Möglichkeiten und Nutzen technikassistierter Methoden in studentischer Lehre und klinischer Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Language
de
Document Type
Doctoral Thesis
Granting Institution
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), Medizinische Fakultät
Issue Date
2024
Authors
Hecker, Elke
Editor
Abstract

Wissenschaftlicher Hintergrund und Forschungsziele: Die gesamte Lebenswelt sieht sich zunehmend mit Digitalisierungsanforderungen konfrontiert, so auch die Bereiche hochschulische Lehre und Studium, sowie Psychotherapie (PT) von Kindern und Jugendlichen. Die Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit am Universitätsklinikum Erlangen entwickelte ein Digitalisierungsinstrument: die HOSPIDEO-Videobox („Hospitieren per Video“). Es handelt sich um ein mobiles „Mini-Selbstbedienungs-Studio“, welches (lernrelevante) Inhalte selbstständig ohne technische Vorbereitung und Vorerfahrung als Videoaufnahme aufzeichnen kann. Übergeordnetes Forschungsziel ist die Evaluation der HOSPIDEO-Videobox und damit die Etablierung von (Patienten-) Videoaufnahmen als zukunftsweisende digitale Intervention in der Lehre und Patient:innenversorgung. In zwei Studien wurde dieses Vorhaben umgesetzt.

Studie 1 Hintergrund und Fragestellungen: Der Einsatz digitaler Technologien wird zunehmend als fester Bestandteil der akademischen Lehre gefordert. Ziel der Studie war die Analyse des aktuellen Bedarfs unter Studierenden und Dozierenden hinsichtlich eines videobasierten eLearning-Konzepts im Lehrangebot der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und dessen beabsichtigte Nutzung. Die zentrale Fragestellung bezog sich auf die wahrgenommene Nützlichkeit als wichtigsten Prädiktor für die Nutzungsabsicht. Es wurde untersucht, ob die zentralen Annahmen des Technologieakzeptanzmodels (TAM) nach Davis (1989) auch auf das eLearning-Konzept transferierbar sind. Ergänzend wurde die externe Variable „Relevanz für das Lernen“ in seiner Prädiktorfunktion untersucht. Die vorliegende Studie trägt somit auch zu einer Erweiterung der empirischen Befundlage bezüglich externaler Variablen bei.

Methode: Im querschnittlichen Design einer Beobachtungsstudie erfolgte im Rahmen einer Bedarfsanalyse die Befragung von Studierenden (N = 91) und Dozierenden (N = 4) mittels standardisierter Fragebögen von 11/2019 bis 01/2020. Erfasst wurden die Konstrukte vorhandenes und inhaltlich präferiertes Lehrangebot im Bereich der KJP, Ansprüche und Zugänglichkeitsanforderungen an das eLearning-Angebot, die Nützlichkeit sowie die Nutzungsabsicht. Es wurden Mittelwertunterschiede (t-Test), Häufigkeitsunterschiede (Chi-Quadrat-Test) sowie Zusammenhänge (Pearson-Korrelation) statistisch geprüft und Effektgrößen interpretiert.

Ergebnisse: Die deskriptiven Daten der Studierenden belegten sehr großes Interesse an Lehrangeboten der KJP. Die überwiegende Mehrheit (n = 82, 90.1%) bewertete Lernvideos als sinnvolle Ergänzung der Präsenzlehre und viele Studierende würden Videoaufnahmen in Form einzelner Patient:innenfälle und deren verstärkten Einsatz in Lehrveranstaltungen präferieren. Alle befragten Dozierenden bewerteten Lehrvideos einheitlich als sehr nützlich für die Lehrveranstaltung und würden selbst Videos aufzeichnen. Die Hypothesentestung ergab keinen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Nützlichkeit (sinnvolle Ergänzung der Präsenzlehre, Unterstützung im Studium) und der Nutzungsabsicht (p = .237/.228). Die Überprüfung des Einflusses der externen Variable „wahrgenommene Relevanz“ auf die wahrgenommene Nützlichkeit erbrachte ein signifikantes Ergebnis (p = .033), dass Studierende, welche das eLearning-Konzept als eher relevant für die Klausurvorbereitung ansehen, eher denken, dass das eLearning-Angebot sie im Studium unterstützen kann.

