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ADB:Philipp (Graf von Flandern)

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Artikel „Philipp, Graf von Flandern“ von Alexander Cartellieri in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 50–53, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Philipp_(Graf_von_Flandern)&oldid=- (Version vom 13. Dezember 2024, 01:47 Uhr UTC)
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Philipp, Graf von Flandern, aus dem Hause Elsaß, war der zweite Sohn aus der 1134 geschlossenen Ehe des Grafen Dietrich mit Sibylle, Tochter des Grafen Fulko V. von Anjou, späteren König von Jerusalem († 1144). Daß er eine vortreffliche Erziehung erhielt, ist Alles, was wir von seiner Jugend wissen. Selbst sein Geburtsjahr steht nicht fest: im Mai 1157 heißt es von ihm, er sei noch unter fünfzehn Jahren gewesen. Infolgedessen müßte er nach dem Sommer 1142 geboren sein. 1145 wird zum ersten Male seiner Zustimmung in einer Urkunde seines Vaters gedacht. Sehr früh nahm er an den Regierungsgeschäften theil: er urkundete 1158 und 1159 ganz selbständig als Graf, während Dietrich im heiligen Lande weilte. In Fehden zeichnete er sich trotz seines jugendlichen Alters aus. Der bedeutendste Gegner Flanderns war damals Graf Floris III. von Holland. Der Grund zu Streitigkeiten zwischen den beiden benachbarten Fürsten lag im allgemeinen in beiderseitigen Ansprüchen auf Zeeland und im besonderen in der Behandlung flandrischer Kaufleute durch Holländer. Mehrere Jahre hindurch führte Ph. glückliche Unternehmungen zur See aus, hielt seinen Gegner längere Zeit gefangen und nöthigte ihn 1168 zum Vertrage von Hedensee. Floris nahm Zeeland von Flandern zu Lehen und ertheilte den flandrischen Kaufleuten Vergünstigungen. Inzwischen (1163 und 1164) war Dietrich wieder in Palästina gewesen und hatte seinem Sohne Gelegenheit gegeben, sich durch treffliche Wahrung des [51] Landfriedens weit und breit einen Namen zu machen. P. zog jetzt (1165) die zum kaiserlichen Flandern gehörige Grafschaft Aelst als heimgefallenes Lehen ein. Zu Weihnachten desselben Jahres ging er nach Aachen und leistete dem Kaiser Mannschaft. Es handelte sich dabei auch um die Burggrafschaft von Kamerich, die lange Anlaß zu blutigen Kämpfen zwischen dem Bischofe und dem Grafen gegeben hatte. In der Kaiserin Beatrix, deren Mutter Agathe seine Base war, gewann Philipp eine warme Fürsprecherin am Hofe Friedrich’s I. Viel bedeutender, da der Schwerpunkt der flandrischen Stellung nicht auf deutschem, sondern auf französischem Boden lag, war die Erwerbung der Grafschaft Vermandois mit Valois und Amiénois, wodurch P. bis in die Nähe von Paris gebot. Er hatte 1156 Elisabeth von Vermandois geheirathet und sich noch bei Lebzeiten ihres Bruders, des aussätzigen Grafen Radulf II. († 1163/64), der Herrschaft bemächtigt. Dietrich kümmerte sich so wenig um die Regierung, daß sein Tod am 4. Januar 1168 kaum etwas änderte. P. gehörte zu den bedeutendsten Vasallen Frankreichs und genoß auch in Deutschland als Reichsfürst großes Ansehen. Seine Schwester Margarete verheirathete er im April 1169 mit dem Grafen Balduin V. von Hennegau[WS 1] und schloß mit ihm ein enges Bündniß. Mit dem Hause Champagne knüpfte er 1171 Familienbeziehungen an. König Heinrich II. von England war sein Vetter. Als Jung Heinrich sich gegen seinen Vater empörte, im J. 1173, unterstützte ihn Philipp, errang aber keinen kriegerischen Ruhm. Wie er schon 1170 eine Wallfahrt nach Saint-Gilles und Rocamadour gemacht hatte, so trieb es ihn nach den heiligen Stätten Palästinas, und er nahm am 11. April 1175 sammt vielen Großen das Kreuz. Aber die Ausführung seines Gelübdes wurde theils durch politische Rücksichten auf England, theils durch innere Kämpfe verzögert. Diese hatten ihre Ursache in einer Eheirrung des Grafen. Ein durch Tüchtigkeit und Wissen hervorragender Ritter, Walther von Fontaine, hatte Beziehungen zu der Gräfin, die den Verdacht Philipp’s erregten. Er überraschte die Liebenden und ließ Walther grausam umbringen. Die Verwandten und Freunde des Getödteten, unter ihnen ein so gewaltiger Streiter wie Jakob von Avesnes, erhoben sich, um Rache zu nehmen, und erst Pfingsten 1177 (12. Juni) konnte Ph. wirklich aufbrechen.

