2014 Book VerantwortungVonIngenieurinnen
2014 Book VerantwortungVonIngenieurinnen
Verantwortung
von Ingenieurinnen
und Ingenieuren
Herausgeber
Lutz Hieber Hans-Ullrich Kammeyer
Universität Hannover Ingenieurkammer Niedersachsen (Hannover)
Deutschland und Bundesingenieurkammer (Berlin)
Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Inhalt
Teil I: Grundsätzliches
Hans-Ullrich Kammeyer
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Harald Noske
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . 39
Rainer Heimsch
Nachhaltigkeit als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Lutz Hieber
Technische Aspekte der Risikogesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Wolfgang Mathis
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure . . . . . . . . 77
6 Inhalt
Gerhard Wegner
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren . . . . . . . . 85
Peter Nickl
Risikogesellschaft und die German Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Peter Schaumann
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Jörg Seume
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs . . . . . . 113
Heyno Garbe
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? . . . . . . 121
Jürgen Meins
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme:
Magnetschwebetechnik als exemplarischer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Manfred Krafczyk
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse
und Prognose von Ingenieursystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Bernd Meinerzhagen
Verantwortung in der Lehre. Zwei Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Heike Horeschi
Sensibilisierung für die Dimensionen
der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Inhalt 7
Bernd Schulz-Forberg
Qualitätsmerkmal technische Sicherheit
als Basis für eine moderne Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Peter Hecker
Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt . . . . . . . . . . . . 191
Hans-Hermann Prüser
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse
relevant sein kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
Hanspeter Boos
Energiecontrolling: Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik . . . . . . . . . . 215
Hero Weber
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens. Messtechnische Aspekte
beim Prüfen geometrischer Toleranzen in der Fertigungsmesstechnik . . . . . 221
Hans-Ullrich Kammeyer
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
Ingenieurinnen und Ingenieure tragen oft hohe Verantwortung. Wer eine Stahlkon-
struktion gestaltet, sich mit Grenzwerten elektromagnetischer Strahlung beschäftigt
oder eine Maschine entwirft, bewegt sich nicht nur im Feld der » exakten « Wissenschaf-
ten. Solche Tätigkeiten erfordern individuelle Wertungen. Nicht nur die harten Fakten
sind zu bedenken. Neben ökonomischen werden immer wieder ökologische, medizini-
sche, soziale, psychologische, kulturelle und politische Aspekte für die Ingenieurtätig-
keit relevant. Eine Stahlkonstruktion soll sicher gebaut sein, Strahlung darf Menschen
nicht gefährden, eine Maschine soll im Produktionsprozess problemlos funktionieren,
und außerdem sind Grundsätze der Nachhaltigkeit und Bedürfnisse beteiligter Men-
schen zu beachten. In diesem Sinne bestehen Parallelen zu anderen Berufsgruppen,
deren Tätigkeiten unmittelbar für menschliches und gesellschaftliches Befinden rele-
vant sind.
Der Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren kommt gesellschaftlich si-
cher ebenso große Bedeutung zu wie der Verantwortung von Ärzten. Doch das tech-
nische Denken ist nicht in derselben Weise mit Wertorientierungen durchflochten wie
medizinisches Denken und ärztliche Praxis. In der ärztlichen Praxis steht der Mensch
unmittelbar im Fokus des Handelns, während das technische Denken abstraktere Be-
trachtungen von unmittelbaren und mittelbaren Gefährdungen im Fokus hat. Im me-
dizinischen Feld steht zwar das Naturwissenschaftliche im Zentrum, doch in vielen Zu-
sammenhängen wird Verantwortung angesprochen – dieses Thema ist durchgehend in
der Berufspraxis präsent.
Für Ingenieure liegen die Verhältnisse jedoch anders, und zwar aufgrund der bis-
lang vorherrschenden Fachkultur. Ähnlich wie die Mediziner spüren auch Ingenieure
immer wieder den Druck der Verantwortlichkeit. Da ihr Denken indes durch einen all-
gemeinen Objektivitätsanspruch imprägniert scheint, schwebt dieses Thema oft gleich-
sam unverbunden neben dem fachlichen Diskurs. Deshalb bleibt es von der Berufswelt
abgekoppelt und gerät auf diese Weise gewissermaßen in die Nähe von Privatangele-
genheiten, die nach Gutdünken entschieden werden. Dieser Zustand ist nicht zufrie-
denstellend. Die gegebenen Verhältnisse müssen aber durchaus nicht so bleiben, wie sie
gegenwärtig sind.
Zu kurz gegriffen wäre allerdings, das Problem der Verantwortung von Ingenieurin-
nen und Ingenieuren zu bewältigen, indem man es an die nach eigenem Verständnis für
moralische Fragen zuständigen Fachwissenschaften (Philosophie, Theologie oder So-
zialwissenschaften) abgäbe. Denn auf der Hand liegt, dass diese Disziplinen nur von
außen, also ohne angemessenen technisch-naturwissenschaftlichen Sachverstand, auf
die konkreten Problemstellungen der Ingenieure blicken können. Deshalb verbietet
sich ein bloßes Abschieben des Themas der Verantwortlichkeit auf diese Gruppe von
Ethik-Spezialisten. Und aus denselben Gründen verbietet es sich, Verantwortung für
technische Entwicklungen an die politischen Entscheidungsträger zu delegieren. Viel-
mehr muss es darum gehen, ganz ähnlich wie im Feld der Medizin, ein Bewusstsein für
Verantwortlichkeiten unmittelbar mit dem Beruflichen zu verknüpfen, um in konkre-
ten Fällen zu angemessenen Entscheidungen zu gelangen. So sind beispielsweise die
medizinischen Studiengänge nicht ausschließlich auf die Aneignung von Fachwissen
ausgerichtet, sondern ständig fließen auch gesellschaftliche Fragestellungen und Wert-
orientierungen ein. Ganz ähnlich erscheint es möglich, den ausschließlich technisch-
naturwissenschaftlichen Rationalismus der technischen Ausbildung im Hinblick auf
eine Sensibilisierung für Verantwortlichkeit zu erweitern. Und genau diese Sensibili-
sierung ist wichtig, weil nur Ingenieurinnen und Ingenieure eine angemessene fachliche
Beurteilungskompetenz besitzen.
Für das Spektrum der Ingenieurberufe kann also – ähnlich wie für die Medizin – die
Diskussion um Verantwortlichkeit weder auf Geistes- und Sozialwissenschaften noch
auf die Politik abgeschoben werden, weil dort eben entsprechender ingenieurwissen-
schaftlicher Sachverstand nur unzureichend vorhanden ist. Deshalb hat die Ingenieur-
kammer Niedersachsen das Thema aufgegriffen, das vermeintlich Fachfremde mit dem
fachlichen Diskurs zu verbinden. In diesem Zusammenhang wurden drei Symposien
durchgeführt, die an der Leibniz Universität Hannover, an der Technischen Universität
Braunschweig und an der Jade Hochschule in Oldenburg stattfanden. Zielsetzung war
das Sichtbarmachen ganzheitlicher Betrachtungen von Wirkungssystemen und der Ver-
such einer Synthese von fachlichen, ökonomischen und ethischen Aspekten. Die Inge-
nieurinnen und Ingenieure aus den Bereichen des Maschinenbaus, der Elektrotechnik
und dem Bauingenieurwesen trugen ihre Sichtweise zur Verantwortung in ihren Ar-
beitsfeldern vor, und sie diskutierten fächerübergreifend. Sie entwickelten aus ihrer be-
ruflichen Praxis hilfreiche Ansätze für verantwortungsbewusstes Denken und Handeln,
das sich selbstverständlich aus dem Kontext ihrer konkreten Arbeitsgebiete ergab. Da
sie Probleme ihrer beruflichen Praxis ansprachen, die nur durch umsichtiges Denken
und Handeln vermieden werden können, gelang es ihnen, Hinweise für das Vermeiden
problematischer Entscheidungen zu entwickeln.
Einleitung 11
nicht jedem Einzelnen gleichermaßen möglich scheint, verweist auch darauf, dass es
unerlässlich ist, genau dieses Thema stärker in die Aus- und Weiterbildungsgänge einzu-
beziehen. Denn indem Dimensionen verantwortlichen Handelns zum Bestandteil fach-
spezifischer Sozialisation werden, erhalten sie im Ingenieur-Denken stärkere Präsenz
und können nach und nach zu etwas Selbstverständlichem werden.
Die Beiträge, die Ingenieurinnen und Ingenieure der unterschiedlichen Fachrich-
tungen und auch die Geistes- und Sozialwissenschaftler im Rahmen der Symposien
präsentierten, sind im vorliegenden Band zusammengefasst. Das Buch ist auf den Ge-
brauch in der ingenieurwissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung zugeschnitten. Da
wir uns bewusst sind, dass es nicht ausreicht, die Ausbildung von Ingenieurinnen und
Ingenieuren durch eine moralische Fassade aufzupeppen, beispielsweise durch eine zu-
sätzliche Vorlesung zur Ingenieur-Ethik, setzten wir grundlegend an: eben am Fach-
wissen. Das Buch verfolgt das Ziel, bereits studienbegleitend gangbare Pfade durch den
Wald der Formeln und Fakten zu legen, um den Ingenieurinnen und Ingenieuren zu
ermöglichen, ihre späteren beruflichen Tätigkeiten in gesellschaftlich verantwortungs-
voller Weise zu reflektieren. Darüber hinaus bietet es fundierte Ansätze aus den Geistes-
und Sozialwissenschaften, um die unmittelbar aus der Ingenieurtätigkeit erwachsenden
Überlegungen zu ergänzen und zu vertiefen. Das macht es auch für eine Selbstreflexion
derer, die im Ingenieurberuf stehen, geeignet. Dies Buch bietet also, durch die fachliche
Bandbreite der Beiträge und die Fundierung in der Ingenieurpraxis, die solide Grund-
lage einer Ethik des Ingenieurberufs in unserer kompliziert gewordenen technisch-in-
dustriellen Welt.
Teil I
Grundsätzliches
Verantwortung kennen oder
Verantwortung übernehmen ?
Theoretische Technikethik und angewandte Ingenieurethik
Der Begriff » Verantwortung « hat aus Gründen, die noch zu diskutieren sein werden,
auch und gerade vor dem Hintergrund einer zunehmend technologisierten Welt in den
letzten drei Jahrzehnten eine ebenso beeindruckende wie besorgniserregende Karriere
erlebt. In solchen Fällen drängt sich immer die bange ideologiekritische Frage auf, die
seit einem Jahrzehnt ihren Ausdruck in Harry Frankfurts inzwischen fast schon kano-
nisch zu nennender Vulgärformel gefunden hat: Handelt es sich dabei um ein » bull-
shit-Wort «1, also um eines jener beliebten omnipräsenten Füllwörter, die letztlich nichts
aussagen, weil sie sich nicht hinreichend konkretisieren lassen und mit denen man sich
prächtig durchmogeln kann ?
Um diesen Verdacht auszuschließen, ist es hilfreich, sich um die praktische Relevanz
in Form der Konkretisierbarkeit dieses Begriffs zu kümmern2, und das heißt hier: den
abstrakten Beriff » Verantwortung « zu kontextualisieren, anders: über die Differenz von
» Verantwortung kennen « und » Verantwortung übernehmen « nachzudenken.
Die Frage, ob (und wenn ja: in welcher Weise) Menschen auch für etwas verant-
wortlich sein können, das sie weder gewollt haben noch auch haben voraussehen kön-
nen, war im römischen Recht noch eindeutig negativ dahingehend entschieden, dass
man nicht verpflichtet sei, etwas zu tun, das man nicht tun könne (» ultra posse nemo
1 H. G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt a. M. 2006; vgl. W. Ch. Zimmerli/S. Wolf, » Außenansichten – oder
warum Spurwechsel so wichtig sind «, in: dies. (Hrsg.), Spurwechsel. Wirtschaft weiter denken, Hamburg
2006, 7 – 12, bes. 8 ff.; R. Dahrendorf, » Versuch und Irrtum. Das Prinzip Verantwortung im Kapitalis-
mus «, ebd. 171 – 184.
2 Vgl. hierzu und im Folgenden auch eine meiner früheren Studien, die im Zusammenhang eines Inge-
nieurkammer-Projekts anlässlich der im Jahr 2000 in Hannover durchgeführten EXPO entstanden ist:
Walther Ch. Zimmerli, » Ethik in der Technik – überfällig oder überflüssig ? «, in: ders. (Hrsg.), Ethik in
der Praxis. Wege zur Realisierung einer Technikethik, Hannover 1998, 13 – 29.
obligatur «3). Unter Bedingungen eines an den Erfahrungen mit der Technikfolgenfor-
schung und -abschätzung geschulten spätmodernen Technikverständnisses scheint das
nicht mehr (oder jedenfalls: nicht mehr in jeder Hinsicht) uneingeschränkt selbstver-
ständlich zu sein. Zum einen ist daran zu erinnern, dass rechtliche und ethische Nor-
men zwar verwandt, aber nicht identisch sind. Zum anderen haben sich aber nicht
nur in der Ethik selbst (ebenso wie im Recht) allerhand Veränderungen ergeben, son-
dern insbesondere auch das hier anstehende Anwendungsgebiet, die Technik, ist gera-
dezu durch konstanten dynamischen Wandel charakterisiert. Die Binsenweisheit, dass
Technik die Welt verändert, gewinnt eine neue Dimension in dem Maße, in dem Tech-
nik rekursiv wird, und daraus erklärt sich auch die zunehmende Geschwindigkeit die-
ses Wandels.
Kurz: Nicht nur die Technik verändert sich mit zunehmender Geschwindigkeit, son-
dern auch die Ethik unterliegt einem Wandel, und es wird zu zeigen sein, wie der Wan-
del in der Ethik mit demjenigen in der Technik zusammenhängt. Im Folgenden soll
das – eher exemplarisch als systematisch – in vier Schritten versucht werden: In einem
ersten Argumentationsgang soll typologisch skizziert werden, wie es von dem Technik-
verständnis der frühen Neuzeit zu der gegenwärtigen Auffassung einer reflexiven Tech-
nologie kommen konnte (1). Der nächste Durchgang wird reziprok der Frage nach der
Entwicklung des Verantwortungsbegriffs in Interaktion mit den verschiedenen Technik-
typen gelten (2). Damit sind die Voraussetzungen bereit gestellt, um den Übergang von
theoretischer Ethik zur Angewandten Ethik herauszuarbeiten (3), um vor diesem Hin-
tergrund die Ingenieurethik als einen konkreten Fall dieser Hinwendung zur anwen-
dungsorientierten Ethik bis hin zu den Instrumenten einer professionellen Ethik des
Berufsstandes der Ingenieure in ihrer Orientierung am Dissens darzustellen (4).
1 Technikentwicklung
Wie Friedrich Nietzsche bereits festgestellt hat4, tendieren wir Menschen dazu, uns dem
Zwang der zu Begriffen geronnenen Metaphern auszuliefern und unser Denken von
diesen Verdinglichungen beherrschen zu lassen. Das gilt in starkem Maße auch für den
Begriff » Technik «. Zwar sagen uns alle Analysen, dass sich Technik, längst zu Techno-
logie geworden, derzeit nicht nur auf dem Weg in ein nachmodernes Zeitalter befindet,
sondern selbst auch als einer der Haupttreiber dieses Prozesses wirkt. Nichtsdestowe-
niger ist unser Denken von Technik (und auch von Mensch, Natur und Kultur) immer
noch an traditionell substantialistischen Modellen orientiert, so als ob sie, selbst wenn
3 Digesten 50,17,185.
4 F. Nietzsche, » Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne «, in: ders., Sämtliche Werke. Kri-
tische Studienausgabe Bd. 1, München/Berlin 1980, 88 f. et passim.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 17
sie sich wandelt, substanziell das bliebe, was sie » ihrem Wesen nach und eigentlich « ist.
Und eben daraus erklärt sich der jahrhundertelange » Streit um die Technik «5, der – bei
Lichte besehen – weitgehend obsolet ist.
Ein anderes, der Gegenwart angemesseneres und flexibleres Modell versteht alle Be-
griffe, und in unserem Falle ganz besonders die Begriffe » Technik «, » Mensch «, » Na-
tur « und » Kultur « als Knotenpunkte in einem dichten Netzwerk6, die sich gegenseitig
funktional definieren. Konkreter: Unter Verwendung unterschiedlich weit entwickel-
ter Werkzeuge verändern die Menschen die Natur so, dass sie ihr materielle wie ideelle
Werte abgewinnen können. Die auf diese Weise gesellschaftlich wie geschichtlich unter-
schiedliche Weise des Veränderns nennen wir » Kultur «, und so ist es denn auch nicht
weiter verwunderlich, wenn von » Technologie als Kultur «7 die Rede sein kann.
Im Folgenden sei auf eine Typologie zurückgegriffen, die, an anderer Stelle ausführ-
licher entwickelt8, die funktionale Dynamik der Entwicklung von Technik zu Techno-
logie in vier Stufen an der Differenz der Beziehungsmuster von Mensch, Technik, Natur
und Kultur eher illustriert als analysiert: Dieser Typologie zufolge lässt sich die Entwick-
lung der neuzeitlichen europäischen Technik, die von allem Anbeginn an einen engen
Zusammenhang zu derjenigen der Wissenschaft hatte, ohne jedoch mit dieser zusam-
menzufallen, in vier Stufen mit jeweils korrespondierenden Typen unterteilen. Dabei ist
festzuhalten, dass sich diese Stufen nicht trennscharf ablösen, sondern durchaus auch
überlagern können, – ja: es finden sich palimpsestartig durchaus auch Überschreibun-
gen der verschiedenen Typen, so dass es auf jeder Stufe eine Art Koexistenz mit tiefer
liegenden Relikten früherer Stufen gibt:
Das erste Beziehungsmuster von Mensch, Natur, Kultur und Technik ist geprägt
durch das, was ich den Judo-Typus nenne: Technik wird hier im Kontext der sich her-
ausbildenden neuzeitlichen Wissenschaften als menschliche Kunstfertigkeit verstanden,
die Natur durch die gezielten menschlichen Eingriffe so zu verändern, dass sie den In-
teressen der Menschen besser nützen kann. Im als Grundmodell unterstellten » Kampf «
der Menschen gegen die Natur bekämpfen die Menschen diese nicht durch frontalen
Angriff, sondern durch gezielten Einsatz der Naturkräfte selbst, in einer Formel von
Francis Bacon: » natura non nisi parendo vincitur «9. Der technikverwendende Mensch
der beginnenden Neuzeit versteht sich so zwar als » homo faber «, aber nach Maßgabe
der Natur, in die er eingreift, also » homo faber mensura naturae «.
Mit der industriellen Revolution entsteht ein neues Beziehungsmuster, das ich als
Reproduktions-Profit-Typus bezeichne. Nun wird nämlich Technik unter dem überwäl-
tigenden Eindruck, den die Umwälzung durch die industrielle Güterproduktion hinter-
lässt, durch den Verwertungszusammenhang der industriell gefertigten Produkte defi-
niert. Aufgrund der Eigenschaften der » großen Maschinerie « werden nämlich jetzt die
Produkte maschinell nahezu identisch reproduzierbar. Dadurch aber wird die Technik
zugleich zu einer der notwendigen Bedingungen einer gewinnorientierten Ökonomie,
die auf Massenproduktion beruht (» economy of scale «). Aufgrund eben der Eigenschaf-
ten der industriellen Produktion, die die massenhafte Herstellung identischer Güter er-
laubt, wird aber – und darauf hat niemand deutlicher hingewiesen als Karl Marx10 – der
einzelne Arbeiter austauschbar, da er nicht mehr durch seine spezifische handwerkliche
Kunstfertigkeit definiert ist. Das wiederum bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf das so-
zioökonomische System, innerhalb dessen sich das ereignet, und damit auch auf das
Selbst- und Fremdverständnis der beteiligten Menschen und deren Kultur. Es resultiert
die Vorstellung eines » homo faber «, der dadurch definiert ist, dass er haushälterisch auf
die Bilanzen seines auf massenhafte Reproduzierbarkeit angelegten Produzierens achtet:
der » homo faber oeconomicus «11.
Die oben bereits erwähnte Rekursivität wissenschaftlich induzierter oder mindestens
optimierter Technik findet ihren ersten manifesten Ausdruck in der zweiten, der wis-
senschaftlich-technischen Revolution, in der Wissenschaft, technisch vermittelt, selbst
zur Produktivkraft wird12. Das so entstehende Beziehungsmuster von Mensch, Natur,
Kultur und Technik nenne ich den Weißkittel-Typus. Eben dadurch dass Wissenschaft
selbst Produktivkraft wird, verändert sich auch das zuvor industriell geprägte Bild von
Technik: Statt ölverschmierter Monteure und Fabrikarbeiter mit Schraubenschlüsseln in
der Hand treten nun die Damen und Herren in weißen Kitteln, die die hochkomplizier-
ten digitalen Instrumente ablesen und interpretieren. Nur noch in wenigen Bereichen
sind Nicht-Techniker bzw. Nicht-Wissenschaftler überhaupt in der Lage, Korrekturen
oder gar Reparaturen der von ihnen benutzten technischen Systeme selbst vorzuneh-
men. Für homo faber bedeutet das, dass seine ursprüngliche und ihm wesenhaft zuzu-
schreibende Kompetenz, seine technische Welterfassung und -veränderung seinerseits
noch zu kontrollieren, zusehends schwindet; in dem Maße, in dem er zum » homo faber
scientificus « wird, transformiert er sich zugleich in den » homo faber ignorans «.
Und damit sind wir nun in der Gegenwart angelangt, in der Wissenschaft und Tech-
nik längst zur Technologie hybridisiert sind, und zwar in dem (zunehmenden) Maße, in
dem sich die rekursive Wendung diese Hybridisierung ihrer selbst in Gestalt der IuK-
10 K. Marx, Das Kapital I, Marx Engels Werke (MEW), Bd. 23, 508 ff. et passim.
11 Vgl. G. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, Tübingen 1991. Die übliche Diskussion um den » homo oeco-
nomicus « greift in der Regel zu kurz, da sie diese produktionstechnische Dimension vernachlässigt.
12 Beispielhaft für die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Systemwettstreit breit geführte Diskus-
sion vgl. E. Stölting, Wissenschaft als Produktivkraft. Die Wissenschaft als Moment des gesellschaftlichen
Arbeitsprozesses, München 1974.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 19
Technologie als Quertechnologie bedient. Damit ist verbunden, dass – seinerseits ver-
mittelt durch IuK-Technologie – der Traum von der Beherrschung und immer weiteren
Verbesserung der Welt durch Technologisierung immer weiterer Lebensbereiche aus-
geträumt ist, weswegen ich dieses Beziehungsmuster von Mensch, Natur, Kultur und
Technik als Aufwach-Typus bezeichne. Er ist charakterisiert durch eine zunehmende
Beschäftigung mit den (ungewollten) Folgen und Nebenfolgen, die die zunehmende
Technologisierung mit sich bringt. Es ist das zu verzeichnen, was man eine » reflexive
Wendung « nennen könnte, die sich von der Lebenswelt bis in die Wissenschaft hinein
durchzieht. Der Preis, den wir lebensweltlich für zusätzliche Komfortelemente techno-
logischer Art zu entrichten bereit sind, sinkt; wir mitteleuropäischen Menschen sind
zutiefst zerrissen und gespalten angesichts unserer ungewollten, aber immer weiter zu-
nehmenden Abhängigkeit von unseren Technologien, die zudem – NSA lässt grüßen –
auch zu einer zunehmenden Aufweichung der Sicherheit unserer Privatsphäre geführt
hat. Wissens-, wissenschafts- und technologietheoretisch wirkt sich das so aus, dass das
klassische wissenschaftliche Wissen vom Typus 1 immer stärker durch das reflexiv ge-
wendete Wissen vom Typus 213 überformt wird. Eine Befassung mit den verschiedenen
Formen des Nichtwissens scheint unabweisbar zu werden.14 So hat der bislang höchste
Fortschritt des Wissens invers einen fast nicht mehr steigerbaren Grad des Nichtwissens
herbeigeführt; und das ist nicht nur so, sondern wir wissen auch, dass es so ist: homo fa-
ber technologicus ist nicht nur weiterhin homo faber ignorans, sondern nun auch homo
faber doctus ignorans «.