Schlussfolgerungen: Die Befunde verdeutlichen insgesamt den Bedarf an der Verbindung von digitalen Medien und Wissensvermittlung, die positive Grundeinstellung gegenüber dem eLearning-Konzept und das Potential von Patienten-Videoaufnahmen als Digitalisierungstool im Bereich Studium und Lehre. Praktische Implementierungsschritte v.a. bezogen auf die inhaltliche Konzeption mit der HOSPIDEO-Videobox in Form von Patientenvideos sind bereits vorzuweisen. Zukünftige Forschungsvorhaben sollten Moderatorvariablen wie z.B. den Grad der Erfahrung, ebenso wie weitere externale Variablen wie z.B. subjektive Normen berücksichtigen. Auch sollte die Stichprobenzusammensetzung repräsentativer ausfallen zur besseren Generalisierbarkeit von Untersuchungsergebnissen. Die Etablierung einer Video-Datenbank oder die Durchführung von Online-Prüfungen auf inhaltlicher Basis der Videos wären Weiterentwicklungen, welche es zu überprüfen gilt.

Studie 2 Hintergrund und Fragestellungen: Videoaufnahmen bieten als objektive Dokumentations- und Analysehilfe viele Vorteile für die psychotherapeutische Diagnostik, Behandlung und Forschung, auch bei Kindern und Jugendlichen. Ziel der Studie war die Wirkevaluation und Etablierung der HOSPIDEO-Videobox in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung. Die zentrale Fragestellung war, ob die Vorteile des Videoeinsatzes im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext auch mit der HOSPIDEO-Videobox beobachtbar sind und dadurch ein Mehrwert für die therapeutische Behandlung und Visite resultieren kann, mit dem Ziel der Optimierung und Qualitätssteigerung der Patient:innenversorgung.

Methode: Die monozentrische Pilot-Untersuchung stellte eine Interventionsstudie im randomisiert kontrollierten Design dar. Als zweifach gestufte unabhängige Variable wurde eine Versuchs-/Videogruppe (VG) einer Kontrollgruppe (KG; Treatment as Usual, TAU: Interview mit Audioaufnahme) gegenübergestellt. In der Anamnesesitzung beantworteten die Patient:innen Fragen vor der HOSPIDEO-Videobox (VG) oder im persönlichen Kontakt mit ihren Therapeut:innen (KG). In der darauffolgenden Therapiesitzung wurden diese Antworten im Rahmen der Einzeltherapie thematisiert/nachbesprochen. Die Videos wurden zudem im Rahmen der Patient:innenvorstellung in der Visite gezeigt. Die Stichprobe umfasste N = 31 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 - 17 Jahren, die sich in der Kinder- und Jugendabteilung für Psychische Gesundheit im (teil-) stationären Behandlungssetting befanden. Es wurden die Stimmung (prä-post Anamnesesitzung/Therapiesitzung), das Antwortverhalten (Ausführlichkeit und Antwortlatenz) und die Antworttiefe sowie der Mehrwert für Therapie und Visite in standardisierten Fragebögen bei Patient:innen, Therapeut:innen und Team sowie durch objektive Messmethoden erfasst. Die statistischen Auswertungen erfolgten über Mittelwertvergleiche (Mann-Whitney-U-Tests) und Analysen mit Messwiederholung (Wilcoxon- Tests und Mixed ANOVAs).