Er wurde im Königreiche Jerusalem sehr ehrenvoll empfangen, und es war die Rede davon, daß er die Regierung des schwachen Staates übernehmen sollte. Aber er wollte nicht, verwickelte sich bald in die Streitigkeiten der dortigen Christen und schiffte sich, als die Belagerung von Harem gescheitert war, nach Ostern (9. April) 1178 nach Constantinopel ein, um auf dem Landwege heimzukehren. Im October weilte er in Brügge. Mit der Erkrankung König Ludwig’s VII. von Frankreich und der Krönung Philipp August’s im J. 1179 trat Graf Ph. als leitender Staatsmann in den Vordergrund der französischen Geschichte. Er übte den entscheidenden Einfluß auf den jungen Herrscher aus und vermählte ihm seine Nichte Isabella von Hennegau. Für den Fall seines Todes versprach er die Abtrennung flandrischer Gebiete, der später so genannten Grafschaft Artois.

Durch Heinrich II. im Juni 1180 aus seiner Stellung verdrängt, näherte er sich dem zeitweilig bekämpften Hause Champagne und brachte einen der Krone gefährlichen Fürstenbund zu Stande. Philipp August wäre ohne die thatkräftige Hülfe Englands unterlegen, um so mehr als die Haltung des Deutschen Reiches zweifelhaft war. Der römische König, Heinrich VI., neigte zum Eingreifen in Frankreich. Aber Kaiser Friedrich wollte davon nichts wissen, solange dem Grafen nicht offenbar Unrecht geschehe, und zügelte den Kriegseifer seines Sohnes. Schließlich blieb Ph. auf sich selber angewiesen und [52] unterlag. In verschiedenen Verträgen, La Grange Saint-Arnoul am 11. April 1182, Boves gegen Ende Juli 1185, Amiens im März 1186, verlor er, da seine Gemahlin am 26. März 1182 gestorben war, Valois und Amiénois, behielt jedoch einen Theil von Vermandois. Philipp’s erste Ehe war kinderlos geblieben. Im August 1184 hatte er Mathilde von Portugal geheirathet und widmete der sehr schönen und auf ihren königlichen Rang stolzen Prinzessin eine zärtliche Liebe. Dadurch daß er ihr ein außergewöhnlich großes Wittum aussetzte, verletzte er die Bestimmungen seines Vertrages mit Frankreich und entfremdete sich seine erbberechtigte, hennegauische Schwester. In den nächsten Jahren gab er seinen offenen Gegensatz gegen die französische Krone auf. In den französisch-englischen Kämpfen wurde er als geschickter Vermittler geschätzt, wobei ihm eine außerordentliche Redegabe zu statten kam.

Nach der Eroberung Jerusalems durch Saladin nahm er am 21. Januar 1188 zu Gisors abermals das Kreuz. Bemerkenswerth ist, daß er im Gefolge des römischen Königs südwärts zog, um durch sein überaus stattliches Aufgebot den Glanz der bevorstehenden Kaiserkrönung zu erhöhen. Daraus wurde nichts. Aber es war wesentlich Philipp’s Verdienst, daß der heftige Zwist zwischen Philipp August und Richard Löwenherz in Messina beigelegt wurde. Die Belagerung Akkons konnte er nicht mehr wirksam fördern. Gerühmt werden die Wurfmaschinen, die er bauen ließ. Um den 20. April 1191 im Lager angekommen, starb er am 1. Juni, vermuthlich an einer der Seuchen, die das christliche Lager heimsuchten. Letztwillig bedachte er noch seine nothleidenden Kampfgenossen. Seine Gebeine wurden auf dem Nikolausfriedhof im Osten der Stadt, später aber durch seine Wittwe in einer von ihm selbst gestifteten Capelle zu Clairvaux beigesetzt. Der Schmerz der Christen, die Freude der Sarazenen zeigten deutlich, was man von ihm hoffte und fürchtete. P. war unbedingt eine der glänzendsten Erscheinungen unter den Fürsten seiner Zeit, ein schöner und fein gebildeter Mann, so recht nach dem höfischen Ideal der fahrenden Sänger, in allen ritterlichen Künsten wol erfahren und für junge Leute vorbildlich. Spielleute verglichen ihn wol mit Alexander dem Großen. Sonst hob man seine Fürsorge für die Armen, seine Verehrung des geistlichen Standes, den er vor den Uebergriffen der Laien schützte, seine strenge Rechtspflege hervor.

