
Dass die Neuen Wege kritischer Männlich
keit einen Heftschwerpunkt widmen, ist begrüs
senswert. Dieser Weg führt zu neuen Erkennt
nissen, die dazu beitragen können, Missstände
zu beseitigen und relevante Aspekte religiöser
Traditionen neu zu entdecken.●
○
○
PeterBen Smit, *1979, ist Theologe mit den Schwer
punkten Neues Testament, Kirchengeschichte und
Systematische Theologie. Er arbeitet als Professor
für Systematische Theologie und Ökumene am
Institut für Christkatholische Theologie der Univer
sität Bern, als Professor für Kontextuelle Bibel
interpretation an der Fakultät für Religion und Theo
logie der Vrije Universiteit Amsterdam und als
Professor für alte katholische Kirchenstrukturen am
Departement für Philosophie und Religionswissen
schaft der Universität Utrecht.
Literatur
Tim Carrigan, Bob Connell und John Lee: Toward a
New Sociology of Masculinity. In: Theory and Society
14/1985, S. 551–604.
R. W. Connell: Masculinities. Berkeley 2005 [rev. ed.].
Rocío Figueroa und David Tombs: Recognising Jesus
as a Victim of Sexual Abuse: Responses from Sodalicio
Survivors in Peru. In: Religion and Gender 10/2020,
S. 57–75.
Björn Krondorfer (Hrsg.): Men and Masculinities in
Christianity and Judaism. A Critical Reader. London
2009.
James W. Messerschmidt: The Salience of «Hegemonic
Masculinity». In: Men and Masculinities 22/2019,
S. 85–91.
PeterBen Smit: Gender and Fullness of Life for All:
Contextuality as a Catalyst for Rereading Sources.
In: Ellen van Stichel, Thomas Eggensperger, Manuela
Kalsky, Ulrich Engel (Hrsg.): Fullness of Life and
Justice for All. Dominican Perspectives. Adelaide 2020,
S. 175–192.
PeterBen Smit: Masculinity and the Bible – Survey,
Models, and Perspectives. Leiden 2017.
Karin B. Neutel und Matthew R. Anderson: The First
Cut is the Deepest: Masculinity and Circumcision in
the First Century. In: Ovidiu Creangă und PeterBen
Smit (Hrsg.): Biblical Masculinities Foregrounded.
Sheffield 2014, S. 228–244.
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