2 Verantwortungsbegriff
Nachdem wir nun den Wandel des Technikverständnisses in der Neuzeit typologisch
rekonstruiert haben, wäre es zwar reizvoll, das auch in Bezug auf die Ethik und zumal
auf den in Bezug auf Technik in ihr dominierenden Verantwortungsbegriff zu tun, aber
das stieße auf zwei nicht so sehr ethische als vielmehr epistemologische Hindernisse:
Zum einen haben wir in unserem durch die deutschsprachige Ethik zumal eines Im-
manuel Kant geprägten moralischen Diskurs einen deontologischen Bias, soll heißen:
für uns ist eine Berücksichtigung der Folgen einer Handlung für die Ermittlung ihrer
Moralität nach wie vor eine vielleicht akademisch interessante, aber ethisch eher nach-
13 M. Gibbons/C. Limoges/H. Nowotny/S. Schwartzman/P. Scott/M. Trow, The New Production of Know-
ledge: the Dynamics of Science and Research in Contemporary Society, London 1994; H. Nowotny/
P. Scott/M. Gibbons, Re-thinking Science: Knowledge in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001. Vgl.
auch L. Hessels/H. von Lente, » Re-thinking New Knowledge Production: A Literature Review and a Re-
search Agenda «, in: Research Policy, vol. 37 (2008), 740 – 760.
14 Vgl. W. Ch. Zimmerli, » Weisheit in einer technologischen Zivilisation. Gedanken über Wahrheit, Glau-
ben und Wissen, Nichtwissen und Magie «, in: U. Nehmbach/H. Rusterholz/P. M. Zulehner (Hrsg.), In-
formationes Theologiae Europae, Frankfurt a. M. 2012, 173 – 186.
20 Walther Ch. Zimmerli
• Alles, was immer schon auf eine bestimmte Art und Weise gemacht worden ist, hat
sich bewährt und ist daher gut.
• X wurde immer schon auf diese bestimmte Art und Weise gemacht.
• Die Art und Weise, in der X gemacht wurde, hat sich bewährt und ist daher gut.
Man kann dies auch die » konservative Variante « des naturalistischen Fehlschlusses nen-
nen. Dieser korrespondiert reziprok die » progressive Variante «, nach dem syllogisti-
schen Muster:
• Alles, was immer schon auf eine bestimmte Art und Weise gemacht worden ist,
hemmt den Fortschritt und ist daher schlecht.
• X wurde immer schon auf diese bestimmte Art und Weise gemacht.
15 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frank-
furt a. M. 1979.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 21
• Die Art und Weise, in der X immer schon gemacht worden ist, hemmt den Fort-
schritt und ist daher schlecht.
An diesen beiden Extremfällen lässt sich eines zeigen: Im engeren Sinne handelt es sich
weder um einen Fehlschluss, noch ist er in anderer Hinsicht falsch und daher zu ver-
bieten. Ganz im Gegenteil: Beide Schlüsse sind formal korrekt und könnten nun hand-
lungstheoretisch auch noch als praktische Syllogismen rekonstruiert werden. Für un-
seren Zusammenhang wichtiger ist aber, dass in beiden Syllogismen Begriffe enthalten
sind, die man als Hybride von deskriptiven und präskriptiven Geltungsansprüchen ver-
stehen kann; ich meine die Begriffe » bewährt « und » fortschrittlich «.
Versucht man nun, diesen Befund genauer auf die Bedingungen seiner Möglichkeit
zu befragen, so kann man davon ausgehen, dass es gar nicht um den Dualismus von
Sein und Sollen, sondern um das geht, was diesen Dualismus erst ermöglicht. Und das
wiederum kann nicht seinerseits ein Dualismus sein. So betrachtet sieht es so aus, als ob
der Quellgrund oder die » Gabelung « des Seins in Sein und Sollen etwas mit dem das
Sein vom Sollen unterscheidenden Wesen, dem Menschen zu tun hätte. Anders formu-
liert: Wir Menschen führen die Sein-Sollen Differenz durch unserer sprachlich-gedank-
liche Auslegung in die Welt erst ein, indem wir einen deskriptiven und einen präskrip-
tiven Gestus unserer Weltauslegung einnehmen können. Nochmals anders formuliert:
In dem Maße, in dem wir die Welt, genauer: die Natur, als ein vielfach rückgekoppeltes
Netzwerk verstehen, lässt sich auch sagen, dass letztlich alles mit allem zusammenhängt.
Im deskriptiven Gestus führt das zu einem komplexeren Verständnis von Kausalität,
im präskriptiven Gestus zu einem anderen und ebenfalls komplexeren Verständnis von
Zuständigkeit oder Verantwortung. Kurz und formelhaft: Da in der Natur alles mit al-
lem zusammenhängt und da reflektierte Zusammenhänge dieser Art im präskriptiven
Gestus » Verantwortung « heißen, ist im Prinzip jeder für alles verantwortlich (Sartre16).
Vor diesem ontologischen Hintergrund stellt der Begriff » Verantwortung « so etwas
wie die im präskriptiven Gestus sprachlich gefasste reflexive Stufe dessen dar, was im
deskriptiven Gestus als bloßes Faktum der Relationalität im Netzwerk erscheint. Das
bedeutet aber, verantwortlich sein oder verantwortlich gemacht werden kann ein Hand-
lungssubjekt nur für solches, was in mehr oder minder starkem Maße von ihm abhängt
bzw. von ihm beeinflusst werden kann. Und das hat nun zur Folge, dass der Verantwor-
tungsbegriff sich zunächst nur auf die Folgen derjenigen Handlungen bezieht, an denen
der Mensch als Handlungssubjekt (oder Akteur) auslösend oder zumindest mit-auslö-
send beteiligt gewesen ist. Für solches von ihm Ausgelöstes oder Mit-Ausgelöstes muss
der Mensch als Handlungssubjekt Rede und Antwort stehen, eben: sich ver-antwort-en.
Dadurch wird der Mensch als Handlungssubjekt zugleich auch zum Verantwortungs-
16 J.-P. Sartre, » Ist der Existentialismus ein Humanismus ? «, 1946, dt. in ders., Drei Essays, Frankfurt/Ber-
lin/Wien 1979, 12 ff.
22 Walther Ch. Zimmerli
subjekt, und die an die Auslösungsbedingung geknüpfte Art von Verantwortung soll
» interne Verantwortung « heißen.
So weit trägt uns die ontologisch hinterlegte Analyse des Zusammenhangs von de-
skriptivem und präskriptiv reflektiertem Netzwerkparadigma und damit auch die theo-
retische oder reine Ethik. Nun aber ereignet sich der Einbruch der Technik in die Welt,
deren Entwicklung wir oben typologisiert haben. Mit der zunehmenden Ausdifferenzie-
rung und Hochspezialisierung der wissenschaftsinduzierten Technologie wächst auch
die Unüberschaubarkeitsvermutung gegenüber den Folgen der Anwendung von Tech-
nologien und mit ihr die Einsicht, dass eine Einschränkung der Verantwortung auf die
» interne Verantwortung « (s. o.) nicht mehr ausreicht und auch normativ nicht mehr zu-
lässig ist.
Um das besser verstehen zu können, sei nun der Verantwortungsbegriff einer ele-
mentaren sprachphilosophischen Analyse unterzogen, die uns fraglos helfen wird, der
ihrerseits hochkomplex gewordenen Untersuchung der Verantwortungsbeziehung wei-
ter zu folgen. Betrachten wir zu diesem Zwecke den Verantwortungsbegriff genauer, so
stellt sich heraus, dass er zwar beliebig viele begriffliche Facetten hat – begriffsanaly-
tisch formuliert: eine im Grundsatz n-stellige Relation ist –, dass es aber ein Minimaler-
fordernis gibt, um ihn zu bestimmen – erneut begriffsanalytisch formuliert: dass » Ver-
antwortlichsein « eine mindestens dreistellige Relation ist:
Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas oder jemanden (Verantwortungsbe-
reich) einer anderen Person oder Institution gegenüber (Verantwortungsinstanz) verant-
wortlich.
Alle drei, Instanz, Bereich und Subjekt der Verantwortung, haben sich im Verlauf
der Geschichte der neuzeitlichen Säkularisierung entscheidend verändert: An die Stelle
Gottes als universeller Verantwortungsinstanz tritt – jedenfalls zum Teil und jedenfalls
im Nordwesten – die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen in Gegenwart und Zukunft.
Der Verantwortungsbereich wird um die Menge neuer Handlungsmöglichkeiten linear
und in jüngerer Zeit durch deren Unterstützung durch die neuen Technologien expo-
nentiell erweitert.
Und daher stellt sich denn die in den vergangenen Jahren breit diskutierte Frage,
ob sich auch das Verantwortungssubjekt entsprechend verändert habe. Ausgehend von
der zutreffenden Beobachtung, dass es von den Unternehmen über Parteien und an-
dere Institutionen eine an Bedeutung zunehmende Anzahl von überindividuellen Ak-
teuren gibt, herrschte eine Zeitlang die Meinung vor, diese Erweiterung des Spektrums
der Akteure habe auch eine entsprechende Verschiebung beim Verantwortungssubjekt
zur Folge. Dagegen hielt und halte ich fest: Das ist nicht so; mit der unbestreitbaren Tat-
sache der immer weiteren Verlagerung der Ebene der handelnden Subjekte in Richtung
auf Teams, Gruppen, Kollektive und Institutionen verlagert sich nicht auch das Verant-
wortungssubjekt. Dieses bleibt das einzelne Individuum; es ist und bleibt Letztadressat
moralischer Verantwortung, wenn auch in unterschiedlichen Rollen, die es im Einzel-
nen zu analysieren gilt.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 23
So weit – aber auch nicht weiter – kommt man mit der reinen theoretischen Ethik. Im
Bereich der Verantwortungsethik reicht sie zur Begründung eines allgemeinen Verant-
wortungskonzeptes, zur Analyse der Aspekte des Verantwortungsbegriffes und zur Be-
antwortung der Frage nach dem Letztadressaten sowie der Veränderung von Verant-
wortungsinstanz und Verantwortungsbereich aus. Indessen fehlt es ihr an inhaltlicher
Füllung, die über die Funktion von Beispielen hinausginge.
In diesem Zusammenhang gilt es nun, einem Phänomen Rechnung zu tragen, das
man als die » Anwendungswendung « (» application turn «) bezeichnen kann: In der zwei-
ten Hälfte des 20.Jahrhunderts sind Anwendungsfragen immer stärker in den Fokus
des Interesses gerückt, und es haben sich immer mehr Bindestrich-Ethiken auch akade-
misch etabliert, wofür nicht zuletzt die Veröffentlichung eigener Handbücher ein siche-
res Indiz ist17: Das reicht von der noch eher traditionellen Rechtsethik über Wirtschafts-
und Unternehmensethik bis zur Medizinethik oder allgemeiner: der Wissenschaftsethik,
der Genethik, der Medienethik, der Tierethik und der ökologischen Ethik etc. In diesem
bunten Strauß darf dann natürlich auch unser Thema, die Technikethik, oder stärker in
Richtung der professional ethics formuliert: die Ingenieurethik, nicht fehlen.
Um diese Wendung zu verstehen, ist es hilfreich, sich an den Titel eines kleinen Auf-
satzes von Stephen Toulmin aus dem Jahr 1982 zu erinnern: » How Medicine Saved the
Life of Ethics «18. Damit ist ein Zusammenhang angesprochen, der als » Rekursivität « be-
zeichnet werden kann, da er sich auf die Rückwirkung der Anwendung ethischer Prin-
zipien auf diese selbst bezieht. Je vielfältiger nämlich die potentiellen Anwendungsfel-
der von Ethik werden, desto offensichtlicher wird, dass es keineswegs so ist, wie uns die
17 Stellvertretend für viele andere sei hier nur das umfassende Standardhandbuch genannt: J. Nida-Rüme-
lin (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, 2. überarb. und erw.
Aufl. Stuttgart 2005.
18 S. Toulmin, » How medicine saved the life of ethics «, in: J. P. DeMarco/R. M. Fox (eds.), New Directions
in Ethics: The Challenge of Applied Ethics, New York 1986, 265 – 281.
24 Walther Ch. Zimmerli
19 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 290 ff. et passim.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 25
Erneut an unserem Beispiel expliziert: Selbst wenn man weiß, dass Wasserstofftech-
nologie als Speichertechnologie eine entscheidende Rolle spielen kann, sind regenera-
tive Energien per se immer noch keine ethisch abgesicherte Option, so lange man nicht
weiß, mit welchem Druck (60 bar) der gewonnene und als Energiespeicher genutzte
Wasserstoff wieder in die Gasnetze eingespeist werden kann bzw. muss.
Die mit dem hermeneutischen Charakter der Technikethik zusammenhängende
» Wissensimprägnierung « ist indessen nicht das einzige neue Charakteristikum der An-
gewandten Ethik; es gilt in ihr vielmehr auch noch, der Tatsache Rechnung zu tragen,
dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der das Problem nicht darin liegt,
dass wir keinen Wertekanon mehr hätten, sondern dass wir nicht mehr einen allgemein-
verbindlichen Wertekanon, sondern viele haben. Und das ist gemeint mit der Rede von
der pluralistischen Gesellschaft: Unter Bedingungen des Wertepluralismus muss Ab-
schied genommen werden von der Vorstellung der einen allgemeinverbindlichen Ethik.
Vielmehr gilt es, moralisch legitime Verfahren eben nicht » von Staats wegen «, sondern
im Rahmen unserer pluralistischen » civil society « zu finden. Das aber heißt, dass die
Angewandte Ethik sowohl hermeneutisch als auch prozedural angelegt sein muss – und
das gilt nicht nur, aber auch für die Technikethik.
Daher müssen wir nach Verfahren suchen, die in einer pluralistischen Gesellschaft
z. B. dazu dienen sollen, in Situationen, von denen Menschen mit durchaus unterschied-
lichen Wertvorstellungen betroffen sind, Lösungen zu finden, auf die diese sich einigen
können, nicht weil sie dieselben, sondern obwohl sie eben ganz verschiedene Wertvor-
stellungen haben. Das müssen von der pragmatischen Logik her, Prinzipien sein, die in-
haltlichen Dissens ermöglichen. Anders formuliert: Es geht um Prinzipien, die sicher-
stellen, dass die inhaltlichen Dissense so spät wie irgend möglich zum Austrag kommen,
also um Prinzipien der Dissensermöglichung. In philosophischer Terminologie ausge-
drückt handelt es sich dabei um Verfahrensprinzipien, die die Bedingungen der Mög-
lichkeit von Dissensen sicherstellen, anders gesagt: um transzendentale Prinzipien, und
diese können zunächst einmal, da sie sicherstellen sollen, dass es erst so spät wie irgend
möglich, um inhaltliche Dissense geht, nicht ihrerseits materiale, sondern nur formale
Prinzipien sein:20
1) Bei der Beurteilung der Moralität einer technischen Handlung, eines Handlungs-
kontextes oder gar einer ganzen Technologie wird daher auf einer obersten Ebene
nur deren Konformität hinsichtlich der formalen Vernunftprinzipien der Moderne
(universelle Verallgemeinerbarkeit, Gerechtigkeit als Fairness etc.) geprüft; alles, was
aufgrund dieser Prüfung nicht eindeutig ver- oder geboten ist, muss auf der nächsten
Ebene weiter abgeklärt werden.
20 Vgl. W. Ch. Zimmerli/M. Aßländer, » Wirtschaftsethik «, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik,
a. a. O., 311.
26 Walther Ch. Zimmerli
individualethisch institutionenethisch
Mikroebene z. B.: Fragen nach der Verantwortung des In- z. B.: Fragen nach der Internalisierung unter-
dividuums im ökonomischen Entscheidungs- nehmensspezifischer Handlungsintentionen
findungsprozess
Mesoebene z. B.: Fragen nach den zu ändernden Orga- z. B.: Fragen nach der Verantwortung von Un-
nisationsstrukturen, die Individualmoral zu- ternehmen für Handlungsfolgen
lassen
Makroebene z. B.: Fragen nach der Rückwirkung ökonomi- z. B.: Fragen nach der Rolle von Unternehmen
scher Prozesse auf das Selbstverständnis des in der Wirtschaftspolitik
Individuums
das Handeln der Akteure jeweils sowohl individual- als auch institutionenethisch be-
urteilt werden kann. Anders und weniger theorielastig formuliert: Selbst wenn ein In-
dividuum z. B. in seiner Rolle als CEO eines Unternehmens agiert, bleibt es selbst mo-
ralisch individuell für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich, und das gilt auch,
wenn das Unternehmen die Haftung für diese Folgen ganz oder teilweise übernimmt.
Das ist es, was im Englischen mit der Differenz von » responsibility « und » liability « aus-
gedrückt wird.
Nach dem bisher Ausgeführten ist klar, dass wir uns bei der Frage nach der Verantwor-
tung im Bereich der Ingenieurethik auf der dritten Ebene des skizzierten formal-pro-
zeduralen Modells einer hermeneutischen Technikethik bewegen. Daher ist die Kon-
kretisierung, um die es hier geht, diejenige der Ingenieurprofession, und die Prinzipien,
nach denen gefragt wird, sind – jedenfalls in den berufsständisch organisierten Teilen
der Ingenieurprofession – in deren berufsständischen Kodizes niedergelegt (s. die drei
Beispiele im Anhang). Ausführlich auf diese einzugehen, würde sich aufgrund von ih-
rer relativen Inhaltsarmut kaum lohnen; wichtig an ihnen ist eher das Faktum, dass sie
existieren und dass sich Angehörige von Ingenieurberufen durch sie gebunden fühlen,
Stattdessen soll hier exemplarisch noch ein Blick auf die grundsätzliche Bedeutung eini-
ger Tools geworfen werden, die in der pragmatischen Wendung auf die Anwendung
zum Einsatz gekommen sind (oder immer noch zum Einsatz kommen).
Das Grundszenario geht dabei von der bereits angesprochenen Einsicht aus, dass
in einer pluralistischen Gesellschaft Konsens weder der Regelfall noch ein sinnvoller-
weise anzustrebendes Ziel ist. Vielmehr müssen wir eher von einem anderen Bild aus-
28 Walther Ch. Zimmerli
gehen: dass wir uns in einem Meer von Dissensen bewegen, in dem es darauf ankommt,
verschiedene Verfahren einzusetzen, um beim Versuch, in diesem Meer zu navigieren,
nicht die Orientierung zu verlieren.
Ein noch stark am Idealbild des Konsenses orientiertes Instrument, das dabei um
Einsatz kam und immer noch kommt, sind Konsensuskonferenzen: Ethik-, Technik- und
Wirtschaftsexperten treffen mit Laien zusammen, da sie zwar Experten auf ihren Gebie-
ten sind, aber eben deswegen nie das ganze Problem sehen und darüber hinaus nie die
vollständige Grundlage für den ethischen Aspekt der Entscheidung repräsentieren kön-
nen. Es geht also neben der Gewährleistung der Perspektivenvielfalt auch um die Über-
brückung der Kluft zwischen Experten und Laien. Dabei wird der moralische common
sense sozusagen als Expertise sui generis eingebracht.
Ähnliches gilt auch für das noch stärker als Instrument der Politikberatung konzi-
pierte Instrument der Planungszellen nach Dienel22. Dabei geht es stärker noch als bei
den Konsnsuskonferenzen um eine Art von politischen Frühwarnsystem in dem man
durch Gestaltung solcher Planungszellen einen Sensor für die Akzeptanz technologie-
politischer Entscheidungen bereitstellt, indem man die allgemeingesellschaftliche Ak-
zeptanz gleichsam in vitro simuliert.
Stellt man diese Ende des letzten Jahrtausends und daher immer noch stark am
Idealbild des Konsenses ausgerichteten Verfahren nun aber in den Kontext der prin-
zipiellen Dissensorientierung, geht es darum, durch eine sorgfältig definierte Gruppe
von Experten und Laien » Konsensinseln « als die Ausnahmen in dem Regelzustand des
Dissenses zu lokalisieren und zwischen ihnen zu navigieren. Das aber kann nur, wer
Diskurse führt. Diese sind ihrerseits selbstähnliche Exempel dessen, worüber geredet
wird, nämlich institutionalisierte dissensorientierte, pluralistische und pragmatische
Ethos-Lernlabors.
Daraus geht nun aber auch hervor, dass es hier – wie in allen Fällen der Angewand-
ten Ethik – um etwas geht, das man in der Theologie als den » Sitz im Leben « bezeich-
net hat23. Diese pragmatische Verortung der Ingenieurethik » inmitten « der durch Inge-
nieurhandeln geprägten Umwelt ist selbst ein (temporaler) Faktor des normativen
Wertewandels. Das soll heißen, dass Ethik nach dem Paradigmenwechsel des » applica-
tion turn « nicht mehr bloß kognitive Theorie, sondern pragmatische Praxis zur Bildung
der moralischen Urteilskraft selbst geworden ist. Gerade das Beispiel der Verantwor-
tung in der und für die Technik zeigt, dass ihre theoretische ethische Erfassung (» Ver-
22 P. C. Dienel, Die Planungszelle. Der Bürger als Chance, 5. Aufl. Wiesbaden 2002.
23 Zur ursprünglich hermeneutischen Bedeutung dieses Konzepts, das Hermann Gunkel in seinem » Ge-
nesis-Kommentar « in dem von D. W. Nowack herausgegebenen Handkommentar zum Alten Testament
1902 entwickelt hat, vgl. A. Wagner, » Gattung und › Sitz im Leben ‹. Zur Bedeutung der formgeschicht-
lichen Arbeit Herrmann Gunkels (1862 – 1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe Text «, in:
S. Michaelis/D. Tophinke (Hrsg.), Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik, München/Newcastle 1996,
117 – 129.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 29
antwortung kennen «) und das Ethos des Umgangs mit ihr (» Verantwortung wahrneh-
men «) zwar auch, aber keineswegs ausschließlich eine Angelegenheit des Berufsstands
der Ingenieure ist.
Anhang24
Der Ingenieur übe seinen Beruf aus in Ehrfurcht vor den Werten jenseits von Wissen
und Erkennen und in Demut vor der Allmacht, die über seinem Erdendasein waltet.
Der Ingenieur stelle seine Berufsarbeit in den Dienst der Menschheit und wahre im
Beruf die gleichen Grundsätze der Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit,
die für alle Menschen Gesetz sind.
Der Ingenieur arbeite in der Achtung vor der Würde des menschlichen Lebens und in
der Erfüllung des Dienstes an seinen Nächsten, ohne Unterschied von Herkunft, so-
zialer Stellung und Weltanschauung.
Der Ingenieur beuge sich nicht denen, die das Recht eines Menschen gering achten und
das Wesen der Technik missbrauchen, er sei ein treuer Mitarbeiter an der menschlichen
Gesittung und Kultur.
Der Ingenieur sei immer bestrebt, an sinnvoller Entwicklung der Technik mit seinen
Berufskollegen zusammenzuarbeiten; er achte deren Tätigkeit so, wie er für sein eigenes
Schaffen gerechte Wertung erwartet.
Der Ingenieur setze die Ehre seines Berufsstandes über wirtschaftlichen Vorteil; er
trachte danach, dass sein Beruf in allen Kreisen des Volkes die Achtung und Anerken-
nung finde, die ihm zukommt.
24 Vgl. H. Lenk/G. Ropohl, a. a. O. und R. Liedtke, Der Ingenieureid. Ethische, naturphilosophische, juristi-
sche Perspektiven, Michelbach 2000.
30 Walther Ch. Zimmerli
b) Ethikkodex (IEEE)
Präambel:
Ingenieure, Natur- und Technikwissenschaftler beeinflussen die Lebensqualität aller
Menschen in unserer komplexen technischen Gesellschaft. Es ist daher unerlässlich,
dass die Mitglieder des IEEE in der Ausübung ihres Berufs ihre Arbeit in ethischer Hal-
tung durchführen, so dass sie das Vertrauen ihrer Kollegen, Arbeitgeber, Kunden und
der Öffentlichkeit verdienen (…).
Artikel I:
Die Mitglieder sollen ein hohes Niveau an Sorgfalt, Kreativität und Produktivität auf-
rechterhalten und sollen:
In Ehrfurcht und Achtung vor den gegenwärtigen, einstigen und zukünftigen Genera-
tionen
Ich bekenne mich zum schöpferischen Wissen der Ingenieure, werde die ethischen
Grundsätze mit Sorgfalt wahren und mich im Sinne der edlen Überlieferung fortbilden.
Ich übernehme die alte und ehrenvolle Pflicht, als vernunftbegabter Teil der Natur dem
Erhalt der gesamten Schöpfung zu dienen.
Im Geist der Tradition und unter dem demokratisch verbürgten Schutz des Gewissens
stelle ich mich der besonderen moralischen Verantwortung meines Amtes.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 31
Mein Beruf trage dazu bei, allen Lebewesen ein Dasein in Würde, in Sicherheit und in
Gesundheit zu ermöglichen. Ich unterlasse berufliche Handlungen, die diesen Werten
widersprechen, wenn ich abschätzen kann, dass die Folgen meines Handelns die Gebote
der Menschlichkeit jetzt oder in Zukunft verletzen und dem Leben schaden.