Der Kirche war er treu ergeben und verfolgte Ketzer. Geistliche Genossenschaften bedachte er sehr freigebig. Mit Thomas Becket fühlte er sich eng verbunden. Der Abt des Prämonstratenserklosters Bonne-Espérance, Philipp von Harvengt, schrieb ihm vertrauliche Briefe voll guter Lehren, desgleichen die heil. Hildegard von Bingen über den Kreuzzug. Dichtern gewährte er an seinem Hofe gastliche Aufnahme. Dem bekannten Christian von Troyes lieh er die Vorlage zu dessen Parzival und bekam dafür mehrere Werke gewidmet. Schon daraus geht hervor, daß er ganz der französischen Cultur angehörte, wenn er auch politisch gern zum deutschen Kaiserthum hielt. Auf die wirthschaftliche Hebung seines Landes war er immer bedacht, verschaffte seinen Kaufleuten überall günstige Absatzgelegenheiten. Aber es ist nicht richtig, ihn gerade als Beschützer der Communen zu feiern. Er unterwarf sie harter Polizeigewalt, weil er in ihnen ein Hinderniß seiner monarchischen Pläne erblickte. Damit berühren wir sein letztes Ziel: die Einigung der zwischen Frankreich und Deutschland liegenden Gebiete zu einem Staate unter seiner Herrschaft. Dann hätte er ebenbürtig neben den Kaiser und die Könige treten können. Man darf ihn wol einen Vorläufer der burgundischen Herzöge aus dem Hause Valois nennen. Hätte er länger gelebt, so würde er den Aufschwung Frankreichs, die Umwandlung des lose gefügten Lehensverbandes in einen Beamtenstaat im Bunde [53] mit Deutschland gehindert haben. Sein Tod beschwor für Flandern große Gefahren herauf, namentlich infolge jener Abtretung von Artois und des Mathildischen Witthums. Ist auch ein abschließendes Urtheil über ihn heute nicht möglich, so kann man doch sagen, daß die Bedeutung seiner Persönlichkeit größer ist als die der thatsächlichen Ergebnisse seiner Regierung.

Eine kritische Biographie steht noch aus. – Hauptquellen sind die Kamericher Annalen des Lambert von Waterlos bis 1170; die Aufzeichnungen aus Anchin; die Genealogiae comitum Flandriae, namentlich die sogenannte Flandria generosa; Gislebert’s Chronik mit den inhaltreichen Erläuterungen Vanderkinderes. – Aeltere Litteratur gibt Chevalier in der Bio-Bibliographie. Der Aufsatz von de Smet steht auch im 2. Bd. des Recueil seiner Mémoires (1864). Neben dem älteren Werke von Warnkönig kommt vor allem in Betracht Pirenne, Histoire de Belgique, die zuerst deutsch erschienen ist; desselben Artikel in der Biographie nationale de Belgique Bd. 17, dann als grundlegend für alle territorialen Fragen Vanderkindere, La formation territoriale des principautés belges; dazu desselben Aufsatz im Bull. de l’Acad. de Belgique, Cl. d. lettres 1905 über die Communalpolitik. Das Verhältniß Philipp’s zu König Philipp August ist eingehend behandelt von Cartellieri, Philipp II. August, Bd. 1 (1899/1900) und 2 (1906), mit zahlreichen Litteraturangaben. Vgl. auch die Biographie Balduin’s V. von Ludwig König. Die Urkunden sind – aber nicht sorgfältig genug – gesammelt von Wauters, auf dessen Libertés communales (1878) gleichzeitig hinzuweisen ist.[1]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 53. Z. 23 v. o.: Erst nach dem Druck wurde mir zugänglich: H. Coppieters-Stochove, Régestes de Philippe d’Alsace, Gand 1906. Extrait des Annales de la Société d’histoire et d’archéologie de Gand. t. 7. Vgl. dazu V. Fris in den Archives belges 9 (1907), Nr. 3. [Bd. 55, S. 901]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. dem Vater von Kaiser Balduin