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Der „Kämmerer aus Mohrenland“ oder der äthiopische Eunuch?

2018, Diverse Identität Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität

In vielen deutschen Bibelübersetzungen, zumindest seit der Übersetzung Martin Luthers, ist in Apg 8,27 eine interessante Person anzutreffen: „ein Mann aus Mohrenland, ein Kämmerer und Gewaltiger der Königin Kandaze in Mohrenland, welcher war über ihre ganze Schatzkammer, der war kommen gen Jerusalem, anzubeten“ (Lutherübersetzung von 1545). Diese Wiedergabe von ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος δυνάστης Κανδάκης βασιλίσσης Αἰθιόπων, ὃς ἦν ἐπὶ πάσης τῆς γάζης αὐτῆς, ὃς ἐληλύθει προσκυνήσων εἰς Ἰερουσαλήμ ist deshalb interessant, weil in der Übersetzung, aus mir unbekannten Gründen, ein Wort nicht wiedergegeben wird und zwar: εὐνοῦχος [eunouchos]. Aus ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος [aner aithiops eunouchos] wird faktisch ἀνὴρ Αἰθίοψ [aner aithiops] und damit verschwindet ein außerordentlich wichtiger Aspekt der Charakterisierung dieses Menschen. Dieser Aspekt ist aus naheliegenden Gründen interessant und soll hier näher betrachtet werden. Allerdings wird dabei eine Frage nicht beantwortet werden können: Was hat eine ganze Tradition von Bibelübersetzern bewogen, diese Entscheidung zu treffen und beizubehalten? Auf diese Weise ist etwas vergessen worden, was eigentlich interessant, ja, sogar relevant ist. Mit Assmann ließe sich fragen: Ist dies ein neutrales oder ein komplizitäres Vergessen? Wie verhält es sich aber mit dem Gender dieses Äthiopiers aus antiker Perspektive und was kann die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte für heutige Debatten über Geschlecht und Identität in Kirche und Gesellschaft beitragen.

Julia Koll, Jantine Nierop, Gerhard Schreiber (Hg.) Diverse Identität Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie Julia Koll, Jantine Nierop, Gerhard Schreiber (Hg.) Diverse Identität Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie herausgegeben vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie Band 4 4 Julia Koll, Jantine Nierop, Gerhard Schreiber (Hg.) Diverse Identität Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität 5 Impressum Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität ISBN 978-3-87843-056-8 Jede Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung, Verbreitung und jede Art der Verwertung sowie jegliche Speicherung und Verarbeitung in datenverarbeitenden Systemen außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts bedürfen der schriftlichen Zustimmung des jeweiligen Urhebers. Es ist nicht gestattet, Abbildungen zu digitalisieren. © creo-media, Hannover . 2018 creo-media GmbH Agentur . Druckerei . Verlag Bischofsholer Damm 89 30173 Hannover www.creo-media.de Layout, Satz, Typographie bei: creo-media, [email protected] Inhaltsverzeichnis 9 Zum Geleit 11 Vorwort 13 Jantine Nierop Die tragische Geschichte der Foekje Dillema. Zur Verantwortung der Kirche im Umgang mit intersexuellen Menschen 17 Lucie Veith Den Blick auf die gesamte Schöpfung wagen: Intergeschlechtlichkeit 27 Gerhard Schreiber Geschlecht außer Norm. Zur theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel von Intersexualität 47 Peter-Ben Smit Der „Kämmerer aus Mohrenland“ oder der äthiopische Eunuch? 55 Anike Krämer Intersex aus soziologischer Perspektive. Eltern – Medizin – Gesellschaft 67 Konstanze Plett Intergeschlechtlichkeit aus juristischer Perspektive 79 Annina Ligniez „Liebes Gemeindemitglied, …“. Praktisch-theologische Konsequenzen angesichts der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten. Ein Kommentar zur Loccumer Tagung 85 Personalien 87 Abkürzungsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 7 Zum Geleit „Es ist ein Mädchen!“ „Es ist ein Junge!“ Wenn Eltern überglücklich die Geburt ihres Kindes verkünden, sind sie sich wohl selten bewusst, dass soeben eine der folgenreichsten Festschreibungen für das zukünftige Leben ihres Kindes vorgenommen worden ist. Kaum ein anderes Merkmal hat derart weitreichende Auswirkungen auf gesellschaftliche Chancen und soziale Erwartungen wie die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen. Dass jeder Mensch entweder dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht angehört, ist im Alltagsbewusstsein bis heute fest verankert. Ein „Dazwischen“ erscheint vielen Zeitgenossen kaum vorstellbar. Aus Sicht der Biologie, von der oft erwartet wird, dass sie ein solches Entweder/Oder der Geschlechter als „naturgegeben“ bestätigt, ist eine trennscharfe Einordnung eines Menschen in die Kategorien „weiblich“ oder „männlich“ allerdings nicht immer möglich. Es gibt Menschen zwischen den Geschlechtern. Schätzungen zufolge trifft das allein in Deutschland auf mehr als 100.000 Menschen zu. Über die Existenz solcher „intersexueller“ Menschen zu sprechen, war lange Zeit ein gesellschaftliches Tabu. Feminisierende oder maskulinisierende Genitaloperationen bei Kindern, die sich keinem der beiden Geschlechter eindeutig zuordnen ließen, waren über viele Jahrzehnte unhinterfragt und selbstverständlich. Organisationen und Verbände intersexueller Menschen fordern heute zu Recht ein Verbot dieser Praxis und weisen nachdrücklich darauf hin, dass Menschen, die als Kind solchen „kosmetischen Operationen“ an den Genitalien unterzogen wurden, zum Teil ein ganzes Leben lang an den Folgen des Eingriffs leiden. Der mit „Intersexualität“ bezeichnete Befund hat sich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 10. Oktober 2017 im Rechtswesen unseres Landes bemerkbar gemacht und gelangt langsam auch ins Alltagsbewusstsein. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber für Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, eine dritte Eintragsmöglichkeit von Geschlecht im Personenstandsregister neben „männlich“ und „weiblich“ zu schaffen hat. Zum Geleit 9 Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit ist eine Selbstverständlichkeit auch der traditionellen theologischen Anthropologie. Die Wahrnehmung von Intersexualität bedeutet daher für viele Menschen in Kirche und Theologie ein Umdenken und die Überprüfung bisheriger Denkmuster. Die Stellungnahme, die das Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie beim Bundesverfassungsgericht in dieser Sache abgegeben hat, betont, dass Menschen, die nicht der als „naturgegeben“ angesehenen Zweigeschlechtlichkeit entsprechen, als ein Ausdruck der Vielfalt der Schöpfung und nicht als defizitäre Abweichungen von einer „Norm“ zu verstehen sind. Jeder Mensch, nicht nur Menschen, die ein eindeutig weibliches oder männliches Geschlecht aufweisen, ist Ebenbild Gottes. Möge diese Tagung und ihre Dokumentation einen Prozess wechselseitigen Verstehens befördern und dazu beitragen, dass eine von Interesse und Wertschätzung getragene Begegnung mit intersexuellen Menschen und deren Lebensgeschichten in unserer Kirche selbstverständlich wird. Hannover, im Advent 2018 Oberkirchenrätin Dr. Kristin Bergmann Leiterin des Referates für Chancengerechtigkeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 10 Zum Geleit Vorwort Dieser Band versammelt die für den Druck überarbeiteten Beiträge zu einer interdisziplinären Tagung, die unter dem Titel Diverse Identität. Theologische Annäherungen an das Phänomen Intersexualität vom 6. bis 7. Dezember 2017 an der Evangelischen Akademie Loccum stattfand. Die Tagung wurde in Zusammenarbeit mit dem Studienzentrum der EKD für Genderfragen durchgeführt. Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, die sich nicht eindeutig dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Dies kann auf chromosomaler (genetischer), hormoneller und/oder anatomischer Ebene der Fall sein. Intersexuelle Menschen hatten im Laufe der Geschichte vielfältige Benachteiligungen, Stigmatisierungen und Ausschluss zu ertragen, gerade auch im rechtlichen Bereich. Allerdings hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen. Die Existenz intersexueller Menschen ist zunehmend sichtbar und auch von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Nicht zuletzt ist dies auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16) zurückzuführen, dass auch diejenigen Menschen, „deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen“, ein Recht auf einen Geschlechtseintrag im Personenstandsregister haben, der ihrem Geschlecht entspricht. In kirchlichen Stellungnahmen und theologischen Veröffentlichungen, in denen die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und der damit einhergehende Dualismus von Mann und Frau eine nahezu unhinterfragte Selbstverständlichkeit bilden, ist Intersexualität noch kaum bedacht worden. Auch die bisherige kirchliche Praxis zeichnete sich diesbezüglich weniger durch Wissen und Einfühlungsvermögen als vielmehr durch Unsicherheit aus. Vor diesem Hintergrund fragte die Loccumer Tagung: Welche Herausforderungen ergeben sich aus der Existenz intersexueller Menschen für die kirchliche Praxis und die theologische Reflexion? Welche möglichen Konsequenzen hat der Abschied vom bipolaren Menschenbild für die theologische Anthropologie? Darüber hinaus kamen medizinische, rechtliche und ethische Aspekte dieses Themas ausführlich zur Sprache. Intersexualität wurde auch leiblich sicht- und einfühlbar, weil im Modus lebensgeschichtlich-biographischen Er- Vorwort 11 zählens persönliche Erfahrungen zur Sprache kamen, und dies sowohl vom Podium der Referierenden als auch aus dem Plenum und in Gesprächsgruppen. Dies hat Grenzüberschreitungen ermöglicht und Spielräume des Verstehens eröffnet. Die Vorträge aus den verschiedenen Wissenschaftsbereichen und die anschließenden Gespräche mit und unter den Teilnehmenden auf der Loccumer Tagung haben gezeigt, wie wichtig es ist, die gesellschaftliche, juristische und auch kirchlich-theologische Ausgrenzung intersexueller Menschen ein für alle Mal zu beenden. Es ist die Hoffnung der Herausgeber*innen dieses Bandes, einen Beitrag zu leisten zu einem kirchlichen und theologischen Umgang mit intersexuellen Menschen, der von Anerkennung und Respekt geprägt ist. Loccum, Hannover und Darmstadt, im Advent 2018 PD Dr. Julia Koll, PD Dr. Jantine Nierop und Dr. Gerhard Schreiber 12 Vorwort Jantine Nierop Die tragische Geschichte der Foekje Dillema Zur Verantwortung der Kirche im Umgang mit intersexuellen Menschen Die Loccumer Tagung „Diverse Identität“ fand ziemlich genau zehn Jahre nach dem Tod der niederländischen Sportlerin1 Foekje Dillema statt. Wer war sie? Foekje Dillema (26. Juni 1949).2 Foekje Dillema ist am 18. September 1926 in Burum in der Provinz Friesland geboren und am 5. Dezember 2007 in Kollum, in unmittelbarer Nähe von Burum, gestorben. Gemessen an ihrer Leistung ist Dillema erstaunlich unbekannt geblieben. Den Namen Fanny Blankers-Koen kennt in Holland jedes Schulkind. Es gibt Fanny Blankers-Koen-Straßen und -Sporthallen, bei den Olympischen Spielen 1948 in London gewann Blankers-Koen vier Goldmedaillen. 1999 wurde sie, deren Beiname die ‚fliegende Hausfrau‘ war, zur Leichtathletin des Jahrhunderts gewählt. Wie Blankers-Koen war auch Dillema Leichtathletin und lief teilweise sogar schneller als sie. Trotzdem wurden nach Dillema weder Straßen noch Sporthallen benannt. 1 Wenn im Folgenden auf Foekje Dillema durchgängig mit dem weiblichen Personalpronomen referiert wird, dann aus dem Grund, da diese Person des öffentlichen Interesses als Frau in die niederländische Zeitgeschichte eingegangen ist. 2 Foekje Dillema © By Noske, J.D. / Anefo [CC BY-SA 3.0 NL (creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)], https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Foekje_Dillema.jpg#/media/File:Foekje_Dillema.jpg. Jantine Nierop 13 Ihre internationale Karriere begann 1949 und nahm bereits ein Jahr später ein jähes Ende, als sie die Teilnahme an einem Geschlechtstest verweigerte. Schon lange machten Gerüchte die Runde, Dillema würde ‚männlich‘ aussehen. Ihre Rivalin Blankers-Koen soll über sie gesagt haben: „Ich laufe nicht gegen Kerle“.3 Dillema verweigerte eine medizinische Untersuchung, die ihr Geschlecht zweifelsfrei hätte feststellen sollen. Daraufhin wurde sie für den Rest ihres Lebens von Wettkämpfen ausgeschlossen. Als diese Nachricht Dillema erreichte, war sie mit den Frauen des Leichtathletik-Teams unterwegs zu einem Zweikampf zwischen Holland und Frankreich. Auf grobe Weise holte man sie aus dem Zug und schickte sie nach Friesland zurück – ein in jeder Hinsicht unwürdiger Vorgang mit traumatischen Folgen für Dillema. Bis zu ihrem Tod verlor sie kein Wort über diesen Vorfall und lebte fortan sehr zurückgezogen. Eine von der Familie veranlasste DNA-Untersuchung, die unter Anteilnahme der Öffentlichkeit im Rahmen eines Dokumentarfilms durchgeführt wurde, ergab wenige Monate nach ihrem Ableben eine intersexuelle Veranlagung: Trotz ihres weiblichen Erscheinungsbildes besaß Dillema ein X- und ein Y-Chromosom. Foekje Dillema war intersexuell. Die Geschichte von Foekje Dillema ist eine tragische Geschichte, eine Geschichte voller Diskriminierung und Einsamkeit. Zu Dillemas kirchlicher Sozialisation bemerkte ihr Biograph Max Dohle: „Foekjes Eltern waren evangelisch und mit der Kirche eng verbunden. Ihre Schwestern sangen zeitlebens alle im Kirchenchor – mit Ausnahme von Foekje. Sie hatte der Kirche schon früh den Rücken gekehrt.“4 Dohle geht davon aus, dass Dillema über ihre spezielle Veranlagung – wie auch immer – im Bilde war und deswegen auch den Geschlechtstest verweigerte. Vielleicht lag darin auch der Grund, warum sie sich von der Kirche entfernte. Vielleicht hat sie gespürt: Hier ist kein Platz für mich. Auf der Loccumer Tagung wurde nach interdisziplinären Annäherungen an das Phänomen Intersexualität gefragt. Nicht zuletzt ging es dabei um die Frage nach einem aufrichtigen und verantwortungsvollen Umgang der Kirche mit intersexuellen Menschen – einen Umgang, der nicht durch Gleichmacherei, sondern von Anerkennung und Respekt gegenüber der Vielfalt der 3 Dirk-Jan Roeleven, Jurgen Leurdijk: Andere tijden sport. 13 boeiende verhalen uit de Nederlandse sportgeschiedenis, Amsterdam 2012 [E-Book] (meine Übers.). 4 Max Dohle: Het verwoeste leven van Foekje Dillema: de grootste tragedie uit de Nederlandse sportgeschiedenis, Amsterdam 2008 [EBook] (meine Übers.). 14 Jantine Nierop Menschen in und außerhalb der Kirche geprägt ist. Dies wird durch die Tagung allein nicht gelingen, aber vielleicht ist sie ein erster Anstoß dazu. Die reformierte Kirche von Burum in den Niederlanden.5 5 Hervormde kerk van Burum © By Hardscarf (Eigen werk) [CC BY-SA 3.0 (creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode)], https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Hervormde_kerk_(Burum)#/media/File:Burum_-_NH_kerk.jpg. Jantine Nierop 15 Lucie Veith Den Blick auf die gesamte Schöpfung wagen: Intergeschlechtlichkeit Die Geschichte der Menschheit ist eine jahrtausendealte Geschichte, wie auch die Verteidigung von Privilegien. Meistens geht es darum, Machtverhältnisse zu sichern oder auszubauen. Wir Menschen christlichen Glaubens haben uns – leider – nicht immer so verhalten, wie es unsere Werte von Liebe und Respekt widerspiegeln könnten; besonders dann nicht, wenn der einzelne Mensch nicht den Prototypen unseres engen Denkens entspricht und wir ihn als vermeintlich „anders“ bewerten. Diese „Andersheit“ kann in ihrem Ausdruck vielfältig sein. Die Farbe der Haut, der Augen, der Haare, das Vorhandensein oder Fehlen von Körper- oder Leistungsmerkmalen, die Ethnie, das Alter, die Sprache, die Glaubenszugehörigkeit, das Begehren, das wir teilen oder nicht teilen, der Lebensentwurf, der Bildungsgrad oder der soziale Status. Wer oder was hindert uns, heute damit zu beginnen, zu sagen: Die Schöpfung ist vielfältig, und auch wenn sich uns die Sinnhaftigkeit im ersten Moment nicht erschließen sollte – wer bin ich, dass ich an Gottes Plan zweifle? In diesem Beitrag im 501. Jahr nach der Reformation wird es um den fehlenden Respekt gegenüber der Geschlechtlichkeit von Menschen gehen. Am Beispiel und am Erleben von intergeschlechtlichen Menschen, die früher als Hermaphroditen oder Zwitter bezeichnet wurden, lässt sich vorzüglich zeigen, wie aus einem scheinbaren „nicht nach der Norm geboren sein“ oder „sich körperlich nicht geschlechtstypisch entwickeln“ ein „korrekturbedürftiger Zustand“ konstruiert und wie eine ganze Gruppe von Menschen unsichtbar gemacht wird und ausgerechnet eine Übersetzungsungenauigkeit der Bibel mit dazu beitragen kann, dass Genitalverstümmelungen und Benachteiligungen wegen des Geschlechts unermessliches Leid ganzer Familien verursachen. Die Benachteiligung wegen des Geschlechts gilt als Diskriminierung und der Lucie Veith 17 Staat – und somit wir alle – hat sämtliche uns zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen, um diese Diskriminierungen zu beseitigen. Dieser Verpflichtung entledige ich mich nicht dadurch, dass ich mich zum Christentum bekenne, mich hinter einzelnen Worten der Bibel verstecke, die sich nach genauer Recherche als eine 500 Jahre alte Übersetzungsungenauigkeit unseres hochverehrten Martin Luthers herausstellen. Warum diese in der Jubiläumsübersetzung 2017 nicht korrigiert wurde, erschließt sich mir nicht und lässt eine Vielzahl an Interpretationen zu, an denen ich mich an dieser Stelle nicht beteiligen möchte, denn sie bringt uns nichts Verwertbares. Vielmehr möchte ich aus einem 2016 veröffentlichten Aufsatz von Moni Egger, Dozent_in für Biblisches Hebräisch an der Universität Luzern, zitieren, der den Titel trägt: „Fehlübersetzungen mit Folgen. Korrekturen zur ‚biblischen Schöpfungsordnung‘“. Darin heißt es: „Wenn es um die ‚natürlichen Geschlechterrollen‘ geht, wird gerne die Bibel zu Rate gezogen; vor allem die Schöpfungsgeschichte, in der über die Grundkonstanten von Welt und Mensch nachgedacht wird. Vielen sind diese Geschichten in der Übersetzung von Martin Luther wohlvertraut: Gott schuf den Menschen ‚als Mann und Frau‘ klingt es in meinen Ohren. Und schon sehe ich den Paradiesgarten, sehe wie Gott aus Lehm den Mann formt und dann vom Mann eine Rippe nimmt, daraus die Frau baut, damit der Mann eine Gehilfin hat für Haus und Kind und Herd. Keine schöne Vorstellung. Zu meinem grossen Glück habe ich Hebräisch gelernt und kann nun selbst lesen, was in den alten Texten der Bibel steht. Überraschung und Erleichterung sind gross! [...] Von der Erschaffung der Menschen erzählt Genesis 1,26-27. In Vers 27 heisst es: ‚Und Gott schuf den Menschen (singular) als sein Bild. Als Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie (plural).‘ Es geht hier nicht darum, dass Gott einen Urmann und eine Urfrau erschaffen hätte, sondern dass die Menschheit als Ganzes geschaffen wird. In ihr gibt es eine einzige Differenzierung, nämlich Weiblichkeit und Männlichkeit. Bemerkenswert dabei: Das hebräische Wort für männlich (sachar) hat sprachlich nichts zu tun mit dem Wort für Mann (isch), genauso unterscheidet sich weiblich (neqewa) von Frau (ischa). Männlichkeit und Weiblichkeit wird in diesem Text also nicht bestimmten Menschen zugesprochen, sondern sie bilden zwei Pole der Menschheit. Zwei Pole, die durchaus auch Vielfalt zulassen oder zumindest nicht auf einzelne Individuen festgelegt sind.“1 1 Moni Egger: Fehlübersetzungen mit Folgen. Korrekturen zur „biblischen Schöpfungsordnung“ (2016), abrufbar unter: https://aboutgender.net/gottes-vielfaeltige-menschheit/ (letzter Abruf: 20.02.2018). 18 Lucie Veith Dem ist nichts hinzuzufügen. Was uns gleich macht, ist die Gewissheit, Teil der göttlichen Schöpfung, geschaffen worden zu sein. Gleich an Rechten, ausgestattet mit einem individuellen Entwicklungspotenzial, entwickeln wir uns zeitlebens körperlich wie intellektuell. Jeder Mensch in seiner Art entwickelt eine innere Überzeugung des eigenen Seins, entwickelt eine eigene Geschlechtsidentität, entdeckt sein eigenes Begehren und schmiedet Lebenspläne. Viele Menschen verlieben sich, gehen Partnerschaften ein, die manchmal ein ganzes Leben halten. Manche Menschen zeugen, andere gebären – und für alle Menschen gilt: nichts bleibt, wie es war. Alles scheint perfekt geschaffen und ein gutes, friedvolles Miteinander im Sinne Jesu Christi sollte gerecht und gewaltfrei möglich sein, wären da nicht die menschlichen Ordnungssysteme, die alles regeln wollen und im Schaffen von Regeln Machtverhältnisse aufbauen, die scheinbar regeln und doch Ungleichheit produzieren. Warum haben wir für Leben, das seit Menschengedenken besteht, keinen positiven Namen? Biologische Fundamentalist*innen beschreiben intergeschlechtliche Kinder gar als genetische Mutanten. Das ist beleidigend, verletzend und herabwürdigend. Ist es nicht vielmehr so, dass wir alle uns durch ständige Mutation zu diesen hochentwickelten Lebewesen bilden und die Fähigkeit haben, uns den sich verändernden Lebenssituationen anzupassen? Die öffentliche Diskussion um eine rechtliche Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen hat gerade erst begonnen und wird in den nächsten Monaten an Intensität gewinnen. Dies sollte niemandem Angst machen: Niemandem wird etwas genommen, einigen wird etwas gegeben. „Vanja“, eine intersexuelle Person, hat erfolgreich für eine positive Anerkennung ihres*seines Geschlechts geklagt und Recht bekommen. Auch „Vanja“ hat Anspruch auf einen positiven Geschlechtseintrag und die Bundesregierung hat bis zum 31. Dezember 2018 einen solchen Eintrag möglich zu machen. Mit dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 (1 BvR 2019/16)2 und in der umfassenden Begründung wird bestätigt, dass (1.) intergeschlechtliche Menschen einen Anspruch haben auf die gleiche positive Benennung ihres Geschlechts im Geburtenbuch und in der Folge im Personenstandsregister wie Frauen und Männer; (2.) aus dem Grundgesetz kein Rechtsanspruch abzuleiten ist, die eine Einteilung einer 2 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16, abrufbar unter: http://www.bverfg.de/e/ rs20171010_1bvr201916.html (letzter Abruf: 20.02.2018). Lucie Veith 19 Rechtsnorm im Personenstand auf lediglich männlich oder weiblich zu beschränken; (3.) die Geschlechtsidentität – ich würde lieber von Selbstwahrnehmung und Selbstzeugnis eines Menschen sprechen – einen wesentlichen und schützenswerten Bestandteil des Geschlechts darstellt. Folgende Leitsätze hat das Bundesverfassungsgericht als Zusammenfassung des Beschlusses formuliert: „1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt die geschlechtliche Identität. Es schützt auch die geschlechtliche Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. / 2. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG schützt auch Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts. / 3. Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, werden in beiden Grundrechten verletzt, wenn das Personenstandsrecht dazu zwingt, das Geschlecht zu registrieren, aber keinen anderen positiven Geschlechtseintrag als weiblich oder männlich zulässt.