Unter Einhaltung der Grenzen meines Könnens und Dürfens beuge ich mich nicht den
Weisungen Dritter und führe keine Aufgaben aus, die meine Kompetenzen überschrei-
ten oder meinem Sachverstand widersprechen. Ich verpflichte mich zur Offenlegung
meiner beruflichen Qualifikationen und zur wahrheitsgetreuen Information der Öffent-
lichkeit über Chancen und mögliche Risiken meiner Arbeit.
Ich achte die gesellschaftliche Bedeutung und Würde der Ingenieurkunst und bemühe
mich mit allen Kräften, dieses Ansehen den Standesregeln meines Berufes gemäß zu
fördern.
Dies alles gelobe ich feierlich, bei meiner Ehre und zum Wohle von Mensch und Um-
welt.
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure
Hans-Ullrich Kammeyer
Präsident der Bundesingenieurkammer (Berlin) und
Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen (Hannover)
Wie aber verhält sich die Gesellschaft gegenüber diesen Tatsachsen ? Welche Auswir-
kungen haben sie auf den Umgang mit Ingenieurinnen und Ingenieuren ? Angesichts
der Bedeutung und Einflussnahme von Technik scheint es umso bemerkenswerter, dass
es bisher ausgeblieben ist, Ingenieurinnen und Ingenieuren gesamtgesellschaftlich den
Stellenwert einzuräumen, der ihrer hohen Verantwortung gegenüber Mensch und Natur
gerecht wird – und sie zugleich auch mit den erforderlichen gesellschaftlichen Kompe-
tenzen und Mitteln ausstattet. Denn wer verantworten soll, muss auch » ja « oder » nein «
sagen dürfen ! Tatsächlich bestanden jedoch bisher in dieser Hinsicht Hemmnisse, die
eigentlich erforderliche Entwicklungen behinderten.
Eine Ursache dafür liegt darin, dass die Ingenieurausbildung anfangs nicht als wirk-
lich akademisch angesehen wurde, sondern sich ihren Platz in den Universitäten erst er-
obern musste. Sichtbares Zeichen dafür ist der – inzwischen eher als besondere Leistung
empfundene – Dr.-Ing., der im Unterschied zu anderen Dr.-Graden groß geschrieben
wird. » Während sich z. B. die Juristen bereits fest etabliert hatten, waren die Ingenieure
ein noch junger Berufsstand, dessen heterogene Zusammensetzung aus den verschie-
densten Statusgruppen zu Vorurteilen geradezu herausforderte. Vielfach wurden sie
einfach nicht ernst genommen oder, und dies traf besonders im Falle der Juristen zu, gar
nicht beachtet « (Hortleder 1970: 76).
Eine weitere Ursache für die genannten Hemmnisse besteht im Habitus der Inge-
nieure, der durch fachspezifische Sozialisation erworben wird. Dieser ist daran orien-
tiert, Probleme zweckrational zu lösen, ohne sie ethisch, d. h. im Hinblick auf die eigene
gesellschaftliche Verantwortung zu hinterfragen. » In dieser Sichtweise erscheint « dann,
wie der Philosoph Rapp sagt, » der technische Wandel als ein von unserem Willen unab-
hängiger naturgesetzlicher Prozess, dem wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind «
(Rapp 1987: 37).
Dass die Beteiligten den technischen Wandel als einen eigenständigen und unabhän-
gigen Prozess auffassen, erscheint bei starker Arbeitsteilung nachvollziehbar. Aber auch
dann entstehen Gesamtprodukte, für die Ingenieure individuell verantwortlich zeich-
nen sollten – und nicht nur eine Firmenleitung.
Edward Teller, der Vater der Wasserstoffbombe, geht so weit zu sagen, dass das, was
machbar ist, auch gemacht werden wird. Wir müssen uns jedoch über die Grenzen des
technisch Machbaren klar werden. Wo die Grenzen des technisch Machbaren noch
lange nicht erreicht sind, können die des Vertretbaren längst überschritten sein. Zwi-
schen diesen Polen bewegen wir uns.
Ich halte in einer Zeit hochkomplexer technischer Entwicklungen bereits die Aus-
sage des Philosophen H. Sachse, dass die Techniker die Entscheidungen vorbereiten
und begründen, die aber durch Decisionmaker [decision making] aus Gesellschaft und
Politik zu treffen wären, für überaus bedenklich. Denn wir werden – worauf einige Vor-
gänge der jüngeren Vergangenheit verweisen – immer wieder erleben, dass Techni-
ken gegenüber geplanten Szenarien aus dem Ruder laufen, und gewohnte Formen der
Planung von Abläufen nicht mehr hinreichen. Spätestens dann ist technischer Sach-
36 Hans-Ullrich Kammeyer
Literatur
Alpern, Kenneth D. (1987): » Ingenieure als moralische Helden «. In: Hans Lenk/Günter Ropohl
(Hg.), Technik und Ethik, Stuttgart: Philipp Reclam. S. 177 – 193.
BfB [Bundesverband der Freien Berufe] (2009): Leitbild der freien Berufe. Berlin.
Hortleder, Gerd (1970): Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Rapp, Friedrich (1987): » Die normativen Determinanten des technischen Wandels «. In: Hans
Lenk/Günter Ropohl (Hg.), Technik und Ethik, Stuttgart: Philipp Reclam. S. 31 – 48.
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung
Harald Noske
Vorstand der Stadtwerke Hannover (enercity)
Verantwortung von Ingenieuren offenbart sich als ein spannendes und facettenreiches
Thema. Dies aus Sicht der beruflichen Praxis zu diskutieren, hat einen besonderen Reiz.
Als ich im Frühjahr begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, die öffentliche De-
batte gerade geprägt von » Stuttgart 21 « – aktuell steht das Thema Energiewende in der
medialen öffentlichen Wahrnehmung ganz vorn. Ich fragte mich in der Vorbereitung
damals, wie ich eine Brücke bauen könnte von meiner Rolle als Manager in der Ener-
giewirtschaft hin zu einer eher grundsätzlichen Sicht auf den Begriff der Verantwortung.
Doch die Ereignisse in Fukushima führen sie uns konkret und plastisch vor Augen. Die
Frage, wofür Wissenschaftler und Ingenieure in ihrem Handeln verantwortlich sind ist
damit aktueller denn je.
I. Roter Faden
Die große Überschrift war, in Anlehnung an die erste Zeile des Ingenieurliedes von
Heinrich Seidel:
Etwas salopper hat dieser Satz sogar Eingang in die Comic Welt Disneys gefunden. Dort
wurde dem genialen Erfinder Daniel Düsentrieb der Satz in den Mund gelegt: » Dem In-
genieur ist nix zu schwör ! «
Wenn wir über die Verantwortung von Ingenieuren nachdenken, fallen uns sofort
eine ganze Reihe von Fragen ein:
• Wofür genau trage ich eigentlich Verantwortung und woran merke ich, dass ich sie
trage ?
• Welche Normen und Regeln gelten eigentlich für mich und mein Handeln ?
• Wie geht es mit der technischen Entwicklung weiter ? Wohin verschiebt sich die
Grenze des Machbaren durch die Grundlagenforschung ?
• Welche Rolle spiele ich/spielt unser Berufsstand in dieser Gesellschaft ?
Wann entsteht Verantwortung ganz konkret ? – Sie entsteht unmittelbar immer dann,
wenn es gilt eine Entscheidung zu treffen, die mit Folgen für Sicherheit, Wirtschaftlich-
keit, Umwelt und den arbeitenden Menschen einhergeht. Diese Folgen sind immer ge-
geben, da der Ingenieur fast immer mit dem Einsatz und der Bündelung von Kräften
und Energien zu tun hat.
1 Akademischer Verein Hütte, mit Verweis auf das » Hüttenliederbuch (1904) «: http://www.av-huette.de/
seidel.html
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 41
schaftlich ist, in diese Idee zu investieren – warum es gut und nützlich ist, Innovationen
aus Ideen zu entwickeln.
Planen, prüfen und berechnen, Statik, Dynamik und Barwert; schließlich Einbezie-
hung des menschlichen Verhaltens – das sind die Fähigkeiten und Dimensionen, in de-
nen sich ein Ingenieur bewegen muss, um Apparate zu bauen oder Verfahren zu ent-
wickeln oder beides in ihrer Funktion und/oder Wirtschaftlichkeit zu optimieren.
Wenn man mitten im Leben steht als Ingenieur – mitten in dieser modernen Welt mit
ihren rasanten Entwicklungen auf allen Ebenen des täglichen Lebens – woran kann man
sich orientieren ? – Woran macht sich Verantwortung ganz praktisch fest ? – Wie muss
die Arbeit und das Arbeitsergebnis beschaffen sein ?
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 43
A. » legal «
Zu allererst haben wir einen gesetzlich-normativen Rahmen, der auf nationaler, euro-
päischer und auch internationaler Ebene gilt. Gesetze und Verordnungen stellen einen
guten und unverzichtbaren Handlungsrahmen dar. Alles was wir tun, muss dem An-
spruch genügen legal zu sein, es muss sich aus dem geltenden gesetzlich-normativen
Rahmen heraus rechtfertigen lassen. Alle Ingenieurprodukte müssen sicher und zuver-
lässig handhabbar sein. Wo dazu Ausführungsdetails von Nöten sind, müssen techni-
sche Regelwerke geschaffen und gepflegt werden, die den Stand der Technik oder die
allgemein anerkannten Regeln der Technik (aaRdT) beschreiben. Beispiele hierfür sind
die Regelwerke des DIN, VDE oder DVGW. Auf diese wird auch häufig in Gesetzen ver-
wiesen. Derartige Regelwerke sind lebendiger Ausdruck der technischen Selbstverwal-
tung, die sich Ingenieure als Rahmen geben, und der gesetzlich anerkannt ist.
B. » rational «
Daneben gilt es, Entscheidungen nach objektiven Kriterien zu fällen, sie den Gesetzen
der Logik folgen zu lassen und sie mit einem konsistenten Zahlen- und Rechenwerk ar-
gumentativ zu fundieren. Alle planbaren Entscheidungen sollen (im Idealfall) streng ra-
tional begründet sein.
Dies gilt für spontane, nicht planbare Entscheidungen natürlich gleichermaßen. So-
fern die hier dominierende » Bauch-Entscheidung « auf einem hohen Maß an Erfahrung
beruht, ist auch diese als hinreichend rational einzustufen.
C. » legitim «
Aber reicht das, reichen die Perspektiven der Legalität und der Rationalität aus, um
verantwortlich Entscheidungen zu treffen ? Geht es lediglich darum, unser Tun zu
rechtfertigen, oder gibt es weitere Dimensionen wie die Gewissensfrage ? Neben Le-
gal und Rational steht als dritte Dimension bzw. Perspektive noch Legitim im Raum.
Eine Entscheidung, eine Handlung muss insofern auch, außer dass sie gerechtfertigt
und begründbar, geboten und angemessen ist, auch ethisch verantwortbar sein. Deshalb
begann vor rund sechzig Jahren, im Jahr 1950, das Bekenntnis der Ingenieure im Verein
Deutscher Ingenieure (VDI), mit folgenden Formulierungen:
3 Jens Reese (Hrsg.): Von der Anstrengung, der Technik ein Gesicht zu geben. In: Ders. (Hg.): Der Inge-
nieur und seine Designer, Berlin-Heidelberg-New York 2005: Springer. S. 71.
44 Harald Noske
Diese pastorale Sprache und Sicht ist uns heute vielleicht fremd. Sicherlich hallt auch
der Schrecken des 2. Weltkrieges in diesem Text nach. Und doch reiht er sich ein in das
Bemühen von Menschen, universelle moralische Grundsätze für ihren Berufsstand zu
formulieren – was beispielsweise mit dem hippokratischen Eid der Ärzte um 400 v. Chr.
anfängt.
Man kann diesen ethischen Aspekt auch etwas kürzer und moderner formulieren,
wie es Helmut Schmidt in seiner Rede vor der Max-Plank-Gesellschaft vom Januar des
Jahres 2011 getan hat: » Wissenschaft ist […] eine zur sozialen Verantwortung verpflich-
tete Erkenntnissuche «4. Dieser Satz war an die Forschergemeinschaft gerichtet, gilt aber
in der Formulierung » zur sozialen Verantwortung verpflichtet « auch in gleichem Maße
für uns Ingenieure als Vertreter der Ingenieurwissenschaften.
Das eigene Handeln diesen drei abstrakten Ideen von legal, rational und legitim fol-
gen zu lassen ist schon eine echte Herausforderung. Doch reicht das aus ?
Schauen wir uns das konkrete Arbeitsfeld der Ingenieure in der täglichen, prakti-
schen, modernen Welt genauer an !
• Der Ingenieur fungiert als Nutzenschaffer und Problemlöser für technische und
wirtschaftliche Aufgaben für sein Unternehmen.
• Der Ingenieur ist eingebunden in eine Welt des ewigen Wachstums-Anspruches und
des dauernden Innovation-Zwanges.
• Der Ingenieur hat mehr denn je wirtschaftlichen Zwängen zu folgen als technischen
Möglichkeiten.
• Der Ingenieur benötigt für seine Arbeit Inspiration und handwerkliche Hilfe von
den Menschen und Mitarbeitenden seiner Organisation.
Diese Betrachtungen zeigen, dass das Handeln des Ingenieurs von zahlreichen Abwä-
gungen geprägt ist, z. B. zwischen Nutzen und Aufwand, zwischen Wirkung und Neben-
wirkung, zwischen Qualität und Kosten, zwischen Funktion und Risiko. Kurzum, das
Denken und Handeln des Ingenieurs muss neben legal, rational und legitim auch wirt-
schaftlich und sozial abgewogen sein. – Das ist nun die vollständige Beschreibung der
Verantwortung von Ingenieuren !
4 Max-Planck-Gesellschaft, Rede von Helmut Schmidt anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft, Berlin, 11. Januar 2011: http://www.mpg.de/990353/Verantwortung_der_Forschung?page=1
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 45
Wie nimmt man Verantwortung nun in der beruflichen Praxis wahr ? Geht das automa-
tisch oder » auf Knopfdruck « ?
Die Wahrnehmung von Verantwortung entwickelt sich für den Ingenieur langsam
und steigt parallel zu seiner Entscheidungskompetenz an. Am Anfang entscheidet er
vielleicht über ein Leistungsmerkmal einer Maschine oder die Auslegung eines Zukauf-
teils, später über die Ausgestaltung eines Arbeitsprozesses oder den Einsatz von Mitar-
beitenden für eine Arbeitsaufgabe. Beim weiteren Erklimmen der Karriereleiter kön-
nen auch Produktentwicklung oder strategische Unternehmensausrichtung zu Ihren
Entscheidungen gehören. Spätestens dann tragen Sie die faktische Verantwortung für
wichtige Lebensumstände zahlreicher Mitarbeitenden, den Erfolg oder Misserfolg Ihrer
Kunden, Ihres Unternehmen und vielem mehr.
Wie wächst man nun am besten in diese Verantwortung hinein ? Wie wird Verant-
wortung zur Lust und nicht zur Last ? Ich will meine beruflichen Erfahrungen in folgen-
den Empfehlungen für Ingenieure zusammenfassen:
1) Verschaffen Sie sich immer ein solides Fachwissen zu den Themen und Technologien
Ihres Aufgaben- und Verantwortungsbereiches.
2) Achten Sie stets auf die Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen.
Beachten Sie Regelwerke als die gute Empfehlung aus gesammelter Erfahrung und
weichen Sie nur im Ausnahmefall und mit sehr guten Begründungen davon ab.
3) Hören Sie Ihren Auftraggebern sehr genau zu, um Leistungsanforderungen und
Wünsche exakt kennen zu lernen. Dokumentieren Sie diese und scheuen Sie sich
nicht nachzufragen. Eine exakt spezifizierte Aufgabenstellung ist der halbe Erfolg für
das Arbeitsergebnis.
4) Nutzen Sie für Ihre eigene Ingenieursarbeit jede nur mögliche Verknüpfung mit Kol-
legen anderer Disziplin und Ausbildung. Tauschen Sie Ihre jeweiligen Sichten und
46 Harald Noske
Wenn Sie diese Empfehlungen stets beachten, wachsen Sie mit Sicherheit ohne Schwie-
rigkeiten in die praktische Wahrnehmung der Ingenieurs-Verantwortung hinein. Es
wird ein natürlicher, ein organischer Prozess sein.
Erlauben Sie mir zum Abschluss eine besondere Betonung des letzten Punktes. Ge-
rade » Stuttgart 21 « oder die wichtigen Entscheidungen zur Energiewende in Deutsch-
land machen deutlich, dass auch (und vielleicht gerade) die Zunft der Ingenieure allzu
lange schweigend, ohne Erklärungen zu geben, ihren Job gemacht hat – und dabei ihre
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 47
wichtige Rolle als Erklärer und Darsteller von Sachverhalten und Zusammenhängen
vernachlässigte. Als Ergebnis werden ingenieur-technische Selbstverständlichkeiten
von großen Teilen der Bevölkerung nicht erkannt, nicht verstanden und am Ende nicht
» Wert geschätzt «. Auch die Ingenieure haben es in der Hand, dieses wieder zu ändern –
durch lückenlose Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung !
Nachhaltigkeit als Herausforderung
Rainer Heimsch
Ing.-Büro Rainer Heimsch VDI/AGÖF, Rastede und Vechta
In den » Ethischen Grundsätzen des Ingenieurberufs « hat der Verein Deutscher Inge-
nieure (VDI) u. a. folgende Handlungsanleitungen formuliert1:
Und sie
Betrachten wir nun unsere Umwelt und deren latente Zerstörung, ist festzustellen, dass
weder der VDI noch die Ingenieure – mit wenigen Ausnahmen – diesen Ansprüchen
gerecht werden.
Diese zugegeben ketzerische Aussage zu bestätigen, soll beispielhaft an drei Themen-
feldern versucht werden.
Doch zunächst die Grundlage für die Beurteilung nachhaltigen Wirkens. Der Begriff
stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft: Es wird nur soviel Holz entnommen, wie
nachwachsen kann. Die heutige Definition basiert auf einem Bericht der Vereinten Na-
tionen aus der » Brundtland-Kommission «, die 1983 einberufen wurde. In dem Bericht
steht eine neue Definition: » Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürf-
1 VDI Verein Deutscher Ingenieure: Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Düsseldorf, 2002.
nisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre
eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. «
Ins deutsche Grundgesetz ist daraus im Artikel 20a aufgenommen: » Der Staat
schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebens-
grundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Ge-
setzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung «2.
Nun zur Wirklichkeit. Um die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zu er-
reichen, dürfte jede Person in Deutschland 2,5 t CO2 pro Jahr verursachen. Tatsächlich
sind dies jedoch derzeit 10,63 t/Jahr (Bild 1).
Durch die bisherigen Energiesparmaßnahmen, basierend auf Gesetzen und Verord-
nungen – am bekanntesten ist die Energieeinsparverordnung (EnEV) – wurde zwar der
Raumwärmebedarf pro m² seit 1960 von ca. 220 auf 120 kWh/m²a verringert, gleichzei-
tig stieg jedoch die Wohnfläche pro Kopf von ca. 20 auf ca. 56 m² an. Im Ergebnis führt
dies dazu, dass der Raumwärmebedarf in kWh pro Kopf und Jahr mit ca. 7 500 kWh im
Jahr 2005 deutlich höher war als 1960 mit ca. 4 000 kWh !3 (Bild 2).
Haben Architekten und Ingenieure darüber hinweggesehen, um sich besser selbst
zu verwirklichen, höhere Honorare zu erzielen ? Oder haben sie es einfach nicht wahr-
genommen, weil sie sich für diese Zusammenhänge nicht ausreichend interessierten ?
Aus diesem Fehlverhalten heraus haben sich drängende Probleme unserer Zeit ent-
wickelt. Sehr übersichtlich und einprägend hat dies Dr.-Ing. B. Krick 2011 zusammen-
gefasst4 (Bild 3). Aufgrund der Lebensweise, insbesondere in den sogenannten » hoch-
entwickelten Gesellschaften « und der daraus resultierenden Phänomene ansteigender
CO2-Konzentration in der Atmosphäre mit steigenden Temperaturen und Meeresspie-
gel, Verlust von Siedlungs- und Ackerflächen und in der Folge Vergrößerung des Hun-
gers, zunehmende Flüchtlingsströme, Reduzierung der Biodiversität sowie Ressour-
cen- und Verdrängungskriege lässt sich nachweisen, dass u. a. die oben postulierten
» Ethischen Grundsätze des VDI « also Anforderungen an Ingenieure nicht massiv bzw.
nicht ausreichend genug in die öffentliche Diskussion eingebracht wurden. Warum ?
Die Alt-68-er haben ihre Elterngeneration immer wieder danach gefragt, warum sie
so wenig gegen das Nazi-Regime und dessen fürchterliche, menschenverachtende Po-
litik unternommen haben. Die Antwort war oft, » wir haben dies doch nicht gewusst «
oder » was hätte man denn dagegen tun können, bei aktivem Widerstand war doch das
eigene Leben in Gefahr. «
Dies soll hier – auch aus Zeitgründen – in seiner Gesamtproblematik zunächst nicht
weiter vertieft werden. Greift man jedoch die Rechtfertigung » mangelnde Information «
2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 05. 1949, zuletzt geändert durch Art. 1 G v.
11. 07. 2012 | 1478.
3 Santarius, T.: Der Rebound-Effekt. Wuppertal, 2012.
4 Krick, B. Dipl.-Ing.: Möglichkeiten zur weiteren Optimierung von Strombedarf, Hülle und Haustechnik
Nachhaltigkeit als Herausforderung 51
Bild 1 CO2-Fußabdruck pro Person und Jahr in Deutschland (Quelle: klimAktiv CO2-Rechner,
01. 04. 2014)
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Bild 2 Raumwärmebedarf in kWh pro Kopf und Jahr (Quelle: T. Santarius. Der Rebound-Effekt.
Wuppertal 2012)
52 Rainer Heimsch
heraus, so ist festzustellen, dass dieses Argument für uns heute nicht mehr zutrifft. Wer
will, kann sich in einem Maße informieren, dass er/sie die Problemstellungen in vielen
Bereichen erkennen müsste.
So ist bekannt, dass die in der Politik angestrebten Ziele der CO2-Reduzierung bis
2020 bzw. 2050 mit den eingeschlagenen Pfaden nicht erreicht werden kann. 2011 be-
trug der Anteil erneuerbarer Energien 12,2 %. Ein guter Wert – er reicht aber nicht
aus, ist nicht nachhaltig genug, um die im Energiekonzept der Bundesregierung vom
28. 09. 2010 beschlossenen Ziele auch nur annähernd zu erreichen (Bild 4).
***
Doch kommen wir zu den angekündigten drei Beispielen für das vielfältige unverant-
wortliche Handeln von Ingenieuren, Architekten und Wissenschaftlern.
Erstes Beispiel: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass die Sonne 2 850-mal mehr Energie auf
die Erde sendet als derzeit genutzt wird. Derzeit ist ungefähr 1 % davon technisch nutz-
bar, immerhin noch sechsmal mehr als die Weltbevölkerung heute benötigt5.
Nachhaltiges Handeln ist mehr denn je gefordert. In vielen Schubladen » schmoren «
die Lösungen, werden aber immer noch von kurzfristigen ökonomischen Interessen
verdrängt. Dies lässt sich an dem Beispiel » nachwachsende Rohstoffe « derzeit beson-
ders drastisch verdeutlichen. Monokulturen in unseren Regionen führen zur » Ver-
maisung « der Landschaft. Überall schießen Biogas-Anlagen wie Pilze aus dem Boden
mit dem einzigen Ziel, Strom zu erzeugen. Die dabei anfallende Wärme kann vielfach
nicht genutzt werden und wird über Notkühler in die Luft abgegeben. Alles Produkte
nicht nachhaltigen Handelns von Industrie, Ingenieuren, Spekulanten und Landwirten
(Bild 5).
In anderen Erdteilen werden Ur- und Regenwälder zerstört, um z. B. Palmöl für Bio-
kraftstoffe oder Sojabohnen für unsere Fleischmastbetriebe anzubauen. Getreide, Mais,
Zuckerrüben – oft einzige Grundnahrungsmittel für viele Menschen – werden für die
Gewinnung von » Bio-Ethanol « eingesetzt, um u. a. den extrem hohen Spritverbrauch
im Verkehrsbereich abzudecken (Bild 6).