Ergebnisse: Die Gruppenvergleiche von Antwortverhalten, Antworttiefe und Mehrwert für die Therapie zeigten keine signifikanten Unterschiede zwischen VG und KG (p = .150 bis .950). Es fand sich ein geringer Effekt zu einer durchschnittlich höheren Einschätzung des Mehrwerts für die Therapie in der VG (d = 0.44). Ein statistischer Trend zeigte nach der Anamnesesitzung geringere Stimmungswerte in der KG als in der VG (p = .090). Sowohl vor der Therapiesitzung als auch danach gab es bedeutsame Stimmungsunterschiede zwischen der VG und der KG (p = .050/.030). Der negative Effekt der Therapiesitzung auf die Stimmung fiel in der VG klein und in der KG mittelgradig aus (r = 0.19/0.40). Beim Vergleich der Differenzwerte zur Stimmungsveränderung deuteten kleine Effektgrößen an, dass die Stimmungsverschlechterung während Anamnese- und Therapiesitzung in der KG deutlicher ausfiel (d = 0.45/0.37). Die Ergebnisse der Mixed ANOVA zeigten weder für die Anamnese- noch für die Therapiesitzung statistisch signifikante Veränderungen der Stimmung (Haupteffekt Zeit: p = .350/.110; Haupteffekt Gruppe: p = .140/.380). Der tendenziell statistisch bedeutsame Interaktionseffekt Zeit * Gruppe für die Therapiesitzung (p = .060) zeigt bei hoher Effektstärke (ɳ2 = .150) im Post-Hoc Test, dass die Stimmungsabnahme nur für die KG von Bedeutung war. Dem Einsatz von autonomen Videoaufnahmen in der Visite wurde ein hoher Mehrwert zugeschrieben. Die Durchführbarkeit sowohl bei der Videoaufnahme als auch bei der Verwendung der damit produzierten Videos in Therapie und Visite ist ausreichend gegeben.

Schlussfolgerungen: Zukünftig sollte somit eine methodische Erweiterung und Ergänzungder PT durch das digitale Kommunikationstool fortgeführt und überprüft und eine Etablierung der HOSPIDEO-Videobox in die Behandlungspraxis forciert werden. Ferner sollten Alters- und Geschlechtseffekte, die zugrundeliegende Symptomatik und Einflussvariablen auf die Wirksamkeit im Forschungsinteresse stehen. Auch sollten jeweils Kontrollgruppen sowohl für die Gruppe der an der Visite Teilnehmenden als auch für die Videopräsentation in der Visite erwogen werden. Praktisch relevante Effekte sollten in einer größeren Stichprobe auf Signifikanz überprüft werden.

Abstract

Scientific background and research objectives: The entire world of life is increasingly confronted with demands of digitalisation, including the life domains of university teaching and learning and psychotherapy (PT) of children and adolescents. The Children and Adolescent Department for Mental Health at the University Hospital Erlangen has developed a digitalisation tool: the “HOSPIDEO- Videobox” ("Observing by video"). It is a mobile "mini self-service studio" that can record (learning-relevant) content autonomously as video recordings without any technical preparation or prior experience. The overarching research objective is to evaluate the HOSPIDEO-Videobox and thereby establish (patient-) video recordings as a pioneering digital intervention in teaching and patient care. This project was realised in two studies.

Study 1 Background and research questions: The use of digital technologies is increasingly being demanded as an integral part of academic teaching. The aim of the study was to analyse the current need among students and lecturers for a video-based eLearning concept in the curriculum of child and adolescent psychiatry (KJP), as well as its intended use. The central question within the needs analysis focused on the perceived usefulness as the key predictor for the intention to use. It was investigated whether the central assumptions of the Technology Acceptance Model (TAM) according to Davis (1989) can also be transferred to the eLearning concept. In addition, the external variable "relevance for learning" was examined in its predictor function. The present study thus also contributes to an expansion of the empirical findings with regard to external variables.

Method: In the cross-sectional design of an observational study, students (N = 91) and lecturers (N = 4) were surveyed using standardised questionnaires from 11/2019 to 01/2020 as part of a needs analysis. The following constructs were recorded: existing and preferred course content in the field of KJP, demands and accessibility requirements for the eLearning concept, usefulness, and intention to use. Mean differences (t-test), frequency differences (Chi-squared-test), as well as associations (pearson-correlation) were statistically examined, and effect sizes were interpreted.

Results: The descriptive data from the students indicated a very high level of interest in cources offered by the KJP. The vast majority (n = 82, 90.1%) rated learning videos as a useful addition to traditional classroom teaching and many students would prefer video recordings in the form of individual patient cases and their increased use in courses. All surveyed lecturers uniformly rated learning videos as very useful for their teaching sessions and would record videos themselves. However, hypothesis testing revealed no correlation between the perceived usefulness (useful addition to traditional classroom teaching, support during studies) and the intention to use videos (p = .237/.228). The examination of the influence of the external variable "perceived relevance" on perceived usefulness yielded a significant result (p = .033), indicating that students who consider the eLearning concept to be more relevant for exam preparation are more likely to think that the eLearning program can support them in their studies.