“3 Von entscheidender Bedeutung werden die Rechtsfolgen sein: Die Rechtfertigungsgründe für kosmetische Operationen an intergeschlechtlichen Kindern und für die Feststellung: (geschlechtlich) „uneindeutig“ ist somit zu korrigieren in: (geschlechtlich) „eindeutig inter*“. Die rechtliche Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen birgt in sich auch noch eine andere Chance, die offenbar kaum gesehen worden ist: Diese Bundesverfassungsgerichtsentscheidung wird hoffentlich auch die Zuständigen innerhalb der evangelischen Kirche beflügeln, eine Korrektur der Bibelübersetzung anzugehen. Die Entscheidung, eine positive Benennung von intergeschlechtlichen Menschen im Sinne einer Geschlechtergerechtigkeit für die Umsetzung der Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind auch in der christlichen Botschaft tief verankert – einzufordern, trägt in sich die Chance, das Thema Geschlecht und Geschlechtlichkeit nun neu zu verhandeln. Reden wir also künftig besser von Geschlechtergerechtigkeit und was wir darunter verstehen. 3 Ebd. 20 Lucie Veith Wenn wir von Geschlecht sprechen, welches der vielen Geschlechter meinen und beschreiben wir? Welche Ebene von Geschlecht haben wir im Sinn? Soll es um das äußere anatomische Geschlecht gehen, diese unsichere Ebene, die sich bei jedem Menschen im Lebensverlauf extrem verändert? Eine Ebene, die - durch andere Menschen in Momentaufnahmen betrachtet - durch Übertragung von Vorstellungen und erlernten Stereotypen sehr unterschiedliche Reaktionen auslöst? Im Blick auf intergeschlechtlich geborene Menschen ist zu sagen, dass hier die Ungeduld und (Selbst-)Überschätzung von medizinisch Sachkundigen die Eltern oft verführt hat, am eigenen Kind aus einem scheinbar „uneindeutigen“ Geschlecht ein „Normgeschlecht“ designen zu lassen. In anderen Zusammenhängen sprechen wir von Genitaloperationen als Genitalverstümmelungen, einer grausamen unmenschlichen Behandlung, wie es nicht nur die Expert*innen der UN-Folterrechtskonvention festgestellt haben. Folter vermag ich nicht mit meinem Weltbild zu vereinen. Äußere anatomische Geschlechter mögen sich ähneln, sie sind jedoch alle individuell, einzigartig, wie die Potenziale der Menschen selbst. Dies gilt auch für die Ebene des inneren anatomischen Geschlechts. Auch hier ist festzustellen, dass alles sich entwickelt, differenziert, mehr oder weniger produziert, manchmal, in kurzen Zeitspannen, kann es zum Ort neuen Lebens werden. Das System aus Wolff’schen und Müller’schen Gängen, aus Samenleitern, Tuben, Vulva, Prostata, Keimdrüsen, Eierstöcken, Schleimhäuten, Eizellen und Spermien, in scheinbarer Isoliertheit und doch Teil des Körpers, dem Ort archaischer Phantasien, wäre sicher auch ein Ort der Schönheit, der Vielfältigkeit und Wandlungsfähigkeit in sich birgt. Dies schließt intergeschlechtliche innere anatomische Geschlechter mit ein. Die Ebene des chromosomalen Geschlechts birgt in sich weitere Erkenntnisse und transportiert Bilder, die einer eigenen Betrachtung wert sind. Besonders die Zusammensetzung der menschlichen Chromosomen und der Desoxyribonukleinsäure (DNS) sowie der Energie- und Entwicklungspotenziale, die sich darin verbergen, sind inspirierend. Man könnte meinen, es handele sich um eine Ebene des Geschlechts, die weniger Diskriminierungspotenzial hätte. Ein Nachteil ist jedoch die fehlende Verfügbarkeit empirischer Ergebnisse. Wer kennt schon den Zustand der eigenen Chromosomen? Hierbei sind intersexuelle Menschen im Vorteil, denn sie wissen häufig aufgrund der vielen erfahrenen Untersuchungen, welches Chromosomengeschlecht ihnen zugeschrieben wird. Mal ist es xx, mal xy, mal xxy etc. Lucie Veith 21 Auch auf der Ebene des hormonellen Geschlechts ließe sich bestimmt ein Zusammenhang bezüglich der individuellen Einmaligkeit von Geschlecht herausarbeiten. Alle Menschen jeden Alters haben eine hormonelle Lage, die zwar immer schwankend ist in der Menge, der Art, ihrem Ursprung und ihrer individuellen Wirkung. Manche Hormone werden in unterschiedlichen Organen produziert, andere über die Nahrung oder als Medikamente zugeführt. Die Rezeptoren - die Hormonleser - sind Indikatoren für die Umsetzung. Wenden wir uns dem gonadalen Geschlecht zu. Alle Menschen haben hormonproduzierende Organe. Dieses Gewebe in seinen schier unendlich erscheinenden Entwicklungsstadien und der Vielzahl von Produkten, der Faszination der Unterschiede und der Wirkung, die sich aus der Zusammensetzung ergibt, machen den Menschen in allen Geschlechtlichkeiten durch die eigene Hormonproduktion, gleich wieviel produziert wird, einzigartig und autonom. Es bestimmt weite Teile der hormonellen Versorgung des Menschen über den gesamten Lebensverlauf, steuert die Fruchtbarkeit, die psychische Gesundheit, hat direkte Auswirkung auf die Libido und auf die Stoffwechselprozesse des Körpers. Intergeschlechtlichen Menschen wurden und werden diese hormonproduzierenden Organe sehr häufig selbst im gesunden Zustand entfernt. Damit ist immer auch das Ende der Reproduktionsfähigkeit verbunden. Viele intergeschlechtliche Menschen verlieren damit die sexuelle Lust und beklagen den Verlust ihrer Gesundheit. Das gonadale Geschlecht ist somit ein Fall verletzter Grund- und Menschenrechte. Ganz anders, zart und geheimnisumwittert kommt das psychische Geschlecht ins Spiel, die geschlechtliche Identität (engl. gender identity). Anders als die Bewertung und Beschreibung durch Dritte steht das psychische Geschlecht oder das Identitätsgeschlecht für die geschlechtliche Selbstwahrnehmung und Selbstauskunft der Person. Die Selbstbeschreibung kann sein: weiblich, inter*, anders, divers, dazwischen, männlich, ich, und vieles andere mehr. Unsere wichtigste geschlechtliche Ausprägung liegt nicht in unserem Unterkörper, sondern zwischen den Ohren (Milton Diamond). Eine weitere geschlechtliche Ebene stellt das Erziehungsgeschlecht dar. Das Erziehungsgeschlecht spiegelt die jeweils auf die Geschlechter bezogenen, ausgehandelten Werte und Normen (zumeist des Zweigeschlechtersystems) wider, die Verhaltensmuster, die Geschlechtsstereotypen, die ein Zugehörigkeitsgefühl bewirken sollen. Das Nicht-Mitdenken von intergeschlechtlichen Körpern und Identitäten und „intergeschlechtlich“ als mögliche Option von 22 Lucie Veith Erziehung führt zu Verunsicherung im selbst erlebten Körper und findet seine unnötigen Barrieren in der Identitätsentwicklung. Die Anerkennung der eigenen Individualität in einer Welt mit vielen Körpern und Identitäten und Rollen würde einen Ausschluss intergeschlechtlicher Menschen unmöglich machen. Die Entscheidung, wie der einzelne Mensch leben möchte, führt zur Geschlechtsrolle (engl. gender role). Das Recht, das eigene Leben selbstbestimmt zu leben und nicht diskriminiert zu werden, gehört zu den gesellschaftlichen Werten, die auch christliche Wurzeln haben. Rollen verändern sich, auch die geschlechtsbezogenen. Das Hebammengeschlecht löst Freude aus. Das Recht der Hebamme, zwischen die Beine des neugeborenen Kindes zu schauen, die subjektive Sicht der Hebamme, die Übertragung des Wissens und der Vorstellungen, das Zeugnis des Moments, ohne Berücksichtigung des geschlechtlichen Entwicklungspotenziales, findet in einer Geburtsbescheinigung seinen Ausdruck und bestimmt das Glück oder das Leid eines Menschen mit dessen individuellem Geschlecht. „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“4 So heißt es in § 22 Abs. 3 des Personenstandgesetzes seit dem 1. November 2013. Damit wäre dann staatlich angeordnet: Es gibt weibliches und männliches Geschlecht, und es gibt Menschen ohne Geschlecht. Wäre es nicht so tragisch und diskriminierend, ich könnte über so viel Kurzsichtigkeit lächeln. Das Bundesverfassungsgeschlecht hat mit seiner Entscheidung vom 10. Oktober 2017 diese Regelung des Personenstandsgesetzes als einen verfassungswidrigen Zustand gerügt und sich hinter den einzelnen Menschen gestellt. Diese Haltung ist aus christlicher Sicht die einzig vertretbare, denn es ist sicher: Menschen werden geboren und haben immer ein Geschlecht – ihr eigenes. Und sie haben ein Entwicklungspotenzial. Als bitter ist in diesem Zusammenhang die rechtliche Situation zu bezeichnen, der sich ein intergeschlechtlicher Mensch im Personenstandsgeschlecht ausgesetzt sieht. Ein Kind, mit intergeschlechtlichen anatomischen, gonadalen und hormonellen Merkmalen geboren, wird selbstbewusst erzogen und wächst behütet auf, versteht den eigenen Körper, entwickelt eine würdevolle und befriedigende Selbstwahrnehmung und legt das Selbstzeugnis ab: ich bin ein Inter*Mensch und möchte eine staatliche Anerkennung. Die Selbstverständlichkeit 4 https://dejure.org/gesetze/PStG/22.html (letzter Abruf: 20.02.2018). Lucie Veith 23 des diskriminierungsfreien Geschlechtseintrages ist dem intergeschlechtlichen Menschen bisher versagt. Das ist völlig absurd, denn niemand würde den Geschlechtseintrag „inter*“ wählen, wenn er nicht der Selbstwahrnehmung entspricht. Die Macht wissenschaftlich nicht belegbarer Normierungen wird hier deutlich. Selbst aus christlicher Sicht ist die Überhöhung von Geschlecht und Geschlechternormen nicht haltbar. Zeigt doch der wissenschaftliche Nachweis die Vielfältigkeit der geschlechtlichen Ebenen und der geschlechtlichen Potenziale des Menschen und die großartige Schöpfung. Doch zurück zum Personenstandsgeschlecht. Wenn man erkennt, wie wirkmächtig die Geburtsbescheinigung der Hebamme ist – sie beurkundet amtlich das „Geschlecht“ und hat häufig größere Macht als das persönliche Potenzial des Menschen selbst –, dann kann Mensch ins Zweifeln geraten. Ist das bei Geburt festgestellte „Hebammengeschlecht“ notwendig oder sollte dies nicht als vorläufiger Eintrag dienen, bis sich Körper, Geist und Identität ausgebildet haben und der Mensch Zeugnis über das eigene „Sein“ abgeben kann. Niemand würde etwas verlieren, alle würden gewinnen: Die Überzeugung – ich bin ich, ein Geschöpf Gottes. Ich möchte nicht schließen, ohne einen Blick auf das Zuweisungsgeschlecht geworfen zu haben. Allein in Deutschland leben und leiden mehrere zehntausend intergeschlechtlich geborene Menschen an den Auswirkungen und Ergebnissen der Interventionen, der von der Medizin normierten Geschlechtlichkeit. Wenn das Aussehen der eigenen Genitalien und sexuelle Vorstellungen von Medizin und Eltern auf das Kind übertragen werden und das Kind sogenannten „geschlechtsvereindeutigenden“ oder „geschlechtszuweisenden“ Eingriffen unterzogen, ein Kind „zurechtgeschnitzt“ wird, damit es später einmal penetriert werden kann, oder selbst penetrieren kann, die Entscheidung nicht der Mensch selbst erbittet, dann ist nach meiner Rechtsauffassung der Tatbestand der schweren vorsätzlichen Körperverletzung erfüllt. Das ist eine Genitalverstümmelung aus dem Glauben heraus, dass man nur als von außen lesbarer Mann oder lesbare Frau leben kann. Dass hier handwerklich gute Arbeit geleistet wird, die so geschaffenen Genitalen oft verblüffend nah an die Schönheitsideale von Prototypen von Mann oder Frau herankommen, ist unstrittig. Sehr häufig ist aber die Sensitivität nicht gegeben, dass das so Geschaffene nicht kompatibel mit dem Wunsch des Menschen selbst und eine Teilhabe an einem sozialen Leben, mit einer erfüllten Partnerschaft und der Erfüllung erotischen Begehrens, nicht möglich ist. Dass dies eine schwere 24 Lucie Veith Menschenrechtsverletzung, einen unerlaubten Eingriff in Grund- und Menschenrechte darstellt, muss hier nicht weiter erörtert werden. Die Würdelosigkeit, die in der Verstümmelung von Kindern liegt, raubt jedem noch so guten Behandlungsergebnis den Glanz. Die Lebensaufgabe, sich selbst anzunehmen, Lebenswege in einem solchen Zustand zu gehen und sich selbst zu finden, erfordert viel Energie und die Fähigkeit, sich zu wandeln, nicht zu zerbrechen. Sie verlangt vom intergeschlechtlichen Menschen mit medizinischem Zuweisungsgeschlecht schier Unmenschliches, in jedem Fall sehr viel mehr als von Menschen, die unverletzt und mit der nötigen Wertschätzung aufgewachsen sind. Diese Auflistung ist freilich unvollständig. Liebe, Respekt und Vertrauen kann ich nicht konstruieren, sie kommen aus mir selbst. Mein Glaube und das Bekenntnis zu dieser christlichen Gemeinschaft, unabhängig von meiner Geschlechtlichkeit, die Erkenntnis, so gewollt zu sein, macht mich zu einem glücklichen Menschen. Ich vertraue dem Wort, das geschrieben steht bei Jesaja: „Denn so spricht der HERR: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten und erwählen, was mir wohlgefällt, und an meinem Bund festhalten, denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben; das ist besser als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll. Machen wir uns auf den Weg und geben Ihnen einen Namen und einen gleichberechtigten Platz: den intergeschlechtlichen Menschen.“5 5 Jes 56,4-5. Lucie Veith 25 Gerhard Schreiber Geschlecht außer Norm Zur theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel von Intersexualität „When scientific theory says something’s wrong with so many people, perhaps the theory is wrong, not the people.“1 Die gesamtgesellschaftliche Debatte über Geschlecht wird gegenwärtig vornehmlich auf vier Feldern ausgetragen: Anthropologisch bzw. humanwissenschaftlich liegt der Fokus auf der Sex/Gender-Debatte, d.h. der Frage nach den biologischen und/oder soziokulturellen Faktoren von Geschlecht. Bildungspolitisch ist nach Vorlage verschiedener Bildungs- und Lehrpläne der Bundesländer eine teilweise heftig geführte Diskussion darüber entbrannt, ob die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt legitimer Bestandteil des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags sein kann. Rechtlich wird die Frage diskutiert, ob und inwieweit unsere auf einem binären Geschlechtermodell basierte Rechtsordnung auch denjenigen Menschen gerecht wird, die sich in Bezug auf ihr Geschlecht jenseits der Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ verorten oder sich nicht (nur) mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren. Dass dies keineswegs nur eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung betrifft, verdeutlichen die Ergebnisse der zwischen Juli und Oktober 2015 durchgeführten ZEIT-Vermächtnisstudie. Nach der Geschlechterrolle befragt, die sie „am ehesten“ beschreibt, haben 3,3% der befragten Personen ein von den Angaben des zugrunde liegenden Registerdatensatzes „(und wahrscheinlich auch biologischen Geschlecht) abweichendes soziales Geschlecht angegeben.“2 Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung heißt das: „Knapp 2,5 Millionen Deutsche haben keine Lust, sich von fremden Erwartungen 1 Joan Roughgarden: Evolution’s Rainbow. Diversity, Gender, and Sexuality in Nature and People, Los Angeles u.a. 2004, 1. 2 Jutta Allmendinger: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen, München 2017, 260. Gerhard Schreiber 27 oder ihren Geschlechtsteilen in ein gesellschaftlich erwünschtes Leben pressen zu lassen.“3 Gesellschaftspolitisch schließlich ist nach Offenbarwerden sexueller Übergriffe von hochrangigen Politikern und prominenten männlichen Persönlichkeiten aus Film und Fernsehen die vielgestaltige Diskriminierung und systematische Benachteiligung von Frauen wegen ihres Geschlechts – ein weiteres Mal – zum Gegenstand medialer Aufmerksamkeit geworden, wobei die jüngst publik gewordenen Ereignisse freilich nur die berühmt-berüchtigte Spitze des Eisbergs darstellen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist auf allen vier genannten Diskursfeldern mit eigenen Bekundungen und Verlautbarungen beteiligt, wobei in puncto Sexualität eine erstaunliche Zurückhaltung, wenn nicht Gehemmtheit zu konstatieren ist. Man führe sich nur vor Augen: Die letzte EKDDenkschrift zu Fragen der Sexualität stammt aus dem Jahr 1971!4 Eine neue Publikation der EKD zur Sexualethik scheiterte im Jahr 2014 am Streit über Inhalte als Folge der erbittert geführten Kontroverse um die EKD-Orientierungshilfe Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken.5 Geschlechtliche Vielfalt ist für Kirche und Theologie ein blinder Fleck. Intersexualität als Segment eines wesentlich breiter zu sehenden Spektrums möglicher individueller geschlechtlicher Muster, die für gewöhnlich unter dem Terminus ‚geschlechtliche Vielfalt‘ zusammengefasst werden, ist sowohl in kirchlichen Stellungnahmen als auch in der deutschsprachigen Theologie bislang fast gänzlich unthematisiert geblieben. 3 So Tania Witte: Willkommen im Mainstream. Andersrum ist auch nicht besser, in: ZEITmagazin vom 15. Juni 2017. Allerdings zeigt der Blick auf die tatsächlich gegebenen Antworten der 3.104 hinsichtlich ihrer Geschlechterrolle befragten repräsentativ ausgewählten Personen (vgl. Allmendinger 2017, 260), dass Wittes Aussage, 3,3% hätten angegeben, „entweder ein anderes Geschlecht zu haben als bei ihrer Geburt zugewiesen oder sich schlicht nicht als weiblich oder männlich zu definieren“, irreführend ist. Nach Meinung Allmendingers ist die von ihr geleitete ZEIT-Vermächtnisstudie „die erste repräsentative Studie, die die Frage nach dem sozialen Geschlecht gestellt hat, weshalb Vergleichswerte nicht existieren.“ Aufgrund der „letztlich doch geringen Fallzahl“ könne „auf diese wichtige Unterscheidung“ (Allmendinger 2017, 260) allerdings nicht (weiter) eingegangen werden. 4 Kirchenkanzlei der EKD (Hg.): Denkschrift zu Fragen der Sexualethik, Gütersloh 1971. 5 Kirchenamt der EKD (Hg.): Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken, Gütersloh 2013; vgl. hierzu Kirchenamt der EKD (Hg.): Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Die Orientierungshilfe der EKD in der Kontroverse, Hannover 2013. Nachdem im Januar 2014 der Rat der EKD eine „Sexdenkschriftpause“ (Wolfgang Thielmann) beschloss, haben im August 2015 mehrere Mitglieder der im Juni 2010 berufenen Ad-hoc-Kommission zur Sexualethik ihre Thesen auf eigene Faust veröffentlicht, was von der EKD dabei ausdrücklich begrüßt wurde, vgl. Peter Dabrock u.a.: Unverschämt – schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah, Gütersloh 2015. 28 Gerhard Schreiber Dies mag darin begründet sein, dass Intersexualität und Transsexualität6 relativ ‚neue‘ Themen im gesellschaftlichen Diskurs sind, deren Relevanz für die Gestaltung des Lebens von den sinngebenden Instanzen und Institutionen individueller und sozialer Wertsetzung noch keineswegs hinreichend geklärt worden ist – und da ordnen sich Kirche und Theologie ganz konform ein. Beides, Intersexualität und Transsexualität, ist für die theologische Reflexion und kirchliche Praxis eine „irritierende Kontingenz“7, die gängige, etablierte Denkmuster aufbricht und zu einem Kurswechsel in der theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt herausfordert. Im Folgenden werde ich einige Bemerkungen zur theologischen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel von Intersexualität in dogmatisch- und ethisch-theologischer Perspektive8 machen und mir in diesem Zusammenhang wesentlich erscheinende Aspekte benennen. Vorausgeschickt seien Gedanken zur Komplexität von Geschlecht, um auf dieser Folie die immense Komplexitätsreduktion des binären Geschlechtermodells zu verdeutlichen, wie es unhinterfragte Voraussetzung auch der traditionellen theologischen Anthropologie ist. Um die hinter meinen Überlegungen stehende Überzeugung sogleich unverhohlen auszusprechen: Intersexualität ist ein Beleg für die Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit von Gottes Schöpfung, angesichts dessen jeder Versuch einer Normierung von Geschlecht eine menschliche Anmaßung und Kompetenzüberschreitung darstellt, durch die Gottes autonomes Schöpferhandeln menschlicher Definitionsmacht unterworfen wird. 6 Vgl. Gerhard Schreiber (Hg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften. Ergebnisse, Kontroversen, Perspektiven, Berlin/ Boston 2016; ferner Gerhard Schreiber (Hg.): Das Geschlecht in mir. Neurowissenschaftliche, alltagsweltliche und theologische Beiträge zu Transsexualität, Berlin/Boston: De Gruyter 2019 (erscheint vsl. im 1. Quartal 2019). 7 Stephan Goertz: Irritierende Kontingenz. Transsexualität als moraltheologische Herausforderung, in: Konrad Hilpert (Hg.): Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik. Bausteine zu einer Antwort auf die Missbrauchsdiskussion, Freiburg 2011, 345-358. 8 Aus Platzgründen bleiben praktisch-theologische Fragen, wie ich sie in meinem Loccumer Vortrag am 6. Dezember zur Anrede intersexueller Personen und deren sprachliche Abbildung auf amtlichen Formularen einerseits, zu liturgischen und kasualtheoretischen Aspekten andererseits thematisiert habe, ausgespart. Desgleichen auch kirchen- und theologiegeschichtliche sowie exegetische Ausführungen, die zur vollständigen und dringend notwendigen theologischen Aufarbeitung von Intersexualität gehören. Gerhard Schreiber 29 1. Geschlecht als komplexes Phänomen Die Einteilung der Menschen in genau zwei Geschlechter, ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, ist nicht nur Wesensmerkmal unseres Alltagsbewusstseins, sondern auch Grundlage der bestehenden Gesellschafts- und Rechtsordnung.9 Das jeweilige Geschlecht wird einem Menschen bei der Geburt aufgrund von äußerlichen, körperlichen Merkmalen zugewiesen und im weiteren Lebensverlauf mit bestimmten Vorstellungen und Erwartungen verknüpft. Dahinter steht die Annahme, dass es Geschlecht nur als entweder ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ gibt. Eine Zwischenposition oder Uneindeutigkeit des Geschlechts ist unter dieser Annahme insofern ausgeschlossen, als Geschlecht für einen durch die Genitalien von Geburt an festgelegten und eindeutig bestimmbaren Tatbestand gehalten wird. Die Einteilung der Menschen in zwei in ihrer Polarität sich ausschließende, aber komplementär aufeinander bezogene Geschlechter ist nicht nur hinsichtlich der empirisch zu registrierenden Diversität, sondern auch angesichts der Komplexität von Geschlecht wissenschaftlich schlechterdings nicht haltbar. Längst haben sozialwissenschaftliche und psychologische Untersuchungen über „geschlechtsabhängige Merkmale“ gezeigt, dass „Mann“ und „Frau“ nicht „zwei kategorisch verschiedene Wesen“ sind, sondern „die individuelle Verschiedenheit in der Gruppe der Männer oder der Frauen weitaus größer ist als alle Verschiedenheiten, die durch die Geschlechtszugehörigkeit entstehen.“10 Weder sind Eigenschaften, Merkmale und Verhaltensweisen je nur einem Geschlecht zuzuschreiben, noch beiden zugleich. Vielmehr gibt es Zonen geschlechtlicher Uneindeutigkeit, die jede polar-konträre oder kontradiktorische Entgegensetzung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ (zumal als ‚vollendete Privation‘11) als obsolet erscheinen lassen. Auch nach biologischen Erkenntnissen, in denen gesellschaftliche Kategorien freilich immer auch zugleich implizit vorausgesetzt und reproduziert 9 Vgl. zum Folgenden Gerhard Schreiber: Jenseits der Geschlechterbinarität. Transsexualität, Theologie und Kirche, in: Marriage, Families & Spirituality 23 (2017), 52-69, hier 53-58. 10 So bereits Anfang der 1980er Jahre die Gesellschaft zur Förderung Sozialwissenschaftlicher Sexualforschung (GFSS) [heute: Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS)], zit. bei Hans Georg Wiedemann: Homosexuelle Liebe. Für eine Neuorientierung in der christlichen Ethik, Stuttgart 1982, 98. 