Zweites Beispiel: Heute wird die energetisch zu erreichende Qualität eines Gebäudes im
Wesentlichen über den Primärenergiebedarf » Qp «, d. h. den Verbrauch in Kilowattstun-
den pro Jahr( kWh/a) bewertet.
Untersucht man dieses Verfahren näher, stellt man schnell fest, dass die hierfür fest-
gesetzten sogenannten Primärenergiefaktoren, z. T. willkürlich politisch aus kurzfristi-
gen Interessen heraus festgelegt wurden.
5 Greenpeace International: Energy revolution. A sustainable pathway to a clean energy future for Euro-
pe. 2005.
54 Rainer Heimsch
Um ein Gebäude mit der erforderlichen Wärme zu versorgen ist – unabhängig vom
Heizsystem – eine Wärmemenge von ca. 400 000 kWh/a erforderlich. Beim Vergleich
von fünf verschiedenen technischen Varianten in der Wärmeerzeugung weist die Va-
riante 3 (Holzpellet-Anlage mit Warmwasser-Solaranlage) die höchsten anlagentechni-
schen Verluste auf (Bild 7).
Vergleicht man den Primärenergiebedarf der fünf Varianten, steht plötzlich die (bei
den anlagentechnischen Verlusten) schlechteste Anlage als beste da. Warum ist dies so ?
Die Erklärung liefert die Betrachtung der Primärenergiefaktoren. In Deutschland wer-
den Pellet-Anlagen mit einem Primärenergiefaktor von 0.2 bewertet, in der Schweiz da-
gegen mit einem Faktor von 0.8. Setzt man nun diesen Faktor 0.8 in das oben erwähnte
Beispiel des Primärenergieverbrauches ein, so verändert sich die Reihenfolge, wie dies
in Bild 8 zu sehen ist, dramatisch. Variante 2 und 4 schneiden (mit dem Schweizer Fak-
tor) deutlich besser ab als Variante 3. Schließt man in diese Betrachtung dann noch die
CO2-Bilanz bei der Stromerzeugung ein, schließt die Variante 4 mit Abstand am bes-
ten ab. Wo bleibt die Reaktion der Fachleute und der Fachverbände auf diese politisch
durchsichtige Aktion ?
56 Rainer Heimsch
Als drittes Beispiel dient ein lokaler Schildbürgerstreich, das sogenannte » Schlaue Haus «
in Oldenburg6 (Bild 9).
Im Rahmen » Oldenburg – Stadt der Wissenschaft 2009 « entstand die Idee eines ste-
ten Dialoges zwischen Wissenschaft und Bürgern. Hierfür wurde in bester zentraler
Lage ein abbruchreifes Baudenkmal (Fachwerkhaus) incl. Neubau aufwändig zum
» Schlauen Haus « ausgebaut, in dem Forschungsergebnisse aus den Bereichen Energie/
Klima und Wohnen/Leben unterhaltsam vermittelt werden sollen. Eine denkmalge-
rechte Sanierung bei dem Baudenkmal war aus konstruktiven/statischen Gründen nicht
möglich. Nur die Fassade wurde ansatzweise erhalten.
Die offiziell veranschlagten Baukosten wurden mit 3,5 Millionen Euro angesetzt, eine
von Fachleuten immer kritisch hinterfragte Summe.
Die Stadt Oldenburg zog sich aufgrund eines Ratsbeschlusses aus dem Projekt zu-
rück, Träger wurde nunmehr eine gemeinnützige GmbH, ein Zusammenschluss von
Universität Oldenburg und Jade Hochschule. Demokratisch gefasste Beschlüsse aus bei-
den Hochschulgremien liegen nach unserer Kenntnis hierfür nicht vor. Die Baukosten
sind nun um über 1,5 Millionen Euro gestiegen. Wer trägt diese Kosten ? Der Steuer-
zahler.
Neben der Tatsache, dass ein bei solchen Projekten üblicherweise durchgeführter Ar-
chitektenwettbewerb fehlte, ist es fachlich völlig unverständlich, dass statt des maro-
den Fachwerkhauses nicht eines der dringend sanierungsbedürftigen Gebäude der Jade
Hochschule zu einem nachhaltigen und energieeffizienten » Schlauen Haus « umgebaut
wurde. Hier hätte, ebenfalls in recht zentraler Lage, sowohl für die Ausbildung der Stu-
dierenden in Praxis als auch für die Reduzierung von hohen Energieverlusten beispiel-
haft viel getan werden können.
Wo waren die Professoren, Studierenden, Architekten und Ingenieure aus der Re-
gion ? Ernsthaftes Aufbegehren gab es nur zu der Frage des fehlenden Architektenwett-
bewerbes aber nicht zur Wahl des Gebäudes. Was ist nachhaltig an diesem Projekt ?
***
Status Quo
» Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt «
Erich Fried
Technische Aspekte der Risikogesellschaft
Lutz Hieber
Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover
Mit téchnē bezeichnete die griechische Antike mehr als das, was wir heute › Technik ‹
nennen. Sie fasste mit diesem Begriff alle Fertigkeiten des Menschen, handwerklich-
zweckbezogen und gestaltend wirksam zu werden, unterschied also nicht – was für uns
heute zentral ist – das › Künstliche ‹ vom › Künstlerischen ‹. » In diesem weiten Sinne ist
noch in den Maschinen-Büchern des 17. Jh. von den Künsten und der Kunst die Rede.
Die alten handwerklichen Tätigkeiten waren › mechanische Künste ‹ im Gegensatz zu
den › freien Künsten ‹ «. Erst im Zuge der Industriellen Revolution setzt sich die Bezeich-
nung › Technik ‹ für praktische Mechanik und das Maschinenwesen durch, und » seit
dem letzten Viertel des 19. Jh. bezeichnet › Technik ‹ das Teilgebiet der Kultur, das auch
heute damit gemeint ist « (Stöcklein 1969: 31 f.).
Das Fundament der Technisierung unserer Welt bilden die Naturwissenschaften.
Daneben sind zum einen die Mathematik, als Geisteswissenschaft, immer mit von der
Partie, zum anderen ebenso der Mensch in seinen sozial, psychologisch und kulturell
bedingten Handlungen und Wahrnehmungen. » Menschliche Körper, physikalische
Dinge und symbolische Zeichen sind alle zusammen erforderlich, Technik zu konsti-
tuieren. Eine Maschine ohne jemanden, der sie steuert oder in Gang setzt, ist im gesell-
schaftlichen Sinn keine Technik « (Rammert 1998: 317).
Die naturwissenschaftlich-mathematische Basis der Technik bedingt, dass das
menschliche Sensorium allein nicht ausreicht, Risiken einzuschätzen oder Störfälle
sachgerecht wahrzunehmen. Folgen technischer Unregelmäßigkeiten sind oft für Laien
weder sichtbar noch spürbar. Ins Zentrum der öffentlichkeitswirksam geführten Aus-
einandersetzungen rücken mehr und mehr » Gefährdungen, die der › Wahrnehmungs-
organe ‹ der Wissenschaft bedürfen – Theorien, Experimente, Messinstrumente –, um
überhaupt als Gefährdungen › sichtbar ‹, interpretierbar zu werden « (Beck 1986: 265). In
dieser Hinsicht sind die betroffenen › Laien ‹ entmündigt, denn sie sind auf Expertenwis-
sen angewiesen, wenn Probleme auftreten.
Ingenieure tragen im zivilen Feld dazu bei, unsere Lebenspraxis zu erleichtern und
unser Zusammenleben angenehmer zu machen. Zugleich tragen sie jedoch in beson-
derer Weise Verantwortung, weil technische Innovationen durchaus eben auch mit Ri-
siken und Gefährdungen unterschiedlicher Art einhergehen können. Ihre beruflichen
Aufgaben bestehen nicht nur darin, technische Probleme zu lösen, sie umfassen auch
die besondere Verantwortung, die sie als Experten tragen. Deshalb ist es dringend er-
forderlich, die rein fachlich-ingenieurwissenschaftliche Aus- und Weiterbildung durch
die Vermittlung von Kompetenzen anzureichen, die zum Handhaben ihrer Verantwort-
lichkeit erforderlich sind.
Zu berücksichtigen ist indes, dass Experten allein, egal welcher Profession sie sind,
niemals vollständig zureichende Risikobeurteilungen vornehmen können. Denn » Tech-
nikexperten « sind » genauso wie Wissenschaftsexperten zwar Experten, aber «, sie kön-
nen » eben dadurch, dass sie solche Spezialisten sind, gerade nie das ganze Problem se-
hen «. Deshalb fordert Zimmerli, auch diejenigen zu beteiligen, die zwar keine Fachleute
sind, aber » über ein moralisches, lebensweltliches und pragmatisches Know-How ver-
fügen «, eben » die Laien « (Zimmerli 1998: 26).
An einer Einschätzung von technischen Risiken sind tatsächlich mehrere Menschen
beteiligt, die unterschiedliche Interessen haben und sich in unterschiedlichen Situa-
tionen befinden. Es ist nicht einfach, alle relevanten Personengruppen in die Kommu-
nikation über verantwortliches Handeln einzubeziehen, doch es ist machbar. Um die
Bedingungen zu diskutieren, die dafür erforderlich sind, erscheint es mir zunächst er-
forderlich, zunächst den Status von Experten in unserer verwissenschaftlichten Welt zu
klären. Daran anschließend möchte ich die Schwierigkeiten einer Kommunikation von
Experten und Laien diskutieren, und zwar zum einen aus wissenschaftstheoretischer
Sicht, und zum anderen aus der Sicht der fachspezifischen Sozialisation von Ingenieu-
rinnen und Ingenieuren. Daraus möchte dann ich einen Vorschlag ableiten.
Die Trennung in › Laien ‹ und › Experten ‹ besteht seit der Begründung der Naturwissen-
schaften, wie wir sie verstehen. Am einfachen Beispiel des Fallgesetzes möchte ich darle-
gen, dass diese Trennung durch die Struktur der Naturwissenschaften – in diesem Falle
der Physik – bedingt ist.
Seit der klassischen Antike haben Philosophen fallende Gegenstände beobachtet
und deren Bewegungserlauf theoretisch gefasst. Für Aristoteles, dessen Theorie für zwei
Jahrtausende unzweifelhafte Gültigkeit besaß, besteht das Gesetz fallender Körper aus
zwei Teilen. Der eine Teil widmet sich dem Medium, durch das ein Körper fällt. » Das
Medium der Bewegung ist «, so führt er aus, » ein Grund für (geringere Geschwindig-
keit), weil es Widerstand leistet «. Denn schließlich gilt: » ein Medium, das schwer zu
durchteilen ist, leistet mehr Widerstand « (Aristoteles 1983: 215a). Da sich jeder fallende
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 61
Körper durch ein Medium bewegt, formuliert Aristoteles den allgemeingültigen Satz:
» Je unkörperlicher, widerstandsärmer und leichter durchteilbar das Medium, desto
schneller die Bewegung in ihm « (a. a. O.). Damit erklärt er die Bewegung als Folge der
Tatsache, dass sich jeder bewegende Körper gegen – wie man sagen könnte – Reibungs-
widerstand durchsetzen muss. Der zweite Teil des aristotelischen Fallgesetzes befasst
sich mit dem Einfluss der Schwere von Körpern1. Aus der Beobachtung wissen wir, stellt
Aristoteles fest, » dass die Körper mit größerer Fallkraft […] bei sonst gleichen Umstän-
den (ihrer Gestalt) eine Strecke schneller zurücklegen (als solche mit geringerer Fall-
kraft […]), und zwar proportional zu ihren Ausdehnungsgrößen « (a. a. O.: 216a). Ein
Körper, beispielsweise ein Stein, fällt nach unten, und zwar umso schneller, je schwerer
er ist. Selbstverständlich hätte der Philosoph nie zwei Körper unterschiedlicher Form,
also beispielsweise ein Blatt und einen Stein verglichen.
Die beiden Teile des aristotelischen Fallgesetzes ergeben sich durch lebensweltliche
Erfahrung. Sie sind also empirisch – eben anhand der Beobachtung alltäglicher Vor-
gänge – gewonnen. Aristoteles widmete sich der Beobachtung von Körpern, sofern diese
ohne Hilfsmittel geschehen konnte. Warf er ein Kieselsteinchen einmal ins Wasser und
ein andermal in Olivenöl, so sah er, dass es sich im leichter durchteilbaren Medium
schneller nach unten bewegte als durch das dichtere. Beobachtete er leichte Sandkörn-
chen, wie sie langsam durchs Wasser rieseln, und verglich das mit dem schnellen Plump-
sen eines schweren Steines nach unten, so fand er bestätigt, dass der Schnelligkeit des
Falles vom Gewicht abhängig ist. Und auch wir können, wenn wir entsprechende Be-
obachtungen durchführen, zu keinem anderen Ergebnis kommen als Aristoteles. Denn
die aristotelische Physik ist, genau genommen, eine Theorie lebensweltlicher Erfahrung.
Allerdings versagt diese einfache Form der Beobachtungsmöglichkeiten von Fallbe-
wegungen, sobald die Vorgänge nicht mehr unmittelbar erfassbar sind. So entzieht sich
die genaue Beschreibung des Bewegungsablaufs eines Steines, der durch Luft fällt, jedem
lebensweltlichen Zugriff. Das Auge kann ihn nicht angemessen genau verfolgen, denn er
fällt zu schnell. Lehrer im heutigen Schulunterricht müssen elektronische Stoppuhren
verwenden, um bei entsprechenden Körpern den Geschwindigkeitszuwachs bezogen
auf die Zeiteinheit zu messen.
Die aristotelische Physik galt uneingeschränkt bis in die frühe Neuzeit, weil sie mit
alltäglichen Erfahrungen übereinstimmte und daher überzeugte. Erst mit dem Aus-
gang des Mittelalters traten nach und nach technische Innovationen auf, die zu neuen
Fragestellungen führten und entsprechend neue Untersuchungsmethoden erforderlich
machten. Sie führten schließlich zur Begründung eines neuen Typs von Wissenschaft.
Für mein Thema ist von grundlegender Bedeutung, dass der durch Galilei begründete
Wissenschaftstyp zur Grundlage der Ingenieurwissenschaften werden konnte. Doch be-
1 Für Aristoteles › fällt ‹ Rauch, der aus einem brennenden Feuer aufsteigt, dank seiner Leichtigkeit nach
oben. Doch solche Vorgänge klammere ich aus, um allein Körper zu betrachten, die dank ihrer Schwe-
re nach unten fallen.
62 Lutz Hieber
vor ich darauf zu sprechen kommen kann, möchte ich die wesentlichen Strukturen der
neuen, durch Galilei begründeten Wissenschaft darlegen, die uns heute zwar selbstver-
ständlich und unhinterfragbar erscheint, aber tatsächlich ein historisches Produkt ist.
Galilei schuf mit seinen Untersuchungen zur Fall- und Wurfbewegung die Grund-
lagen dessen, was wir heute als Physik bezeichnen. Seine Empirie ist nicht mehr die
bloße Beobachtung, sondern das Experiment. Die Fragen, die ihn bewegten, benennt er
im ersten Satz seiner Discorsi von 1638: » Die unerschöpfliche Tätigkeit eures berühmten
Arsenals, ihr meine Herren Ventianer, scheint mir den Denkern ein weites Feld der Spe-
kulation darzubieten, besonders im Gebiete der Mechanik « (Galilei 1973: 3). Er interes-
siert sich für das Arsenal, in dem Kriegsgerät gelagert wird. Seine Neugier richtet sich
auf die Funktionsweise technischer Instrumente. Die Gründe, warum er das tat, kann
ein kurzer Exkurs in die Wissenschaftsgeschichte erläutern.
der Lafette auf einem Räderkarren (Abb. 3). Schließlich kam in der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts der Durchbruch. Die » entscheidende Innovation stellten die in deut-
schen Bilderhandschriften erstmals auftauchenden Schildzapfen an den Büchsen dar.
Dies waren im Schwerpunkt des Geschützes angeschmiedete oder angegossene runde
Zapfen, die eine Lagerung des Rohres in einer Wandlafette ermöglichten «; der entschei-
dende Vorteil der Kanone mit Zapfen war, dass nun » ein stufenloses Richten in der Ver-
tikalen « möglich war (a. a. O.: 204.). Eine Zeichnung des namentlich nicht fassbaren
Hausbuchmeisters 2 aus dem späten 15. Jh. zeigt eine kleinkalibrige Kanone mit Zapfen
auf einer einachsigen Räderlafette, daneben die Version einer andersartig gelagerten
Kleinkanone auf vierrädrigem Karren (Abb. 4). Die am Schwerpunkt der Kanone ange-
brachten Zapfen, die ihrer Lagerung auf der Lafette dienen, bewährten sich und setzten
sich durch.
Der Festungsbau musste sich verändern, um Kanonen zur Abwehr von Angrei-
fern einsetzen zu können. Kanonen wurden selbstverständlich auch auf Schiffen instal-
liert. » Für die Zeit nach 1370 belegen glaubwürdige Berichte den Einsatz von Artillerie
auf See « (Parker 1990: 111). Die gesamte Kriegsführung erhielt also eine neue Struktur.
» Stehende Heere, neue Waffen und wachsender Professionalismus sowie neue Schiffs-
konstruktionen « bestimmten künftig die militärischen Schauplätze (Keen 1999: 291;
Übers. L. H.). Damit bin ich am Ende meines Exkurses angelangt und komme nun zu
Galileis großer Leistung: der Begründung der Physik als Experimentalwissenschaft.
2 Der Hausbuchmeister, auch Meister des Amsterdamer Kabinetts genannt, wirkte in Heidelberg und
Mainz, auch Köln hatte er besucht.
64 Lutz Hieber
Die Fortschritte der Kanonen-Technik ermöglichten es das Rohr nach Belieben aus-
zurichten. Aber das Zielen bereitete Schwierigkeiten, da der Verlauf der Wurfbahn
noch unbekannt war. Damit war ein Komplex von Fragen aufgeworfen, die im frühen
16. Jahrhundert immer drängender nach Antworten verlangten. Die bloße Beobachtung
konnte im Bereich der Feuerwaffen tatsächlich nicht mehr als empirische Basis dienen.
Die Kanonen bedienten Büchsenmeister, höhere Handwerker, die über vielfältige
Kenntnisse verfügten. Ihre Erfahrung war zwar noch in keiner Weise theoretisch fun-
diert, aber bei ihnen handelte es sich doch um Berufe mit einem hohen Grad an Fach-
kenntnissen und Spezialisierung, die sie auch in Büchern darlegten. Da der soziale
Abstand zwischen den akademisch gebildeten Gelehrten und diesen höheren Handwer-
kern zusammenschmolz, konnten schließlich die Gelehrten die Methoden der Praktiker
übernehmen (Zilsel 1976). Als erster beteiligte sich der Mathematiker Tartaglia im Jahre
1532 an der Durchführung eines Experiments.
Dieses erste überlieferte Experiment kam zustande, weil Tartaglia von einem be-
freundeten Bombardiero aus Verona veranlasst worden war, über die Tragweite und
die Schusslinien der Feuerwaffen nachzudenken. Die Behauptung, ein Erhebungswinkel
von 30°, und nicht – wie von Tartaglia vermutet – der von 45° ergebe die größte Schuss-
weite, bewog ihn zu Versuchen. » Man schoss bei Santa Lucia mit einer zwanzigpfündi-
gen Schlange um die Wette, wobei die Elevation von 45° eine Wurfweite von 1972 sechs-
füßigen Veroneser Ruten, die Erhöhung von 30° nur einen Ertrag von 1872 Ruten ergab «
(Jähns 1889: 596). Tartaglia » benutzte einen Quadranten, der aus zwei durch einen Vier-
telkreis verbundenen Linealen gebildet wurde. Das eine Lineal wurde zur Bestimmung
der Neigung der Achse des Laufes in diesen gesteckt, der andere mittels eines Senkels
vertikal gestellt « (Gerland/Traumüller 1965: 109). Dieses experimentelle Ermitteln des
Schusswinkels für die größte Wurfweite brachte allerdings nur einen marginalen Beitrag
zur Theorie der Wurfbewegung.
Deshalb musste das Problem noch hundert Jahre später Galilei beschäftigen. Er
konnte erst in seinem Alterswerk, den Discorsi, die Lösung mitteilen. Das Buch ließ er
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 65
1638 in Holland drucken, weil er einige Jahre zuvor in seiner Heimat Italien vor die In-
quisition zitiert worden war.
Beim schiefen Wurf werden – in moderner Sichtweise – zwei Komponenten wirk-
sam. Wird ein Körper unter einem Winkel α geworfen, so überlagern sich erstens die
ihm verliehene Geschwindigkeit v0 und zweitens der durch die Schwerkraft verursachte
freie Fall. Deshalb ging es für Galilei in einem ersten Schritt darum, das Gesetz des freien
Falles zu finden. Weil der freie Fall eines schweren Gegenstandes durch das Medium
Luft mit bloßem Auge nicht genau zu beobachten ist, ersann er eine experimentelle An-
ordnung. Sein Ziel war, die Bewegung des fallenden Körpers – mit den ihm damals zur
Verfügung stehenden Mitteln – messbar zu machen. Er beschreibt den Versuchsaufbau:
» Auf einem Lineale, oder sagen wir auf einem Holzbrette von 12 Ellen Länge, bei einer
halben Elle Breite und drei Zoll Dicke, war auf dieser letzten schmalen Seite eine Rinne
von etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. Dieselbe war sehr gerade gezogen,
und um die Fläche recht glatt zu haben war inwendig ein sehr glattes und reines Perga-
ment aufgeklebt; in der Rinne ließ man eine sehr harte, völlig runde und glattpolierte
Kugel laufen « (Galilei 1973: 162). Das Brett auf die schmale Seite zu stellen, verhinderte
weitestgehend ein Durchbiegen des Brettes, schuf also eine nahezu ideale schiefe Ebene.
Die glatte Kugel, die nahezu reibungsfrei läuft, stand für einen Massenpunkt. Idealisie-
rungen dienten also dazu, unerwünschte Randbedingungen auszuschließen. Da Galilei
noch keine Stoppuhren zur Verfügung standen, hat er die Fallzeit mithilfe einer durch-
dachten Vorrichtung gemessen: » Zur Ausmessung der Zeit stellten wir einen Eimer voll
Wasser auf, in dessen Boden ein enger Kanal angebracht war, durch den ein feiner Was-
serstrahl sich ergoss, der mit einem kleinen Becher aufgefangen wurde, während einer
jeden beobachteten Fallzeit: das dieser Art aufgesammelte Wasser wurde auf einer sehr
genauen Waage gewogen; aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die Verhält-
nisse der Zeiten und zwar mit solcher Genauigkeit, dass die zahlreichen Beobachtungen
niemals merklich voneinander abwichen « (a. a. O.: 163). Mit der Gleichung des Fallge-
setzes, die Galilei in langen Jahren der Experimentiertätigkeit schließlich fand, konnte
er nun die Wurfbahn ermitteln.
Die neuzeitliche Naturwissenschaft entstand aus der Verbindung von mathematisch for-
mulierter Theorie und instrumenteller Praxis. Galilei verkörpert diese Einheit, die we-
der eine auf lebensweltlicher Erfahrung basierende Philosophie noch handwerkelndes
Probieren mehr ist, weil sie beide umfasst. » Jede seiner Manipulationen ist vom Gedan-
ken, jeder seiner Gedanken von der experimentellen Prüfbarkeit geleitet « (Weizsäcker
1970: 170 f.).
Da Galilei einen technischen Vorgang untersuchte, nutzte er ein technisches Verfah-
ren, das Experiment. Das Interesse an technischer Verwertung wissenschaftlicher Er-
66 Lutz Hieber
Die Naturwissenschaften haben sich zwar immer bemüht, Brücken zu bauen, die das
Verstehen des abstrakten Fachwissens erleichtern sollen. Dazu dienten Modelle, die
das Unanschauliche in Anschauliches übersetzen. Doch Modelle können dies oft nur in
engen Grenzen leisten. Das möchte ich an einem Beispiel illustrieren, an den Tischpla-
netarien, wie sie im 18. Jahrhundert gebaut wurden, um die Struktur unseres Sonnen-
systems vor Augen zu führen.