Conclusions: Overall, the findings illustrate the need to combine digital media and knowledge transfer, the positive attitude towards the eLearning concept, and the potential of patient video recordings as a digitalization tool in the realm of study and teaching. Practical implementation steps have already been taken, particularly in relation to the content concept with the HOSPIDEO-Videobox in the form of patient videos. Future research endeavors should consider moderator variables such as the level of experience, as well as other external variables like subjective norms. Additionally, the sample should also be more representative to enhance the generalizability of research results. The establishment of a video database or the implementation of online examinations based on the content of the videos would be further developments that need to be reviewed.

Study 2 Background and research questions: As an objective documentation and analysis aid, video recordings offer many potential benefits for psychotherapeutic diagnostics, treatment and research, including for children and adolescents. The aim of the study was to evaluate the effectiveness and establishment of the HOSPIDEO-Videobox in child and adolescent psychiatric treatment. The central question was whether the advantages of video use in a child and adolescent psychiatric contexts can also be realised with the HOSPIDEO-Videobox and whether this can result in added value for therapeutic treatment and ward rounds, with the goal of optimizing and improving the quality of patient care.

Method: The monocentric pilot study was an intervention study in a randomised controlled design. An experimental/video group (“Versuchs-/Videogruppe”; VG) was compared with a control group (“Kontrollgruppe”, KG; Treatment as Usual, TAU: interview with audio recording) as a two-stage independent variable. In the anamnesis session, the patients answered questions in front of the HOSPIDEO-Videobox (VG) or in personal contact with their therapist (KG). In the subsequent therapy session, these answers were discussed/reviewed as part of individual therapy. The videos were also shown as part of the patient presentation during the ward round. The sample comprised N = 31 children and adolescents aged 9-17 years who were in (partial) inpatient treatment at the child and adolescent mental health department. The mood (pre-post anamnesis session/therapy session), response behaviour (comprehensiveness and response latency) and depth of response as well as the added value for therapy and ward round were recorded in standardised questionnaires for patients, therapists and the team as well as using objective measurement methods. The statistical analyses were carried out using mean value comparisons (Mann-Whitney-U-Tests) and analyses with repeated measures (Wilcoxon-Tests and mixed ANOVAs).

Results: The group comparisons of response behaviour, depth of response and added value for the therapy showed no significant differences between the VG and the KG (p = .150 to .950). However, there was a small effect on an average higher assessment of the added value for the therapy in the VG (d = 0.44). A statistical trend showed lower mood scores in the KG than in the VG after the anamnesis session (p = .090). There were significant mood differences between the VG and the KG both before and after the therapy session (p = .050/.030). The negative effect of the therapy session on mood was small in the VG and medium in the KG (r = 0.19/0.40). When comparing the difference values for mood change, small effect sizes indicate that the deterioration in mood during anamnesis and therapy sessions was more pronounced in the KG (d = 0.45/0.37). The results of the mixed ANOVA showed no statistically significant changes in mood for either the anamnesis or the therapy session (main effect time p = .350/.110; main effect group p = .140/.380). The interaction effect of time * group for the therapy session (p = .060), which tends to be statistically significant, showed with a high effect size (ɳ2 = .150) in the post-hoc test, that the decrease in mood was only significant for the KG. A high added value was attributed to the use of autonomous video recordings in the ward round. The feasibility of both the video recording and the use of the produced videos in therapy and ward rounds is sufficiently established.

Conclusions: In the future, methodological expansion und supplementation of psychotherapy with the digital communication tool should be continued and reviewed and the establishment of the HOSPIDEO-Videobox in psychiatric treatment practice should be accelerated. Research should prioritise investigating age and gender effects, as well as the underlying symptomatology and influencing variables on effectiveness. Furthermore, it is advisable to consider control groups for both the group participating in the ward round and for the video presentation during the ward rounds. Practical relevant effects should be tested for significance in a larger sample.

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