11 Vgl. Aristoteles Metaphysik I 4, 1055 a 33-35. „‚Vollendet‘ ist die Privation, wo Etwas als verschiedenes anderes Etwas das gänzliche Nichtsein seines anderen ist: ein jedes als Haben Ausschluß seines Anderen ist“ (Rudolf Brandner: Aristoteles, Sein und Wissen. Phänomenologische Untersuchungen zur Grundlegung wesenslogischen Seinsverständnisses, Würzburg 1997, 139). Zur Typologie der Gegensätze (Kontrarietät, Privation, Kontradiktion und Relation) vgl. Michael Schramm: Die Prinzipien der Aristotelischen Topik, München/Leipzig 2004, 162-173. 30 Gerhard Schreiber werden, lässt Geschlecht vielfältige Varianzen auf chromosomaler/genetischer, gonadaler, hormonaler und morphologischer Ebene erkennen. Demzufolge gibt es nicht nur zwei mögliche Geschlechtskörper, sondern ein Kontinuum ineinander übergehender, dabei individuell variierender geschlechtlicher Merkmale. Der US-Biologin Joan E. Roughgarden (*1946) zufolge findet sich bei der biologischen Definition von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ überhaupt nur ein einziges allgemeingültiges Binärmerkmal: In nahezu sämtlichen sich sexuell reproduzierenden Arten produzieren die Individuen insgesamt genau zwei Größen von Geschlechtszellen: Mikro- und Makrogameten. Alle anderen Geschlechtsmerkmale weisen bei den Individuen nicht nur zwischen den Arten, sondern auch innerhalb einer Art zu viele Varianten auf, als dass sie zu einer trennscharfen definitorischen Differenzierung dienen könnten: „There is no universal sex binary among the whole organisms themselves, only among their gametes.“12 Bereits 1948 hat der US-amerikanische Sexualforscher Alfred C. Kinsey (1894-1956) in seiner einflussreichen Studie Sexual Behavior in the Human Male im Hinblick auf das menschliche Sexualverhalten konstatiert: „Man kann die Welt nicht in Böcke und Schafe einteilen. Nicht alle Dinge sind entweder schwarz oder weiß. Es ist ein Grundsatz der Taxonomie, dass die Natur selten mit getrennten Kategorien zu tun hat. Nur der menschliche Geist erfindet Kategorien und versucht, Tatsachen in getrennte Schubladen zu stecken. Die lebendige Welt ist in jedem ihrer Aspekte ein Kontinuum.“13 Dieses „Kontinuummodell des sexuellen Erlebens und Verhaltens“14 lässt sich auf die Geschlechtlichkeit des Menschen übertragen. Angesichts des „geschlechtliche[n] Paradigmenwechsel[s]“15 von einer exklusiven Binäropposition zweier klar zu unterscheidender Pole hin zum inklusiven Modell eines Kontinuums sollte in Bezug auf Geschlechtlichkeit nicht länger von Kategorien, sondern von Mustern gesprochen werden. Die Rede von ‚Mustern geschlechtlicher Vielfalt‘ hätte den Vorteil, starre Schubladen überlieferter Konzepte überwinden und der Vielfalt menschlicher Wirklichkeit entsprechenden Ausdruck verleihen zu können. 12 Vgl. Joan Roughgarden: The Gender Binary in Nature, Across Human Cultures, and in the Bible, in: Schreiber 2016, 413-440, hier 416. 13 Alfred C. Kinsey u.a.: Sexual Behavior in the Human Male, Philadelphia 1948, 639 (meine Übersetzung). 14 Richard C. Friedman: Männliche Homosexualität, Berlin u.a. 1993, 8. 15 Annette Runte: Einleitung: ›Le père ou le pire‹?, in: dies. / Eva Werth (Hg.): Feminisierung der Kultur? Krisen der Männlichkeit und weibliche Avantgarden, Würzburg 2007, 7-23, hier 12. Gerhard Schreiber 31 Geschlecht beschreibt keinen statischen Sachverhalt, sondern ist von der Wiege bis zur Bahre durch den natürlichen, dynamischen Prozess ständiger Veränderung und Entwicklung geprägt. Hinzu kommen die externe soziale Zuordnung eines Menschen zu einem Geschlecht sowie sein ‚internes‘ geschlechtliches Selbsterleben. Letzteres ist gleichermaßen individuell „aus einer Reihe von Eigenschaften zusammen[gesetzt], die vom Prinzip viel oder wenig bestimmt wird“16, und kann überdies in einer milderen oder stärkeren Spannung zu dem bei der Geburt zugewiesenen und/oder dem sozial zugeschriebenen Geschlecht stehen. Bei Geschlecht handelt es sich also um eine jeweils individuelle Kombination mehrerer, ganz unterschiedlicher Eigenschaften auf individueller (biologischer, psychischer) und sozialer Ebene. Mithin ist Geschlecht wesenhaft komplexer, als es eine dichotome Klassifizierung von Menschen in ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ als vermeintlich klar voneinander abgegrenzte bzw. abgrenzbare Kategorien zum Ausdruck bringen kann. Was immer sich heute noch in der bestehenden Gesellschafts- und Rechtsordnung wie auch in Kirche und Theologie als dominantes Menschenbild auf der Basis eines binären Geschlechterverhältnisses darstellt, ist somit entlarvt als historisch-kontingentes Konstrukt einer problematischen Komplexitätsreduktion. Als mentalitätsprägender Faktor individual- und sozialgeschichtlich wirksam, hat das binäre Geschlechtermodell den Anspruch als anthropologische Konstante nunmehr verloren. Eine mit fortdauerndem Anspruch verknüpfte gesellschaftliche Weiterung ist der Machtfaktor. Als Ordnungsprinzip bildete und bildet das binäre Geschlechtermodell ein „Dispositiv der Macht“17 zur Herstellung und Aufrechterhaltung vor allem ‚männlicher‘ Privilegien. Obwohl unsere gesellschaftlichen Bilder von Geschlecht auch durch historische und soziokulturelle Faktoren beeinflusst und geprägt sind, welche „nicht immer zu einer rigiden binären Geschlechterordnung führten“18, evoziert und perpetuiert das institutionell und kulturell dominierende Ordnungsprinzip der Zweigeschlechtlichkeit vielfältige Ausgrenzungserfahrungen für Personen außerhalb des binären 16 Jörg Woweries: Wer ist krank? Wer entscheidet es?, in: Erik Schneider / Christel Baltes-Löhr (Hg.): Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz, Bielefeld 2014, 105-123, hier 112; vgl. ferner Cornelia Kunert: Geschlechtsidentität und Bewusstsein. Naturwissenschaftliche Fragen und philosophische Positionen, in: Schreiber 2016, 597-633. 17 Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1977, 91-97. 18 Deutscher Ethikrat: Intersexualität. Stellungnahme, Berlin 2012, 103. 32 Gerhard Schreiber Geschlechtercodes. Gleichstellung der Geschlechter kommt – unter der hier von uns eingenommenen Perspektive – nicht am Diskurs über Intersexualität vorbei. 2. Zur theologischen Auseinandersetzung mit Intersexualität Der eine Vielzahl von Phänomenen mit unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen bezeichnende Begriff Intersexualität steht hier für Varianten der Geschlechtsentwicklung (differences of sex development) auf chromosomaler/ genetischer, gonadaler, hormonaler und/oder morphologischer Ebene, die jeweils dazu führen, dass sich eine Person nicht eindeutig dem ‚männlichen‘ oder dem ‚weiblichen‘ Geschlecht zuordnen lässt. Es geht also um Menschen, die sich nicht durch Dritte und/oder aus ihrer eigenen Perspektive als eindeutig ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ festlegen lassen.19 Im Unterschied zu dieser – jedenfalls unter der Prämisse der Zweigeschlechtlichkeit – Uneindeutigkeit des Geschlechts kann aber auch das geschlechtliche Selbsterleben eines Menschen von dem ihm bei der Geburt (entsprechend dem morphologisch ‚eindeutigen‘ Erscheinungsbild der Genitalien) zugewiesenen Geschlecht divergieren. Damit stehen wir vor der unter anderem als Transsexualität bezeichneten konstitutionellen Inkongruenz zwischen geschlechtlichem Selbsterleben und bei Geburt zugewiesenem bzw. notiertem Geschlecht. Transsexualität und Intersexualität sind nicht miteinander gleichzusetzen20, und doch sind transsexuelle und intersexuelle Menschen gleichermaßen vielschichtigen Benachteiligungs-, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen auch in unserer Gesellschaft ausgesetzt, nicht zuletzt aus dem Grund, da in der Begegnung mit ihnen vorherrschende Erfahrungen mit, Idealisierungen von und Erwartungen an Geschlecht durchkreuzt werden. Sofern biblisch-jüdisch-christlich-theologisch die axiomatische Aussage 19 Schätzungen zur Prävalenz von Intersexualität hängen entscheidend von der jeweiligen Definition ab. Melanie Blackless u.a.: How sexually dimorphic are we? Review and synthesis, in: American Journal of Human Biology 12 (2000), 151-166, schätzen die Prävalenz von Intersexualität (einschließlich AGS, Klinefelter und Turner) auf bis zu 1.7 %; dagegen geht Leonard Sax: How common is intersex? a response to Anne Fausto-Sterling, in: Journal of Sex Research 39 (2002), 174-178, von einer Prävalenz von 0,018% aus. Das medizinische Fachlexikon Pschyrembel geht von einer Häufigkeit von mindestens 1:500 aus, d.h. 160.000 Menschen (0,2 % der Gesamtbevölkerung), www.pschyrembel.de/Intersexualit%C3%A4t/K0B01 (Abruf: 09.12.2017). 20 Vgl. jedoch Milton Diamond: Transsexualism as an Intersex Condition, in: Schreiber 2016, 43-53, der resümiert: „To this investigator there seems evidence enough to consider trans persons as individuals intersexed in their brains and scant evidence to think their gender transition is a simple and unwarranted social choice.“ (53) Gerhard Schreiber 33 gilt, dass Gott, der Schöpfer, alles Geschaffene ins Sein gerufen hat, also auch kein Mensch ohne seinen Schöpferwillen über diese Erde wandelt, stellt das soeben als intersexuelle Gegebenheit Dargestellte eine Herausforderung für theologisches Denken und kirchliches Handeln dar – und dies umso dringender, als die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und der damit einhergehende Dualismus von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ eine scheinbar gottgegebene und damit lebensbestimmende Festlegung auch des traditionellen christlichen Menschenbildes ist. Verankert ist diese theologische Anthropologie seit jeher: nämlich schon in der biblischen Erzählung über den Anfang alles Bestehenden in Gen 1. Für die protestantische Theologie sei exemplarisch Martin Luther angeführt, der in seiner Schrift Vom ehelichen Leben (1522) unter Verweis auf die priesterschriftliche Schöpfungserzählung bemerkt: „Auffs erst wollen wyr sehen, wilche person mügen mit eynander tzur ehe greyffen. Und das wyr datzu eyn fuglichen eyngang machen, nemen wyr fur uns den spruch Gen. 1.: ‚Gott schuff den menschen, das es eyn menlin und frewlin seyn sollt.‘ Auß dem spruch sind wyr gewiß, das gott die menschen ynn in die tzwey teyll geteylet hatt, das es man und weyb odder eyn He und Sie seyn soll. Und das hatt yhm alßo gefallen, das erß selbs eyn gutt geschöpffe nennet. Darumb wie unßerm iglichen got seynen leyb geschaffen hat, ßo muß ern haben, und stehet nicht ynn unßer gewallt, das ich mich eyn weybs bild, oder du dich eyn manß bilde machest, ßondern wie er mich unnd dich gemacht hatt, ßo sind wyr, ich eyn man, du eyn weyb, und solch gutte gemecht will er geehrt und unveracht haben als seyn gottlich werck, das der man das weibs bild odder glid nicht verachte noch spotte. Widderumb das weyb den man nicht, ßsondern eyn iglich ehre des andern bild und leyb als eyn gottlich gutt werck, das gott selbs wol gefellet.“21 Durch ihre Verknüpfung mit dem Schöpfungsgedanken erhielt die binäre Geschlechterdifferenz als Deskription der menschlichen Lebenswirklichkeit (Vorgegebenheit) einen präskriptiven Charakter (Aufgegebenheit): die Aufgabenstellung, als ‚er‘ oder ‚sie‘ ein recht würdiges Christenleben zu führen. Die Verwirklichung und Entfaltung der im Schöpfungsakt angelegten, grundsätzlich zweigeschlechtlichen Natur des Menschen als „urständliche[r] 21 Martin Luther: Vom ehelichen Leben (1522), WA 10/II, 275-304, hier 275,12-276,8; vgl. ferner WA 10/II 276,26-29: „gleych wie gott niemandt gepeut, das er man sey oder weyb, ßondern schaffet, das sie ßo mussen seyn, Alßo gepeutt er auch nicht, sich mehren, ßondern schafft, das sie sich mussen mehren.“ 34 Gerhard Schreiber Ordnung“22 galt als fromme Pflicht, die Ausfüllung der dem Menschen von Gott jeweils zugedachten Rolle als Erfüllung des göttlichen Willens. Auf der Basis schöpfungstheologischer Aussagen weiter entfaltet und auf Aufgaben und Verhaltensmuster übertragen, fungierte und fungiert die Annahme der bipolaren Zweigeschlechtlichkeit als hierarchisierend-strukturierendes Ordnungsprinzip wirksam in weiten Gebieten kirchlicher Lehre und Praxis und bis heute wahrnehmbar als Kondensat dogmatischer Einfalt und mit der Konsequenz eines Mangels an seelsorglicher Empathie – sprich: Einfühlung in den Nächsten, den zu lieben ‚wie sich selbst‘ uns aufgetragen ist. Intersexualität stellt für Theologie und Kirche eine Herausforderung dar, da hierdurch Selbstverständlichkeiten der traditionellen theologischen Anthropologie in Frage gestellt werden. Der Abschied vom Althergebrachten23 fällt unsagbar schwer. Protestantisches Denken verschließt sich aber weder gesellschaftlichen Realitäten noch neueren Wissensbeständen, welche aus außertheologischen Quellen stammen und vielleicht sogar dogmatisch festgeschriebenen Aussagen über den Menschen und seine Lebenswelt widersprechen. Es gilt, die Traditionen des eigenen Glaubens im Kontext neuzeitlichen Denkens und Handelns zu entfalten und in einer zunehmend von Komplexität und Differenziertheit geprägten modernen Gesellschaft24 argumentativ zu verantworten, um Orientierung für die Auseinandersetzung mit Aufgaben und Herausforderungen heutiger Zeit geben zu können. Kennzeichen protestantischen Denkens ist die stetige Bereitschaft zu neuerlichem Nachdenken einschließlich der sich daraus ergebenden Revisionen traditioneller ‚Richtigkeiten‘.25 Das Prinzip des ecclesia semper reformanda est ist 22 Helmut Thielicke: Theologische Ethik, Bd. 3, Tübingen 1964, 508. Die Zweigeschlechtlichkeit ist für Thielicke schon supralapsarisch in der Schöpfung angelegt, im Unterschied etwa zu mischbaren und inkonstanten „Rassendifferenzierungen“ seien „die Geschlechter durch einen character indelebilis geprägt“ (505). 23 Vgl. Jörns 2010 (siehe Anm. 27). 24 Vgl. Dirk Evers: Sind wir unser Gehirn? Menschliche Identität im Spannungsfeld von Theologie und Wissenschaft, in: Schreiber 2016, 465-481, hier 467: „Es dürfte ein Zeichen der Moderne und der Neuzeit sein, dass uns immer deutlicher vor Augen tritt, dass die Grenzlinie zwischen dem, was uns als Struktur unserer Existenz vorgegeben erscheint, und dem, was uns als Gegenstand der eigenen Wahl erscheint, fließend, brüchig und immer wieder neu zu bestimmen ist.“ 25 Vgl. Gerhard Schreiber: Semper reformandum? Geschlechtliche Vielfalt als Herausforderung und Chance für den Protestantismus, in: Klaus Fitschen u.a. (Hg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation / Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017, Bd. 1, Leipzig 2018 (LStRLO 36 und 37), 215-223. Gerhard Schreiber 35 zwar erst durch Karl Barth (1886-1968) als Kurzformel popularisiert worden26, aber doch dem Denken der Reformatoren vor 500 Jahren nachweislich verpflichtet! Es geht mithin um die reformatorische Freiheit, die uns legitimiert und befähigt, auch von einer überholten ‚Normativität‘ zu sprechen, wenn alle weltbildlichen Festlegungen gerade heftig ‚im Fluss‘ sind. Dies mag im theoretisch geführten Meinungsaustausch über „notwendige Abschiede“27 und Verführung durch den „gerade herrschenden Zeitgeist“28 recht praxis- und weltfremd daherkommen, aber Menschen, die jenseits oder zwischen den als ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ bezeichneten Geschlechtergruppen stehen und leben, empfinden sich selbst existenziell in Frage bzw. ins Abseits gestellt. Sie sind keineswegs defizitäre Abweichungen von einer als ‚naturgegeben‘ angesehenen ‚Norm‘ der Zweigeschlechtlichkeit – nur, weil Beharrungsvermögen und Unbeweglichkeit des Denkens in Kirche und Theologie ihnen die Freiheit der Vielfalt und Vielgestaltigkeit von Gottes Schöpfung verweigern! Vor diesem Hintergrund ist aber nicht nur der Versuch einer Normierung von Geschlecht mittels dichotomer Merkmale oder Variablen zu hinterfragen, sondern ein grundsätzlicher Vorbehalt gegenüber jeder Normierung von Geschlecht begründbar – einschließlich der Rede von ‚geschlechtlichen Normgruppen‘ oder ‚Normvarianten‘. Geschlecht bewegt sich nicht innerhalb oder außerhalb der Norm der Zweigeschlechtlichkeit, sondern Geschlecht ist außer Norm. In leichter Abwandlung des diesem Beitrag als Motto vorangestellten Diktums von Roughgarden möchte ich daher feststellen: Wenn so viele Menschen einer Norm nicht entsprechen, also mit diesen Menschen dementsprechend etwas ‚nicht stimmt‘, könnte es dann nicht vielleicht eher die Norm sein, mit der etwas ‚nicht stimmt‘? Mit anderen Worten: „Nicht der Intersexuelle ist das Problem, sondern die Gesellschaft.“29 Und für deren menschenwürdige Verfasstheit tragen Christenmenschen – gleich welcher Konfession – im Namen Gottes Verantwortung! 26 Zum Ursprung dieser Kurzformel vgl. Martin Abraham: Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute, Berlin/ New York 2007, 511-513; ferner Johan Mouthaan: Besprekingsartikel: Ecclesia semper reformanda – modern of premodern?, in: DNR 38 (2014), Nr. 1, 86-89, hier 88. 27 Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 52010. 28 Vgl. [Walter Rominger]: „Aus der Bekenntnisbewegung“, in: Informationsbrief der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, Nr. 308, Februar 2018, 27. 29 Ulla Fröhling: Leben zwischen den Geschlechtern: Intersexualität – Erfahrungen in einem Tabubereich, Berlin 2003, 67. 36 Gerhard Schreiber Intersexualität ist Bekräftigung des Faktums, dass alle Menschen Ausnahmeerscheinungen darstellen – kraft ihrer Gottebenbildlichkeit. „Die Ebenbildlichkeit des Menschen darf nicht bestimmte körperliche Merkmale oder geistige Fähigkeiten zur Bedingung machen.“30 Das weite Spektrum, den wunderbaren und überraschenden Reichtum menschlicher Existenz und Lebenswirklichkeit gilt es im Lichte evangelischer Freiheit deutlich sichtbar zu machen, zur Geltung zu bringen und wertzuschätzen und nach Maßgabe des Liebesgebotes mit aller verfügbaren Kraft zu schützen. Im Folgenden möchte ich dies in dogmatisch- und ethisch-theologischer Perspektive an ausgewählten Aspekten verdeutlichen. 3. Dogmatisch-theologisch 3.1 Re-Evaluation bisheriger Auslegungstraditionen Intersexualität stellt uns eindrücklich vor Augen, dass Gottes Schöpfung variantenreicher ist, als es den Anschein hat und es, bildlich gesprochen, unter dem Regenbogen Gottes mehr gibt als das, was wir aufgrund körperlicher Merkmale als ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ zu klassifizieren und zu kategorisieren versuchen. Der zentralen Aussage des biblischen Schöpfungsglaubens, dass wir den Grund unseres Seins nicht in uns selbst, sondern von Gott her haben, ist damit nicht widersprochen. Biblische Aussagen zu Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit des Menschen spiegeln jedoch einen früheren, zeitgebundenen Wissens- und Erkenntnisstand wider und dürfen nicht unreflektiert auf die heutige Lebenswirklichkeit übertragen werden31, zumal eine Parallelisierung oder gar Gleichsetzung von ‚Natürlichkeit‘ und biologischen Sachverhalten durchaus problematisch ist. Voraussetzung für eine theologische Erneuerung auch in dieser Hinsicht ist die Bereitschaft zur Re-Evaluation bisheriger Auslegungstraditionen 30 Stefanie Schardien: Im falschen Körper. Herausforderung für die Theologie: Transidentität und Ethik, in: Zeitzeichen 14 (2013), Heft 9, 11-13, hier 12. 31 Vgl. hierzu Ulrich Luz: Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, VI: „Verstehen [geschieht] in einem Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern [...], im Fall des Neuen Testaments zwischen den neutestamentlichen Texten und uns, seinen heutigen Leserinnen und Lesern.“ Diese „kontextuelle Hermeneutik“ (ebd.) gilt auch für die Schriften des Alten Testaments. Gerhard Schreiber 37 einschlägiger Bibelstellen vor dem Hintergrund und unter Einbeziehung des gegenwärtigen wissenschaftlichen State of the Art, also eine Rückkehr ad fontes unter veränderten Vorzeichen. Insbesondere die normativ statt deskriptiv verstandene, überdies unzureichend, weil verengend statt wörtlich übersetzte Stelle Gen 1,27 („Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“32 statt dem Wortlaut entsprechend „[...] männlich und weiblich schuf er sie“33) einschließlich der Bezugnahmen darauf in Gen 5,234 und Mt 19,435 hat innerhalb der bisherigen Auslegungstradition eine Fokussierung befördert, die den Aussagegehalt dieses Textes weder sachlich noch sprachlich unverkürzt zur Geltung zu bringen vermag.36 Eine neuerliche Annäherung an diese überaus wirkmächtige Stelle kann sich dabei im Rückgriff auf den Variantenreichtum auch ihrer Rezeptionsgeschichte vollziehen37, zumal aus christlich-theologischer Sicht eine Loslösung dieses Verses von christologischen Implikationen nicht gangbar wäre. Gleiches gilt für die bemerkenswerte Erzählung vom äthiopischen Kämmerer, einem 32 Wortlaut nach der Neuen Lutherübersetzung (2017) [abgekürzt: LUT17]. 33 Wortlaut nach der zuerst 1905 als „Miniatur-Bibel“ veröffentlichten Bibelübersetzung des stark vom radikalen Pietismus und den Erweckungsbewegungen seiner Zeit beeinflussten Schweizer Predigers Franz Eugen Schlachter (1859-1911). Die wortgetreue Wiedergabe von Gen 1,27 wurde auch in der Revision dieser Bibelübersetzung durch die Genfer Bibelgesellschaft von 1951 beibehalten. In der von der Genfer Bibelgesellschaft 1995 in Auftrag gegebenen und als „Schlachter 2000“ neu herausgegebenen, bearbeiteten Revision liest man hingegen: „[...] als Mann und Frau schuf er sie“. Die wortgetreue Wiedergabe von Gen 1,27 findet sich auch in der Neuen Einheitsübersetzung von 2016 [abgekürzt: EÜ2016]: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ 34 „Männlich und weiblich erschuf er sie, er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch an dem Tag, da sie erschaffen wurden“ (EÜ2016). 35 „Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang männlich und weiblich erschaffen hat“ (EÜ2016). 36 Wie die Scheidung von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht in der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung bei genauerer Betrachtung sich als kontinuierlicher Übergang von Tageslicht, Dämmerung und Dunkelheit erweist, so kann auch der durch ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ bezeichnete Zusammenhang analog dazu als Kontinuum gedacht werden. Die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes wird also in einem zweiten Schritt lediglich mit der Tatsache verbunden, dass das Gattungswesen Mensch „männlich und weiblich“ geschaffen wurde; die hebräische Konjunktion waw (‚und‘) wäre dann inklusiv zu verstehen. 37 Hier ist einerseits an frühjüdische (z.B. BerR 8,1; bErub 18a; WaR 14,1 und bBer61a) und frühchristliche Spekulationen über die Androgynität des Urmenschen (vgl. Wayne A. Meeks: The Image of the Androgyne. Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, HR 13 (1973/74), 165-208) zu denken, andererseits an die Differenzierung zweier Schöpfungen bzw. einer ‚zweifachen‘ oder ‚doppelten Schöpfung‘ bei Theologen der griechischen Kirche, z.B. bei Gregor von Nyssa (ca. 335-394), demzufolge der Mensch zunächst als androgynes geistiges Wesen und erst dann in seiner Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit geschaffen wurde. Im androgynen, geschlechtlich noch nicht ausdifferenzierten Menschen wird das Ebenbild Gottes gesehen. Zur Rezeptionsgeschichte von Gen 1,27 vgl. Ernst Dassmann: „Als Mann und Frau erschuf er sie“. Gen. 1,27c im Verständnis der Kirchenväter, in: Manfred Wacht (Hg.): Panchaia. Festschrift für Klaus Thraede (JAC, Ergänzungsband 22), Münster 1995, 45-60; Regina Götz: Der geschlechtliche Mensch – ein Ebenbild Gottes. Die Auslegung von Gen 1,27 durch die wichtigsten griechischen Kirchenväter (Fuldaer Hochschulschriften 42), Frankfurt am Main 2003 sowie Christiane Tietz: Vom androgynen Menschen zum zweigeschlechtlichen Gott. Die Rezeption von Gen 1,27 in der Geschichte der christlichen Dogmatik, in: Matthias Morgenstern u.a. (Hg.): männlich und weiblich schuf Er sie, Göttingen 2011, 119-138. 38 Gerhard Schreiber Eunuchen, in Apg 8,26-4038 im Vergleich mit Dtn 23,239 einerseits, Jes 56,4540, Weish 3,1441 und Mt 19,1242 andererseits. Überhaupt müsste deutlich werden, dass die geschlechtliche Ausdifferenzierung des Menschen (Gen 1,27c) nicht nur protologisch sekundär und „für das eschatologische Heil belanglos“43, sondern angesichts des im Glauben gegebenen „letztgültigen, nicht übertreffbaren Erwartungshorizont[s]“44 auf ihre Aufhebung im In-Christus-Sein als Ideal vollkommener Menschlichkeit hin angelegt ist.45 So sehr wir qualitativ verschiedene Deutungs- und Erklärungsebenen nicht miteinander konfundieren oder gegeneinander ausspielen dürfen, gilt es jedoch zu bedenken, dass wir uns, theologisch betrachtet, „jenseits von Eden“ (Gen 4,16) befinden. Es geht insofern um nichts weniger als um die ‚Entfesselung‘ aus ‚naturhaften‘ Gegebenheiten in der Bewegung hin zur Freiheit des Evangeliums. 38 Vgl. Apg 8, 27: „Und siehe, da war ein Äthiopier, ein Kämmerer [wörtlich: ein Eunuch], Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der über ihrer ganzen Schatzkammer stand“ (EÜ2016). Vgl. hierzu Brittany E. Wilson: „Neither Male nor Female“. The Ethiopian Eunuch in Acts 8.26-40, in: NTS 60 (2014), 403-422; Emma Percy: Can a eunuch be baptized? Insights for gender inclusion from Acts 8, in: Theology 119 (2016), 327-334. 39 „In die Versammlung des HERRN darf keiner kommen, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Glied verstümmelt ist“ (EÜ2016). Vgl. ferner Dtn 22,5: „Eine Frau soll nicht Männersachen tragen und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn wer das tut, der ist dem HERRN, deinem Gott, ein Gräuel“ (EÜ2016). 40 „Denn so spricht der HERR: Den Eunuchen, die meine Sabbate halten, die wählen, was mir gefällt und an meinem Bund festhalten, ihnen gebe ich in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Namen“ (EÜ2016). 41 „Selig ist auch der Entmannte, der nichts Unrechtes tut und nichts Böses gegen den Herrn erdenkt; dem wird für seine Treue eine auserlesene Gabe und ein besseres Los im Tempel des Herrn gegeben werden“ (LUT17). 42 „Denn es gibt Verschnittene, die von Geburt an so sind; und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten worden sind; und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. Wer es fassen kann, der fasse es!“ (LUT17). 43 Helmut Merklein: Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden, in: Martin Evang u.a. (Hg.): Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich Gräßer zum siebzigsten Geburtstag, Berlin/New York 1997 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 89), 231-260, 244. 44 Markus Mühling: Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 141), 463. 45 Vgl. Gal 3,28: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (EÜ2016). Gerhard Schreiber 39 3.2 Re-Evaluation des traditionellen Verständnisses von Ehe und Familie Die rechtliche Anerkenntnis der Existenz intersexueller Menschen durch Ermöglichung einer dritten positiven Eintragungsoption von Geschlecht neben ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ im Personenstandsregister46 wird von enormer Bedeutung auch für das verfassungsrechtliche bzw. bürgerlich-rechtliche Verständnis von Ehe und Familie sein. Das noch weit verbreitete, der gelebten gesellschaftlichen Realität aber immer weniger entsprechende traditionelle Verständnis von Familie47 als einer durch die Ehe begründeten dauerhaften Lebensgemeinschaft einer Mutter und eines Vaters mit gemeinsamen leiblichen Kindern – die traditionelle Kernfamilie – wurde in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits auf einen erweiterten Familienbegriff hin transzendiert. Denn: Welche Ehe und welche Familie sind nunmehr gemeint, von denen es in Art. 6 Abs. 1 GG heißt, sie stünden „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“? Mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zum 1. Oktober 2017 heißt es nun in § 1353 Abs. 1 BGB („Eheliche Lebensgemeinschaft“): „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung.“48 Die Rechte von Kirchen und Religionsgemeinschaften bleiben von dieser gesetzlichen Neuregelung unberührt, wie der Gesetzesentwurf betont.49 Was die Familie betrifft, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht für den Schutzbereich von Art. 6 GG mittlerweile an dem bereits genannten 46 Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16; zur Verfassungsbeschwerde vgl. Gerhard Schreiber: Geschlecht als Leerstelle? Zur Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2019/16 gegen die Versagung eines dritten Geschlechtseintrags, in: Ethik und Gesellschaft, 2017, Nr. 1, URL: http://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/eug/article/view/1-2017-art-7 (Abruf: 23.11.2017). 47 Vgl. Alexandra N. Langmeyer: Sorgerecht, Coparenting und Kindeswohl. Eltern Sein in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Wiesbaden 2015, 5-7, zur Differenzierung zwischen einer sozialwissenschaftlichen strukturtheoretischen Definition von Familie als relativ stabile und konstante Beziehungsnetze mit besonderen Merkmalen, einer sozialpsychologischen Definition von Familie als sich im gemeinsamen Lebensvollzug durch Abgrenzung, Privatheit, Dauerhaftigkeit und Nähe von anderen sozialen Beziehungssystemen unterscheidende intime Beziehungssysteme und einer auch den generationenübergreifenden Aspekt einschließenden familienpsychologisch ausgerichteten Definition von Familie als Produzenten gemeinsamer und privater Güter; letzterer „Zweck“ von Familie wird auch im 7. BMFSFJ-Familienbericht „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit“ (2006) vertreten. 48 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 20.07.2017 (BGBl. I, 2787-2788 [Nr. 52 vom 28.07.2017]). 49 BT-Drucksache 18/6665 (Gesetzentwurf vom 11.11.2015). 40 Gerhard Schreiber erweiterten Familienbegriff als den der tatsächlich gelebten Familienformen und -beziehungen. Dieser erweiterte Familienbegriff ist „noch für vieles offen“50: „Familie ist die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern. Es kommt nicht darauf an, ob die Kinder ehelich oder nichtehelich sind. [...] Auch die Gemeinschaft mit Adoptiv-, Stief- oder Pflegekindern steht unter dem Schutz von Art. 6 GG.“51 Die Ehe ist nicht mehr die erforderliche Voraussetzung für Elternschaft und für die „in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie“52 im Sinne des Art. 6 GG. In dessen Schutzbereich stehen vielmehr „alle Formen gelebter Eltern-Kind-Beziehungen.“53 Familie ist also, mit den Worten des Zukunftsforums Familie (ZFF) gesprochen, „überall dort, wo Menschen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, Sorge tragen und Zuwendung schenken.“54 Der erweiterte Familienbegriff, mit dem die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung auf Veränderungen der familiären Wirklichkeit reagiert, stellt Theologie und Kirche vor die Frage, inwieweit die veränderte gesellschaftliche und rechtliche Realität von Ehe und Familie auch theologisch zu reflektieren ist und entsprechende Handlungsperspektiven für die kirchliche Praxis zu entwickeln sind. Wie schon bemerkt, verstehe ich es als Kennzeichen und, so möchte ich an dieser Stelle ergänzen, Stärke protestantischen Denkens, sich gesellschaftlichen Realitäten und außertheologischen Wissensbeständen nicht zu verschließen. Indem die eigenen Glaubenstraditionen im Kontext neuzeitlichen Denkens und Handelns entfaltet und in unserer von politischem und religiösem Meinungspluralismus ebenso wie von sozialen Gegensätzen und individuellen Interessen geprägten, ausdifferenzierten, modernen Gesellschaft argumentativ verantwortet werden, vermögen Theologie und Kirche Orientierung auch für die Auseinandersetzung mit Aufgaben und Herausforderungen heutiger Zeit zu geben. 50 Dieter Schwab: Abhandlungen – Familie und Staat, in: FamRZ 54, 2007, 1-16, hier 5; zit. bei Barbara Schwarz: Die Verteilung der elterlichen Sorge aus erziehungswissenschaftlicher und juristischer Sicht (Dissertation, PH Ludwigsburg 2010), Wiesbaden 2011, 76. 51 Karl-Heinz Dittrich / Gudula Hommel: Staatsrecht, Heidelberg 52006, 35 (Rn. 111); vgl. hierzu Hans D. Jarass / Bodo Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 142016, 248-279 (insb. zu Art. 6 Rn. 6) mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 52 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. November 1981 - 1 BvR 894/78 (BVerfGE 59, 52-63); vgl. auch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 31. Mai 1978 - 1 BvR 683/77 (BVerfGE 48, 327-341). 53 Kirchenamt der EKD 2013, 47 (meine Hervorhebungen). 54 Zukunftsforum Familie (Hg.): Politik für die Vielfalt der Familie. Familienpolitische Grundlagen des ZFF, Bonn 2005, 6; vgl. vielfalt familie. Zeitschrift des Zukunftsforum Familie (ZFF), Nr. 27, September 2017, 7. Gerhard Schreiber 41 Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzuhalten, dass die uns heute so vertraut erscheinende Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen keine zeit- und kulturübergreifende Konstante darstellt, sondern sich in Europa erst in der Neuzeit als Folge gesellschaftsstruktureller Entwicklungen als nahezu unhinterfragte Sicht auf das menschliche Geschlecht durchgesetzt hat.55 Fürwahr: Zur Zeugung eines Kindes bedarf es der Verschmelzung zweier haploider Gameten, Eizelle und Spermium. Im Verlauf der weiteren pränatalen und postnatalen Entwicklung des Kindes ist das Vorhandensein oder die Anwesenheit beider ‚genetischer Eltern‘ allerdings weder unabdingbare Voraussetzung noch ein exaktes Spiegelbild tatsächlicher gesellschaftlicher Verhältnisse: Eine ganze Generation von Kindern wurde allein von Kriegerwitwen großgezogen, die Zahl alleinerziehender Eltern wächst seit den 1960er-Jahren ständig weiter an. Aus der Anerkenntnis intersexueller Menschen erwächst nach meinem Dafürhalten ein überzeugendes Argument dafür, den alltagsweltlichen und rechtlichen Wandel des Verständnisses von Ehe und Familie auch im theologischen Kontext nachzuvollziehen und von der Reflexion über die strukturelle oder institutionelle Gestalt von Ehe und Familie hin zur Reflexion über deren tatsächlich gelebte Gestaltung überzugehen. Der Versuch einer produktiven Rezeption des erweiterten Familienbegriffs im theologischen Kontext findet sich in der eingangs bereits erwähnten, viel diskutierten EKD-Orientierungshilfe Zwischen Autonomie und Angewiesenheit (2013). „Protestantische Theologie unterstützt“, wie die Mitglieder der Ad-hoc-Kommission konstatieren, „das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird.“56 Familie werde durch die verlässliche, generationsübergreifende Wahrnehmung von familiären Fürsorgebeziehungen konstituiert. Ausschlaggebend sei nicht die äußere Form familiärer Beziehungen, sondern vielmehr, dass sich in ihnen „Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen.“57 Familie wird also nicht mehr strukturell oder institutionell, sondern über die Beziehungsqualität real gelebter Gemeinschaftsformen definiert. 55 Vgl. z.B. Isolde Karle: Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, 105-111. 56 Kirchenamt der EKD 2013, 55; vgl. im Ganzen 43-71. 57 A.a.O., 141; vgl. hierzu Volker Jung: Sexuelle Vielfalt als Herausforderung für kirchenleitendes Handeln, in: Schreiber 2016, 557-563, bes. 560f. 42 Gerhard Schreiber Die gelebte Wirklichkeit von Familie ist nun aber in der Tat durchaus vielfältiger als die traditionelle Form der Kernfamilie: Vater, Mutter, Kind(er). Bei diesem Perspektivwechsel geht es allerdings nicht – und dies ist mir wichtig zu betonen – um eine Gleichmacherei aller Formen des auf Dauer hin angelegten menschlichen Zusammenlebens, sondern darum, sich für weitere Formen verantwortlichen familiären Zusammenlebens zu öffnen, ohne Ehe und Familie im traditionellen Sinne zu entwerten. Durch die Erweiterung des Eheund Familienverständnisses würde vielen Menschen etwas gegeben werden, ohne anderen – objektiv betrachtet – etwas zu nehmen. Die vielleicht schwierigste Aufgabe kirchlicher Äußerungen bestünde dann darin, dafür Sorge zu tragen, dass dies auch die Menschen subjektiv empfinden, die nicht von dieser Erweiterung betroffen sind. In jedem Fall gibt es keinen Grund, intersexuellen Menschen familiäre Rechte und Pflichten in irgendeiner Beziehung abzusprechen oder den Zugang zu Eheschließung und Trauung zu verwehren. Ganz im Gegenteil. 4. Ethisch-theologisch: Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung Intersexualität umfasst neben biologischen auch psychische und soziale Aspekte und erstreckt sich somit in die Bereiche personaler Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Sichtbarkeit und sozialer Definitionshoheit. Die Anerkenntnis aller Menschen als „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“58 gebietet Achtung und Respekt vor dem Recht auch intersexueller Menschen auf eine selbstbestimmte Entscheidung über das eigene Geschlecht.59 Dieses Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung ist nicht anders zu begründen als das generelle Recht auf Selbstbestimmung, das nicht in einer subjektiven Verfassung der Person, sondern in der gemäß Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten unantastbaren Würde eines jeden Menschen begründet liegt. Diese kann vor dem Hintergrund des Gottesbezuges in der Präambel des Grundgesetzes als eine unverfügbare und unverlierbare Gabe Gottes verstanden werden, obgleich sie nicht einfach der säkulare Ausdruck der theologischen Kategorie der Gottebenbildlichkeit ist. Gottebenbildlichkeit ist vielmehr unbedingte und unabdingbare Voraussetzung der nicht nur jeder kulturellen Deutung, sondern auch 58 Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (A/RES/217 A (III)), 10. Dezember 1948. 59 Solange eine Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt erforderlich ist, vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16, Rn. 65; ferner Deutscher Ethikrat 2012, 116-171 und 177f. Gerhard Schreiber 43 allen politischen Gesellschaftsmodellen vorausliegenden Würde des Menschen, welche zwar auch ohne theologische, nicht aber ohne anthropologische Hintergrundannahmen gedacht werden kann. Das Grund- und Leitprinzip des Vorrangs der Selbstbestimmung vor der Fremdbestimmung ist auch auf medizinischer Ebene zur Geltung zu bringen. Aus den Möglichkeiten der modernen Medizin, geschlechtsvereindeutigende und/oder -zuordnende60 Eingriffe durchzuführen, aufzuschieben oder aber gänzlich zu unterlassen, resultiert eine besondere Verantwortung für den Umgang mit Geschlecht und Geschlechtlichkeit. Die bisherige medizinische Praxis hat hier nicht selten den Respekt vor der geschlechtlichen Selbstbestimmung vermissen lassen, indem sie sich mehr nach dem Machbarkeitsprinzip als nach den realen Lebensbedürfnissen der Menschen gerichtet hat, die eben nicht nur Objekt medizinischer Handlungen und Handlungsweisen, sondern zugleich selbstbestimmte ‚Würdeträger‘ sind. Der bisherige medizinische Umgang mit Intersexualität kann mit den Worten des Deutschen Ethikrates insofern als „Fehlentwicklung[]“61 kritisiert werden, als viele intersexuelle Menschen durch irreversible, aber medizinisch nicht notwendige Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung bereits im frühen Kindesalter „in ihrer personalen Identität aufs Tiefste verletzt“ worden sind und „Schmerzen, persönliches Leid, Erschwernisse und dauerhafte Einschränkungen ihrer Lebensqualität erlitten“ haben. Die Substitution von auf die anatomische Normalisierung fixierter paternalistischer durch psychosozial fundierte Konzepte, bei denen das informierte, selbstbestimmte Subjekt auch bei jeder körperlichen Intervention im Mittelpunkt steht,62 ist ihrerseits ein Beleg dafür, dass die geschlechtliche Selbstbestimmung an Relevanz gewonnen hat. Die Achtung des Selbstbestimmungsrechts gilt dabei schon für Säuglinge, die, altersbedingt einwilligungsunfähig, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung nicht selbst ausüben können, weshalb ihre Eltern dies an ihrer statt im Rahmen der Personensorge wahrnehmen.63 60 Zu dieser Differenzierung vgl. Deutscher Ethikrat 2012, 27-28, 108, 151-155. 61 A.a.O., 172. 62 Vgl. a.a.O., 106. 63 Vgl. hierzu Hans-Georg Koch: Politische Steuerung von Körper-Technologie durch Instrumente des Rechts, in: Thomas Hoppe (Hg.): Körperlichkeit – Identität. Begegnung in Leiblichkeit, Fribourg 2008, 49-63, hier 55f. 44 Gerhard Schreiber 5. Eine abschließende Bemerkung Die Folgen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017, denjenigen „Personen, deren Geschlechtsentwicklung gegenüber einer weiblichen oder männlichen Geschlechtsentwicklung Varianten aufweist und die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen“64, einen ihrem Geschlecht entsprechenden „positiven Geschlechtseintrag“65 zu ermöglichen, sind für unser soziales Zusammenleben noch nicht abzuschätzen. Die theologische Reflexion von Intersexualität geschieht jedoch nicht nur im Interesse eines angemessenen Umgangs mit intersexuellen Menschen als Teil der religiös neutral, säkular definierten Gesellschaft, sondern gleichermaßen auch als Teil der in diese eingeschlossenen Gemeinschaft der (christlichen) Glaubenden. Dabei kann es aber weder um eine ‚Integration‘ einer Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft noch um eine ‚Tolerierung‘ dieser Menschen gehen, deren Status damit letztlich umstritten bliebe. Vielmehr steht die Gemeinschaft der Christenmenschen vor keiner geringeren Herausforderung, als sich selbst grundwegs neu zu definieren unter der leitenden Maxime, dass die von Gott gegebene Vielfalt alle Menschen in ihrer je eigenen Individualität einbeziehen, Trennungen, Ausgrenzungen und Ängste überwinden und Respekt vor und Wertschätzung der Vielfalt zur gleichberechtigten Teilhabe aller am kirchlichen Leben ermöglichen möchte. „Die Natur liebt Vielfalt, aber die Gesellschaft hasst sie.“66 Am Umgang mit Minderheiten zeigt sich, wie offen eine Gesellschaft – und auch jede kirchliche Gemeinschaft ist und wofür sie tatsächlich einstehen; es zeigt sich, was Werte wirklich wert sind. Die Kirchen als gesellschaftlich etablierte und für das religiöse Bewusstsein und die Lebensdeutungen ihrer Mitglieder relevante Größen können wirkmächtige Impulse zur nachhaltigen Veränderung bestehender Verhältnisse und Strukturen geben, indem sie offen gegen jede Form der Diskriminierung und für Akzeptanz eintreten und alle Menschen als Geschöpfe Gottes unbesehen des Geschlechts willkommen heißen, das im besten Sinne, nämlich in Christus Jesus, nebensächlich ist.67 64 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16 - Rn. 35. 65 Ebd. 66 So der Wahlspruch Milton Diamonds, vgl. www.hawaii.edu/PCSS/ (Abruf: 09.12.2017) (meine Übersetzung). 67 Vgl. Gal 3,28 (siehe oben Anm. 45). Gerhard Schreiber 45 Peter-Ben Smit Der „Kämmerer aus Mohrenland“ oder der äthiopische Eunuch? In vielen deutschen Bibelübersetzungen, zumindest seit der Übersetzung Martin Luthers, ist in Apg 8,27 eine interessante Person anzutreffen: „ein Mann aus Mohrenland, ein Kämmerer und Gewaltiger der Königin Kandaze in Mohrenland, welcher war über ihre ganze Schatzkammer, der war kommen gen Jerusalem, anzubeten“ (Lutherübersetzung von 1545). Diese Wiedergabe von ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος δυνάστης Κανδάκης βασιλίσσης Αἰθιόπων, ὃς ἦν ἐπὶ πάσης τῆς γάζης αὐτῆς, ὃς ἐληλύθει προσκυνήσων εἰς Ἰερουσαλήμ ist deshalb interessant, weil in der Übersetzung, aus mir unbekannten Gründen, ein Wort nicht wiedergegeben wird und zwar: εὐνοῦχος [eunouchos]. Aus ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος [aner aithiops eunouchos] wird faktisch ἀνὴρ Αἰθίοψ [aner aithiops] und damit verschwindet ein außerordentlich wichtiger Aspekt der Charakterisierung dieses Menschen. Dieser Aspekt ist aus naheliegenden Gründen interessant und soll hier näher betrachtet werden. Allerdings wird dabei eine Frage nicht beantwortet werden können: Was hat eine ganze Tradition von Bibelübersetzern bewogen, diese Entscheidung zu treffen und beizubehalten? Auf diese Weise ist etwas vergessen worden, was eigentlich interessant, ja, sogar relevant ist. Mit Assmann ließe sich fragen: Ist dies ein neutrales oder ein komplizitäres Vergessen?1 Wie verhält es sich aber mit dem Gender dieses Äthiopiers aus antiker Perspektive und was kann die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte für heutige Debatten über Geschlecht und Identität in Kirche und Gesellschaft beitragen?2 1 Vgl. Aleida Assmann: Formen des Vergessens, Göttingen: Wallstein 32017; die dritte, eher „therapeutische“ Form von Vergessen, die sie ebenfalls nennt, wird es wohl kaum sein. 2 Aus Platz- und Zeitgründen sind Fußnoten auf das Wichtigste beschränkt. Peter-Ben Smit 47 1. Geschlecht und Männlichkeit in der Antike und heute Zu Geschlecht in der Antike ist, nicht zuletzt dank feministisch inspirierter Forschungsprojekte, viel geforscht worden, allerdings ist dabei das Thema „Männlichkeit“ erst in den letzten Jahrzehnten wirklich zu einem Thema der Forschung geworden.3 Es würde hier zu weit führen, den ganzen Forschungsstand wiederzugeben, aber ich möchte mit Laqueur betonen, dass in der Antike eher „eingeschlechtlich“ als „zweigeschlechtlich“ und zugleich stark in einer Geschlechterhierarchie gedacht wurde, in der man z.B. „männlicher“ oder „weniger männlich“ sein konnte. Das wirkliche Geschlecht wurde dabei eher aus dem Verhalten einer Person erschlossen als aus körperlichen Merkmalen, auch wenn diese Merkmale bestimmte Erwartungen hervorriefen. Von einer Person mit einem idealtypischen männlichen Körper (frei, gesund, römisch, mit einer tiefen Stimme usw.) wurde eher angenommen, dass sie sich auch „männlich“ benehmen würde, als von einer Person mit einem weiblichen Körper. Da Geschlecht letztendlich über die Achse der Tugendhaftigkeit bestimmt wurde, insbesondere die Tugend der andreia (Tapferkeit, als Eigenschaft eines freien Mannes im Kampf auch die männliche Tugend par excellence), war es aber auch durchaus möglich, dass eine Person, von der man es nicht erwarten würde, viel „männlicher“ agierte als eine Person, zu deren Status es gehörte, sehr „männlich“ aufzutreten. Dabei weist nicht nur Tapferkeit auf ein „männliches“ Geschlecht hin, sondern vor allem auch Freiheit und daher Selbstbeherrschung (auch unter Umständen, die man nicht beherrschen kann), sowie weitere Tugenden wie Frömmigkeit und Gerechtigkeit. Anders gesagt: Die Verkörperung der Tugenden zeichnete eine Person als „idealtypisch menschlich“ und daher „männlich“ aus. Die Assoziation von „idealtypisch menschlich“ mit „Mann“ kann hier nur angedeutet, aber nicht weiter behandelt oder problematisiert werden. Ein Text wie EvThom 114 zeigt aber den Zusammenhang exemplarisch auf: „Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen.“ Mit Mann- oder Frausein im biologischen Sinne hat dies wenig zu tun, mit Tugendhaftigkeit – und damit z.B. mit Freiheit und Selbstbeherrschung, aber auch: Selbstbestimmung (vgl. die Theklaakten) – aber schon. Im Hintergrund stehen zuweilen androgyne Proto- und Eschatologien. Ein kulturell hybrider Text, der auch zeigt, dass solche Konstruktionen 3 Vgl. im Allgemeinen für die Bibelwissenschaft: Peter-Ben Smit: Masculinity and the Bible. Survey, Models, and Perspectives (Brill Research Perspectives in Biblical Studies 2.1), Leiden/Boston: Brill 2017. 48 Peter-Ben Smit besonders interkulturell eine Rolle spielten (sowohl im Sinne von: im jüdischen wie im griechischen Bereich wie auch im Sinne von: als „Waffe“ für einen interkulturellen Streit), zeigt exemplarisch 4 Makk, worin gerade die auf (rationale) Frömmigkeit beruhende Tapferkeit bzw. männliche Tugend der Makkabäer sie zum faktischen Sieger in der Auseinandersetzung mit den Syriern macht. Dass dabei gerade Eleazar, die Mutter der sieben Brüder und der jüngste der Brüder nach antiker Auffassung also gerade die drei Personen, von der man zumindest vom Körper her am wenigsten „Männlichkeit“ erwarten würde, die herausragenden Verkörperungen solcher „Männlichkeit“ sind und zwar gegenüber dem anscheinend „hypermaskulinen“ Syrischen General, der sie letztendlich zum Beispiel von Tapferkeit für seine Truppen macht, weist auf diese ‚interkulturelle‘ Auseinandersetzung über Männlichkeit hin. Als literarische Trope wird dies wohl zusammengefasst als: „Eure Männer sind Frauen, unsere Frauen sind echte Männer.“ Ähnlich funktioniert es im Buch Judit. Damit hat die Antike eine Auffassung von Geschlecht, und insbesondere auch von Männlichkeit, die nicht vom Biologischen, sondern vom Handeln ausgeht für die Bestimmung des Geschlechts einer Person. In der Moderne funktioniert dies anders, wenngleich Geschlecht in jenem Zeitalter wie auch in der heutigen spätmodernen Zeit ein intersektionales Phänomen ist. Das heißt: Was eine Person ist (männlich, weiblich, intersexuell) wird zwar vom Biologischen her bestimmt, aber ob eine Person auch ein „echter“ oder „normaler“ Mann (bzw. „echte“ oder „normale“ Frau) ist, wird durch das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren bestimmt, wie Ethnizität, soziale Klasse, Gesundheit, Sexualität, Bildung, Konsumverhalten, Arbeit(slosigkeit) usw. Kurz gesagt: ein gesunder, weißer, hochgebildeter, sexuell aktiver, heterosexueller, biertrinkender und steakessender, karrieremachender Mann aus gutbürgerlicher Familie ist auf eine andere Art und Weise Mann (bzw. wird als Mann anders wahrgenommen und eingestuft) als ein bisexueller, behinderter, veganer, sexuell inaktiver, arbeitsloser und ungebildeter Mann mit Migrationshintergrund. Dies sind Extreme, denn es gibt unzählige Spielarten. Wichtig ist vor allem: Geschlecht ist nicht gleich Biologie; auch wenn man der Meinung ist, dass das „Wesentliche“ das Biologische ist, sind andere Faktoren bei der Bewertung, ob jemand ein „echter“ Mann ist – je nach kulturellen Standards – von mindestens gleich großer Bedeutung. Vor diesem doppelten Hintergrund kann nun die Erzählung vom äthiopischen Eunuchen betrachtet werden. Peter-Ben Smit 49 2. Mehr als bloß „Mann oder Frau“ Um den Charakter des äthiopischen Eunuchen würdigen zu können, muss es um mehr gehen als nur um eine Kategorisierung dieser Person als entweder „Mann“ oder „Frau“ bzw. „mangelhafter Mann“ oder „doch nicht wirklich eine Frau“. Solche Kategorien entstammen einem „modernen“ Verständnis von Geschlecht und nicht antiken Ansichten. Zudem verengt dies den Blick auf Geschlecht qua Sexus und übersieht die sozialen, kulturellen und ethnischen „Codes“, die ebenfalls eine Rolle spielen. Wie oben bereits erwähnt: Ein Mann ist nie ohne Weiteres ein „Mann“, sondern auch immer ein Mann mit einer bestimmten Ethnizität, einem bestimmten Status oder einer bestimmten sozialen Rolle, und einer (oder keiner!) Verortung in einer bestimmten Kultur. Aus dieser Perspektive erscheint der äthiopische Eunuch als eine Person, deren Geschlecht auf vielfältige Art und Weise zustande kommt. Es handelt sich insbesondere um eine Reihe von Eigenschaften, die sich zum Teil widersprechen. Das heißt: Er wird einerseits positiv und andererseits negativ qualifiziert, in einer Art und Weise die dem kulturell hybriden Charakter der Apostelgeschichte entsprechend sowohl mit jüdischen wie auch mit nicht-jüdischen Skripts übereinstimmte, wie Wilson gezeigt hat.4 Einerseits ist der Eunuch ein hoher Beamter; er kann eine lange Reise machen, vielleicht sogar eine Pilgerfahrt, und zeichnet sich auf jeden Fall durch Frömmigkeit aus; auch ist er gebildet, denn er kann lesen, und er ist ein Mann. Andererseits ist er aber ein verstümmelter Mann – auch in der Antike nicht gerade eine selbstverständliche Auszeichnung! Und er ist ein (womöglich „schwarzer“) Ausländer bzw. er gehört nicht zum Gottesvolk. Ihn einfach als „einen verstümmelten Mann“ zu beschreiben, würde nicht ausreichen, denn ein verstümmelter Mann, besonders ein kastrierter Mann, galt (und gilt!) nicht ohne Weiteres als vollwertiger Mann. Wenn ein solcher Mann dann zudem noch außerhalb der eigenen Gruppe steht, leidet seine Glaubwürdigkeit als Verkörperung idealtypischer Männlichkeit noch mehr Schaden. Er sinkt also in der antiken Geschlechterhierarchie nach unten. Vollkommen „unmännlich“ ist er jedoch nicht: Er ist gebildet, hat einen hohen Status und ist fromm – alles Kennzeichen idealtypischer Männlichkeit bzw. Tugendhaftigkeit. Allerdings ist auch zu bemerken, dass die Betonung seines Reichtums bzw. seiner luxuriösen Art zu reisen auch auf „Unmännlichkeit“ hinweisen kann (die Laster der „Luxuria“). 4 Vgl. dazu bes. Brittany E. Wilson: „Neither Male nor Female“: The Ethiopian Eunuch in Acts 8.26-40, in: NTS 60 (2014), 403-422; dies.: Unmanly Men. Refigurations of Masculinity in Luke-Acts, Oxford: Oxford University 2015. 50 Peter-Ben Smit Alles in allem entzieht er sich aber nicht nur modernen Klassifizierungen, sondern auch in das antike „System“ ist er relativ schwierig einzuordnen. Seine Identität ist und bleibt eine spannungsvolle Sache – er ist und bleibt ambigue. Diese Ambiguität hat aber vor allem etwas zu tun mit der Perspektive, aus der man eine Person betrachtet. Die Auflistung im letzten Abschnitt ist grosso modo aufgrund einer antiken Mehrheitsauffassung bezüglich Geschlecht und Männlichkeit bzw. aufgrund einer vermutlich gesellschaftlich dominanten Perspektive formuliert worden. Aus dieser Perspektive müsste der Eunuch – und dies entspricht antiken, z.B. römischen Beschreibungen von Eunuchen, so wie sie aus „allgemeiner“ oder „elitärer“ Sicht existieren – eigentlich zwangsläufig als problematisch erscheinen. Dies entspricht aber nicht der Perspektive der Erzählung in Apg 8. Zwar wird die Person, der Philippus auf dem Weg von Jerusalem nach Gaza begegnet, als ἀνὴρ Αἰθίοψ εὐνοῦχος δυνάστης Κανδάκης βασιλίσσης Αἰθιόπων, ὃς ἦν ἐπὶ πάσης τῆς γάζης αὐτῆς, ὃς ἐληλύθει προσκυνήσων εἰς Ἰερουσαλήμ (V. 27; „ein Äthiopier, ein Eunuch, ein Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, der ihren ganzen Schatz verwaltete; er war nach Jerusalem gekommen, um dort anzubeten“) eingeführt, und als einer, der in seinem Wagen den Propheten Jesaja liest (V. 28). Problematisiert wird eigentlich keine dieser Eigenschaften. Die Apostelgeschichte listet sie einfach auf, die Leser*innen können selbst entscheiden, was sie von einer solchen Person halten – obgleich sie ohne Weiteres als eher exotisch erscheinen muss, doch das fließt noch nicht zwingend in die Bewertung ein. Dass sich Philippus auf Geheiß des Engels an den Ort begibt, an dem der „Kämmerer“ vorbeiziehen wird, und zudem vom Geist den Auftrag erhält, dem betreffenden Wagen zu folgen, bedeutet aber schon etwas: Die Begegnung von Philippus und dem (namenlosen) Menschen aus Äthiopien ist kein Zufall, sondern wird kraft höchster Autorität bewirkt. Wie auch immer es sich mit dem Beamten der Kandake verhält: Er ist – im biblischen Narrativ – die erste Person, zu der direkt ein Apostel geschickt wird, und zwar zwecks ihrer Eingliederung in das Gottesvolk, auch wenn das in V. 26-28 noch unklar ist. Der Status als „Outsider“, allerdings: „frommer Outsider“, des äthiopischen Beamten wird in V. 30-31 untermalt: Zwar liest er den Propheten Jesaja, muss aber eingestehen, dass er ihn nicht versteht, da niemand ihn anleitet (V. 31). Aus welchem Grund er dann Philippus einsteigen lässt, ist zwar etwas unklar, aber als der Beamte dann den Text, der ihn Kopfzerbrechen bereitet, Philippus vorlegt, wird die Bewertung dieses Menschen im biblischen Narrativ noch interessanter. Peter-Ben Smit 51 Der Text, den er zitiert, hat einen unklaren Bezugspunkt: „Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt; und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert, so tat er seinen Mund nicht auf. In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben. Seine Nachkommen, wer kann sie zählen? Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen“ (Apg 8,32-33; vgl. Jes 53,78). Das Problem des Eunuchen, wie er es Philippus bekundet, ist folgendes: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das? Von sich selbst oder von einem anderen [ἢ περὶ ἑτέρου τινός]?“ (V. 34). Nun ist offenkundig diese Frage auch wieder herrlich ambigue, denn wer ist der „Andere“, auf den sich der Text ebenfalls beziehen könnte. Philippus gibt die Antwort auf diese Frage nicht sofort, denn es heißt nicht, dass er das Lamm mit Jesus identifizierte – wir bekommen nicht mitgeteilt, was er genau sagte; offenbar ist das nicht so wichtig. Wir erfahren nur, dass er „ausgehend von dieser Schriftstelle [ἀπὸ τῆς γραφῆς ταύτης]“ (V. 35) die gute Nachricht von Jesus erzählt bzw. er ihm Jesus als gute Nachricht verkündet (εὐηγγελίσατο αὐτῷ τὸν Ἰησοῦν). Was wird Philippus gesagt haben und was bringt den Eunuchen dazu, um in V. 36 sogleich um die Taufe zu bitten? Ich denke, dass es vertretbar ist, den ambiguen Bezugspunkt des „Anderen“ in V. 34 so zu verstehen, dass dieser sowohl mit Jesus als auch mit dem Äthiopier zu tun hat. Vielleicht ist ein Begriff wie „Schicksalsgemeinschaft“ hier weiterführend, wenn man die Zusammenhänge so versteht, dass der Äthiopier durch seine Beziehung zu Jesus (sprich: durch die Taufe) an Jesu Leben und Sterben (bzw. Erniedrigung bis zum Tode) als Schicksal teilhaben kann. Eine andere Deutungsvariante wäre, das JesajaZitat ohne „christologischen Umweg“ als positive Würdigung des Eunuchen zu verstehen – und zwar in seiner Erniedrigung, die die Unmöglichkeit einer Nachkommenschaft beinhaltet (vgl. V. 33, wenn dies der Sinn von „Seine Nachkommen, wer wird von ihnen berichten? Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen“ ist). In jedem Fall wird die komplexe (oder ambigue) Identität des Äthiopiers, die auch – und vielleicht sogar vor allem – in der Antike aus der Perspektive von Geschlecht nicht positiv gewürdigt worden wäre, hier nicht problematisiert; die Person, die diese Identität verkörpert, wird vielmehr auf paradigmatische Art und Weise zum ersten Konvertiten aus den Völkern. Dies ist offenbar ist Gottes Wille – dieser Umstand wird auch durch die wichtige Rolle von dem Engel und dem Geist in dieser Episode ausgedruckt. Mit den Worten Wilsons: „When the eunuch asks Philip, ‚What is to hinder 52 Peter-Ben Smit me from being baptised?‘…Philip could have justifiably responded: ‚The fact that you are a eunuch.‘“5 Philippus tut dies aber nicht und das ist äußerst interessant, weil es alle mögliche kulturellen Skripts zur Seite schiebt. Die Ambiguität des Menschen aus Äthiopien in Apg 8 hat aber noch eine weitere Funktion – zumindest in einer (post)modernen Lesart des Textes und womöglich auch in einem antiken Kontext. Sie macht auf die Unzulänglichkeit der geläufigen Kategorien aufmerksam, um „Ausnahmefälle“ zu beschreiben. Begriffe wie „ambigue“ oder „Ausnahmefall“ (wie auch der Begriff „Intersexualität“) setzen zwei Sexus voraus und verorten eine weitere Identität „dazwischen“, ohne ihr sprachlich eine Eigenständigkeit zu geben. Sie unterschlagen jedoch, dass die (vorhandenen) Kategorien eigentlich nicht ausreichen, weil sie etwas nicht angemessen beschreiben können. Stattdessen marginalisieren sie das, was nicht „passt“, als „ambigue“ oder „Ausnahmefall“. Eine Lektüre der Geschichte von der Taufe des Äthiopiers wird ins Bewusstsein rufen und dazu einladen, den eigenen Kategorien wenigstens etwas mehr gerecht zu werden: sie sind immer wieder zu revidierende Hilfsmittel, um die Wirklichkeit zu beschreiben, aber nicht die Wirklichkeit selbst. Sie konstruieren natürlich auch Wirklichkeit, aber müssen zugleich selbst rekonstruiert werden, wenn man sich mit Phänomenen konfrontiert sich, die sich diesen Kategorien entziehen. Im Falle des äthiopischen Eunuchen hat dies zwei Konsequenzen: Zum einen werden moderne Geschlechtskategorien hinterfragt, indem sie mit antiken Kategorien konfrontiert werden. Zum anderen wird die moralische oder anthropologische Bewertung des Menschen aus Äthiopien enorm problematisiert durch seine Ambiguität und seine Wiedergabe im biblischen Narrativ, die auch nach antiken Maßstäben auffällig ist. Die Apostelgeschichte scheint geradezu erpicht darauf zu sein, gerade diese so enorm komplexe (und geschädigte) Person als erste Person außerhalb Israels, noch vor dem berühmten Hauptmann Cornelius in Apg 10, in das Gottesvolk einzugliedern. Offenbar mochte der Autor der Apostelgeschichte komplexe Identitäten und ließ sich nicht von ihnen abschrecken, ermutigte seine Leser*innen vielmehr dazu, sich ohne Weiteres auf sie einzulassen, und zwar anlässlich des Beispiels von Philippus, der selbst kraft höchster Autorität (Engel, Geist) handelte. 5 Wilson 2015, 124. Peter-Ben Smit 53 3. Schlussfolgerungen Die Lektüre der Geschichte vom „Kämmerer“ bzw. Eunuchen aus Äthiopien ist zum einen exegetisch interessant und lässt die Schlussfolgerung zu, dass die frühchristliche Mission offenbar ein Interesse auch an Personen mit einer ambiguen Identität hatte, sowohl aus (spät)moderner wie aus antiker Perspektive. Interessanter noch ist aber die Art und Weise, in der mit Ambiguität umgegangen wird, das heißt: das Ausmaß, in dem dominante kulturelle Skripts bestimmend sind für das, was möglich ist oder nicht. Der Eunuch entspricht diesen Skripts nicht, er „passt nicht“, trotzdem wird gerade er in das Gottesvolk eingegliedert. Dies ist nicht nur schön für ihn, sondern auch für spätere Leser*innen, die dadurch herausgefordert werden, die eigenen kulturellen Skripts in Sachen Geschlecht und Identität explizit zu machen, zu überdenken und gegebenenfalls zu relativieren oder zu ändern, weil die Wirklichkeit komplexer ist als Skripts oder Kategorien. Apg 8 legitimiert dies von höchster Stelle. 54 Peter-Ben Smit Anike Krämer Intersex aus soziologischer Perspektive. Eltern – Medizin – Gesellschaft 1. Einleitung In der Soziologie gilt das Paradigma der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit.1 Das heißt, dass unsere Organisationen, Institutionen, unser Handeln, aber auch unsere Emotionen und das Erleben gesellschaftlich geprägt, gar gesellschaftlich hergestellt sind. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir uns bewegen, haben also unmittelbare Auswirkungen auf unser Handeln und Erleben. Die Soziologie als Wissenschaft, welche Handeln deutend verstehen und deren Wirken ursächlich erklären will2, ist die Perspektive, aus der sich in diesem Beitrag dem Phänomen Intersex zugewendet wird.3 Nimmt man das Paradigma der gesellschaftlichen Konstruktion ernst, so ist Intersex nicht eine „natürliche“ Abweichung einer gesetzten Norm, sondern gewinnt nur in einem entsprechenden gesellschaftlichen Kontext an Bedeutung. Daher wird Intersex in diesem Beitrag als körperliche Verfasstheit von Menschen verstanden, die von Geburt an, nicht in das binäre System von männlichen und weiblichen Geschlechtskörpern eingeordnet werden können.4 Die Organisation in zwei voneinander getrennte Geschlechter und Geschlechtskörper vollzieht sich in unseren Handlungen, unserer Sprache und auf institutioneller Ebene. Es ist kaum eine alltagsweltliche Sphäre vorstellbar, 1 Vgl. dazu Peter Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1980; Peter Richter: Soziologische Paradigmen, 2. Auflage, Wien 2016. 2 Ich beziehe mich hier auf die Definition von Max Weber. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1988, 1. Die Begriffe Intersex / Intergeschlechtlichkeit bzw. intersexuell / intergeschlechtlich werden hier synonym verwendet. 4 Siehe dazu Anike Krämer/ Katja Sabisch: Inter*. Geschichte, Diskurs und soziale Praxis aus Sicht der Geschlechterforschung, in: Beate Kortendiek / Birgit Riegraf / Katja Sabisch (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden 2018 (im Erscheinen). Anike Krämer 55 in der Geschlecht (und meistens eben in der Ausprägung männlich oder weiblich) keine Rolle spielt.5 Dass diese naturhaft erscheinende Trennung Auswirkungen auf den Umgang mit Menschen hat, die es in unserer alltäglichen Vorstellung nicht gibt, liegt auf der Hand. In diesem Beitrag wird beleuchtet, wie gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie die Welt ist und zu sein hat, sich in der Medizin, bei den Eltern und in der Interaktion zwischen beiden Akteure konkret darstellen und nachvollziehen lassen. Bevor auf die Ergebnisse der empirischen Daten6 eingegangen werden kann, bedarf es einer kurzen Kontextualisierung des Phänomens: Das derzeitige Verhältnis von Medizin und Intersex ist geprägt durch die Vorstellung eines binären Geschlechtskörpers. Nicht passende Körper werden als „Abweichung“ oder „Störung“ beschrieben und zum Teil immer noch an das weibliche oder männliche Aussehen angepasst.7 Eng an den Geschlechtskörper geknüpft sind auch Vorstellungen von entsprechendem Verhalten, Begehren und einer dazu passenden eindeutigen Identität. Besonders wirkmächtig war und ist das in den 1950er Jahren etablierte sogenannte „Baltimorer Behandlungskonzept“ des Johns Hopkins Hospital, welches (nicht nur, aber insbesondere) auf den Forschungen von John Money gründet.8 In diesem wurden sowohl Maßstäbe gelungener Behandlung festgelegt als auch die dazugehörigen Maßnahmen.9 Auf diese Leitlinien geht auch die medizinische Praxis in Deutschland zurück, denn sowohl vor als auch nach der Chicagoer Consensus Conference im Jahr 2005 findet man einige Ideen des Baltimorer Konzepts wieder. 5 Vgl. Regine Gildemeister / Katja Hericks: Geschlechtersoziologie, München 2012. 6 Empirische Basis dieser Überlegungen sind leitfadengestützte Interviews mit Mediziner*innen und narrative Interviews mit Eltern, die im Rahmen des Projekts „Intersexualität in NRW. Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung von zwischengeschlechtlichen Kindern in Nordrhein-Westfalen“ erhoben wurden. Neben eigenen Überlegungen finden auch die Ergebnisse der Denkstilanalyse der Leitfadeninterviews von Katja Sabisch Beachtung. Vgl. Anike Krämer/ Katja Sabisch: Intersexualität in NRW. Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung von zwischengeschlechtlichen Kindern in Nordrhein-Westfalen, Projektbericht, Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Nr. 28, Essen 2017; Katja Sabisch: Die Denkstilanalyse nach Ludwik Fleck als Methode der qualitativen Sozialforschung – Theorie und Anwendung. Forum Qualitative Sozialforschung, 18 (2), Art. 5, 2017. 7 Vgl. Paul-Martin Holterhus et al.: Störung der Geschlechtsentwicklung, Leitlinie der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 027/022, 2010; Ute Thyen / Eva Hampel / Olaf Hiort: Störungen der Geschlechtsentwicklung, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 50 (2007), 1569–1577. 8 Vgl. Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst, Bielefeld 2012; Katinka Schweizer / Hertha Richter-Appelt: Behandlungspraxis gestern und heute, in: Dies.: Intersexualität kontrovers, Gießen 2012, 99-118. 9 So sollte das Kind ein passendes Rollenverhalten aufweisen, heterosexuelles Begehren als Erwachsene*r äußern usw. Zu den Maßnahmen zählten u.a. frühe geschlechtszuweisende Operationen (an den Genitalien meist im ersten Lebensjahr) als auch eine Art Schweigegelübde für die Eltern, um eine eindeutige Geschlechtsidentifizierung und Identität nicht zu gefährden. 56 Anike Krämer Es scheinen sich allerdings auch Veränderungen einzustellen – zumindest formal. Denn 2017 wurde eine neue medizinische Leitlinie herausgegeben, in der es in der Präambel heißt: „Angesichts der biologischen Zusammenhänge und der Erlebniswelt von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung bedarf es für die adäquate psychologisch-medizinische Begleitung/Behandlung einer Revision des tradierten normativen Menschbildes von Frau und Mann.“10 Inwiefern anerkennende Vorstellungen von Intersex in die medizinische Praxis eingehen bleibt abzuwarten. Auf der praktischen Ebene scheinen die Veränderungen bisher jedoch auszubleiben. Zumindest für durchgeführte Genital-Operationen im Kleinkindalter kann dies nachgewiesen werden. Denn bisher nahm die Anzahl der an den Genitalien operierten Kinder nicht ab. Dies zeigt eine aktuelle Studie von Dr. Ulrike Klöppel.11 Anhand der Diagnosekategorien des ICD-10, der aktuell gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten, und den darauf bezogenen diagnosebezogenen Fallgruppen konnte ermittelt werden, wie viele Genital-Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern im Zeitraum zwischen 2005 und 2014 durchgeführt wurden. Klöppel stellt für diesen Zeitraum keinen signifikanten Rückgang der Operationen fest, sondern lediglich eine Teilverschiebung der Diagnosezuordnungen. Kurz gefasst könnte man sagen: Die Einordnung hat sich verändert, nicht die Praxis. Ein weiterer Aspekt prägt das Verhältnis von Intersex und Medizin: die gesellschaftlichen Vorstellungen eines binären Geschlechts. Wie sowohl Claudia Honegger als auch Thomas Laqueur zeigen, war eine strikte Trennung in zwei unterschiedliche und voneinander abgrenzbare Geschlechtskörper ein wissenschaftlicher Aushandlungsprozess.12 Es gab und gibt andere Erklärungen und Herangehensweisen, wie z.B. die Arbeiten von Magnus Hirschfeld, Anne 10 Susanne Krege / Felicitas Eckoldt / Annette Richter-Unruh: S2K-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung, AWMF-Register-Nr. 174/001, 2016. Diese Leitlinie entspricht der Entwicklungsstufe „S2K“, was bedeutet, dass eine formale Konsensbildung stattgefunden hat, nicht aber eine systematische Evidenz-Recherche oder Relevanzprüfung. 11 Ulrike Klöppel: Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter, in: Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (Hg.), Bulletin Texte 42, 2017. Klöppel erhob die Daten für Kinder zwischen 0 und 9. 