Solche mechanischen Kurbel-Planetarien übersetzten die Bewegung der Planeten
(mit ihren Monden) um die Sonne in eine handgreifliche Apparatur (Abb. 5). Drehte
man an der Kurbel, kreisten die Planeten um das Zentralgestirn. Damit sollte der Auf-
bau unseres Sonnensystems anschaulich werden. Doch gibt das mechanische Modell die
Verhältnisse wirklich angemessen wieder ? Hat, wer das Modell in Bewegung versetzt
und betrachtet, die Sachverhalte verstanden ? Dazu zwei Zahlen: Die Erde rast auf ihrer
Umlaufbahn um die Sonne mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 29,8 km/
sec. Die Rotationsgeschwindigkeit der Erde in Äquatornähe beträgt 465 m/sec. Vom
Standpunkt lebensweltlicher Erfahrung ist deshalb bezüglich der Bewegung der Erde im
Modell des Tischplanetariums die Fragen zu stellen, ob die Mechanik die tatsächlichen
Verhältnisse angemessen wiedergibt (Hieber 1979: 158). Wenn man beispielsweise einen
68 Lutz Hieber
Tisch sehr schnell wegzieht, werden die Dinge, die sich auf ihm befinden, hinter ihm
herunterfallen. Da die Erde mit ihrer immensen Translationsgeschwindigkeit auf ihrer
Bahn entlang rast (die so groß ist, dass man sie einem Tisch niemals verleihen könnte)
müsste sie doch – das sagt die lebensweltliche Erfahrung – alle Gegenstände, die sich auf
ihr befinden, längst hinter sich gelassen haben. Auch bezüglich der Rotation der Erde
wären vergleichbare Ungereimtheiten festzustellen. Wegen hohen Rotationsgeschwin-
digkeit eines Ortes auf der Erdoberfläche in unseren Breitengraden Erde müsste ein
Vogel, der aufgestiegen ist, ziemlich schnell zurückfallen und niemals zu seinem Nest
zurückkehren können, weil sich die Erde unter ihm in östlicher Richtung wegdrehte.
Solche Überlegungen übrigens brachten die Philosophen der Antike dazu, das helio-
zentrische Modell unseres Planetensystems abzulehnen, das von einer ruhenden Sonne
als Zentrum und den um sie herum kreisenden Planeten ausging (Toulmin/Goodfiled
1970: 132). Zugleich lassen derartige Einwände erkennen, dass das mechanische Kurbel-
Planetarium die Bewegung der Planeten zwar ein Stück weit anschaulich macht, aber
zum angemessenen Verständnis schließlich doch weitere physikalische Kenntnisse er-
forderlich wären.
So können handgreifliche Modelle bereits für die Klassische Mechanik nur eine
Brücke zur Anschaulichkeit sein, die nicht zureichend ist. Für den atomaren Bereich
versagen solche Modelle vollkommen. Weil für die Naturwissenschaften insgesamt die
Möglichkeiten einer Veranschaulichung durch Modellbildung nicht weit tragen, stehen
für Laien beim Versuch, naturwissenschaftlich-technische Sachverhalte zu durchdrin-
gen, erhebliche Hürden im Wege.
Deshalb bleibt ihnen, worauf Carl Friedrich von Weizsäcker hinwies, nicht viel mehr
als ein Glauben. Zu den sozialen Säulen des Glaubens zählen erstens ein Priesterstand
und zweitens die Rituale. Zum Ersten: Die Texte der naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Fachliteratur erschließen sich zwar den Experten, nicht aber den Laien. Glei-
chen sie in diesem Sinne nicht, so fragt Weizsäcker, » einem jener heiligen Texte, die der
Eingeweihte liest und die dem Laien ein Geheimnis bleiben ? « (Weizsäcker 1976: 5). Zum
Zweiten: Der Ritualkodex, der aus dem Glauben erwächst, gibt die Regeln des richtigen
Verhaltens gegenüber den übersinnlichen Mächten an. Der moderne Mensch kann zwar
viele der religiösen Rituale früherer Epochen nicht mehr nachvollziehen, doch er ist die-
sem Bewusstseinszustand in recht guter Analogie nahe, nämlich » in seiner Bereitschaft,
die Gebrauchsanweisungen zu befolgen, die mit jedem Stück moderner Apparatur mit-
geliefert werden « (a. a. O.: 8).
Sofern Laien naturwissenschaftlich-technisches Wissen nicht nachvollziehen kön-
nen, lastet umso mehr Verantwortung auf dem Experten. Die Verantwortung der Exper-
ten wächst in dem Maße, wie sich die Kluft zwischen ihrem Wissen und dem der Laien
vertieft (Abb. 6).
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 69
Experte Laie
technisch-natur-
wissenschaftliches Glauben an Technik
Wissen
Bertolt Brecht widmete sich dem Thema der Verantwortung, nachdem die Entdeckung
der Uranspaltung durch die Zeitungen gegangen war, in seinem Stück » Leben des Gali-
lei «. Er lässt seinen Galilei die Idee äußern, » Naturwissenschaftler « (leider denkt Brecht
nicht an die Ingenieure) hätten » etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte ent-
wickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwen-
den « (Brecht 1967: 1341).
Doch so einfach kann eine Übertragbarkeit aus dem medizinischen in das techni-
sche Feld nicht gelingen. Anders als beim Arzt, der es jeweils mit einem konkreten Men-
schen zu tun hat, reichen technisch-naturwissenschaftliche Innovationen oft in Gebiete
des Ökonomischen, des Ökologischen, des Sozialen, des Medizinischen, des Psycholo-
gischen, des Kulturellen und des Politischen. Tatsächlich kann der einzelne Naturwis-
senschaftler oder Ingenieur in einer Berufswelt, die auf Arbeitsteilung aufgebaut ist, nur
schwer die Folgen seines Handelns abschätzen. Er ist zwar Experte seines Fachgebiets,
doch links und rechts davon ist auch er ein Laie. Die Folgen aus naturwissenschaft-
lichem und technischem Handeln entstehen aus mehr oder weniger langen Interak-
tionsketten – welcher fachliche Spezialist sollte da nicht überfordert sein ?
Gleichwohl ist festzuhalten, dass Ingenieure große Verantwortung tragen. Sie kön-
nen, als Experten, möglicherweise auftretende Probleme und Gefahren einschätzen, die
außerhalb ihres Fachgebiets niemand zu erkennen in der Lage ist. Die Frage ist aller-
dings, was für sie an die Stelle des hippokratischen Eides treten könnte. Da auf der Hand
70 Lutz Hieber
liegt, dass die im engeren Sinne für moralische Fragen zuständigen Fachleute – bei-
spielsweise Philosophen oder Theologen – nur aus der Sicht ihrer Disziplinen, also
gewissermaßen von außen auf die konkreten technischen Problemstellungen blicken
können, verbietet sich eine Auslagerung des Themas der Verantwortlichkeit auf die ver-
meintlichen Ethik-Spezialisten. Vielmehr muss es darum gehen, unmittelbar am Be-
ruflichen anzusetzen. Allerdings gibt es dafür zwei ganz wesentliche Voraussetzungen:
Zum einen müssen sich Experten eine Vorstellung über die gesellschaftlichen Interak-
tionsketten verschaffen, in die ihre Tätigkeit eingebunden ist. Zum anderen sollten sie
in der Lage sein, ihre fachlich fundierten Einschätzungen in einer Weise weiter zu ver-
mitteln, die gegebenenfalls Schäden vermeiden hilft. Erst auf dieser Grundlage können
sie ihrer Verantwortung gerecht werden.
Doch dem stehen Momente der fachspezifischen Sozialisation der technisch-natur-
wissenschaftlichen Ausbildung entgegen, die ich kurz skizzieren möchte. Dazu zählt in
erster Linie, dass die Gegenstandsbereiche der technischen Ausbildung objektivierbar
sind. Lange Phasen des Ingenieurstudiums bestehen aus der Aneignung gesicherten
Lehrbuchwissens. Die Studierenden akzeptieren den Lehrstoff aufgrund der Autorität
des Lehrers und des Lehrbuches, nicht aufgrund von Beweisen. Hätten sie auch eine an-
dere Wahl oder Befugnis ? » Die in den Lehrbüchern geschilderten Anwendungen stehen
dort nicht als Beweis, sondern weil ihr Erlernen ein Teil des Erlernens des Paradigmas «
ist, dem die betreffende wissenschaftliche Praxis folgt (Kuhn 1967: 114).
Menschen, die durch die gleiche fachspezifische Bildung geprägt sind, verfügen
über Gemeinsamkeiten im Habitus. » Der Habitus « kann » als ein System verinnerlich-
ter Muster « betrachtet werden, » die es erlauben, alle typischen Gedanken einer Kultur
zu erzeugen – und nur diese « (Bourdieu 1974: 143). Der methodische Lehrbetrieb, das
im Studium erworbene System von Denk- und Wahrnehmungskategorien, schreibt sich
in den Lernenden ein. Das in den Jahren des Studiums oft mühsam Erlernte und Ein-
geübte wird bald so selbstverständlich, dass sich schließlich der ausgebildete Ingenieur
darin bewegt, als ob es › naturgegeben ‹ sei. Während seiner beruflichen Tätigkeit habitu-
alisiert er das Wesentliche, es geht ihm › in Fleisch und Blut ‹ über. Ganz ähnlich wie ein
erfahrener Autofahrer nicht mehr darüber nachdenken muss, den Fuß auf das Brems-
pedal zu setzen, wenn er ein Hindernis auf der Straße vor sich sieht, sondern diese Tä-
tigkeit reflexartig vollzieht. Was die Routine des berufserfahrenen Ingenieurs ausmacht,
kann als das fachkulturell Unbewusste seines beruflichen Handelns bezeichnet werden.
Der ausgebildete Ingenieur steht zu seiner erworbenen und schließlich in täglicher Pra-
xis gefestigten Bildung in einem Verhältnis, das sich weniger als › tragen ‹ sondern viel-
mehr als › getragen werden ‹ bezeichnen lässt: Er ist sich » nämlich nicht bewusst […],
dass die Bildung die er besitzt, ihn besitzt « (a. a. O.: 120). Der ausgebildete Ingenieur hat
die Denk- und Handlungsweisen seines Faches inkorporiert, sie sind Bestandteil seines
Habitus. Weil sie sein fachkulturell Unbewusstes bilden, setzt er sie in der Kommunika-
tion mit Anderen stillschweigend voraus. Auf diese Weise ist der Experte durch seinen
Habitus vom Laien getrennt (Abb. 7). Dazu zählt, dass Ingenieure geübt und gewohnt
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 71
Kommunikations-
barriere
fachkulturell Alltagsverständnis
Unbewusstes von Technik
Schlussfolgerungen
Der Schwerpunkt verantwortlichen Handelns bleibt, das ist festzuhalten, bei den Ex-
perten. Denn sie stecken mittendrin in der Produktion technischer Weiterentwicklun-
gen. Dank ihres Sachverstandes können sie Kenntnisse über – möglicherweise proble-
matische – Sachverhalte haben, die Nicht-Fachleuten unzugänglich sind oder erst zu
spät zugänglich werden. Je schwieriger überwindbar die Schranken zwischen dem Fach-
wissen der Ingenieure und Ingenieurinnen auf der einen und den Laien auf der anderen
Seite sind, desto stärker sind selbstverständlich die Ingenieure, und nur sie, gefordert,
das Richtige zu tun und entsprechende Weichenstellungen einzuleiten.
Unsere demokratische Gesellschaft muss den Ingenieurinnen und Ingenieuren die
Möglichkeiten an die Hand geben, Verantwortung wahrzunehmen. Das ist gegenwär-
tig nicht zureichend gegeben. Diskussionsforen und Vernetzung (gemäß Meihorsts
Vorschlag) könnten dafür eine gewisse Basis schaffen. Allerdings setzt dies die in sehr
vielen Fällen eine Fähigkeit zur Kommunikation mit Laien voraus. Damit diese gelin-
gen kann, wären die hinderlichen Effekte fachspezifischer Sozialisation zu überwin-
den. Als der beste Ort, die Qualifikationen zu erwerben, die Ingenieure in die Lage
versetzen, in einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich Verantwortung wahrzu-
nehmen, erscheint das Studium. Schließlich nähmen auch diese Studiengänge keinen
Schaden, wenn der zentralen und rein fachlichen Ausbildung auch Trainigs beigesellt
würden, die einer Reflexion des fachspezifischen Unbewussten und einer Förderung all-
gemeiner Kommunikationsfähigkeit dienen. Solche Bausteine der Ausbildung könnten
indes nicht nur eine Grundlage verantwortlichen Handels bilden. Sie könnten vielmehr
zugleich zur Verbesserung der Tätigkeit in einer zunehmend arbeitsteiligen Berufswelt
dienen.
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Die » schöne neue Welt «
und die Verantwortung der Ingenieure
Wolfgang Mathis
Institut für Theoretische Elektrotechnik, Leibniz Universität Hannover
Ingenieurmäßiges Arbeiten hat unsere Welt verändert und tut es nach wie vor. Das
dies in uneingeschränkter Weise eine positive Entwicklung ist, war bis zum Ende des
19. Jahrhunderts Konsens zumindest in den führenden gesellschaftlichen Schichten. Die
programmatische Basis für diesen Fortschrittsoptimismus wurde in der Zeit der Auf-
klärung u. a. durch Francis Bacon, englischer Jurist, Staatsmann und Philosoph, am An-
fang des 17. Jahrhunderts gelegt ([1], S. 173): » Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wis-
senschaften « und ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, und auch der Technik, » ist
kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu berei-
chern «. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren jedoch die Folgen der tech-
nischen Industrialisierung unübersehbar geworden und man begann über die Tech-
nikfolgen nachzudenken. Die Technik wurde Thema für Philosophen, Literaten und
die Ingenieure selbst, wobei zunehmend auch die Konsequenzen von Wissenschaft
und Technik ausgeleuchtet wurden. Noch hundert Jahre zuvor war die langsame evo-
lutionäre Entwicklung der Technik im Leben des Einzelnen nur wenig fassbar. Erst der
Sturm der Neuerungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte dies grundle-
gend. Die von Wissenschaft und Technik geprägte » schöne neue Welt «, deren Potential
zur Entmenschlichung u. a. von Aldous Huxley [4] bereits in den zwanziger Jahren des
letzten Jahrhunderts beschrieben wurde, hatte schon deutlich erkennbar nicht nur für
den Teil – eigentlich eher kleinen Teil – der Menschheit, dem die Segnungen der Tech-
nisierung zu Gute kamen, sondern für die gesamte Menschheit in der einen oder ande-
ren Weise auch negative Folgen. Wir erleben dies tagtäglich in den Nachrichten. Aber
wer trägt die Verantwortung, wenn etwas schief geht ? Gibt es No-Go-Konzepte für die
technisch Handelnden, für Ingenieurinnen und Ingenieure ?
Natürlich mangelte es nicht an Versuchen, das Problem der Technik auch in seiner
ethischen Dimension auszuleuchten. Das ist auch seitens der Techniker immer wieder
geschehen. Es sei an Friedrich Dessauer, Physiker und Politiker in der Weimarer Repu-
blik, und dessen zahlreiche Schriften sowie sein Spätwerk » Streit um Technik « aus dem
Jahre 1956 erinnert [3]. Auch alle wichtigen Ingenieurvereinigungen haben sich dieses
Themas in Symposien und Schriften immer wieder angenommen [15] [16]. So bleibt mir
eigentlich nur, noch einmal auf einige wesentliche Gesichtspunkte dieser Problematik
hinzuweisen.
Technisches Handeln im allgemeinen Sinne ist zweifellos darauf angelegt, die Welt
wie sie ist oder wie sie war, in künstlicher Weise und nach den Ideen des Menschen zu
verändern. Auf der Leiter der technisch Handelnden haben Ingenieurinnen und Inge-
nieure sicherlich die höchste Stufe inne. Während die Naturwissenschaften die in der
Natur vorhandenen Vorgänge auf der Basis geeigneter Präparationen in ihren feinsten
Ausprägungen untersuchen, möchte ingenieurmäßiges Handeln neue künstliche Ele-
mente oder Prozesse in der Natur erschaffen, welche naturgemäß den u. a. in der Physik,
Chemie und Biologie formulierten Gesetzen unterliegen müssen.
Auch wenn diese Beschreibung einsichtig erscheint, so weist doch der Technikphi-
losoph Friedrich Rapp darauf hin, dass » angesichts der … mannigfachen Arten des tech-
nischen Handelns, die im Verlauf der historischen Entwicklung anzutreffen sind, … von
vornherein keine begriffliche Festlegung (von Technik) zu erwarten (ist), die allen auftre-
tenden Besonderheiten gerecht wird « ([9], S. 38). Das soll kurz anhand einiger Defini-
tionsversuche illustriert werden. Eine umfassende Übersicht der verschiedenen Defi-
nitionsvorschläge findet man beispielsweise bei Lenk [6] und Ropohl [10]. Um einen
möglichst umfassenden Begriff von » Technik « zu erhalten, wird vielfach auf sehr ab-
strakte Definitionen zurückgegriffen. Nach Rapp unterscheidet man Definitionen
(siehe [9], S. 42 – 43), die auf das aktive Handeln im Allgemeinen abheben, wie etwa der
im 19. Jahrhundert lebende Maschinenbauingenieur Max Eyth: » Technik ist alles, was
dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt «, von solchen, die den methodi-
schen Charakter des aktiven Handelns besonders betonen, wie etwa v. Gottl-Ottlilien-
feld: » Technik im objektiven Sinne ist das abgeklärte Ganze der Verfahren und Hilfsmittel
des Handelns, innerhalb eines bestimmten Bereichs menschlicher Tätigkeit «. » Von diesem
sehr weit gefassten Technikbegriff « – so Rapp – » ist der engere Wortsinn zu unterscheiden,
der das technische Handeln des Ingenieurs einschränkt «; v. Gottl-Ottlilienfeld spricht von
der » Realtechnik «. Wir würden uns also sehr schnell verlieren, wenn wir uns auf das
fraglose interessante Feld des philosophischen Diskurses über Technik einlassen. Für
uns bleibt festzuhalten, dass technisches Handeln mit dem menschlichen Willen ver-
knüpft ist und somit auch mit menschlichen Wertesystemen. Damit wird das » Gut «
oder » Böse «, das ein Wertesystem impliziert, zumindest in den künstlichen Anteil der
Natur, der durch Technik geschaffen wurde, hineingetragen. In Frage steht dann aber
auch, ob der restliche Teil der Natur, die ursprünglich vor aller Menschheit vorhandene
Natur ebenfalls irgendwelchen Wertvorstellungen unterliegt. Eine interessante philoso-
phische Frage, auf die beispielsweise Hans Jonas [5] näher eingeht.
Technik setzt willentliches Handeln voraus, für das somit diejenigen, die handeln,
Verantwortung tragen können. Aber worauf bezieht sich diese Verantwortung ?
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 79
Sind Philipp Reis und Alexander Graham Bell, die im 19. Jahrhundert mit Dräh-
ten, Batterien und primitiven Mikrophonen experimentierten, um ihrem Traum einer
» fernmündlichen Übertragung von Gedanken « Gestalt zu verleihen, dafür verantwort-
lich, dass die heute gegebene dauernde Erreichbarkeit über das Handy auch negative
gesellschaftliche Implikationen besitzt ? Sicherlich waren sie damals der Meinung, der
Menschheit etwas Gutes zu bringen.
Kann man Marconi, der als jugendlicher Forscher im Garten seiner Eltern mit einem
Hertzschen Dipol experimentierte, um elektromagnetische Wellen zur drahtlosen Nach-
richtenübertragung zu nutzen, verantwortlich machen, dass seine Erfindung nur wenige
Jahre später Krieghandlungen des 1. Weltkrieg stark beeinflusste ?
Hätte derjenige, der sich in Berlin-Reinickendorf an Raketenversuchen beteiligte,
die kaum über ein besseres Feuerwerk hinausgingen, von Anfang an voraussehen müs-
sen, dass diese Experimente letztlich in einem Waffenarsenal mit einer Zerstörungskraft
von bis dahin unbekannten Ausmaßes münden würden und somit Verantwortung für
diese Entwicklung trägt. Oder hat Wernher von Braun erst später Schuld auf sich gela-
den, als er seine Mitverantwortung an dem Gebrauch seiner Raketen leugnete. Darauf
weist der amerikanische Kabaretist Tom Lehrer hin: » Once the rockets are up, who cares
where they come down ? That’s not my department, says Wernher von Braun. « [24]
Wir gelangen zu dem alten Konflikt des Messers, welches Segen oder Fluch sein kann.
Muss man aus dem Misslingen einer eindeutigen Antwort auf das Messerproblem fol-
gern, dass den Ergebnissen des technischen Handelns ebenso wie der ursprünglichen
Natur keine Bewertung im Sinne von » Gut « oder » Böse « zuzuordnen ist ?
Versuche, diese Fragen zu beantworten, sind kontrovers diskutiert worden. Ein ra-
dikaler Ansatz stammt von Hans Jonas, der im Rahmen der Begründung seines » Prin-
zips Verantwortung « im Anschluss an Kant einen neuen kategorischen Imperativ prägte
([23], S. 36): » Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden «. Eine ähnliche Aussage stammt von
dem MIT-Informatiker und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum, wenn er betont,
» dass jeder einzelne für die ganze Welt verantwortlich ist « ([18], S. 348).
Fraglos steht das ingenieurmäßige Handeln häufig am Anfang eines technischen
Produkts, da es von den Ingenieuren gewissermaßen aus der Taufe gehoben wird. Aber
können Ingenieure die technische Entwicklung voraussehen oder gar seine spätere Nut-
zung ? Nur dann könnten Sie für alles Zukünftige, was sich aus ihrer Erfindung entwi-
ckelt, verantwortlich gemacht werden. Bekanntlich gab es immer wieder Visionäre, die
Derartiges versuchten – zu aller erst wäre Leonhardo da Vinci zu nennen. Aber auch
an die reichhaltige, technisch geprägte Science Fiction Literatur ist zu denken, wobei
einem Namen wie Jules Verne, Isaac Asimov, E. A. van Vogt, oder Arthur C. Clarke
einfallen. Übrigens begann der zuerst genannte Jules Verne, was wenig bekannt ist, als
Technikskeptiker und ist es wohl Zeitlebens zumindest teilweise geblieben, wie sein erst
vor einigen Jahr bekannt gewordenes Frühwerk von 1863 [17] » Paris im 20. Jahrhundert «
zeigt. Sehr interessante Hinweise auf die » Welt in 100 Jahren « aus der Sicht des Jahres
80 Wolfgang Mathis
1910 findet man auch in dem Werk von Arthur Bremer [2]. Der ehemalige Rektor der
ETH Zürich und Elektrophysiker Franz Tank hat in einem 1962 erschienen Essay » Some
Thoughts on the State of the Technical Science in 2012 A. D. « [13] versucht, unsere heutige
Technik des Jahres 2012 vorauszusehen. Um die Schwierigkeiten seiner Überlegungen
zu illustrieren, ging er von den Fortschritten aus, welche die Physik in den Jahren von
1862 bis 1912 gemacht hatte, und lag mit seinen vorausschauenden Ansichten gar nicht
so falsch. Dennoch stellte er einige prinzipielle Fragen. So betonte er, dass nur das Feld
der Logik exakt prognostizierbar sei und fährt dann fort » Ist es möglich, den Zustand der
Physik oder einfach nur der Elektronik im Jahre 2012 auf der Basis unseres heutigen Wis-
sens mit Hilfe der Logik, d. h. des Denkens vorauszusagen ? « Er meint » Ja, da die Logik ein
sehr zuverlässiger Helfer ist und nein, da in der Zwischenzeit grundlegend neue Naturge-
setze entdeckt werden könnten, die für einen grundlegenden Wandel in der Zukunft sorgen
könnten «. Das Neue an unserer modernen Zeit sieht Tank in einem intellektuellen As-
pekt, wenn er betont: » Es wurde erkannt, dass durch Experimente grundlegende Natur-
gesetze gefunden werden können «. » Das gibt der Technik eine solide Basis «. Trotz seiner
nachdenklichen Haltung ist er dann wieder ganz Physiker und Ingenieur, wenn er fol-
gert » Nichts hat die Kraft, diese Entwicklung auf ihrem Weg zu stoppen, bis eines Tages das
ferne Ziel, welches uns unbekannt ist, erreicht sein wird. «
Resümierend zeigen die bisherigen Ausführungen, dass es nicht einfach ist, Technik
in ihrer allgemeinen Form zu definieren, noch lässt sich aufgrund einfacher Überlegun-
gen die Frage nach einem Zusammenhang von Verantwortung und ingenieurmäßigem
Handeln aufklären. Um in dieser essentiellen Frage tatsächlich einen Schritt weiter-
zukommen, sollte man mit Paul Hoyningen-Huene, Professor an der hiesigen Leibniz
Universität Hannover, zunächst einmal einige Grundfragen diskutieren, wozu seine Ar-
beit » Zur Verantwortung des Ingenieurs « [20] eine Reihe von Anregungen gibt. Da wäre
als allererstes zu fragen, was unter » Verantwortung « überhaupt gemeint ist. Er stellt klar,
dass berufliche Verantwortung von der gesellschaftlichen Verantwortung zu unterschei-
den sei.