12 Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib, Frankfurt a.M. 1991; Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996. Anike Krämer 57 Fausto-Sterling oder auch Heinz-Jürgen Voß veranschaulichen.13 Die binäre Trennung von Geschlecht kann allerdings als derzeit prägende wissenschaftliche Tatsache im Sinne Ludwik Flecks verstanden werden – eine Tatsache also, die ab einem gewissen Zeitpunkt als feststehend und bewiesen gilt.14 Mit Fleck kann gezeigt werden, dass gesellschaftliche Vorstellungen, Prozesse und Handlungen wissenschaftliche Tatsachen formen und hervorbringen. Wie sich diese in den empirischen Daten formieren, werde ich im Folgenden zeigen. 2. Gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht in der Medizin In Anlehnung an Flecks Theorien entwickelt Katja Sabisch für die Sozialwissenschaft die Analysemethode der Denkstilanalyse. Angewendet auf die leitfadengestützten Interviews mit Mediziner*innen konnte Sabisch drei Denkstile identifizieren, welche sich im esoterischen Kreis, d.h. bei medizinischen Expert*innen, in Bezug auf DSD (Disorder/Differences of Sex Development) finden: den pathologisierenden, den normierenden und den emanzipatorischen Denkstil.15 Diese greifen zum Teil ineinander und existieren gleichzeitig. 2.1 Der pathologisierende Denkstil Der pathologisierende Denkstil zeigt sich in den Interviews z.B. in Benennungen wie „Störung“ oder „Fehlbildung“.16 Der Denk- und Kommunikationsstil ist somit anschlussfähig an den interkollektiven Denkverkehr mit der Allgemeinen Medizin, da hier alle Abweichungen vom Geschlechternorm-Körper als behandlungsbedürftig angesehen werden. Denn der Kreis der Allgemeinen Medizin hält (anders als zum Beispiel Teile der Biologie, die Geschlechtlichkeit nicht mehr als binär, sondern als polar begreifen)17 an dem Zweigeschlechter13 Magnus Hirschfeld: Geschlechtsübergänge, Leipzig 1905; Anne Fausto-Sterling: The Five Sexes, in: The Sciences, Vol. 33 (2) (1993), 2024; Heinz-Jürgen Voß: Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2011. 14 Fleck betont dabei den Entstehungscharakter von vermeintlichen Tatsachen und widerspricht einer positivistischen Auffassung von Wissenschaft. Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Berlin 1980. 15 Vgl. zum Folgenden Sabisch 2017, 11ff. Unter Denkstil versteht Fleck ein „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 1980, 130). Mit dem esoterischen bzw. exoterischen Kreis wird die Nähe der Denkkollektivteilnehmenden zum Denkstil bezeichnet. Dabei besteht das Denkkollektiv aus vielen „sich überkreuzenden Kreisen, ein Individuum gehört mehreren exoterischen und wenigen, eventuell keinem esoterischen an“ (a.a.O., 138). 16 Sabisch 2017, 11. 17 Vgl. z.B. Claire Ainsworth: Sex Redefinied, in: Nature, Vol. 518 (2015), 288-291. 58 Anike Krämer modell fest. Beispielhaft kann hier z.B. auf die Gender Medicine verwiesen werden, welche die Geschlechterdifferenz zum Ausgangspunkt empirischer Analysen machen.18 2.2 Der normierende Denkstil Der normierende Denkstil schlägt sich vor allem dann nieder, wenn über die Folgen einer Nicht-Behandlung intersexueller Kinder nachgedacht wird. So zeigen sich etwa alle Interviewten skeptisch, was die Nicht-Normierung des Geschlechterkörpers angeht.19 Die Interviewten gehen davon aus, dass nicht operierte Kinder durch das soziale Nahfeld Diskriminierung erfahren, vor allem wenn es eine geschlechtliche Zuordnung geht, wie beispielsweise im Sportunterricht, bei Toiletten oder ähnlichem. Aus diesem Grund werden geschlechtszuweisende Eingriffe legitimiert.20 Wir wissen allerdings von Betroffenen, dass diese chirurgischen und hormonellen Eingriffe weitreichende physische und psychische Folgen haben und oftmals mit Traumatisierungen einhergehen.21 Zudem zeigen Interviews mit Eltern, deren Kinder offen intersexuell aufwachsen, dass eine solche Diskriminierung im sozialen Nahfeld nicht zwangsläufig stattfinden muss.22 Der normierende Denkstil zeichnet sich also dadurch aus, dass populäre Wissensbestände bzw. Alltagswissen in medizinische Praktiken übersetzt werden. Die „Gesellschaft“ wird hier als Referenz für normierende Operationen herangezogen – und keinesfalls medizinische oder andere wissenschaftliche Gründe. 18 Vgl. Sabine Oertelt-Prigione / Sarah Hilter: Medizin: Gendermedizin im Spannungsfeld zwischen Zukunft und Tradition, in: Kortendiek / Riegraf / Sabisch 2018 (im Erscheinen). 19 Nicht-Normierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass z.B. keine geschlechtszuweisende Operation stattfindet. 20 Sabisch 2017, 13. 21 Vgl. Intersexuelle Menschen e.V. (Hg.): Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW), Hamburg 2008; Katinka Schweizer / Hertha Richter-Appelt: Die Hamburger Studie zu Intersexualität, in: Dies.: Intersexualität kontrovers, Gießen 2012, 187-205. 22 Vgl. Anike Krämer: Inter* im Alltag. Eine empirische Forschungsarbeit zu Lebenslagen intersexueller Kinder und deren Eltern. Unveröffentlichte Masterarbeit. Bochum 2013; Katja Sabisch: Geschlechtliche Uneindeutigkeit, soziale Ungleichheit? in: Ada Borkenhagen / Elmar Brähler (Hg.): psychosozial 135 (37), Gießen 2014, 55-61. Anike Krämer 59 2.3 Der emanzipatorische Denkstil Neben dem pathologisierenden und normierenden Denkstil gibt es in den Interviews erste Hinweise auf begriffliche Öffnungen, die man mit Fleck als eine Denkstilergänzung oder -umwandlung identifizieren könnte.23 Denn alle Mediziner*innen setzen sich – in unterschiedlichem Maße – mit der Kritik an geschlechtszuweisenden Operationen auseinander und reflektieren zuweilen pathologisierende Begriffe. Dies zeigt sich, insofern auch von „Varianten“ oder „Varianz“ geschlechtlicher Entwicklung gesprochen wird. Außerdem befürworten zwei der Interviewten angesichts der vielfältigen körperlichen Ausprägungen ein „drittes Geschlecht“, welches auch die in der Gesellschaft bereits akzeptierten vielfältigen Geschlechtsidentitäten widerspiegeln könnte.24 Es wird deutlich, dass der emanzipatorische Denkstil im intrakollektiven Denkverkehr – also zwischen den Denkkollektivteilnehmenden – durchaus Akzeptanz erfährt.25 Vielfalt ist also denkbar, auch wenn die Widerstände des pathologisierenden und normierenden Denkstils noch groß sind. Bemerkenswert ist, dass es hier exoterische Wissensbestände sind, nämlich die der politischen Kritik an der Pathologisierung von Intersex, auf die sich der emanzipatorische Denkstil bezieht. Gesellschaftliche (Gegen-)Diskurse können also ebenso in Denkstilen Beachtung finden. 3. Gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht bei den Eltern Auch Eltern leben in einer Welt, in der das konjunktive Wissen über Zweigeschlechtlichkeit besteht.26 Unsere Gesellschaft baut auf der Trennung von „männlich“ und „weiblich“ auf. Deutlich wird das nicht nur in Rollen- 23 Für Fleck kann jede empirische Entdeckung zu einer Denkstilergänzung oder Denkstilumwandlung führen – vgl. Fleck 1980, 122; Sabisch 2017, 11 ff. 24 In diesem Zusammenhang ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom November 2017 und die Umsetzung dieses durch den Gesetzgeber interessant. Wie sich die Anerkennung des dritten Eintrags „divers“ nun gestaltet, bleibt abzuwarten. 25 Ein Denkkollektiv ist ein „gemeinschaftlicher Träger“ (Fleck 1980, 135) des Denkstils und entsteht immer dann, wenn „zwei oder mehr Menschen Gedanken austauschen“ (ebd.). 26 Unter konjunktivem Wissen wird jenes verstanden, was nicht allgemein, sondern konjunktiv gültig ist, also „für jene Kreise und in jener Form […], in die existenzielle Verbundenheiten in einer bestimmten Form eingehen“ (Karl Mannheim: Strukturen des Denkens, Frankfurt a.M. 1980, 213). Diese existenzielle Verbundenheit kann in Bezug auf Zweigeschlechtlichkeit auf gesellschaftlicher Ebene festgestellt werden. 60 Anike Krämer zuschreibungen, sondern auch in Bereichen der Arbeitsteilung oder der Ressourcenverteilung.27 Wir haben ein breites Wissen darüber, wie und was Männer und Frauen sind, und gehen – als Gesellschaft – davon aus, dass es genau zwei Geschlechter gibt und diese sich körperlich klar unterscheiden lassen. Dieses Wissen prägt unser Verständnis von der Welt.28 Die Zweigeschlechtlichkeit erscheint als eine Gewissheit, die fast alle Punkte unseres Lebens berührt. Wenn Eltern ein Kind erwarten, haben sie bewusst oder unbewusst Vorstellungen davon, wie das Leben ihres Kindes in etwa verlaufen könnte und was sie sich für ihr Kind wünschen. Diese geraten bei Eltern, die sich zuvor noch nie mit dem Thema Intersex beschäftigt haben, infolge einer Diagnose ins Wanken. Unhinterfragbare Sicherheiten lösen sich auf und Fragen nach der „richtigen“ Spielzeugwahl oder dem Vornamen rücken in das Bewusstsein. Entscheidungen, die meist nicht aktiv getroffen werden, sind nunmehr omnipräsent. Die Realisierung der Tatsache, dass die Vorstellungen, die man für das Leben des Kindes hatte, neu gedacht werden müssen, führt zu einem Aussetzen der Normalität. Dieser Bruch mit Erwartungen führt bei den Befragten zu mehr oder weniger starken schockartigen Zuständen. So schildert Frau Decker: „Ich hatte bestimmt einen Nervenzusammenbruch“.29 Auch Frau Arendts beschreibt ihren Zustand als Schock und berichtet, dass eine Scham sie ergriff, für die sie sich heute wiederum schäme. Es zeichnen sich bei den interviewten Eltern sehr starke affektive Reaktionen ab. Diese sind geprägt von Unsicherheit, Scham und Angst. Gelernte Denkmuster, gesellschaftliche Ordnungen und anwendbares Rezeptwissen greifen nicht mehr.30 Fragen danach, wie das Leben des Kindes verlaufen wird und wie man als Eltern die besten Voraussetzungen schafft, sind vorherrschend. Doch nicht nur, dass es eine Abweichung vom Erwarteten gibt, sondern auch die Art, wie diese mitgeteilt wird, hat Auswirkungen auf die Eltern. Daher widmet sich der nächste Teil der Interaktion von Medizin und Eltern. 27 Vgl. Regina Becker-Schmidt: Die doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften, in: Lilo Unterkirchen / Ina Wagner (Hg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft, Wien 1978, 10-25; Dies.: Zur doppelten Vergesellschaftung von Frauen, Gender…Politik…online (2003). http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/soz_eth/Geschlecht_als_Kategorie/Die_doppelte_Vergesellschaftung_von_Frauen/becker_schmidt_ohne.pdf. 28 Suzanne Kessler / Wendy McKenna: Gender: An Ethnomethodological Approach, Chicago /London 1978. 29 Die interviewten Personen wurden anonymisiert. 30 Unter Rezeptwissen wird jene Art Wissen verstanden, welches der Zweckmäßigkeit dient und sich auf Routineverrichtungen beschränkt – vgl. Berger / Luckmann 1980, 44. Anike Krämer 61 4. Gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht in der Interaktion In der Interaktion zwischen Medizin und Eltern spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich konzentriere mich dabei auf das Erleben der Eltern und wie dieses in den erhobenen Daten zu Tage tritt. Im Anschluss wage ich eine soziologische Deutung und stelle die Passage in einen theoretischen Zusammenhang. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Eltern das erste Diagnosegespräch als sehr überfordernd erleben. Vor allem die Herausforderung, den medizinischen Ausführungen zu folgen und im Ungewissen zu bleiben, was ihre eigenen Fragen und Unsicherheiten angeht, schildern die Eltern als problematisch. Während der Arzt oder die Ärztin die biologischen Abläufe und Erklärungsmuster über die Entwicklung des Körpers referiert und dabei der Fokus auf der Körperlichkeit des Kindes liegt, beziehen sich die Fragen und Sorgen der Eltern vor allem auf Konsequenzen, die die Intergeschlechtlichkeit für ihr familiäres Alltagsleben und das Leben des Kindes haben wird. Dynamiken der Arzt-Patient*innen-Beziehung31 spielen bei der ersten Annäherung an die Thematik eine wichtige Rolle. Im Folgenden möchte ich an einem Beispiel aufzeigen, wie nicht gelungene Interaktion zwischen Eltern und Mediziner*innen aussehen kann und welchen Einfluss dabei die Vorstellungen von Wirklichkeiten haben. Dazu stelle ich den Fall von Familie Decker vor. Das Interview wurde mit Frau Decker geführt. Ihr Kind ist zum Zeitpunkt des Interviews im Grundschulalter. Nach einer Leistenbruchoperation im ersten Lebensjahr wurde die Diagnose CAIS gestellt.32 Die erste prägende Situation für die Eltern findet direkt nach der Leistenbruchoperation ihres Kindes statt. Nachdem sie Stunden gewartet haben, werden Herr und Frau Decker in den Aufenthaltsraum des Pflegepersonals gebeten, wo ihnen eröffnet wird, dass ihr Mädchen „eigentlich ein Junge“ sei. Dies sei der Grund dafür, dass die Operation länger dauere als erwartet. Nachdem Frau Decker auf die Information mit Tränen reagiert, wird ihr gesagt, sie solle sich zusammenreißen und ihr Kind im Aufwachraum in Empfang nehmen. Das spätere Gespräch eröffnet der Arzt mit der Aussage: „Kennen sie Transsexuelle? Glück gehabt – das ist sie nicht“. Daran anschließend folgt eine medizinische 31 Vgl. Michael Balint: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, Frankfurt a.M. / Hamburg 1970. 32 Als Hintergrundinformation ist es wichtig zu wissen, dass das Kind nichts über die eigene Intergeschlechtlichkeit weiß und dieses Geheimnis des Andersseins starke negative Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Beziehung hat. Frau Decker war zum Zeitpunkt des Interviews in einer Umbruchsituation und beschäftigte sich vermehrt mit der Möglichkeit eines anderen Umgangs mit der Thematik. 62 Anike Krämer Erklärung der Diagnose, die im Anschluss für die Eltern anhand des Beispiels eines Stromkreislaufs, bei dem eine Schnittstelle nicht funktioniere, verständlich werden soll. Diese unsachgemäße Vereinfachung gleicht der Erklärung aus dem Modell, welches auch von John Money in Baltimore genutzt wurde. Hochkomplexe Sachverhalte werden hier für Laien verkürzt dargestellt. Den Eltern wird zudem empfohlen, über das Thema Intersex zu schweigen. Ein Bruch dieser Empfehlung sei nicht im Sinne des Kindes, so der Arzt. Die Eltern nehmen die Patient*innenrolle an und hinterfragen die Autorität des Arztes erst, als ihnen von einem niedergelassenen Arzt dazu geraten wird – nach jahrelanger Behandlung durch Ersteren. Obwohl sie sich weder mit ihren Fragen und Sorgen ernst genommen fühlen, noch die Informationspolitik zufriedenstellend ist, fügen sie sich diesem Arzt-Patient*innen-Verhältnis. Die Deutungshoheit in Bezug auf die Diagnose, das Verfahren und den Umgang, aber auch über die Situation liegt im Falle Deckers unangetastet bei der Medizin. Selbst nach mehreren Jahren scheint dieses Verhältnis prägend für Frau Decker. Sie erklärt ihr jetziges Verhalten noch immer mit dem Schweigegebot, welches ihr sozusagen ärztlich verordnet wurde. Schaut man sich diese Episode einer Arzt-Patient*innen-Situation an, wird deutlich, dass neben dem gesellschaftlichen Wissen, das die Vorstellung von Ärzten und Ärztinnen als „Götter in Weiß“ suggeriert, auch weitere Vorstellungen über Normalität und Abweichung den Umgang der Familie mit Intersex prägen.33 In der ersten Episode im Krankenhaus, werden einige gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht und Normalität deutlich. Schon in der ersten Sequenz wird den Eltern das Bild einer negativen Abweichung vermittelt, welches eher auf alltagsweltlichen Vorstellungen beruht als auf biologisch-medizinischen Fakten. Schließlich ist die Suche nach dem bestimmenden Faktor von Geschlecht noch immer nicht abgeschlossen. Mit dem Satz „Ihr Mädchen ist eigentlich ein Junge“ wird auf den Chromosomensatz verwiesen, der als ausschlaggebendes Moment für das Junge-Sein angesehen wird. Damit steht es in der Determinationshierarchie über den Genitalien, die auf ein Mädchen-Sein verweisen. Diese Interaktion findet in einer Umgebung statt, die suggeriert, dass es sich für das Personal um kein wichtiges oder belastendes Gespräch handelt. Die Möglichkeit für Rückzug und Privatsphäre wird nicht geschaffen. Die Gefahr, dass Dritte den Raum betreten, führt zudem zu einer angespannten Situation. Zudem wird den Eltern 33 Auf die Vorstellungen von Normalität und Abweichung im Interview der Familie Decker kann an dieser Stelle nur andeutungsweise eingegangen werden. Anike Krämer 63 keine Zeit gegeben, in der sie das Gehörte verarbeiten könnten. Im Gegenteil wird das Gefühl des Nicht-ernst-genommen-Werdens verstärkt durch die Aufforderung, ihr Kind nun im Aufwachraum abzuholen, vor allem aber mit dem Verweis darauf, dass sie sich „zusammenreißen“ solle. Dieses Übergehen der elterlichen Bedürfnisse macht deutlich, nach welchen Regeln gespielt wird. In der konkreten Interaktion ist dies ein starker Verweis auf die krankenhäusliche Hierarchie.34 Diese hierarchische Beziehung setzt sich auch im Gespräch mit dem Arzt fort. Obwohl das erste offizielle medizinische Gespräch mit einer Einleitung beginnt, die unsachlich und tendenziös ist, wird dadurch das Ungleichheitsverhältnis nicht erschüttert. Durch die anschließende Erklärung der möglichen Diagnose in fachspezifischen Termini werden die Eltern nicht aufgeklärt; vielmehr wird sich der eigenen, medizinischen Kompetenz versichert. Der Verweis auf den Stromkreislauf unterstützt das hierarchische Verhältnis zwischen Arzt und Patient*innen, da deutlich gemacht wird, wer über die Kompetenz verfügt, das Phänomen (vermeintlich) überhaupt in Gänze zu verstehen, und zudem fähig ist, es allgemeinverständlich zu erklären.35 Dabei unterstützt die Deutungshoheit der Medizin und die Arzt-Patient*innen-Mechanismen die Unsicherheit der Eltern, die bei der Diagnose entsteht, und führen nicht dazu, dass Eltern sich sicherer fühlen, sondern führen im Gegenteil zu Verunsicherung und zum Teil zu Hilflosigkeit. Nicht nur, dass mögliche Verhaltensschablonen für die Erziehung und den Umgang mit Intersex fehlen; es wird darüber hinaus weder verstanden, wie die körperliche Verfasstheit des Kindes beschaffen ist, noch was dies im Hinblick auf physische, psychische und gesellschaftliche Konsequenzen bedeutet. Diese Unsicherheiten begründen sich zum Teil im Konzept der Zweigeschlechtlichkeit. Wenn es nur zwei getrennte Geschlechter gibt, an die Aufgaben, Rollen und ähnliches gekoppelt sind, ein Mensch aber weder das eine noch das andere ist, sondern (vermeintlich) „gestört“, „fehlgebildet“ oder „abweichend“ ist, fehlt ein positiver Bezugspunkt. Die Stigmatisierung als etwas Fehlerhaftes beginnt, wenn positive Bezüge nicht hergestellt werden. In dieser Interaktion werden intergeschlechtliche Identitäten ignoriert, der Fokus auf das 34 Diese Hierarchie ist ein Konglomerat aus Interaktionen, impliziten Verhaltensregeln, aber auch aus strukturbedingten Konstellationen wie Wartezeiten, Raumaufteilung, Raumgestaltung u.ä. Zur Profession des Arztes / der Ärztin vgl. Eliot Freidson: Der Ärztestand, Stuttgart 1979. 35 Auch im weiteren Verlauf der Betreuung wird das asymmetrische Machtverhältnis aufrecht gehalten. Das führt dazu, dass sich die Eltern hilflos und der Macht der Ärzteschaft ausgesetzt fühlen. 64 Anike Krämer (vermeintliche) „Defizit“, nicht auf die Möglichkeiten und den Gesundheitszustand gelenkt. Selbst Hinweise auf einen Austausch mit anderen Eltern oder intergeschlechtlichen Menschen werden nicht immer gegeben. Diese Negativdeutung der Intergeschlechtlichkeit kann von Eltern übernommen werden. Es wird sich dieser sogar zum Teil soweit unterworfen, dass Intergeschlechtlichkeit zum Tabuthema innerhalb der Familie deklariert wird. 5. Fazit Dieser Aufsatz fokussiert lediglich einen kleinen Ausschnitt des komplexen Beziehungs- und Verhaltensnetzes, das in solchen Situationen - der Diagnosestellung von intergeschlechtlichen Kleinkindern - zum Tragen kommt. Dennoch konnte deutlich gemacht werden, wie verschiedene Mechanismen und Vorstellungen von Wirklichkeit ineinandergreifen und sich dadurch gegenseitig verstärken und beeinflussen. Das konjunktive Wissen der Zweigeschlechtlichkeit und das fehlende Rezeptwissen für Situationen, in denen das Kind nicht in das binäre Schema von männlich und weiblich passt, führt bei Eltern zu starker Verunsicherung, wenn es zu einer Intersex-Diagnose kommt. Diese Unsicherheiten werden durch das medizinische System nicht aufgefangen, sondern in der Regel sogar verstärkt, denn auch im medizinischen Denkkollektiv findet sich die Vorstellung von zwei, voneinander klar getrennten Geschlechtern mit dazugehörigen Körpern. Es zeigt sich, dass starre Vorstellungen von „Naturhaftigkeit“ nicht zu einem positiven und damit gesunden36 Umgang mit Intersex führen. Stattdessen verstärken pathologisierende und diskriminierende Umgangsformen die Unsicherheit der Eltern und nähren Sorgen darüber, dass das eigene Kind Diskriminierung ausgesetzt sein, vielleicht keine*n Partner*in finden und/oder keine biologischen Kinder zeugen oder gebären wird. Diese These wird untermauert durch die Analyse anderer Interviews. Hier zeigt sich, dass die eigene Reflexion und das Hinterfragen von Hierarchieverhältnissen zu einem Umfeld führen können, welches aufgeschlossen und freudig in die Zukunft des Kindes blickt. Daher sollte auch das Interesse der 36 Mit Gesundheit ist in diesem Zusammenhang ein „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ gemeint (WHO: Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Übersetzung 2014, https:// www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf.). Anike Krämer 65 Medizin darauf gerichtet sein sollte, eine positive Familienstruktur und eine akzeptierende und positive Haltung der Eltern gegenüber Besonderheiten zu fördern. Es liegt auf der Hand, dass dies einer gesunden kindlichen Entwicklung deutlich zuträglicher wäre. 66 Anike Krämer Konstanze Plett Intergeschlechtlichkeit aus juristischer Perspektive Die Körperlichkeit des Menschen wird gemeinhin als biologisch-medizinisch determiniert betrachtet. Die menschliche Reproduktion funktioniert – wie bei allen Säugetieren – zweigeschlechtlich. Wenn daraus jedoch abgeleitet wird, dass alle menschlichen Individuen entweder männlich oder weiblich sind und dazwischen oder jenseits davon nichts vorkommen kann, wird deutlich, dass hier normative Kräfte am Werk sind. Denn einzelne Menschen können sehr wohl eine Körperlichkeit aufweisen, die geschlechtlich mehrdeutig ist. Das Vorkommen dieser Menschen wurde in früheren Zeiten als Hermaphroditismus oder Zwittertum bezeichnet, über weite Strecken des 20. Jahrhundert als Intersexualität. Aktuell wird der Ausdruck Intergeschlechtlichkeit bevorzugt; denn es geht um die Körper und nicht die Sexualität dieser Menschen. Mit dem Heranwachsen eines Menschen vom gerade Geborenen zu einem Menschen mit eigener Persönlichkeit, der sich seiner selbst auch bewusst ist, entwickelt sich auch eine je eigene geschlechtliche Identität. Das „Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität“ ist durch die Grundrechte geschützt.1 Die individuelle geschlechtliche Identität kann, aber muss nicht mit den Körpermerkmalen übereinstimmen, die gemeinhin für geschlechtsbestimmend gehalten werden. Ein Mensch, dessen körperliche Geschlechtsmerkmale mehrdeutig2 sind, kann, aber muss nicht eine männliche oder weibliche Geschlechtsidentität entwickeln, sondern kann sich auch 1 So umschreibt das Bundesverfassungsgericht das Recht auf geschlechtliche Identität, das es als Unterfall des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sieht. Dieses wiederum wurde schon in den 1950er Jahren von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Absatz 1 in Verbindung mit Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz heraus entwickelt. 