Die berufliche Verantwortung betrifft die Ingenieurpraxis und daher lassen sich Ver-
antwortlichkeiten einfacher benennen, wenn fehlerhafte Arbeit geleistet wurde. Dazu
gibt es schlagkräftige Methoden des Qualitätsmanagements. Bei Fehlern lassen sich i. a.
klare Verantwortliche benennen und die Fälle lassen sich juristisch aufarbeiten. Viele
erinnern sich an das Challenger-Unglück von 1986, wo eine fehlerhafte Dichtung den
Tod der Besetzung nach sich zog. Bekanntlich hatten Ingenieure diese Schwierigkeiten
erkannt und noch am Vorabend vor einem Start gewarnt, aber die Leitung der Mission
hatte sich durchgesetzt und damit offensichtlich Verantwortung auf sich geladen.
Dennoch gibt es Schwierigkeiten bei sehr großen Katastrophen; beispielhaft genannt
sei die Katastrophe von Tschernobyl, Ölkatastrophe im Golf von Mexiko oder kürzlich
die Reaktorkatastrophe von Fukushima, bei denen sich auch politische Interessen über-
lagerten. Aufgrund der gewaltigen Auswirkungen von technischen Defekten in solchen
Anlagen stellt sich natürlich auch die weitergehende Frage nach der gesellschaftlichen
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 81
Verantwortung der Ingenieure. Die meisten Ingenieurverbände haben darauf schon vor
längerer Zeit mit einer Ethikdiskussion reagiert und einen Ethik-Kodex formuliert; bei-
spielhaft seien der Kodex des Verband deutscher Ingenieure (VDI) und der amerika-
nischen Elektroingenieurvereinigung Institute of Electrical and Electronics Engineers
(IEEE) genannt.
So kommt Hoyningen-Huene letztlich zu einem für manche vielleicht unbefriedi-
gendem Ergebnis: » Aber es bedeutet, dass Ingenieure in Situationen geraten können, in
denen Konflikte zwischen egoistischem, Techniker-, Arbeitgeber-, Gruppen-Auftraggeber-
und öffentlichem Interesse auftreten können. Für die Lösung solcher Konflikte dürfte es
keine Patentrezepte geben, und die Ingenieurvereinigungen werden bei der Weiterentwick-
lung ihrer Ethikkodizes diese Schwierigkeiten im Auge behalten müssen. « [20]. Nur sel-
ten erfährt die Öffentlichkeit etwas von diesen Konflikten der technisch Handelnden
wie im Falle von Norbert Wiener [19], bedeutender amerikanischer Mathematiker und
Begründer der Kybernetik [14], der im Jahre 1947 in Beantwortung der Ausführungen
eines Ingenieurs der Flugzeugfirma Boeing, der in einem Raketenprogramm tätig war,
in der Zeitschrift Atlantic Monthly Magazine [21] beschwor » keine weiteren Arbeiten zu
publizieren, die in den Händen verantwortungsloser Militärs Schaden verursachen kön-
nen « (» not to publish any future work (…) which may do damage in the hands of irre-
sponsible militarists «). Die Hintergründe seiner Reaktion schilderte Wiener in seiner
Autobiographie.
Vielleicht müssen einfach auch die Ingenieure wie alle anderen Staatsbürger einer
Zivilgesellschaft Fragen bezüglich ihrer Arbeit, die von gesellschaftlichem Belang sind,
studieren, reflektieren und einen eigenen Standpunkt beziehen. Dazu gehört auch, dass
Ingenieurinnen und Ingenieure über die Entwicklungsgeschichte der Technik und die
zugehörigen sozioökonomischen Bezüge fundierte Kenntnisse besitzen.
Der Besitz solcher Kenntnisse allein ist jedoch keineswegs ausreichend. Untersucht
man nämlich die Entwicklungsprozesse beim Entstehen neuer Technik in der Retro-
spektive, so zeigt sich, dass neue Erfindungen bei den Erfindern naturgemäß von einer
großen Euphorie begleitet werden und der Blick vom Standpunkt des großen Ganzen
als Kritik an dem Gegenstand der Erfindung empfunden wird. Historische Beispiele
zeigen, dass diejenigen, die den Fortschritt mit ihrer Erfindung voran bringen wollen,
selbst noch innere Hemmnisse zu überwinden haben und deshalb die Euphorie des
Augenblicks als weiteren Ansporn benötigen. Schließlich würden sich sozioökonomi-
sche Ansprüche so auswirken, dass sich die technische Aufgabe wesentlich verkompli-
ziert und daher den Kerngedanken der Erfindung stört.
Anhand der Erfindung des Automobils mit Verbrennungsmotor durch Carl Benz
und andere lässt sich diese Problematik gut verdeutlichen. So hatte Benz jahrelang er-
hebliche Schwierigkeiten, eine Erlaubnis zur Vorführung seines im Jahre 1886 patentier-
ten Automobils zu erhalten. Das Interesse an seinem Fahrzeug war noch auf der Welt-
ausstellung 1889 in Paris eher gering. Somit war es für ihn wohl kaum erkennbar, dass
nur einhundert Jahre später die Abgase von Automobilen, die er und wie alle weiteren
82 Wolfgang Mathis
Erfinder auf diesem Gebiet den Schloten der Fabriken gleich einfach in die Umwelt be-
förderten, zu einem sehr ernsten Problem für die ganze Menschheit führen würde. Die
heutige Mobilität mit Millionen von Automobilen war damals kaum vorstellbar und da-
her wäre eine Debatte über die Abgase von Verbrennungsmotoren solcher Fahrzeug im
Vergleich zu anderen Schwierigkeiten der Automobiltechnik von damals ziemlich bizarr
gewesen. Allerdings hätte diese Problematik spätestens vor Einführung der Massenpro-
duktion von Automobilen durch Henry Ford neu überdacht werden müssen, denn es
war ja in den 1920er Jahren sein erklärtes Ziel, Millionen von Auto zu herzustellen und
zu verkaufen. Die Fragen, ob zur Lösung des Abgasproblems die technischen Möglich-
keiten bestanden hätten und in wie weit die Gewinnoptimierung eine entsprechende
Diskussion verhindert hat, können jedoch hier nicht weitergeführt werden. Eine gesell-
schaftliche Debatte über die Wechselbeziehung von gesellschaftlichen und ökonomi-
schen Bezügen wäre allerdings sinnvoll gewesen und hätte vielleicht manche erst heute
erkennbaren Folgen der individuellen Mobilität vermindern können. Ähnliches gilt für
andere Großtechnologien, die globale Auswirkungen auf Leben haben.
Dabei können Debatten über Fragen der Verantwortung und Ethik von Ingenieu-
ren ohne Zweifel bei der Suche nach einem Standpunkt wertvolle Hilfestellungen ge-
ben – ganz im Sinne von Martin Lendi, Professor für Rechtswissenschaften an der ETH
Zürich, wenn er in verschiedenen Vorträgen darauf hinweist [22]: » Ethik stiftet Unruhe
hin zum tieferen Nachdenken über die Folgen unseres Tuns, und sie hält wider das Unzu-
längliche zum Dennoch an «.
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[8] M. Maring (Hrsg.): Verantwortung in Technik und Ökonomie. Universitätsverlag 2009
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Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 83
[11] A. Spitaler, A. Schieb (Hrsg.): Wissen und Gewissen in der Technik. Verlag Styria, Graz –
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[13] F. Tank: Some Thoughts on the State of the Technical Science in 2012 A. D.
Proceedings of the IRE, Vol. 50, 1962, S. 622 – 623
[14] M. Triclot: Norbert Wiener’s politics and the history of cybernetics. The Global and the
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[15] Zum Selbstverständnis des Ingenieurs und den Folgerungen für eine verantwortbare Pra-
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[16] Ch. Hubig, J. Reidel (Herausg.): Ethische Ingenieurverantwortung – Handlungsspielräume
und Perspektiven der Kodifizierung. Technik, Gesellschaft, Natur: Band 5, Edition Sigma, 2000
[17] J. Verne: Paris im 20. Jahrhundert. Fischer-Taschenbücher, Frankfurt/M. 2000 (geschrie-
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[18] J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt/M.
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[19] N. Wiener: Mathematik – Mein Leben (deutsche Ausgabe des 1956 erschienenen Originals).
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[20] K.-F. Wessel, B. Thiele (Hrsg.): Risiko in Wissenschafts- und Technikentwicklung und die
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[21] N. Wiener: A scientist rebels. The Atlantic Monthly, Jan. 1947, Vol. 179, S. 46
[22] M. Lendi: Grundorientierungen für die Raumplanung/Raumordnung – eine Vorlesung.
Eine Gastvorlesung, gehalten in Wien an der Universität für Bodenkultur, am 24. November
2003 (http://e-collection.library.ethz.ch/eserv/eth:26888/eth-26888-01.pdf)
[23] H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisa-
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[24] P. W. Singer: A world of killer apps. Nature, Vol. 477, 2011, S. 399 – 401
Treuhänderisches Handeln
in der Berufspraxis von Ingenieuren
Gerhard Wegner
Sozialwissenschaftliches Institut der EKD
Der im Titel enthaltene Vorschlag, die Berufsverantwortung von Ingenieuren als ein
treuhänderisches Handeln, das heißt als ein Handeln aus anvertrauter Macht zu begrei-
fen, soll im Folgenden in zehn Thesen entfaltet werden. Der Ausgangspunkt für die-
sen Gedanken wird in einem spezifischen Verständnis menschlichen Handelns gesehen,
das dieses nicht – oder auf jeden Fall nicht nur – als aus sich selbst heraus legitimiert
und allein vor sich selbst und eines anderen als rechenschaftspflichtig versteht, sondern
es stets vor dem Hintergrund einer dritten Bezugsgröße begreift. Von dieser dritten
Instanz her wird dieses Handeln als ein beauftragtes, anvertrautes, – in gewisser Hin-
sicht auch: pflichtgemäßes – Handeln begriffen und insofern seine spezifische Verant-
wortungsdimension rekonstruiert. Die Verantwortung dieses Handelns realisiert sich
herkömmlich im Ingenieurgeschehen, aber auch im sonstigen alltagsweltlichen Hand-
lungsverständnis, vor allem als Betonung von Haftung. Besonders im Blick auf das Inge-
nieurhandeln muss es sich jedoch auch als Sorge, das heißt als Bemühen um die Gestal-
tung der Zukunft verstehen.
Indem die Berufsverantwortung von Ingenieuren auf diese Weise als Handeln aus
anvertrauter Macht begriffen wird, wird insbesondere die Angewiesenheit dieses Han-
delns auf übergreifende Zusammenhänge, in die dieses Handeln eingebettet ist und vor
denen es sich reflektiert, deutlich. Die Berufsethik des Ingenieurhandelns kann in die-
ser Hinsicht nicht nur als die Reflexion auf bereits vorhandene Verantwortungsaspekte
und moralische Implikationen verstanden werden, sondern muss immer auch als eine
ethische Heuristik in den Blick geraten: Versteht man es als treuhänderisches Handeln
werden stets neue Verantwortungskontexte entdeckt. Der Kreis der Verantwortung, in
die Ingenieure mit ihrem Handeln einbezogen sind, erweitert sich auf diese Weise be-
ständig. Ethik ist so nicht etwa eine Bremse für das Ingenieurhandeln, sondern sie stellt
geradezu ein wichtiges Moment seines Antriebes dar: Die Technikentwicklung erfolgt
nicht etwa als im Nachhinein gebremst durch ethische Reflexion, sondern als hervorge-
bracht durch ebendiese, da sie sich im Blick auf die Zukunft als Sorge um eine lebens-
werte Welt begreift.
Treuhänderisches Handeln in diesem Sinne reflektiert sich insbesondere, indem es
sich seiner Wertebindung, das heißt seiner » Ergriffenheit « von Vorstellungen eines gu-
ten Lebens bewusst wird.
Blickt man auf die alttägliche Berufspraxis von Ingenieuren, so wird man mit ihrem
eigenen Selbstverständnis zunächst einmal feststellen können, dass sich die Verantwor-
tung von Ingenieuren alltäglich vor allem dadurch realisiert, dass legitimen Erwartun-
gen und vorgegebenen Normen entsprochen wird. Zu diesen legitimen Erwartungen
und vorgegebenen Normen zählen gesetzliche Vorgaben, vereinbarte Normen, profes-
sionelle Standards, Vorgaben von Unternehmen und anderen Auftraggebern, gegebe-
nenfalls auch weitergehende Standards wie Menschenrechte und anderes.
Diese Art der Verantwortung kann als Verantwortung erster Ordnung begriffen wer-
den. Sie ist für eine verantwortliche Berufspraxis schlichtweg unaufgebbar und es ist
von entscheidender Bedeutung, dass in allem technischen Handeln eine Reflexion auf
die entsprechenden Normen erfolgt. Ohne einen solchen Normengehorsam geht es in
der Technikentwicklung auf gar keinen Fall und die entsprechenden Normen müssen
im Diskurs auch dauernd weiterentwickelt werden. Bereits die Verantwortung erster
Ordnung ist somit als ein höchst kreativer Prozess zu begreifen, der falsch verstanden
wäre, wenn er nur als Einschränkung von technischen Möglichkeiten begriffen wird.
Technikentwicklung ist auch auf dieser Ebene nicht frei von gesellschaftlichen Vorga-
ben, sondern folgt in dieser Hinsicht auch stets gesellschaftlichen Fahrtentwicklungen
aller Art.
Betrachtet man nun näher die Mechanismen des Normengehorsams, so wird nun aber
auch ehr schnell deutlich, dass mit der Orientierung an vorgegebenen Normen auch
spezifische Fallstricke einhergehen. Denn je klarer diese Normen formuliert sind, desto
größer sind die mit ihrer Anwendung stets einhergehenden Gefahren. Dazu zählt zu-
nächst einmal das, was man als » Abhakmentalität « bezeichnen kann. Fernab von jeder
kreativen Anwendung von Normen geht es hier nur darum, in einer gleichsam bürokra-
tischen Weise vorhandene klar definierte Normen in den eigenen technischen Projek-
ten abzuhaken. Die Gefahr dabei, den Blick für das Ganze zu verlieren, liegt deutlich auf
der Hand. Damit einher gehen dann weitere Gefahren, wie z. B. die Entwicklung eines
Tunnelblicks, mit dem nur noch die unmittelbaren Randbedingungen des eigenen tech-
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 87
nischen Projektes in den Blick geraten, aber der große Zusammenhang, in dem sich
das Ganze bewegt, völlig aus dem Blick gerät. Ebenso können Probleme einer reinen
Funktionärsethik auftreten. Auch der Verlust von letztendlicher Identifikation bis hin
zu Formen von Ironie und Zynismus drohen. Gestaltung, Phantasie und Entwurfsstre-
ben kommen bei dieser Art des Normengehorsams leicht abhanden. Insofern kann ein
reiner Normengehorsam zu einer Blockierung der Kreativität führen.
Das Ganze ist mithin ein gewissermaßen paradoxes Geschehen, denn Verantwor-
tung für das eigene technische Projekt kann natürlich in der Regel nur so übernom-
men werden, dass man sich an bestehenden Normen orientiert, weil nur auf diese Weise
überhaupt Haftungsfragen in den Blick kommen. Was allerdings sehr viel weniger in
den Blick gerät, ist das, was im Weiteren als Verantwortung unter dem Aspekt der Sorge
im Blick auf die Gestaltung der Zukunft angesprochen werden soll.
Aus den Schwächen des reinen Normengehorsams folgt berufsethisch die Bringschuld
des Ingenieurs » in Bezug auf einen Reichtum der Alternativenproduktion « (Hanns-
Peter Ekardt). Den Gefahren des reinen Normengehorsams kann nur dann begegnet
werden, wenn die Ingenieursverantwortung in der Weise wahrgenommen wird, dass
stets ein höchstmöglicher Reichtum an Alternativen mitgedacht oder sogar auch mit
produziert wird. Der Begriff » alternativlos « ist auch im Ingenieuralltag ein Unwort. Es
gibt nie die eine eindeutige Lösung, die alle anderen Alternativen von vornherein aus
dem Feld schlagen würde. Deswegen müssen stets Alternativen zu jedem Projekt ent-
wickelt und in einer möglichst herrschaftsfreien Diskussion einer Entscheidung zuge-
führt werden. Das Ingenieurdenken darf insofern erst recht nicht auf Normengehorsam
reduziert werden; die Alternativenproduktion wird vielmehr durch Phantasie, Genia-
lität, auch durch Mut und durch den » großen Wurf « entschieden. Dazu muss es Frei-
räume und Diskussionsmöglichkeiten geben.
Weiter gedacht bedeutet dies, » dass es keine sachlich eindeutige Obergrenze im Be-
arbeitungsaufwand gibt « (Ekardt). Auch wenn diese Aussage sehr apodiktisch und ge-
radezu kantianisch fordernd klingt, so lässt sie sich schwerlich bestreiten. Obergrenzen
im Bearbeitungsaufwand werden aus pragmatischen Gründen zu ziehen sein – so auch
aus der Notwendigkeit, irgendwann überhaupt einmal zu entscheiden, aber sie entste-
hen nicht aus der Sache selbst. Damit ist ein sehr hoher Anspruch an das Ingenieur-
handeln formuliert. Im Grunde genommen ist dies ein Anspruch, der durchaus dem
kantianischen kategorischen Imperativ entspricht. Ein Abbruch der Alternativenpro-
duktion könnte infolgedessen erst dann erfolgen, wenn wirklich alle denkbaren Folgen
für alle denkbar Beteiligten eines technischen Projektes erreicht sind. In der Realität
wird man diesen Zustand freilich nie erreichen, aber als Horizont der eigenen Verant-
wortung bleibt er im Raum.
88 Gerhard Wegner
Hinter den angestellten Überlegungen steckt eine spezifische Vorstellung von Verant-
wortung, die sich nicht nur auf das getane Tun (= Haftung), sondern ebenso auf das
nicht getane Tun, das Unterlassen (=Sorge) richtet. Ethischen Überlegungen ist es na-
türlich immer darum zu tun, dass jemand die Folgen für das eigene Handeln auch tra-
gen kann und insofern für dieses Handeln haftet. Sehr viel spannender und auch sehr
viel kreativer wird es jedoch mit der Frage danach, ob nicht auch das nicht getane Eigen-
handeln, das Unterlassen, Folgen für den Einzelnen hat. Die Reflektion auf das Un-
terlassen lässt sich konstruktiv als Sorge bezeichnen, als Sorge um die Gestaltung des
Lebens in der Zukunft, die durch das eigene Tun und Unterlassen beeinflusst wird. In-
sofern ist die Verantwortung des Ingenieurs nicht nur auf das gerichtet, was er selbst
leistet, sondern auch auf das, was er nicht leistet und was durch das eigene technische
Projekt möglicherweise sogar überdeckt wird. Die Alternativen, die an dieser Stelle auf-
leuchten gehen also weit über das eigene Projekt hinaus und können auch die Fragen
aufnehmen, die durch die eigene technische Entwicklung gerade ausgeschlossen wer-
den. Es kann sein, dass die Entscheidungen in dieser Hinsicht nicht unmittelbar im Be-
rufsfeld des eigenen Ingenieurs angesiedelt werden, sondern an andere übergreifende
Stellen delegiert sind. Die Notwendigkeit, an dieser Stelle Rückfragen zu stellen und Al-
ternativen einzuklagen, bleibt aber beim Ingenieur.
Faktisch ist es sogar so, dass der Sorge größere Bedeutung als dem Haftungsaspekt
zukommt, weil stets der Nichtschädigung von Menschen und Umwelt der Vorrang vor
einer Entschädigung eingeräumt werden wird. Aus dem Haftungsaspekt resultiert die
Notwendigkeit von Entschädigung im Fall der Schädigung durch technische Projekte.
Jeder Beteiligte würde aber in jedem Fall eine Nichtschädigung einer Entschädigung
vorziehen. Genau damit ist aber dem Aspekt der Sorge der Vorrang eingeräumt. Sor-
gend und dann im zweiten Schritt haftend in die Welt einzugreifen, wird somit zum
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 89
Kern von technischer Verantwortung. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch techni-
sche Verantwortung mit einem Blick in die Zukunft verbunden werden muss. Die Frage
» Wie wollen wir in Zukunft leben ? « steht auch im Hintergrund jeder technischen Ent-
wicklung. Technik hat nie nur mit Technik zu tun, sondern mit ihrer eigenen Einbet-
tung in den gesamten Lebens- und Wirklichkeitsprozess.
Es lohnt sich nun an dieser Stelle, die Idee von Verantwortung als Sorge weiter zu ent-
falten, da hier das Problem der Wertorientierung und Wertbindung von technischem
Handeln besonders deutlich wird. Folgt man dem Wirtschaftsethiker Christian Neu-
häuser, so impliziert die Idee der Verantwortung als Sorge eine umfassende solidarische
Grundannahme. Indem ich mein Handeln in zukünftige Lebenskonzepte und Wirk-
lichkeitsvorstellungen einbette, akzeptiere ich für mich meine eigene solidarische Ein-
bindung in diese zu realisierende und auf mich zukommende Zukunft. Genauso wird
treuhänderisches Handeln als Auftrag einer dritten Instanz – in diesem Fall noch recht
nüchtern als die Zukunft beschrieben – konkretisiert. Auch der Haftungsaspekt bindet
mein Handeln an solidarische Beziehung zu anderen, aber er begrenzt diese solidari-
sche Beziehung gleichsam durch die immer wieder prinzipielle Möglichkeit des Reali-
sierens meiner Haftung. Indem ich aber mich selbst als sorgend um die Zukunft dieser
Welt begreife, wird meine Verantwortung sehr viel weiter ausgedehnt.
Sorge zu übernehmen, wird so zum Wert des Handelns von Ingenieuren. Unter Wert
verstehen wir in diesem Fall eine Art von elementarer Grundgestimmtheit, von einem
» Ergriffensein « (Hans Joas), dem man sich nicht entziehen kann. Werte sind das, was
Menschen elementar anleitet und von dem sie sich selbst auch bestimmt fühlen. Das
Besondere daran ist, dass Menschen sich zwar durch Werte gebunden, ohne sich jedoch
dadurch zu etwas gezwungen zu fühlen, sondern im Gegenteil dieses Ergriffenseins ih-
rer inneren Welt geradezu als Befreiung zu einem wirklichen Handeln und zur eigenen
Orientierung verstehen. Nur durch die Bindung an Werte in diesem Sinne kann ich frei
in der Welt handeln, weil ich Verantwortung für andere und für die Welt übernehmen
kann. Das, was ich im technischen Handeln tue, kann damit etwas Neues in die Welt
bringen, das diese Welt bereichert, ohne sie zu bedrohen oder gar zu zerstören.
6. These: Freiheit
Zusammengefasst lässt sich nun sagen, dass das Handeln von Ingenieuren im Blick auf
die durch die Sorge angetriebene Notwendigkeit der Alternativenproduktion als ein
Handeln in Freiheit verstanden und auch entsprechend institutionalisiert werden sollte.
Die Sorge um die Zukunft des Lebens auf diesem Globus befreit das technische Handeln
90 Gerhard Wegner
dazu, sich selbst im Hinblick auf die Zukunft zu reflektieren und nach den jeweils best-
möglichen Alternativen zu suchen. Diese Freiheit muss auch im konkreten Berufsalltag
realisierbar sein. Zwang und fehlende Information sind schon seit Aristoteles Gründe,
die von Verantwortung in dieser Hinsicht befreien und die bei einem verantwortlichen
Ingenieurshandeln nicht vorkommen dürfen.
Die Anreizstrukturen des Ingenieurhandelns müssen Konflikte in dieser Hinsicht
möglichst minimieren. Dazu zählen an erster Stelle Konflikte zwischen Ökonomie und
Ethik. Völlig aus der Welt schaffen lassen sich diese Konflikte natürlich nicht. Aber das
Bestreben danach, die notwendige technische Alternativenproduktion möglichst weit
zu entfalten, bevor ökonomische Entscheidungen fallen, sollte breiter anerkannt wer-
den. Damit geht auch einher, dass die Unabhängigkeit von Ingenieuren in der Technik-
produktion, die erst ein freies Handeln möglich macht, entscheidend ist. Dabei geht es
natürlich um das Recht zur Verweigerung bestimmter technischer Entwicklungen, aber
dieses Recht, so wichtig es ist, scheint nicht von primärer Bedeutung zu sein. Von pri-
märer Bedeutung ist die Möglichkeit zur Entwicklung von technischen Alternativen im
konkreten Fall und ihre möglichst weitgehende Ausarbeitung. Freiheit und Verantwor-
tung von Ingenieuren realisiert sich darin.