2 Häufig wird stattdessen der Ausdruck „uneindeutig“ verwendet, den ich jedoch für unpassend halte, da er unterstellt, es gebe geschlechtliche Eindeutigkeit. Unter Berücksichtigung dessen, was als Merkmale zur Geschlechtsbestimmung herangezogen wird, ist kein Mensch absolut eindeutig, da z.B. bei allen Menschen sowohl als weiblich konnotierte als auch als männlich konnotierte Hormone zu finden sind. Konstanze Plett 67 als zwischen den Geschlechtern mit sowohl männlichen als auch weiblichen Merkmalen empfinden oder als jenseits der beiden herkömmlichen Geschlechter. Dies muss der Staat anerkennen und rechtlich ermöglichen, dass, solange er das Geschlecht seiner Bevölkerung überhaupt registriert, auch eine dritte Option der Registrierung eingetragen werden kann – so das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 10. Oktober 20173, der am 8. November 2017 veröffentlicht wurde.4 1. Wo findet die staatliche Registrierung von Geschlecht statt? Hauptgrundlage der Geschlechtsregistrierung ist das Personenstandsgesetz, das in seiner Struktur im Wesentlichen dem unter Bismarck eingeführten Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung vom 6. Februar 18755 entspricht und am 1. Januar 1876 in Kraft getreten ist. Damals wurden – nach französischem Vorbild6 – die Standesämter eingeführt, die alle Geburten, Eheschließungen und Todesfälle in entsprechenden Registern dokumentieren. Für jedes in Deutschland geborene Kind werden als Personenstandsmerkmale festgehalten: Vorname(n)7 und Nachname8; Ort, Tag, Stunde und Minute9 der Geburt; Vornamen und Familiennamen der Eltern10 – und das Geschlecht 3 Aktenzeichen 1 BvR 2019/16, abzurufen unter www.bverfg.de/e/rs20171010_1bvr201916.html (Abruf: 30.06.2018). 4 Vgl. Pressemitteilung Nr. 95/2017, abzurufen unter www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/ bvg17-095.html (Abruf: 30.06.2018). Die Pressemitteilung stellt zugleich die Entscheidung allgemeinverständlich dar. 5 Reichs-Gesetzblatt 1875, 23. Mit diesem Gesetz wurde zugleich die obligatorische Zivilehe eingeführt, d.h. nach religiösem Ritus vorgenommene Trauungen dürfen erst im Anschluss an die standesamtliche Heirat vorgenommen werden. Vorausgegangen war dem der sogenannte Kulturkampf. 6 Der zu Napoleons Zeiten in Frankreich 1804 eingeführte Code Civil enthielt bereits entsprechende Regelungen. Als Folge der napoleonischen Kriege galt der Code Civil auch in weiten Gebieten deutscher Provinzen und Fürstentümer; vgl. Wolfgang Schütz: 100 Jahre Standesämter in Deutschland: Kleine Geschichte der bürgerlichen Eheschließung und der Buchführung des Personenstandes, Frankfurt am Main 1977, 15-30. 7 Es muss mindestens ein Vorname, es können aber auch mehrere Vornamen erteilt werden. Grundsätzlich gibt es keine Begrenzung der Anzahl der Vornamen, jedoch die früher insbesondere in Adelskreisen bekannte Praxis von auch zwölf Vornamen wird nicht mehr befolgt. 8 Welchen Nachnamen ein neugeborenes Kind erhält, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt. Grundsätzlich ist es der Ehename; sind die Eltern nicht miteinander verheiratet, der Name der Mutter. Führen Eheleute unterschiedliche Namen, müssen sie beim ersten Kind angeben, welchen Nachnamen sie wählen; dieser gilt dann auch für alle weiteren Kinder desselben Paares. 9 Dass Ort, Tag und Stunde der Geburt registriert werden, ist seit 1876 gesetzlich vorgesehen. Untereinheiten von Stunden wurden eingetragen, obwohl nicht explizit vorgesehen. Das Erfordernis der Minuteneintragung gibt es seit der Neufassung von 2007, in Kraft seit 2009. 10 Auf besonderen Antrag der Eltern wird auch die religiöse Zugehörigkeit eingetragen, sofern sie zu einer entsprechenden Körperschaft des öffentlichen Rechts besteht. 68 Konstanze Plett des Kindes. §§ 18-20 Personenstandsgesetz regeln, wer verpflichtet ist, den Standesämtern Mitteilung von der Geburt zu machen: zu einer mündlichen Mitteilung sind es die Eltern, eine schriftliche Mitteilung müssen Geburtshilfeeinrichtungen11 machen. Weitere Bestimmungen finden sich in der Personenstandsverordnung12 und in einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Personenstandsgesetzes13. Die Standesämter sind verpflichtet, den Meldebehörden und einer ganzen Reihe weiterer Ämter Mitteilung zu machen.14 Die Meldebehörden ihrerseits sind die zentrale Stelle für die Ausstellung von Ausweisdokumenten (Personalausweis, Reisepass). Interessanterweise enthalten nur Pässe eine Angabe zu Geschlecht, Personalausweise hingegen nicht. Dies hängt damit zusammen, dass es über Jahrzehnte eine Verwaltungsvorschrift gab, die vorsah, dass mindestens einer der gegebenen Vornamen das Geschlecht erkennen lassen müsse (mit der einzigen Ausnahme von Maria als Zweitnamen für Jungen). Diese Vorschrift ist vom Bundesverfassungsgericht als das Elternrecht der Vornamenserteilung zu sehr einengend für unanwendbar erklärt worden.15 Seither können also auch – was immer noch kaum bekannt ist – geschlechtsneutrale Vornamen gegeben werden; nur geschlechtskonträre Vornamen werden als gegen das Kindeswohl verstoßend angesehen16, deren Eintragung deshalb von den Standesämtern regelmäßig zurückgewiesen wird. 11 Dies betrifft gemäß § 20 Satz 2 Personenstandsgesetz auch Einrichtungen zur Unterbringung (Psychiatrie oder Haft), in denen die Geburt erfolgt. Früher gab es eine explizite Bestimmung, dass solche Einrichtungen in der Geburtsurkunde nicht genannt werden, um eine Diskriminierung zu vermeiden. Heute werden die Anzeigenden nicht mehr beurkundet. 12 Verordnung zur Ausführung des Personenstandsgesetzes (Personenstandsverordnung – PStV) vom 22.11.2008 (BGBl. I, 2263), seither mehrfach geändert. 13 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV) vom 29.3.2010 (Bundesanzeiger Nr. 57a vom 15.4.2010), geändert durch die Verwaltungsvorschrift vom 3.6.2014 (Bundesanzeiger AT 12.6.2014 B1). 14 Vgl. hierzu Konstanze Plett: Diskriminierungspotentiale gegenüber trans- und intergeschlechtlichen Menschen im deutschen Recht. Eine Expertise im Auftrag der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (Landesantidiskriminierungsstelle) der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Berlin, Fachbereich für die Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI), Berlin, Juli 2015 (abrufbar unter: http://www.berlin.de/lb/ads/_assets/schwerpunkte/lsbti/materialien/ schriftenreihe/g-35-expertise-plett-transinterrechte_bf.pdf), 23-37 mit Einzelnachweisen (Abruf: 30.06.2018). 15 Aktenzeichen 1 BvR 576/07, Beschluss vom 5.12.2008, abrufbar unter www.bverfg.de/e/rk20081205_1bvr057607.html (Abruf: 30.06.2018). 16 Vgl. hierzu Michael Grünberger: Von Bernd Markus Antoinette zu Anderson Bernd Peter: Von der Ordnungsfunktion und der Identitätsfunktion des Vornamens, in: Archiv für die civilistische Praxis 207 (2007), 314-339. Konstanze Plett 69 2. Wo ist Geschlecht im Rechtssinne definiert? Als das Personenstandsgesetz vor über 130 Jahren eingeführt wurde, enthielt es keine Regelung zur Bedeutung von Geschlecht, und bis heute gibt es keine gesetzliche Vorschrift, was unter Geschlecht zu verstehen ist. Allerdings gab es von Anfang an eine untergesetzliche Ausführungsverordnung zum Personenstandsgesetz, die Vorgaben für die Formalien der verschiedenen Register machte. Diese wurden zwar im Laufe der Jahrzehnte mehrfach geändert, aber das Verständnis derer, die damit umzugehen hatten, war, dass nur männlich oder weiblich eingetragen werden konnte.17 In der Normenhierarchie nochmals eine Stufe unter den Rechtsverordnungen stehen Verwaltungsvorschriften, die nur die Verwaltungen, aber nicht die Gerichte binden. Hier nun finden sich Bestimmungen für die Standesämter, die Aussagen zu Geschlecht treffen. Nachdem in den 1920er Jahren solche Verwaltungsvorschriften für einzelne Länder erlassen worden waren, wurde im Dezember 1938, also während der Nazi-Herrschaft, die erste reichseinheitliche Dienstanweisung für die Standesbeamten und ihre Aufsichtsbehörden (DA) erlassen. Diese enthielt die Bestimmung, dass bei der Beurkundung von Geburten das Geschlecht einzutragen sei, „auf das die körperlichen Merkmale des Neugeborenen in erster Linie hinweisen“18; der Begriff des Zwitters sei „dem deutschen Recht unbekannt“19. Diese Bestimmung blieb in den ab 1946 zunächst auf Initiative einzelner Standesbeamter veranlassten Neudrucken erhalten20, ebenso zunächst in den ab 1952 vom Bundesministerium des Innern herausgegebenen Ausgaben. Später fand sich die Vorschrift, dass die Standesämter, wenn „Zweifel über das Geschlecht des Kindes“ bestehen, eine Bescheinigung „des Arztes oder der Hebamme, die bei der Geburt zugegen waren“, einholen sollten.21 Es gibt keine Statistik darüber, wie oft dies geschehen 17 Einzelheiten bei Konstanze Plett: Trans* und Inter* im Recht: Alte und neue Widersprüche, in: Maximilian Schochow, Saskia Gehrmann und Florian Steger (Hg.): Inter* und Trans*identitäten: Ethische, soziale und juristische Aspekte, Gießen 2016, 215-230. 18 § 183 Absatz 1 Buchst. c DA 1938. Die Annahme, dass auch bei Intergeschlechtlichen entweder das männliche oder das weibliche Geschlecht überwiegt, findet sich auch schon im antiken römischen Recht und wurde wieder aufgegriffen bei der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches Ende des 19. Jahrhunderts; vgl. Andreas Wacke: Stichwort „Zwitter“, in: HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 5, Berlin 1998. 19 Das ist eine übertriebene Paraphrasierung einer Entscheidung des Kammergerichts Berlin aus dem Jahre 1928; vgl. Plett (wie Fn. 17), 219 f. 20 Eindeutig nationalsozialistische Bestimmungen wie § 172 Absätze 3-5 zur Vornamenserteilung wurden einfach herausgenommen, ohne die Nummern der anderen Absätze zu ändern; in der Ausgabe 1952 wurden die Streichungen hingegen durch Pünktchen kenntlich gemacht. 21 § 266 Absatz 5 i.V.m. § 259 Absatz 1 DA in der Fassung, die 2010 durch die PStG-VwV abgelöst wurde (vgl. oben bei Fn. 13). 70 Konstanze Plett ist, zumal die genannten Personen, wenn sie denn bei der Geburt dabei waren, ohnehin zur Vorlage einer solchen Bescheinigung verpflichtet sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Bescheinigungen allenfalls die Mitteilung über das Geschlecht hinausgezögert haben22, aber niemals etwas anderes als „männlich“ oder „weiblich“ enthielten; denn das wäre garantiert vom Standesamt an die Gerichte gegangen, und entsprechende Gerichtsentscheidungen sind nicht bekannt. Bekannt geworden hingegen sind die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsentscheidung in einem Fall, indem ein einzelner Mensch als Erwachsener eine Änderung seiner Geschlechtsregistrierung im Geburtenregister in „zwittrig“ beantragt hatte. Dieser Antrag wurde von beiden Gerichten abgelehnt23 und seinerzeit (2003) nicht weiter verfolgt. 2007 wurde das Personenstandsgesetz vollkommen neu erlassen, wenn auch in seiner Struktur nicht wesentlich verändert. Hauptzweck war, die Register von der Papierversion auf elektronisch geführte Register umzustellen. Es wurde eine Übergangszeit von Inkrafttreten der Neufassung des Gesetzes 2009 bis Ende 2013 vorgesehen.24 In diesem Zusammenhang erließ die Bundesregierung im Jahr 2010 die bereits genannte Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Personenstandsgesetzes (PStG-VwV), die die alte DA ablöste, was Sinn machte, da die DA ziemlich unübersichtlich geworden war. Was hingegen erstaunlich war: Obgleich die Diskussion um die Nichtbeachtung intergeschlechtlich geborener Menschen im Recht bereits Ende der 1990er Jahr begonnen und zehn Jahre später mindestens eine partielle Öffentlichkeit erreicht hatte25, enthielt das neue Regelwerk eine Bestimmung, die 22 Mir wurde berichtet, dass einzelne Standesämter hierzu bereit waren. An sich gehört die Angabe zum Geschlecht zu den Angaben, die innerhalb einer Woche ab Geburt dem Standesamt gemeldet werden müssen, während für die Mitteilung von Vornamen eine Frist von einem Monat gilt, § 22 Absatz 1 Personenstandsgesetz. 23 Amtsgericht München, Beschluss vom 13.9.2001 (Az. 722 UR III 302/00), Landgericht München I, Beschluss vom 30.6.2003 (Az. 16 T 19449/02). Beide Entscheidungen sind in der Datenbank juris mit weiteren Fundorten nachgewiesen. 24 § 75 Personenstandsgesetz in mehreren Fassungen. In dieser Zeit war die Registrierung sowohl auf Papier als auch elektronisch zulässig, seit dem 1. Januar 2014 sind nur die elektronisch geführten Register verbindlich. Zur Art und Weise der digitalen Verwaltung der Register vgl. Plett (wie Fn. 14), 24-27. 25 Die erste Kleine Anfrage an die Bundesregierung im Deutschen Bundestag gab es bereits 1996 (Drucksache 13/5757, Antworten Drucksache 13/5916). In der Folgezeit wurden aus dem Bundestag wiederholt Anfragen an die Bundesregierung gestellt, ohne dass sich auf der politischen Ebene etwas bewegt hätte. In dieser Zeit begannen aber auch zunächste Einzelne politische Aufklärungsarbeit und schlossen sich zu verschiedenen Aktionsbündnissen zusammen. Die Politik nahm sich der Angelegenheit zunächst eher auf Landesebene an; vgl. etwa Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (Hrsg.), Lela Lähnemann (Red.): Männlich, weiblich, menschlich? Trans- und Intergeschlechtlichkeit, Berlin 2006 (abrufbar unter www.berlin.de/sen/lads/_assets/schwerpunkte/lsbti/materialien/schriftenreihe/ doku22_trans_und_intergeschlechtlichkeit_bf.pdf) (Abruf: 30.06.2018). Konstanze Plett 71 die Standesämter explizit anwies, nur noch „männlich“ oder „weiblich“ ins Geburtenregister einzutragen.26 Diese Regelung war unter anderem Gegenstand der Überlegungen des Deutschen Ethikrats in seiner Stellungnahme zu Intersexualität von 2012.27 Sich hierauf berufend, wurde im Zuge der ersten Revision des neuen Personenstandsgesetzes eine neue Bestimmung erlassen mit folgendem Wortlaut: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“28 Damit sollte einerseits den Interessen der intergeschlechtlichen Menschen Rechnung getragen werden, ohne jedoch andererseits das binäre Verständnis von Geschlecht aufzugeben.29 Auch die PStG-VwV wurde geändert und enthält folgende Anweisung an die Standesämter: „Das Geschlecht des Kindes ist mit ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ einzutragen. Eine Eintragung unterbleibt, wenn das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Umschreibungen wie ‚ungeklärt‘ oder ‚intersexuell‘ sind nicht zulässig.“30 Diese Vorschrift existiert zwar noch (Stand: Juni 2018), darf aber nach der eingangs genannten und im Folgenden näher dargestellten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr uneingeschränkt angewandt werden. 26 Nr. 21.4.3 PStG-VwV, in Kraft getreten am 1.8.2010. Die Vorschriften zur geschlechtsspezifischen Vornamenserteilung aus der alten DA (dort § 262 Absatz 4) sind hingegen nicht mehr enthalten. 27 Der Deutsche Ethikrat hat sich über mehrere Jahre mit der Thematik befasst. Informationen dazu sowie Links zu Audio- und Textdokumenten sind unter www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/intersexualitaet zu finden (Abruf: 30.06.2018). Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Stellungnahme vgl. dort 9 ff. 28 § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz, eingeführt mit Artikel 1 des Personenstandsrechts-Änderungsgesetzes (PStRÄndG) vom 7.5.2013, in Kraft getreten am 1.11.2013. 29 Deutscher Bundestag, Innenausschuss, Ausschussdrucksache 17(4)658, 13. 30 Nr. 21.4.3 PStG-VwV; Satz 2 wurde mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV-ÄndVwV) vom 3. Juni 2014 eingeführt, in Kraft getreten am 13.6.2014. 72 Konstanze Plett 3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 Initiiert wurde das Verfahren, das bis nach Karlsruhe führte, von Vanja, der_die dabei von der Aktion „Dritte Option“ unterstützt wurde.31 Vanja wurde, wie alle vor dem 1. November 2013 Geborenen, auch wenn sie intergeschlechtlich waren, mit einem der beiden allein anerkannten Geschlechter eingetragen. Eine Streichung des Geschlechtseintrags, den Vanja hätte erlangen können, genügte ihr_ihm jedoch nicht, da Vanja sich nicht als geschlechtslos empfindet, sondern eine intergeschlechtliche Identität entwickelt hat. Deshalb beantragte Vanja im Frühsommer 2014 beim zuständigen Standesamt die Ersetzung des bestehenden Eintrags durch „inter/divers“ (hilfsweise nur „divers“). Damit nahm das Verfahren seinen Gang über Amtsgericht, Oberlandesgericht bis zum Bundesgerichtshof, die sämtlich den Antrag ablehnten und meinten, mit der Möglichkeit der Streichung des Geschlechtseintrags seien Vanjas Rechte gewahrt.32 Das Bundesverfassungsgericht war vorher noch nie mit der Verfassungsbeschwerde einer intergeschlechtlich geborenen Person befasst, hatte allerdings im Zusammenhang mit Verfassungsbeschwerden zum Transsexuellengesetz33 das vom Grundgesetz geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht dahingehend weiterentwickelt, dass es auch „das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität“ eines Menschen schützt.34 Hierauf wurde Vanjas Verfassungsbeschwerde gestützt, ferner darauf, dass Vanja wegen ihres_seines Geschlechts diskriminiert werde, wenn ihm_ihr versagt werde, was die meisten Menschen genießen: Übereinstimmung zwischen empfundenem und staatlich registriertem Geschlecht; auch deshalb müsse ein positiv benannter 31 Vanja ist ein Pseudonym. Die Begleitung des Verfahrens sowie auch das Presseecho sind dokumentiert unter http://dritte-option.de/ (Abruf: 30.06.2018). 32 Amtsgericht Hannover, Beschluss vom 13.10.2014 (Az. 85 III 105/14); OLG Celle, Beschluss vom 21.1.2015 (Az. 17 W 28/14); Bundesgerichtshof, Beschluss vom. 22. 6.2016 (Az. XII ZB 52/15). 33 Der vollständige Name des Gesetzes lautet bezeichnenderweise „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“. Es stammt bereits aus dem Jahr 1980 (in Kraft seit dem 1.1.1981). Sehr gründlich analysiert und interpretiert wurde das Gesetz samt den zahlreichen dazu ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von Laura Adamietz: Geschlecht als Erwartung: Das Geschlechtsdiskriminierungsverbot als Recht gegen Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität, Baden-Baden 2011. 34 So z.B. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 11.1.2011 (Az. 1 BvR 3295/07), Randnummer 56 (abrufbar unter www.bverfg. de/e/rs20110111_1bvr329507.html) (Abruf: 30.06.2018). In ähnlicher Formulierung findet sich die Umschreibung des Rechts auf geschlechtliche Identität (früher auch: Recht auf sexuelle Identität) in weiteren Entscheidungen. Konstanze Plett 73 Geschlechtseintrag im Geburtenregister möglich sein und nicht nur die Streichung des bestehenden Eintrags. Dem hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich beider Aspekte entsprochen und die Gesetzgebung aufgefordert, bis Ende 2018 eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die dem entspricht. Hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit der bestehenden Regelung hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht Gesetzeskraft.35 4. Folgen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts Die Entscheidung hat in Bezug auf die Beurteilung der zugrundeliegenden Rechtsnormen allgemeinen Charakter. Zugleich ist sie eine Einzelfallentscheidung in der Sache, die Vanja in Gang gesetzt hat. In Bezug darauf hat das Bundesverfassungsgericht die vorangegangenen Gerichtsentscheidungen aufgehoben und die Sache selbst zur Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Allerdings hat es das Verfahren zugleich ausgesetzt bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung. Für alle anderen, die eine dritte Option des Geschlechtseintrags für sich wollen, hat das Bundesverfassungsgericht bestimmt, dass Anträge zwar gestellt werden können, aber solche Verfahren ebenfalls bis zur neuen gesetzlichen Regelung auszusetzen sind. Praktisch bedeutet das, dass solche Anträge nicht – wie im Fall von Vanja – von den jeweiligen Standesämtern abschlägig beschieden werden dürfen, sondern die Entscheidung nur aufzuschieben ist. Wichtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht keine Aussage über die Möglichkeit der Streichung des Geschlechtseintrags getroffen hat. Wenn intergeschlechtlich Geborene dies für sich beantragen, ist darüber sogleich zu entscheiden; solche Verfahren dürfen nicht ausgesetzt werden.36 Im Hinblick auf die von der Gesetzgebung zu erlassende Regelung hat das Bundesverfassungsgericht zwei Wege aufgezeigt: entweder ganz von staatlicher Registrierung von Geschlecht abzusehen oder, solange Geschlecht noch registriert wird, eine dritte Möglichkeit des Eintrags vorzusehen. Es ist Sache der Gesetzgebung, hierfür einen Begriff zu finden; da mehrere möglich sind, 35 Deshalb wurden die Hauptentscheidungssätze auch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht: 2017, Teil I, 3783. 36 Nach Erlass des § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz war zunächst unklar, ob diese Bestimmung, die ja für Neugeborene formuliert ist, auch für Erwachsene gilt. Das ist inzwischen jedoch Praxis geworden, d.h. erwachsene intergeschlechtlich Geborene können, da sie ja mit männlich oder weiblich eingetragen sind, Streichung beantragen. 74 Konstanze Plett konnte das Bundesverfassungsgericht hierüber keine Entscheidung treffen, da es kein Ersatzgesetzgeber ist.37 Es waren verschiedene Bezeichnungen im Gespräch38, der Anfang Juni 2018 bekannt gewordene Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat will hingegen die Bezeichnung „weiteres“ gesetzlich verankern.39 5. Welche Änderung der Geschlechtsregistrierung im Geburtenregister sind möglich, wie ist das Verfahren? Für fast alle Neugeborenen wird aktuell ja „weiblich“ oder „männlich“ eingetragen, auch wenn eigentlich die Voraussetzungen des § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz gegeben sind und der Eintrag offen bleiben müsste.40 Dies liegt daran, dass die Standesämter das beurkunden, was ihnen mitgeteilt wird, und keine eigenen Ermittlungen dazu anstellen. In einigen wenigen Fällen allerdings unterbleibt ein Eintrag in der Rubrik Geschlecht. Ist dies tatsächlich der Fall, kann später in einer sogenannten Folgebeurkundung ein spezifisches Geschlecht eingetragen werden. Erforderlich hierzu ist die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, aber kein Gerichtsverfahren.41 Dasselbe gilt, wenn ein spezifischer Eintrag gestrichen werden soll, weil die Voraussetzungen des § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz bei der Geburt vorgelegen haben; manche Standesämter wollen sich dies allerdings doch gerichtlich bestätigen lassen.42 37 Nur wenn es ausschließlich eine verfassungsgemäße Lösung gibt, kann das Bundesverfassungsgericht diese mit Gesetzeswirkung feststellen. 38 So z.B. „anderes“ (vom Deutschen Ethikrat vorgeschlagen), „inter“ oder „divers“ (wie von Vanja beantragt), „sonstiges“; „zwittrig“, wie in dem ersten Verfahren dieser Art beantragt, hingegen nicht mehr. 39 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben, Bearbeitungsstand: 5.6.2018; Kommentierung von Juliane Loeffler und Link zum Herunterladen unter https://www.buzzfeed.com/de/julianeloeffler/dritte-option-intersex-minimalloesung-seehofer (Abruf: 30.06.2018). Referentenentwürfe von Ministerien gehen zunächst in die sogenannte Ressortabstimmung (d.h. Stellungnahmen von anderen Ministerien werden eingeholt), bevor der Text zu einem Regierungsentwurf geht, der dann als solcher zunächst dem Bundesrat zuzuleiten ist, bevor er nach Rückkehr von dort an den Bundestag zur Beschlussfassung übermittelt wird. Beabsichtigt ist, das Gesetz zum 1.11.2018 in Kraft treten zu lassen. Vgl. auch Fn. 48 am Ende. 40 § 22 Absatz 3 Personenstandsgesetz ist als zwingende Vorschrift formuliert. Die Zahlen liegen allerdings deutlich unter denen, die zu erwarten gewesen wären; vgl. Nina Althoff, Greta Schabram und Petra Follmar-Otto: Gutachten Geschlechtervielfalt im Recht: Status quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt, Berlin 2017 (abrufbar unter www. bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/geschlechtervielfalt-im-recht/114072), 11 und Annex 1 (Abruf: 30.06.2018). 41 Die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung wird gemäß Nr. 27.8.1 PStG-VwV verlangt. 42 Mündliche Mitteilungen. Konstanze Plett 75 Ein Wechsel von männlich nach weiblich oder umgekehrt ist möglich, wenn der ursprüngliche Eintrag unrichtig war, wobei für die Unrichtigkeit medizinische Kriterien ausschlaggebend sind, nicht eine später herausgebildete geschlechtliche Identität. Wenn die ursprüngliche Mitteilung über das Geschlecht aufgrund schriftlicher Anzeige (d.h. von einer Geburtseinrichtung) erfolgt ist, kann dies ohne Gerichtsverfahren geändert werden; andernfalls muss der Antrag gerichtlich bestätigt werden.43 Soweit bisher von Gerichtsverfahren die Rede war, sind dies Verfahren, die sich nach dem Personenstandsgesetz richten. Menschen, deren individuelle Geschlechtsidentität eine andere als die registrierte ist, deren körperlich-medizinische Beurteilung jedoch mit dem Eintrag übereinstimmt, haben aktuell nur den Weg, den das Transsexuellengesetz vorgibt: Sie müssen nachweisen, bereits drei Jahre in dem persönlich empfundenen Geschlecht gelebt zu haben, eine „Rückkehr“ zum aktuell noch registrierten Geschlecht muss unwahrscheinlich sein, zwei Sachverständigengutachten müssen zu diesen Fragen Stellung genommen haben – und alles findet in einem gerichtlichen Verfahren statt.44 6. Und demnächst? Der genannte Referentenentwurf enthält nur eine Minimallösung und ist zwischen verschiedenen Bundesministerien auch noch umstritten.45 Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der 18. Legislaturperiode – durchaus unter Beteiligung des Bundesinnenministeriums – viel Vorarbeit für die nun vom Bundesverfassungsgericht geforderte Regelung geleistet.46 Dieses Ministerium strebt eine umfassende neue Regelung zur Geschlechtsidentität an, die gelebte Geschlechtervielfalt ermöglichen soll. Das Transsexuellengesetz gilt seit langem als veraltet, und die nun aus 43 Dies ist in den §§ 46-53 Personenstandsgesetz geregelt. Mit der Neufassung des Personenstandsgesetzes von 2007 wurden den Standesämtern mehr Befugnisse zugestanden, als sie vordem hatten. 44 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.1.2011 (Fn. 34) sind diese Voraussetzungen einheitlich sowohl für die Vornamens- als auch für die Personenstandsänderung hinsichtlich des Geschlechtseintrags. Ursprünglich wurde für Letzteres noch Ehelosigkeit, Sterilisation und körperliche Anpassung an das gelebte Geschlecht verlangt. 45 Vgl. z.B. www.buzzfeed.com/de/julianeloeffler/exklusiv-gesetzentwurf-fuer-intergeschlechtliche (Abruf: 30.06.2018) und wie in Fn. 39. 46 Alle Dokumente lassen sich finden, wenn auf der Seite www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/72642!search in die Suchmaske „inter-“ eingegeben wird (Abruf: 30.06.2018). 76 Konstanze Plett Karlsruhe aufgegebene Gesetzesänderung bietet die Möglichkeit, das Transsexuellengesetz als solches abzuschaffen und die weiterhin notwendigen Teile in ein neues Gesetz zu integrieren. Wenige Tage, bevor der Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums öffentlich wurde, hat der Bundesrat einen Antrag mehrerer Bundesländer beraten, sich für ein umfassendes „Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität und zum Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechterzuordnung“ einzusetzen; der Antrag wurde zunächst in die Ausschussberatung überwiesen.47 Es ist also noch (Ende Juni 2018) offen, wie die anstehende Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts ausfallen wird. Die Diskussionen gehen auf jeden Fall weiter.48 7. Geschlecht, Recht und Gesellschaft Sozialer Wandel und Rechtsentwicklung lassen sich nicht isoliert betrachten, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Es gibt Rechtsnormen und es gibt gesellschaftliche Normen. Beide unterliegen Wandlungen. Sie sind nicht deckungsgleich: so gibt es Rechtsnormen, denen gar keine gesellschaftlichen Normen entsprechen – z.B. das Rechtsfahrgebot im Autoverkehr –, und gesellschaftliche Normen, die nicht auch in Rechtsnormen überführt sind – wie beispielsweise bei persönlichen Begegnungen sich zu grüßen. Soweit Normen oder Regeln hier wie da anzutreffen sind, ist es wünschenswert, dass sie weitgehend übereinstimmen, was sich aber nicht immer erreichen lässt – und wenn, dann oft genug mit zeitlicher Verzögerung, wie die Anerkennung von nicht durch eine staatlich-rechtliche Verbindung begründeten Familien zeigt, die heute kaum noch in Frage gestellt werden. Bei der jetzt anstehenden Debatte über einen positiv formulierten Eintrag in der Rubrik Geschlecht für die Menschen, für die die herkömmlichen 47 Chronologie der Beratung und Links zu den Dokumenten können unter www.bundesrat.de/SharedDocs/beratungsvorgaenge/2018/0201-0300/0226-18.html abgerufen werden (Abruf: 30.06.2018). 48 Ergänzung nach Redaktionsschluss und vor Drucklegung: Im Herbst 2018 wurde in der Tat noch sehr intensiv debattiert. Als Bezeichnung hatte nach dem Protest der Interessenverbände die Bundesregierung bereits bei der Einbringung der Gesetzesvorlage auf „divers“ entschieden. Es hat auch noch, praktisch in letzter Minute, ein paar weitere Änderungen gegeben, aber im Ergebnis ist es bei der Minimallösung geblieben. Das „Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben“ wurde am 21.12.2018 im Bundesgesetzblatt (2018, Teil I, 2635) verkündet und ist am Folgetag in Kraft getreten. Die Aufgabe seitens des Bundesverfassungsgerichts wurde damit zwar erfüllt. Trotzdem sind die Fragen und rechtlichen Probleme im Zusammenhang mit dem Menschenrecht auf die eigene Geschlechtsidentität nicht erledigt, so dass der obenstehende Satz von den weitergehenden Diskussionen seine Berechtigung behält. Konstanze Plett 77 Möglichkeiten „männlich“ oder „weiblich“ nicht passen, regt sich bereits einiger Widerstand in der Gesellschaft.49 Umgekehrt wird die Bestimmung im Referentenentwurf, die die Eintragung „weiteres“ von einer ärztliche Bescheinigung abhängig machen will, von den Interessenverbänden heftig kritisiert.50 Zu beachten ist, dass mit dieser Erweiterung niemand etwas weggenommen werden soll;51 Menschen, die sich bisher als Männer oder Frauen begriffen, dürfen es weiterhin tun. Es kommt nur darauf an, den Menschen, deren Existenz über so viele Jahre tabuisiert wurde und die zum Zweck der Aufrechterhaltung des Tabus unnötige medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen mussten, endlich die Anerkennung zu geben, die ihnen wie allen Menschen zukommt, wenn die Menschenrechte Gültigkeit haben sollen. 49 Dazu geben die Kommentarspalten bei den Onlineausgaben der Medien reichlich Anschauungsmaterial. 50 Vgl. Nachweise oben in Fn. 45. 51 Das verkennt m.E. Stephan Rixen: Geschlechtertheorie als Problem der Verfassungsauslegung: Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG v. 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 zu geschlechtlichen Diversität, in: JuristenZeitung 73 (2018), 317-327, wenn er am Ende meint, Binarität und Diversität müssten zusammengedacht werden. Mit der Entscheidung wird niemand gezwungen, von seiner Überzeugung der Geschlechterbinarität abzuweichen. Aber es darf eben niemand, dessen Lebensrealität darin nicht aufgehoben ist, deswegen diskriminiert werden. 78 Konstanze Plett Annina Ligniez „Liebes Gemeindemitglied, …“ Praktisch-theologische Konsequenzen angesichts der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten. Ein Kommentar zur Loccumer Tagung Wer im Dezember 2017 den Weg in das niedersächsische Loccum auf sich nahm, dem wurde eine gut vorbereitete und organisierte Tagung zum Thema Diverse Identität – Theologische Annäherungen an das Phänomen Intersexualität an der Evangelischen Akademie Loccum mit spannenden Vorträgen geboten. Ein Potpourri der besonderen Art, unterschiedliche Wahrnehmungen und Annäherungen an das „Phänomen Intersexualität“ und Fragen des kirchlichen Umgangs damit, von denen ich einige herausgreife, da sie mich zu neuen persönlichen Schlussfolgerungen und Beobachtungen führten. Besonders überzeugte mich die Mischung der Vorträge – Betrachtungen aus juristischer, psychologischer, soziologischer, theologischer und historischer Perspektive. Es kamen Betroffene zu Wort, ebenso wie Menschen, die sich in Forschung und kirchlicher Praxis Fragen von Intersexualität bereits angenommen haben. Beim Schreiben dieses Kommentars entsteht erneut eine Ambivalenz, die ich auch bereits während der Tagung bei mir wahrgenommen habe: Wie reden wir über Intersexualität und fluide Geschlechtsidentitäten? Welche sprachlichen Formen sind angemessen? Ist Intersexualität wirklich ein Phänomen? Zweifelsohne sprechen wir nicht davon bei Heterosexualität, wenn überhaupt eher bei Homosexualität. Sind Inter*Menschen Betroffene? Ja und Nein – gleichwohl stößt mir dieser Ausdruck auf, wenn ich ihn niederschreibe. Lucie Veith vom Bundesverband intersexueller Menschen betonte die große Herausforderung der Sensibilisierung von Menschen in Gesellschaft und Kirche in Bezug auf ihre Sprache und Kommunikationsformen. Intersexualität sieht Lucie Veith nicht als Phänomen, vielmehr als „persönliches Potenzial“ von Menschen. Lucie Veith wies deutlich darauf hin, dass der Annina Ligniez 79 Sexualkundeunterricht an Schulen auf dem Stand der 1950er und 1960er Jahre sei. Über die Vielfalt der Geschlechter würde kaum geredet, vielmehr die vielen Menschen noch immer vertraute Dichotomie der Geschlechter gelehrt – trotz neuer biologischer und medizinischer Erkenntnisse. Hier sehe ich auch Handlungsbedarf in unserer eigenen Arbeit als Pfarrer*innen z.B. mit Konfirmand*innen und in der Jugendarbeit, in der Schöpfung, Sexualität, Liebe, Freundschaft durchaus immer auch Themen des gemeinsamen kirchlichen Unterrichts und kirchlicher (Freizeit-)Angebote sind. Ich bin überzeugt, dass viele meiner Kolleg*innen an dieser Stelle Fortbildungs- und Informationsbedarf hätten. Maximilian Schochow, Universität Ulm, eröffnete die historische Perspektive auf den sog. ‚Hermaphroditismus‘. Durch seinen historischen Blick auf Intersexualität und den Umgang damit in Medizin und Biologie wurde deutlich, dass es sich hier nicht um ein Phänomen der Moderne und ihrem angeblichen Hang zur Beliebigkeit handelt. Zudem forderte der Vortrag dazu auf, die eigenen Vorstellungen der Dichotomie der Geschlechter zu überdenken, die sich erst (!) im 18./19. Jh. durchgesetzt hat. Nachdenklich stimmte sein Einwand, dass heutzutage die Vorstellungen einer Gesellschaft über „richtig“ und „falsch“ auch das medizinische Handeln definieren würden und heutzutage der Wunsch nach Vereindeutigung den Umgang mit einem offenen, fließenden Geschlechterbegriff hemmt. Für die kirchliche Praxis höre ich hier vor allem den Ruf nach Beweglichkeit im eigenen Denken, in Fragen der Hermeneutik und damit auch in Fragen des Schriftverständnisses. Berührend allem voran seine Darstellung des Lebens von Marie/Marin le Marcis: Der als Marie le Marcis getaufte Mensch entscheidet sich mit einundzwanzig Jahren dazu, sich einen männlichen Namen zu geben und Männerkleidung zu tragen. Zudem lebt Marie/Marin le Marcis mit der Witwe Jeanne le Febvre zusammen. Marin le Marcis wird der Sodomie angeklagt und zum Tode verurteilt. Ein Gerichtsgutachten kommt nach seiner/ihrer äußeren Begutachtung zu dem Schluss, es handele sich um eine Frau und damit sei Marins Entschluss, anders zu leben, untragbar. Nur ein zweites Gutachten von Jacques Duval, Mitglied der medizinischen Gesellschaft, der Marin auch innerlich untersucht, rettet Marin das Leben. Duval stellt unzweifelhaft fest, dass Marie/Marin eine MannFrau, ein Hermaphrodit ist. Für mich wurde durch dieses eindrückliche Beispiel aus dem 17. Jahrhundert deutlich, dass es unsere Aufgabe als Kirche bzw. Mitarbeiter*innen von und in der Kirche ist, wahrzunehmen, dass wir nicht 80 Annina Ligniez über ein Phänomen sprechen, über ein disorder of sexual development, sondern es immer um Menschen und deren eigene Geschichten geht. Sie haben ein Recht darauf, dass ihnen mit Wertschätzung und Achtsamkeit begegnet wird. Auch sie sind Gotteskinder – gewollt und geliebt: eine Botschaft, die es laut zu verkündigen gilt! Gleichzeitig muss m.E. Kirche auch einen Bildungsauftrag wahrnehmen und Gesprächsräume eröffnen, in denen wir unseren Umgang mit der Bibel hinterfragen und den Dialog mit den Wissenschaften suchen. Wir sollten reflektieren, inwiefern auch eigene kirchliche Stellungnahmen die Setzung positiven Wissens beeinflussen. Konstanze Plett, Universität Bremen, ermöglichte den Einblick in die juristischen Fragestellungen. Auch sie betonte, dass es mutige Menschen brauche, um Dinge in Bewegung zu bringen. Die positive Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2017 bezüglich der Einführung einer dritten positiven Bezeichnung für intergeschlechtliche Menschen – weiblich, männlich, offen, divers – sei ein wichtiger und großer juristischer Schritt gewesen. Inwiefern sich dadurch auch der Alltag der Inter*Menschen ändere und die Gesellschaft sich dafür öffne, sei hingegen eine ganz andere Frage. Hier als Kirche Menschen zu ermutigen, Haltungen und Meinungen zu ändern bzw. mehr noch: sich dafür einzusetzen, dass wir dies gerade in gemeindlicher Arbeit selbst umsetzen, halte ich für dringend erforderlich. Warum immer die Anrede „Liebe Frau / lieber Herr xy…“ bei Einladungen und Gemeindebriefen? Es ginge doch auch ein schlichtes freundliches „Liebes Gemeindemitglied…“ (Herzlichen Dank an dieser Stelle an Gerhard Schreiber, der mich mit diesem und auch mit anderen Hinweisen nachhaltig inspirierte, über meine eigene Sprache im Gemeindekontext nachzudenken.) Karina Kehlet Lins lenkte durch ihren Vortrag meinen Blick auf unsere Seelsorgetheorien und seelsorgliche Praxis innerhalb von Gemeinden und Kirche. Inter*Menschen haben häufig mit Scham, Unsicherheit oder dem Gefühl der Entmündigung zu kämpfen. Sie erleben tiefe Trauer über den Verlust ihrer Zeugungsfähigkeit oder auch über den pathologischen Umgang mit ihrem ‚persönlichen Potenzial‘. Hier sehe ich den größten Handlungsbedarf auch bei mir selbst: Gibt es konkrete seelsorgliche Angebote für Inter*Menschen? Welche kasualtheoretischen Aufgaben wachsen uns neu zu? Wie kann ich als Pfarrerin ganz konkret Netzwerke schaffen, in denen Brücken gebaut werden und Resilienzkräfte gestärkt werden? Wie kann ich normkritisch bleiben, offen sein für fließende Identitäten und deutlich verkündigen, dass „Gott keine Annina Ligniez 81 Fehler macht“ (K. K. Lins) und die Vielfalt von und in Gottes Schöpfung gewollt ist? Hier geht es m.M. nach nicht nur um klare und deutliche Positionierungen von Seiten der Kirchenleitungen, sondern auch um die persönliche Theologie und Verkündigungspraxis von Pfarrer*innen. Insbesondere wird es spannend sein, uns herausfordern zu lassen, auch an unserer liturgischen Praxis zu arbeiten. „Wir lesen den Psalm im Wechsel von Männern und Frauen…“ – warum nicht mal ausprobieren „im Wechsel von hohen und tiefen Stimmen“? Dazu passend die Forderung von Gerhard Schreiber, Technische Universität Darmstadt, die markanten biblischen Stellen neu zu lesen und seine Darlegung einer systematisch-theologischen Perspektive. Er fordert u.a. eine „Re-Evaluation von Gen 1,27 / Gen 5,1-2 / Mt 19,3-6“: Eine Übersetzung, wie er in seinem Vortrag aufzeigte, als „männlich und weiblich schuf er sie“ ist möglich und richtig und eröffnet einen völlig anderen Deutungsrahmen von gott-gewollter Geschlechtlichkeit. „Die Natur liebt Vielfalt, die Gesellschaft hasst sie.“ Dieser Anmerkung von Gerhard Schreiber stimme ich gerne zu. Die Tendenz, alles etikettieren und in Kategorien fassen zu müssen, nimmt innerhalb unserer Gesellschaft zu: Esse ich vegan, vegetarisch, frutarisch oder eher flexitarisch? Lebe ich inter*, bi, homo oder hetero? Es ist einerseits sicherlich entlastend, sich einordnen und dadurch auch gegenüber anderem*anderen abgrenzen zu können. Andererseits engt dieser Zwang der Etikettierung Menschen in ihrer Art zu leben und zu sein häufig ein. Ist es wirklich notwendig, sich immer einer bestimmten Kategorie zuordnen zu müssen oder müssen wir an dieser Stelle nicht noch einmal unseren Gebrauch von Kategorien und Etikettierungen überdenken? Als Pfarrerin will ich aus guten Gründen eine andere Botschaft verkündigen und wünsche mir dies von meiner Kirche gleichermaßen. Wir sind alle Menschen, die lieben und leben und deren Vielfalt an Geschlechtern und Identitäten ein großartiges Abbild der Vielfalt und Schönheit göttlicher Schöpfung ist! Gleichzeitig genügt es nicht, nur diese frohe Botschaft zu verkündigen. Kirche – und das sind wir alle, die wir für diese Institution arbeiten bzw. uns als Teil der christlichen Gemeinschaft verstehen – hat hier einen Bildungs- und Informationsauftrag, den sie mutig annehmen und umsetzen sollte – und zwar nicht nur nach außen, sondern gerade auch nach innen. Es braucht m.E. mehr Veranstaltungen wie diese Tagung, die Pfarrer*innen und Gemeindemitglieder sensibilisieren und informieren über Inter*Menschen, unseren Umgang und unsere Begegnungen mit ihnen. 82 Annina Ligniez Praktisch-theologisch ziehe ich für mich aus diesem gemeinsamen Nachdenken folgende Konsequenzen: (1.) Innerhalb der Kasualtheorien gilt es nachzudenken, ob es neuer Kasualien bedarf (z.B. bei Trans*Menschen ein taufähnliches Ritual nach Personenstandsänderungen, bei Inter*Menschen die Frage nach dem Bedürfnis von Segensfeiern für die Anerkennung ihres Seins). Hier gilt es, eng mit den Menschen zusammenzuarbeiten, die mit diesem persönlichen Potenzial leben. Dazu gehört für mich unabdingbar auch, über unsere liturgische Sprache und Praxis nachzudenken. Wir sollten achtsam werden, wo wir durch unsere eigene Sprachpraxis die Dichotomie der Geschlechter erhalten und Inter*Menschen grundsätzlich ausgrenzen: z.B. der bereits erwähnte Psalm im Wechsel von Männern und Frauen oder auch die Anrede in Predigten „liebe Schwestern und Brüder“. (2.) Die Handlungsfelder innerhalb der Seelsorge sind bereits zahlreich und vielfältig. Gefördert und gefordert werden sollte aber auch eine spezifische seelsorgliche Begleitung von Inter*Menschen insbesondere in Bezug auf Scham, Trauer und der Suche nach Resilienzfaktoren. Aufgabe von uns Pfarrer*innen und von Kirchenleitungen ist es, die Diversität von Geschlecht, die wir unter uns finden, zu enttabuisieren und Sprach- und Kommunikationsräume zu schaffen, um gemeinsam nach neuen, anderen Wegen in Seelsorge, liturgischer Praxis und gemeindlichen Bildungsangeboten zu suchen. Also: Geben wir ihnen einen Namen – Inter*Menschen sind mehr als ein „Phänomen“. Nehmen wir ihre Lebensgeschichten ernst, hören wir einander zu und begegnen wir uns in der Vielfalt und Schönheit unseres jeweiligen Seins. Gottes Schöpfung ist bunt und vielfältig – dies möchte ich leben (lassen) und verkündigen! Annina Ligniez 83 Personalien PD Dr. Julia Koll ist Studienleiterin für Theologie und Ethik an der Evangelischen Akademie Loccum und Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Göttingen. Anike Krämer (M.A.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Sozialwissenschaft (Gender Studies) der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Annina Ligniez ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Westfalen in Enger. PD Dr. Jantine Nierop ist Geschäftsführende Studienleiterin am EKD-Studienzentrum für Genderfragen in Kirche und Theologie sowie Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Konstanze Plett (LL.M.) ist em. Professorin für Rechtswissenschaft an der Universität Bremen und hat die Verfassungsbeschwerde mitverfasst, die zur rechtlichen Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen geführt hat. Dr. Gerhard Schreiber ist Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik der Technischen Universität Darmstadt. Prof. Dr. Peter-Ben Smit lehrt kontextuelle Exegese (Vrije Universiteit), altkatholische Theologie (Universität Utrecht) und systematische und ökumenische Theologie (Universität Bern) und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Pretoria. Lucie Veith ist Netzwerkkoordinator_in für Inter* im Queeren Netzwerk Niedersachen, Berater_in von intergeschlechtlichen Menschen und deren Angehörigen, ehem. Bundesvors. des Vereins Intersexuelle Menschen e.V., bis heute Mandatsträger_in für Bund, Länder und Peerberatungsausbildung, Parallelberichterstatter_in zu verschiedenen UN-Konventionen. Personalien 85 Abkürzungsverzeichnis Altes Testament Gen Genesis (1. Buch Mose) Spr Buch der Sprichwörter (Sprüche) Ex Exodus (2. Buch Mose) Koh Kohelet (Prediger Salomo) Lev Levitikus (3. Buch Mose) Hld Hohelied Salomos Num Numeri (4. Buch Mose) Weish Weisheit Salomos Dtn Deuteronomium (5. Buch Mose) Sir Jesus Sirach Jos Josua Jes Jesaja Ri Buch der Richter Jer Jeremia Rut Rut Klgl Klagelieder des Jeremia 1 Sam 1. Buch Samuel Bar Baruch 2 Sam 2. Buch Samuel Ez Ezechiel 1 Kön 1. Buch der Könige Dan Daniel 2 Kön 2. Buch der Könige Hos Hosea 1 Chr 1. Buch der Chronik Joel Joel 2 Chr 2. Buch der Chronik Am Amos Esra Esra Obd Obadja Neh Nehemia Jona Jona Tob Tobit (Tobias) Mi Micha Jdt Buch Judit Nah Nahum Est Ester Hab Habakuk 1 Makk 1. Buch der Makkabäer Zef Zefania 2 Makk 2. Buch der Makkabäer Hag Haggai Ijob Ijob (Hiob) Sach Sacharja Ps Buch der Psalmen Mal Maleachi Abkürzungsverzeichnis 87 Neues Testament Mt Matthäusevangelium 1 Tim 1. Timotheusbrief Mk Markusevangelium 2 Tim 2. Timotheusbrief Lk Lukasevangelium Tit Titusbrief Joh Johannesevangelium Phlm Philemonbrief Apg Apostelgeschichte Hebr Hebräerbrief Röm Römerbrief Jak Jakobusbrief 1 Kor 1. Korintherbrief 1 Petr 1. Petrusbrief 2 Kor 2. Korintherbrief 2 Petr 2. Petrusbrief Gal Galaterbrief 1 Joh 1. Johannesbrief Eph Epheserbrief 2 Joh 2. Johannesbrief Phil Philipperbrief 3 Joh 3. Johannesbrief Kol Kolosserbrief Jud Judasbrief 1 Thess 1. Thessalonicherbrief Offb Offenbarung des Johannes 2 Thess 2. Thessalonicherbrief 88 Abkürzungsverzeichnis ISBN 978-3-87843-056-8 www.creo-media.de