Die bisher angestellten Überlegungen müssen nun weiter differenziert werden, vor al-
lem im Blick darauf, dass man natürlich berechtigterweise Bedenken gegen die Absolut-
heit der Forderung nach Alternativenproduktion und in diesem Sinne nach Freiheit ha-
ben kann. Deswegen muss nun auch gesagt werden, dass Verantwortung als Sorge sich
stets zwischen kategorialen, apodiktischen Urteilen und relativierender Chancen- und
Risikoabwägung konkretisiert. Das eine geht nicht ohne das andere: Man muss wissen,
was man grundsätzlich ablehnt (apodiktisches Urteilen), um überhaupt entscheiden zu
können, was getan werden kann (relativierende Abwägung). Das eine ohne das andere
ist schon rein logisch nicht vorstellbar, denn ohne Grenzen der relativierenden Abwä-
gung wird man überhaupt keine Abwägung hinbekommen. Freiheit der Chancen- und
Risikoabwägung erwächst deswegen auch an dieser Stelle erst aus der Bindung an be-
stimmte kategoriale grundsätzliche Werte und Urteile.
Als Beispiel einer gelungenen Verständigung zischen kategorialen und relativieren-
den Urteilsbildungen sei das Votum der » Ethikkommission Sichere Energieversorgung «
zur Energiewende in Deutschland zitiert. Dort heißt es, nachdem alle denkbaren kate-
gorialen und relativierenden Urteile diskutiert worden sind: » Der Ausstieg ist nötig und
wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zu-
kunft auszuschließen. Er ist möglich, weil es risikoärmere Alternativen gibt. « Hier wird
folglich beides in eine gute Beziehung miteinander gebracht. Die kategoriale Aussage,
dass der Ausstieg nötig ist, wird mit der abwägenden Aussage, dass er möglich ist, in
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 91
ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Eins geht in der Regel nicht ohne das andere. Insofern
geht es in entsprechenden ethischen Diskursen immer darum, beide in sich sinnvollen
Haltungen und Urteilsweisen mit einer gewissen Toleranz und Demut aufeinander zu
beziehen.
Um nun einen möglichst hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu werfen, sei an dieser
Stelle auch darauf hingewiesen, dass der Bedarf an in die Zukunft gerichtetem Sorge-
handeln angesichts der ökologischen Bedrohungsszenarien insbesondere in technischen
Bereichen weiter wachsen wird. Technisches Handeln, dass lediglich von Tunnelblicken
und begrenzten Alternativen geprägt wird, wird in Zukunft immer weniger nachgefragt
werden bzw. in reine relativ langweilige Spezialbereiche abgedrängt werden. Jene Unter-
nehmen aber, die in der hier vorgestellten Weise ethische Unternehmenskulturen pfle-
gen, werden in der Zukunft erfolgreich sein, da sie im Wettbewerb den anderen weit
voraus sein können. Ethische Reflexion erweist sich auch in dieser Hinsicht als ein Wett-
bewerbsvorteil, der sich vielleicht nicht in kurzfristigen Erfolgen, aber in einer langfris-
tig nachhaltigen Aufstellung des Unternehmens zeigen wird.
Dabei sind diejenigen Unternehmen, die sich als Wertegemeinschaften oder zumin-
dest als wertorientierte Verhandlungsräume aufstellen, von Vorteil. Solche Unterneh-
men bieten in sich Freiräume für verantwortungsethische Diskurse und Möglichkeiten
über Zielsetzungen des Unternehmens und die eigenen Produktentwicklungen in eine
Diskussion zu kommen. Unternehmen, in denen solche Möglichkeiten beschränkt wer-
den, mangeln der Kreativität, die es braucht, um sich wirklich sorgend in die Zukunft
bewegen zu können. Die Frage an entsprechende technische Unternehmen in Zu-
kunft ist folglich, welchen Beitrag man zu einem gemeinsamen Leben in der Schöpfung
leisten will und was dazu durch das eignen Unternehmen technisch entwickelt werden
soll. Oder um Sabine Langer zu zitieren: » Was will durch uns in die Welt gebracht wer-
den ? « Diese Fragestellung formuliert noch viel präziser die Orientierung an einer Wer-
torientierung, von der sich der Ingenieur und das ganze Unternehmen selbstbestimmt
und getragen zugleich wissen.
Fasst man nun das bisher Gesagte zusammen, so kann davon gesprochen werden, dass
sich ein technisches Handeln als treuhänderisches Handeln in seinem eigenen Han-
deln im Blick auf letzte Werte und dritte Ebenen selbst transzendiert, das heißt selbst
im Blick auf seine eigene Bindung übersteigt. Treuhänderisches Handeln begreift sich
als Handeln im Auftrag und vor dem Forum einer dritten Instanz, wie immer sie im
92 Gerhard Wegner
Einzelnen geartet ist. Es transzendiert sich – und die Ebene des Verhältnisses von Auf-
tragnehmer und Auftraggeber – auf diese Weise. Im Raum und in der Wahrnehmung
stehen deswegen nie nur der Ingenieur und der ihn Beauftragende, sondern stets auch
diese dritte Instanz, die ihr Licht auf das konkrete technische Tun wirft. Erzeugt wird
auf diese Weise eine Distanz zum konkreten Tun, auch zum Verhältnis von Auftragneh-
mer und Auftraggeber als solchen, die heilsame Freiheit und damit Kreativität mit er-
zeugen kann.
Natürlich ist die Frage, wie sich diese dritte Instanz genauer fassen lässt. Die Ant-
wort hierauf muss offen bleiben, da für die genaue Benennung dieser dritten Instanz
natürlich verschiedene Kandidaten infrage kommen. So kann auf der einen Seite die
Natur oder Schöpfung oder auch die Zukunft in dieser Hinsicht als eine wichtige kor-
rigierende Instanz benannt werden, die sich vielleicht im Gewissen noch näher kon-
kretisiert. Es kann auch das moralische Gesetz in mir und in dieser Hinsicht noch viel
näher das Gewissen sein. Es können ultimative Werte sein, von denen ich mich ergrif-
fen fühle, und es kann in dieser Hinsicht auch das sein, was mit der Kategorie Gott be-
zeichnet wird.
Allen diesen Referenzen ist eine gewisse Unspezifität zu eigen, das heißt, es geht
bei diesen Referenzen niemals um eine klar definierbare normative Instanz, die sich
im Sinne eines Normengehorsams abhaken ließe. Selbst für die berühmten Zehn Ge-
bote trifft dies in keiner Weise zu. Gerade in dieser Unspezifität liegt aber die Stärke
dieser Größen, weil sie einen Raum der Reflexion und damit der Freiheit eröffnen, der
im Normengehorsam eben gerade nicht gegeben ist und zu den benannten Schwächen
führt. Gefordert sind mithin der beständige Diskurs und die beständige Verständigung
über das notwendige Handeln, was aus dieser Triangulation des eigenen Handelns er-
folgt. Weil jedoch diese Größen nicht abhakbar sind und deswegen bisweilen vielleicht
sogar trivial erscheinen, werden sie in meiner Erfahrung von Ingenieuren leider bestän-
dig unterbewertet. Wenn man sich allerdings klarmacht, wie sehr diese Größen mit der
eigenen Persönlichkeitsstruktur zu tun haben, wird ihre Bedeutung besonders deut-
lich. Damit sie gepflegt werden, braucht es allerdings eine Symbol- und Sprachwelt, die
über das hinausgeht, was meist im unmittelbaren Ingenieurshandeln direkt verwertbar
ist. Ingenieure brauchen den lebendigen Dialog Geisteswissenschaftlern, Philosophen,
Theologen und Künstlern.
Als ein Ausblick sei nun noch darauf hingewiesen, dass technisches Handeln heute vie-
les in die Welt setzt, was es so vorher noch gar nicht gab. Wie kaum ein anderes Han-
deln ist technisches Handeln heute immens innovativ. In dieser Hinsicht ist technisches
Handeln nicht nur auf Werte bezogen, sondern auch wertegenerierend. Auch ein tech-
nisches Handeln, das aus der Sorge um das Leben auf dieser Welt resultiert, verändert
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 93
dieses Leben in der Welt entscheidend und greift deswegen auch beständig in Werte-
strukturen ein. Die vielen Technikphantasien und Technikvisionen weisen darauf hin,
wie stark dies der Fall ist. Ein Leben auf dieser Welt ohne Technik ist nicht mehr zu den-
ken. Auf diese Weise sind technische Lösungen, Automaten und Maschinen längst mehr
als nur von Menschen zu beherrschende Instrumenten, sondern selbst zu Partnern des
Lebens geworden.
Weil dies so ist, muss die Freiheit zu diesem Tun weiter wachsen, da von einer nach-
haltigen Technikentwicklung die Zukunft entscheidend abhängt. Gefordert ist eine
Wahrnehmung von Freiheit in Verantwortung.
Literatur
Veronika Drews: Das Gute im Geschäft. Wie Unternehmen Ethik treiben. Berlin 2010
Heinz Duddeck (Hrsg): Technik im Wertekonflikt. Ladenburger Diskurs. Opladen 2001
Hanns-Peter Ekardt: Wozu Ingenieurverantwortung ? Zur Alltäglichkeit professioneller Selbst-
kontrolle im Bauwesen. MS Berlin 15. 4. 1997
Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung: Deutschlands Energiewende – Ein Gemein-
schaftswerk für die Zukunft. Berlin 30. Mai 2011
Hans Joas: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M. 1999
Christian Neuhäuser: Unternehmen als moralische Akteure. Berlin 2011
Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Ethik in der Praxis. Wege zur Realisierung einer Technikethik.
Hannover 1998
Risikogesellschaft und die German Angst
Peter Nickl
Leibniz Universität Hannover/Universität Regensburg
Die Verantwortung, über die zu sprechen ist, und die natürlich nicht nur eine » Ver-
antwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren « ist, befindet sich ja schon auf dem
besten Wege, wenn nicht auf der einen Seite Naturwissenschaftler und Ingenieure, auf
der anderen Geistes- und Sozialwissenschaftler sozusagen in den Gattern ihrer Fächer
und unter den Scheuklappen der dort betriebenen Spezialdiskurse bleiben. Mit ande-
ren Worten: unser Miteinanderreden (und Aufeinanderhören) ist ein Schritt, der bereits
vieles impliziert. Denn es kann ja nicht so sein, dass die Ingenieure nach den Philoso-
phen rufen, um sich Verantwortung erklären zu lassen, sondern es ist eine gemeinsame
Suche, bei der sich die Ingenieure ein wenig auf philosophisches Terrain wagen (und da-
mit nicht an ihrer von Fremdeinflüssen abgeschirmten Ingenieurs-Kompetenz festhal-
ten), und bei der sich die Philosophen ein wenig aufs Ingenieur-Terrain begeben (wobei
auch sie ein Stück ihrer von Fremdeinflüssen freigehaltenen Philosophen-Kompetenz
aufgeben).
Wenn es einen wirklichen Dialog gibt, dann werden am Ende beide Partner vonein-
ander gelernt haben, und es wird zu einer Entgrenzung vormals streng geschiedener Fä-
cher kommen. Ich möchte diesen Punkt später noch einmal aufgreifen.
1 Risikogesellschaft
Der Begriff » Risikogesellschaft « wurde von dem Münchner Soziologen Ulrich Beck
1986 geprägt. Sein Buch war schon fertig, da ereignete sich das Unglück von Tscherno-
byl, und bestätigte dramatisch die Triftigkeit der von Beck vorgenommenen Analyse:
ein neues Zeitalter war angebrochen, ein Zeitalter, für das noch der Name fehlte. Ich
zitiere:
» Thema dieses Buches ist die unscheinbare Vorsilbe › post ‹. Sie ist das Schlüsselwort
unserer Zeit. «1 Gemeint ist: die gesellschaftliche Produktion von Reichtum in der Indus-
triegesellschaft kann nicht einfachhin als Fortschritt betrachtet werden. Sie wird immer
sichtbarer begleitet und überschattet, in Frage gestellt durch die gesellschaftliche » Pro-
duktion von Risiken «.2 Während die Reichtumsverteilung bestimmte Grenzen kann-
te – hier Reiche, dort Arme –, geht die Risikoverteilung über sämtliche Grenzen hinweg.
Beck bringt es auf die Formel: » Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch. « Und er
fährt fort: » Mit der Ausdehnung von Modernisierungsrisiken – mit der Gefährdung der
Natur, der Gesundheit, der Ernährung etc. – relativieren sich die sozialen Unterschiede
und Grenzen. «3 Aber nicht nur die vom gemeinsamen Risiko bedrohte Weltbevölke-
rung (konsequenterweise hat Beck später den Begriff » Weltrisikogesellschaft «4 geprägt)
rückt zusammen, sondern auch die Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen Diszi-
plinen, ja sogar die seit Hume zum Standardrepertoire aller Intellektuellen avancierte
Einteilung der Sätze in solche, die vom » Sein « und solche, die vom » Sollen « handeln –
also die Unterscheidung von » deskriptiv « und » normativ « ist in der Risikogesellschaft
nicht mehr zu halten. Denn: ob ein Risiko besteht, ist nicht einfach eine Tatsache, son-
dern zugleich auch eine Bewertung. Beck schreibt: » Risikofeststellungen sind eine noch
unerkannte, unentwickelte Symbiose von Natur- und Geisteswissenschaft, von Alltags-
und Expertenrationalität, von Interesse und Tatsache. Sie sind gleichzeitig weder nur
das eine noch nur das andere. Sie sind beides, und zwar in neuer Form. «5 Und es kommt
noch provokanter: » in Risikodefinitionen wird das Rationalitätsmonopol der Wissen-
schaften gebrochen. «6 Man muss, wie Beck sagt, » einen Wertstandpunkt bezogen haben,
um überhaupt sinnvoll über Risiken reden zu können. «7
Die Risikogesellschaft lässt sich auf die Formel bringen: » Ich habe Angst ! «8 Auch
diesen Satz kann man nicht in deskriptive und normative Anteile zerlegen: er umfasst
beides, denn es gibt objektiv etwas in der Welt (z. B. die AKWs, den Tatbestand, dass
hochradioaktive Abfälle mit einem Jahrtausende wirksamen Zerstörungspotential si-
cher entsorgt werden müssen) – also: es gibt etwas, das Angst macht; Angst ist aber ein
subjektiver Zustand, und nicht alle reagieren auf das gleiche mit Angst.
1 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 12.
2 A. a. O., S. 25.
3 A. a. O., S. 48.
4 Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik, Wien 1997 (= Wiener
Vorlesungen im Rathaus, Bd. 52).
5 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 37 f. – In » Weltrisikogesellschaft « (s. FN 4, S. 32) heißt es: die » Theorie der
Weltrisikogesellschaft « nimmt » Abschied vom Dualismus von Gesellschaft und Natur «. Oder, wie Beck
am Beispiel von » Brent Spar « deutlich macht: » Es gibt in Risikodiskursen keine Expertenlösungen, weil
Experten immer nur Sachinformationen zur Verfügung stellen können, aber niemals werten können,
welche dieser Lösungen kulturell akzeptabel sind. « Ebd., S. 53 f.
6 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 38.
7 A. a. O., S. 38 f.
8 A. a. O., S. 66.
Risikogesellschaft und die German Angst 97
2 German Angst
Erlauben Sie mir hier eine kleine Abschweifung. Es hat ja, gerade nach dem Ausstieg der
amtierenden Regierung aus der Nutzung der Kernkraft, besonders im Ausland einiges
Kopfschütteln gegeben: warum haben die Deutschen soviel Angst vor der Atomkraft ?
Sollen sie froh sein, dass sie, anders als die Menschen in Japan, Kalifornien oder Italien,
nicht in einem Erdbebengebiet leben. Engländer und Franzosen setzen seelenruhig wei-
terhin auf die Kernkraft, von den Ländern des ehemaligen Ostblocks ganz zu schweigen.
Die » German Angst « scheint etwas ganz und gar Irrationales zu sein.9
Ich möchte zurückfragen: ist die Innovationskraft deutscher Umwelttechnik – sei es
in der Photovoltaik, in der Nutzung der Windenergie, oder in der (neulich sogar vom
bayrischen Ministerpräsidenten Seehofer favorisierten) Dezentralisierung der Strom-
erzeugung durch Biogas bzw. durch kleine Blockheizkraftwerke, die durch intelligente
Steuerung bedarfsgerecht ins Netz integriert werden können (Stichwort: Schwarm-
strom) – also: steht die Vorreiterrolle deutscher Ingenieursleistung im Öko-Sektor unter
ähnlichem Irrationalitätsverdacht wie die » German Angst « ? Ich glaube nicht, bin aber
überzeugt, dass beides miteinander zu tun hat.
Deutschland ist nun einmal das Katastrophenland des 20. Jahrhunderts, und wenn
Beck die Risikogesellschaft als » katastrophale Gesellschaft «10 bezeichnet, so scheint mir
die Assoziation naheliegend: » German Angst « ist keine aus der katastrophalen Ge-
schichte des 20. Jahrhunderts erwachsene irrationale Phobie, sondern eine teuer erwor-
bene Sensibilität, die dem ökologischen Imperativ der Risikogesellschaft durchaus an-
gemessen ist.
Zurück zum Thema. Es ist geradezu prophetisch, wenn Beck kurz vor Tschernobyl und
25 Jahre vor Fukushima schreibt: » Die technischen Wissenschaften stehen immer deut-
licher vor einer historischen Zäsur: Entweder sie arbeiten und denken weiter in den aus-
getretenen Pfaden des 19. Jahrhunderts. […] Oder aber sie stellen sich den Herausforde-
rungen einer echten, präventiven Risikobewältigung. «11
Diese Aufgabe fällt aber nicht nur den Ingenieuren zu. In einzigartiger Zuspitzung
reißt Beck noch eine weitere Grenze ein: die zwischen Natur und Gesellschaft (wo-
mit die bisherige Aufgabenteilung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften hinfäl-
lig wird):12
9 Vgl. hierzu den ausgezeichneten Artikel von Ulrich Beck im Feuilleton der FAZ vom 14. Juni 2011 » Der
Irrtum der Raupe « (im Internet abrufbar).
10 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 31; vgl. ebd., S. 105.
11 A. a. O., S. 94 f.
12 A. a. O., S. 108. Hervorh. im Orig.
98 Peter Nickl
» Am Ende des 20. Jahrhunderts gilt: Natur ist Gesellschaft, Gesellschaft ist (auch)
› Natur ‹. Wer heute noch von Natur als Nichtgesellschaft spricht, redet in den Kategorien
eines Jahrhunderts, die unsere Wirklichkeit nicht mehr greifen. « Warum ? Weil gerade
die unübersehbaren Nebenwirkungen der industriellen Zivilisation klargemacht haben:
» Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur be-
griffen werden. «13
4 Nach Fukushima
Aber nach Fukushima und dem deutschen Ausstieg aus der Kernenergie – ist da die
Rede von der Risikogesellschaft noch aktuell ? Können wir nicht sagen, die Soziologie
hat uns vor einem Vierteljahrhundert einen damals brauchbaren und nötigen Kampfbe-
griff geliefert, der aber vom Gang der Ereignisse überholt wurde ?
Sicher: einiges hat sich geändert. Aber das Risiko eines GAUs ist ja durch den deut-
schen Sonderweg – der immerhin da und dort Nachahmer findet14 – nur gemindert,
nicht ausgeschaltet. Und die Atomenergie ist nicht die einzige grenzüberschreitende Ge-
fahrenquelle: weder ist der Klimawandel (mit dem Szenarium abschmelzender Polkap-
pen und riesiger Überschwemmungen, die auch Norddeutschland betreffen könnten)
gebannt, noch eine Antwort auf das Knappwerden von Ressourcen – nicht zuletzt von
Trinkwasser – gefunden.
Was sollen also » die Ingenieurinnen und Ingenieure « tun ? Ich denke, die hier skiz-
zenhaft vorgestellten Gedanken zur Risikogesellschaft weiten den Blick in eine Rich-
tung, die sich bereits zu Beginn dieser Überlegungen andeutete: die Verantwortung, um
die es geht, ist keine nach Berufsgruppen aufteilbare. Im Gegenteil: nur durch das Über-
winden der Lager – hier Geistes-, dort Naturwissenschaftler – und der Fächerscheu-
klappen kommt die Verantwortung erst zum Bewusstsein. Oder wie Beck es sagte:15 » der
hochdifferenzierten Arbeitsteilung entspricht eine allgemeine Komplizenschaft und die-
ser eine allgemeine Verantwortungslosigkeit. Jeder ist Ursache und Wirkung und damit
Nichtursache. « Mit anderen Worten: die » hochdifferenzierte Arbeitsteilung « verhindert
die Zuweisung von Verantwortung, denn an allem ist » das System « schuld. Beck nennt
das » die zivilisatorische Sklavenmoral, in der gesellschaftlich und persönlich so gehan-
delt wird, als stünde man unter einem Naturschicksal, dem › Fallgesetz ‹ des Systems. «16
Bekanntlich hat Hans Jonas in seinem Buch » Das Prinzip Verantwortung « als » Ur-
gegenstand der Verantwortung … auf das Allervertrauteste « gezeigt, » das Neugeborene,
dessen bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich
seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt. «17 Ja, wenn wir, wo es um die Risiken geht,
so » hinsehen « und » wissen « könnten ! Beck hebt ja gerade die » Unsichtbarkeit von zivi-
lisatorischen Gefährdungslagen «18 als deren besonderes Merkmal hervor. Aber im Bei-
spiel von Hans Jonas wird deutlich: Verantwortung ist die Verantwortung aller, nicht
der Ingenieure oder sonst einer bestimmten Gruppe von Experten; und entscheidend,
um diese Verantwortung in den Blick zu bekommen – sie wahrzunehmen – ist die » So-
lidarität der lebenden Dinge « (ein Ausdruck von Ulrich Beck19). Diese Solidarität wird
häufig mit den Mitteln marktwirtschaftlicher Kosten-Nutzenrechnung ad absurdum ge-
führt. Da bauen Gemeinden kostspielige Straßenüberquerungen für Kröten und Sala-
mander, und es lässt sich beziffern, dass für eines dieser Tiere, die man sowieso kaum zu
Gesicht bekommt, dann im Durchschnitt 10 000 € ausgegeben werden. Könnte man das
Geld nicht sinnvoller anlegen ? Nun, über Beispiele kann man streiten, aber mir scheint,
die Frage ist nicht, wie viel eine Kröte oder ein Salamander wert ist: natürlich können
wir auf eine einzelne Kröte verzichten, genauso wie auf einen einzelnen Delphin oder
Schweinswal. Aber wenn sich zeigt, dass durch zivilisatorische Eingriffe bestimmte Ar-
ten vom Aussterben bedroht sind, dann geht das auch uns etwas an – dann geht nämlich
ein vitaler Teil unserer Welt, pathetischer gesagt: unserer selbst verloren. –
In letzter Zeit wird viel darüber spekuliert, was die Energiewende kosten wird. Wo-
möglich wird sie viel teurer als geplant. (Wobei daran zu erinnern ist, dass hier immer-
hin der Wind, die Sonne und das Wasser kostenfrei zur Verfügung stehen, was man von
Uran, Kohle, Öl und Gas nicht behaupten kann.) Man zeigt sich besorgt, ob die Bevölke-
rung die Überziehung der Landschaft mit Windrädern mitmachen will ? (Vor zehn oder
fünfzehn Jahren hat man sich gefragt, ob es angehe, die Dächer, womöglich sogar von
Kirchen, mit blauen Photovoltaik-Anlagen zu bestücken.)
Ich sehe die Windräder gern. Denn unwillkürlich denke ich dabei: dafür brauchen
wir weniger Atomstrom, weniger Kohle, weniger Öl. Keine Endlagerprobleme, kein Res-
sourcenverbrauch (außer natürlich für die Stahlteile, um die Windräder zu fertigen),
keine größere Risikoquelle.
Worauf ich hinaus will: die Rede von Verantwortung und Solidarität darf nicht auf
die Predigt von saurem Verzicht und das Abfordern besonderer moralischer Leistungen
hinauslaufen, es muss auch etwas Freude bei der Botschaft mitschwingen.
Alvin Weinberg, der Vater des heutigen Leichtwasserreaktors, hat seinerzeit von
einem faustischen Pakt20 und von einer nuklearen Priesterschaft gesprochen – ich
glaube kaum, dass man als Ingenieur ein solches Selbstbild braucht.
Meine Vision wäre die von Ingenieuren, die Hand in Hand mit Soziologen und Phi-
losophen sich von der Chance einer risikoärmeren Gesellschaft, von einer sanften, fast
möchte ich sagen » natürlichen « Technik inspirieren lassen. Selbst wenn der letzte Reak-
tor abgeschaltet, der letzte Ottomotor auf die Brennstoffzelle oder handhabbare Batte-
rien umgestellt ist, werden wir noch nicht das Paradies auf Erden verwirklicht haben:
dann wird es immer noch Menschen geben, die mit sauberer Energie schmutzige Ge-
schäfte machen, von der ganz normalen Kriminalität oder den Problemen des Älterwer-
dens in einer Leistungsgesellschaft, in der es tendenziell immer mehr Singles und immer
weniger Familien gibt, gar nicht zu reden. Aber wer seine Sensibilität, seine Solidarität,
seine Kreativität in dieser Richtung entfaltet, wird, selbst wenn die Früchte seiner Ar-
beit erst künftigen Generationen zukommen, durch das Bewusstsein belohnt, das Rich-
tige getan zu haben.
5 Schluss
» Das Richtige « – wer weiß schon, was das ist ? Nach den Ausführungen über die Risiko-
gesellschaft kann das nur in fächerübergreifenden Begegnungen (wie ich einmal, statt
der antiseptischen » Diskurse « sagen möchte) herausgefunden werden. Und so möchte
ich anregen, ob es nicht in der Ausbildung künftiger Ingenieurinnen und Ingenieure
von Vorteil sein könnte, ein wenig » Studium generale « unterzubringen, wie es früher
bei Medizinern und Juristen üblich war und neuerdings in einigen Studiengängen, wie
an der Leuphana Universität in Lüneburg oder in Freiburg mit Erfolg praktiziert wird.
Der Ingenieur der Zukunft wird kein Nur-Ingenieur sein, er sollte über die Grenzen
seines Faches hinausschauen und sich nicht einfach zum Lieferanten degradieren las-
sen für technisches Know-how, dessen Rahmenbedingungen er nicht kennt und dessen
Zwecke er nicht nachvollziehen kann. Und es sollte nicht an Geisteswissenschaftlern
fehlen, die – nicht besserwisserisch und von oben herab, sondern ehrlich bemüht um
die Lösung der Probleme, die nicht nur uns, sondern auch die künftigen Generationen
betreffen – ihre Kompetenz, ganzheitlich zu denken, von diesen Problemen herausfor-
dern lassen. Vielleicht entstehen so ganz neue Berufsbilder, für die wir noch gar nicht
die passenden Namen haben. Aber was liegt schon an Namen, wenn es eine gemein-
same Sache gibt, die unser Engagement braucht ?
Ein letzter Gedanke. Erinnern wir uns an den Hinweis von Hans Jonas auf das Kind
als » Urgegenstand der Verantwortung «. Ingenieure werden ihre Kinder nicht weniger
lieben als andere, ebenso an einer lebenswerten Zukunft für ihre Kinder interessiert
sein wie andere. Kann man tagsüber die Berufsscheuklappen aufsetzen und abends und
am Wochenende mit der Familie ’raus in die Natur fahren ? Man kann, aber der Preis ist
customed to. « Auf S. 34 vergleicht Weinberg die Situation der zivilen Nutzung der Kernenergie mit
derjenigen der nuklearen Rüstung, wofür eine » militärische Priesterschaft « in der Verantwortung stehe.
Risikogesellschaft und die German Angst 101
hoch. Jetzt, wo die nachhaltigen Technologien in einer bisher nicht für möglich gehal-
tenen Weise zum Zuge kommen, sind die Ingenieure aufgerufen, sich nicht als Erfül-
lungsgehilfen riskanter Energien zu betätigen, sondern als Mitgestalter einer nachhal-
tigen Zukunft.
» Das hat mein Opa gebaut «, könnte 2050 stolz ein Kind sagen, das seinen Freunden
einen Windpark oder ein Solarkraftwerk zeigt. Was das Kind sagen könnte, dessen Opa
ein AKW gebaut hat, darüber schweigt der Chronist.
Teil II
Technische Chancen und Risiken
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen
Peter Schaumann
Institut für Stahlbau, Leibniz Universität Hannover
Zu Beginn meines Vortrages möchte ich mich zunächst bei meinem Kollegen Hieber
bedanken. Nicht nur dafür, dass er diese Veranstaltung organisiert hat. Nein, ihm habe
ich es zu verdanken, dass ich mich über einen Zeitraum von einigen Monaten mit die-
sem Thema auseinandergesetzt habe.
Zum Titel
Dass in dem Titel das Wort » Verantwortung « vorkommt, mag bei dem Titel dieses Sym-
posiums niemanden verwundern. Den Zuhörern ist es auch nicht verborgen geblieben,
dass hier Vertreter aus den typischen Ingenieurdisziplinen zu Ihnen sprechen. Ich habe
Bauingenieurwesen studiert und bin konsequenterweise heute als Professor an der Fa-
kultät für Bauingenieurwesen und Geodäsie tätig. Warum habe ich gleichwohl im Titel
die Bezeichnung » ziviles Ingenieurwesen « anstelle von Bauingenieurwesen verwendet ?
Dafür gibt es für mich mehrere Gründe.
Das erste, ganz vordergründige Argument ist die Tatsache, dass im angelsächsischen
Sprachraum die entsprechende Bezeichnung » Civil Engineer « lautet. In Großbritannien
nennt sich folgerichtig die im Jahre 1818 gegründete, traditionsreiche Berufsvereinigung
» Institution of Civil Engineers «, deren erster Vorsitzender der berühmte Brückenbau-
ingenieur Thomas Telford war. Auch unsere österreichischen Nachbarn verwenden den
Begriff Zivilingenieur.
Der zweite Grund ist der, dass ich ins Bewusstsein bringen wollte, dass der Begriff
» ziviles Ingenieurwesen « die Abgrenzung zum militärischen Bereich zum Ausdruck
bringt. Der Begriff Ingenieur, der bereits seit dem frühen Mittelalter Verwendung fand,
leitet sich von dem lateinischen Wort ingenium (produktiver Geist, Verstand, geistrei-
cher Mensch) ab. Diesen Titel erhielten im 12ten und 13ten Jahrhundert Menschen, die
sich auf den Bau und die Bedienung von Kriegsgerät verstanden. Sie konnten also nicht
nur Festungen bauen, sondern auch die Attacken bei der Belagerung anordnen. Diese
Bedeutung behielt das Wort Ingenieur viele Jahrhunderte. Erst im 18ten Jahrhundert
wurde in Europa der Begriff Zivilingenieur geprägt, um zivile Belange zu integrieren
und sich von der Kriegsbaukunst abzugrenzen.
Der dritte und mir wichtigste Grund für die Begriffswahl » ziviles Ingenieurwesen «
liegt darin, dass mir der Begriff » Bauingenieur « für das Tätigkeitsfeld und damit den
Verantwortungsbereich der hier tätigen Ingenieure zu eingeschränkt ist. Darauf möchte
in dem nächsten Teil meines Vortrages etwas genauer eingehen.
Verantwortung – wofür ?
Zunächst möchte ich den Begriff » Verantwortung « so erläutern, wie ich ihn hier ver-
standen wissen will. Dabei möchte ich nicht verhehlen, dass mir als einen eher in ma-
thematisch-naturwissenschaftlich Dimensionen denkenden Menschen, der Zugang
nicht alltäglich ist.
» Sich verantworten «, sich also als Angeklagter vor Gericht rechtfertigen, wie es wohl
der Wortherkunft entspricht, kommt sicherlich auch bei Bauingenieuren vor, ist aber
nicht in erster Linie gemeint. Ich möchte » sich verantworten « als » Rechenschaft able-
gen über das Handeln in einem bestimmten Bereich und die Konsequenzen des Han-
delns tragen « verstanden wissen. Die Ingenieure, über die ich hier spreche, übernehmen
aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz bestimmte Aufgaben und stehen – insbesondere
bei Fehlern – für die Folgen ein. Ein meines Erachtens wichtiger Punkt ist dabei, dass
zu der Verantwortung auch immer die Freiheit der Entscheidung bei der Aufgabener-
füllung gehört.
Verantwortung muss einem Verantwortungsbereich zugeordnet werden. Niemand
kann für alles und jeden verantwortlich sein. Wie lässt sich nun der » bestimmte Be-
reich « beschreiben, in dem zivile Ingenieure ihre Aufgaben erfüllen ?
Bei dem Begriff » Bauingenieurwesen « haben Laien schnell ein Gebäude oder ein In-
genieurbauwerk zum Beispiel eine Brücke vor Augen. Die Tätigkeit des Bauingenieurs
wird dabei häufig mit der Entstehung also dem eigentlichen Bau verbunden. Dabei wird
vor dem geistigen Auge schablonenhaft eine Person mit Schutzhelm und Gummistiefeln
assoziiert. Da dieses Klischee zu kurz greift, habe ich mich zu der alternativen Bezeich-
nung » ziviles Ingenieurwesen « entschieden.
Der Verantwortungsbereich umfasst vielmehr
von Gebäuden und Infrastrukturen. Mit Infrastrukturen sind dabei nicht nur Ingenieur-
bauwerke wie Türme, Brücken oder Windenergieanlagen gemeint, sondern dazu gehö-
ren auch Straßen-, Wasserstraßen- und Schienennetze, die Wasser- und Abwasserwirt-
schaft, der Küstenschutz und vieles mehr (s. Bild 1).
Innerhalb dieser Verantwortungsbereiche geht es bei der Ingenieurtätigkeit häufig
darum, technische Anforderungen zu erfüllen. Dazu gehört in allererster Linie die Si-
cherheit, zum Beispiel die Standsicherheit von Gebäuden. Sie gehört zweifelsfrei zu den
Basisanforderungen an Bauwerke. In der Verordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bau-
produkten werden darüberhinaus weitere Basisanforderungen definiert: Brandschutz,
Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz, Nutzungssicherheit, Lärmschutz, Energieein-
sparung und Wärmeschutz und die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen.
Diese Basisanforderungen sind bei normaler Instandhaltung über einen wirtschaftlich
angemessenen Zeitraum zu erfüllen.
Damit komme ich auf einen besonderen Aspekt des Verantwortungsbereiches ziviler In-
genieure: Die Lebensdauer der von ihnen geschaffenen Bauwerke und Infrastrukturen.
Wie sich leicht an Beispielen wie den Pyramiden von Gizeh oder dem Pont du Gard in
108 Peter Schaumann
Frankreich verdeutlichen lässt, geht die Lebensdauer der Produkte, die die Ingenieure
kreieren, oft deutlich über die Dauer des eigenen Lebens hinaus. Bauwerke werden so
zu Kulturgütern, die ihre Existenz unabhängig von dem ursprünglichen Zweck (Grab-
stätte, Wasserleitung) macht. Das Bewusstsein, dass die Arbeitsergebnisse von zivilen
Ingenieuren das Gesicht unseres Planeten für lange Zeiträume verändern, legt in be-
sonderem Maße die Forderung nach Nachhaltigkeit der Bauwerke nahe. Daher ist es
konsequent, dass die » Nachhaltige Entwicklung « seit Beginn dieses Jahrhunderts ver-
stärkt in dem Verantwortungsbereich der zivilen Ingenieure Einzug hält, wie sie 1987
erstmals von der Brundtland-Kommission definiert wurde: » Dauerhafte Entwicklung
ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass
künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. « [1]
Verantwortung im Schadensfall
Traditionell sind Lösungen von Bauingenieuren der Sicherheit und der Wirtschaftlich-
keit verpflichtet. Weil Sicherheit Geld kostet, ist hier ein Zielkonflikt vorprogrammiert.
Dieser Konflikt wurde den Menschen früh bewusst. Um hier die Prioritäten klar festzu-
legen, wurden daher genauso früh gesetzliche Regelungen geschaffen. Überliefert sind
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen 109
die Gesetze des Babylonischen Königs Hammurabi (1728 – 1686 v. Chr.) [2]. Hier ein
Auszug: » Wenn ein Baumeister ein Haus baut für einen Mann und macht seine Kon-
struktion nicht stark, so dass es einstürzt und verursacht den Tod des Bauherrn: dieser
Baumeister soll getötet werden. « Nicht mehr nach alttestamentarischen Prinzip » Auge
um Auge, Zahn um Zahn « finden sich heute gesetzliche Regeln zum Thema Standsi-
cherheit im Bauordnungsrecht und im Strafrecht; § 319 StGB » Baugefährdung « Absatz 1:
Wer bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues oder des Abbruchs eines Bau-
werks gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstößt und dadurch Leib oder
Leben eines anderen Menschen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.
Hier wird häufig auf die Einhaltung der sogenannten allgemein anerkannten Regeln
der Technik verwiesen. Letztere sind selbstverständlich nicht statisch, sondern in einer
Zeit permanenter technischer Neuerungen einem kontinuierlichen Änderungsprozess
unterworfen. Daraus entsteht für verantwortungsvoll handelnde Ingenieure eine fort-
währende Verpflichtung, sich im Rahmen beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen über
neue Entwicklungen der technischen Regeln zu informieren.
Welche besondere Bedeutung der Frage der Standsicherheit zukommt, machen uns
aktuelle Schadensfälle deutlich. Am 2. Januar 2006 stürzte das Dach der Eislaufhalle in
Bad Reichenhall ein (s. Bild 3). Dabei starben 15 Menschen und 34 weitere wurden zum
Teil schwer verletzt. Aufgrund der vergleichsweise großen Schneemassen, die zum Zeit-
punkt des Einsturzes auf dem Dach lagen, wurde in der Öffentlichkeit zunächst eine
Überlastung des Daches vermutet.
Die sofort eingeschaltete Staatsanwaltschaft beauftragte zwei Gutachter mit der Un-
tersuchung der Schadensursache. Nach heutiger Kenntnis kann die Verwendung eines
ungeeigneten Leims in den Holzbindern des Daches, welcher bei Feuchtigkeit seine Kle-
bewirkung verliert, als wesentliche Ursache identifiziert werden. Gegen acht Personen
wurden konkrete Ermittlungen aufgenommen. Im Prozess gegen drei Angeklagte wurde
der Vorwurf der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung erhoben.
Der Prozess endete zunächst mit der Verurteilung des Konstrukteurs des Daches, der
wegen Verletzung der Sorgfaltspflichten der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden
wurde, und zwei Freisprüchen. Da sowohl Verteidigung wie Staatsanwaltschaft Revision
einlegten, stehen die endgültigen Urteile noch aus.
Konfliktsituationen
In meinen bisherigen Ausführungen habe ich den zivilen Ingenieur in der Wahrung
seiner Verantwortung für den Aufgabenbereich beschrieben, der ihm aufgrund seiner
fachlichen Kompetenz zugewiesen wird. Diese Rolle ist jedoch nur eine von mehreren
Rollen, in denen zivile Ingenieure Verantwortung tragen. In der Gesellschaft ergeben
sich darüberhinaus zahlreiche weitere Beziehungen, in denen verantwortliches Handeln
gefordert werden muss. Diese Beziehungen bringen das Individuum häufig in Konflikt-
situationen, die ein Abwägen nach ethischen Grundsätzen erfordern.
Hoyningen-Huene [2] führt dazu aus: » Die neue Ingenieurrolle, die nun auch die
Interessen der Allgemeinheit aufnimmt, beinhaltet damit aber einen möglichen Kon-
flikt zwischen bis zu sechs Polen (Lenk 1987, S. 196 beschreibt den Konflikt als einen
» Dreierrollenkonflikt «): Erstens den spezifisch egoistischen Interessen eines Individu-
ums (Geld, Ansehen, Macht, Karriere etc.); zweitens den technischen Anforderungen
an die Ingenieurarbeit (Sorgfalt, Genauigkeit, Normenkonformität etc.); drittens bei
angestellten Ingenieuren der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber (Effizienz der Ar-
beit, Geschäftsgeheimnis etc.); viertens der Fairness gegenüber anderen Ingenieuren
innerhalb der gleichen Firma oder außerhalb ihrer (Wettbewerbsbestimmungen, Ho-
norierung etc.); fünftens der Loyalität gegenüber dem Auftraggeber (dessen Geschäfts-
geheimnis, Erfüllung des Auftrags etc.); sechstens der inhaltlichen Orientierung der In-
genieurarbeit am Gemeinwohl. Natürlich liegen diese sechs Pole weder notwendig noch
dauernd im Konflikt; aber es ist doch zu sehen, dass in der Ingenieurrolle damit eine er-
hebliche Spannung angelegt ist. «
An dieser Stelle seien stellvertretend drei aktuelle Beispiele für Bauprojekte genannt,
anhand derer die Konfliktpotentiale sofort erkennbar sind:
• Stuttgart 21
Das nunmehr in Bau befindliche Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Erneuerung
des Eisenbahnknotens Stuttgart mit dem Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhof ist
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen 111
Gemeinwohl
Ingenieur
Technische Fairness zu
Anforderungen Kollegen
Individuelle
Interessen
tiativen, Kommunen und Verbände haben Vorbehalte gegen die Pläne der Netzbe-
treiber und fordern z. B. die Anpassung an dezentrale Energieversorgungssysteme
und Erdverkabelung.
Viele aktuelle Großbauprojekte zeigen, dass es eben nicht nur um die Lösung techni-
scher Herausforderungen geht. Skepsis und Proteste von Bürgern stehen solchen Pro-
jekten entgegen. Ich meine, dass auf die zivilen Ingenieuren von heute eine bisher
vielleicht ungewohnte Aufgabe zukommt: Es ist die Teilhabe an dem zwingend erforder-
lichen Kommunikationsprozess mit dem Ziel, über Kommunikation Partizipation und
Transparenz für die Bürger zu schaffen. Diese Kommunikation muss fachlich untermau-
ert sein, damit sie das Vertrauen der Bürger verdient. Die Politik kann dies ohne ent-
sprechende Fachkompetenz nicht allein leisten. Zivile Ingenieure sollten sich in diesem
Kontext ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Als Hochschullehrer erwächst
daraus in zunehmendem Maße auch für mich die Aufgabe, Studierende für diese Ver-
mittlungsaufgaben vorzubereiten, in dem Kommunikation und Präsentation noch stär-
ker als bisher als Softskills in das Studium integriert werden.
Ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes und damit verantwortungsbewusstes Handeln
muss auch vermittelt werden können.
Literatur
[1] Brundlandt-Report, www.un-documents.net/wced-ocf.htm eine deutsche Ausgabe findet
sich bei Hauff, V. (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundlandt-Bericht der Weltkom-
mission für Umwelt und Entwicklung, Eggenkamp:Greven 1987
[2] Viel, H.-D.: Der Codex Hammurapi. Keilschrift-Edition mit Übersetzung. Dührkohp & Ra-
dicke. Göttingen 2002.
[3] Hoyningen-Huene, P.: Zur Verantwortung von Ingenieuren. Vortrag auf der Absolventen-
feier der Fakultät Bauingenieurwesen und Geodäsie der Leibniz Universität Hannover am 9. Ja-
nuar 2010
[4] H. Lenk, G. Ropohl (Hg.), Technik und Ethik. Stuttgart 1987.
Entscheidungsspielräume im Alltag
des Maschinenbau-Ingenieurs
Jörg Seume
Turbomaschinen und Fluid-Dynamik, Leibniz Universität Hannover
Motivation
Das geschilderte Beispiel zeigt, dass Ingenieure eine hohe Verantwortung haben,
weil sie daran beteiligt sind, Produkte und Prozesse zu schaffen und zu betreiben, deren
hohe Energiedichte im Schadensfall zerstörerisch wirken kann. Die resultierenden Ri-
siken muss jeder der beteiligten Ingenieure im Rahmen seiner Aufgabe begrenzen: bei
der Herstellung, der Qualitätskontrolle und beim Einsatz des Bauteils muss die Sicher-
heit gewährleistet werden, auch wenn die beteiligten Unternehmen aus wirtschaftlichen
Gründen anstreben, den Aufwand zu minimieren.
Ethische Konflikte
Die ethischen Konflikte im Arbeitsalltag des Ingenieurs ergeben sich daraus, dass die
Bewertungskriterien seiner Arbeit durch den Kunden und den Arbeitgeber sich im
Kern ihrer wirtschaftlichen Rolle entsprechend auf Minimierung der benötigten Zeit,
Minimierung der Kosten und Sicherstellung der notwendigen Qualität beschränken.
Dem gegenüber bewertet die Gesellschaft das Handeln des Ingenieurs weitgehend nach
Kriterien der Sicherheit:
Ingenieure sind also mit einem Interessenkonflikt konfrontiert zwischen den Interessen
der unmittelbaren Partner ihrer Erwerbstätigkeit (Kunden, Arbeitgeber) und den Inter-
essen der Gesellschaft.
Unternehmen und Politik haben auf diesen Interessenkonflikt reagiert, indem sie Si-
cherheit, Gesundheit und Kosten miteinander gekoppelt haben, indem sie negative Aus-
wirkungen technischen Handelns mithilfe der Gesetzgebung und Ansätzen der Öko-
nomisierung pönalisieren. Beispiele hierfür sind die Selbstkontrolle der Industrie in
Sachen Arbeitssicherheit durch Berufsgenossenschaften und die finanzielle Belastung
durch Emittenten von CO2 .
Lösungsansätze
In vielen Fällen lässt sich so durch geschickte Gesetzgebung und geschickte Schaffung
von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erreichen, dass zum Beispiel die ökonomi-
schen Interessen des Arbeitgebers mit dem ethisch gebotenen Verhalten seines Un-
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs 117
ternehmens zur Deckung gebracht werden, z. B. mit Hilfe des Handels mit CO2-Zer-
tifikaten. Häufig sind die Zielsetzungen des Unternehmens und der Gesellschaft auch
deckungsgleich wie bei der Senkung der Lohnstückkosten durch Steigerung der Pro-
duktivität, die sowohl zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens
als auch zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort beitragen.
In vielen Fällen aber kann der Gesetzgeber die Probleme, die sich im Einzelfall aus
den oben geschilderten Interessenkonflikten ergeben, weder vorhersehen noch sie auf-
lösen. Ingenieure müssen häufig schnelle Entscheidungen und Entscheidungen bei sehr
komplexen Anforderungen treffen. Daher ist es zusätzlich zu den o. g. legislativen Maß-
nahmen notwendig, das Bewusstsein der Ingenieure so zu schärfen, dass sie in der kon-
kreten Situation des Berufsalltags den an sie gestellten ethischen Anforderungen gerecht
werden können:
Nur Ingenieure, die sich ihrer Einflussmöglichkeiten, die an sie gestellten Erwartungen
zu erfüllen und ihrer Entscheidungsspielräume bewusst sind, werden in der Lage sein,
in den komplexen Situationen ihres vielfältigen Arbeitsalltags gute Entscheidungen zu
treffen.
Die Grundlage für die skizzierten drei Elemente ethischen Bewusstseins sollte bereits
im Studium gelegt werden.
wäre nachfolgend einen Versuch wert, solche anekdotischen Beiträge zum Studium
zu systematisieren, so dass das Bewusstsein des eigenen Einflusses künftig allen In-
genieuren mitgegeben werden kann.
2) Bewusstsein der ethischen Erwartungen an Ingenieure:
Angehende Ingenieure sollten bereits während ihres Studiums mit den ethischen Er-
wartungen der Gesellschaft an ihr Handeln konfrontiert werden. Um die Studieren-
den dabei nicht zu überfordern und um ihnen die positiven Gestaltungsmöglichkei-
ten ihres Handelns zu verdeutlichen (siehe 1), erscheint es sinnvoll, die Synergien
technischen Handelns zu betonen. Beispiel: Der gegenwärtig am Markt der Flug-
zeugantriebe eingeführte » Geared Turbofan « ist ein Ergebnis intensiver Zusam-
menarbeit eines deutschen und eines amerikanischen Unternehmens, durch das der
Kerosinverbrauch künftiger Flugzeuge gesenkt wird. Hierdurch gelingt es den betei-
ligten Ingenieuren sowohl die Nachhaltigkeit des Lufttransports zu verbessern, als
auch Arbeitsplätze in Deutschland und USA zu sichern, als auch Beiträge zum Um-
weltschutz zu leisten, als auch zur Minderung des Lärms in der Nähe der Flughäfen
beizutragen, als auch die Urlaubsfreuden vieler Menschen zu sichern.
Es sollte aber im Ingenieurstudium auch nicht versäumt werden, juristische Mindest-
erwartungen zu verdeutlichen, die sich aus der Produkthaftung und der strafrecht-
lichen Verantwortung ergeben. In diesem Falle bietet sich eine explizite Einbindung
juristischer Aspekte in Vorlesungen zur Produktgestaltung an.
3) Bewusstsein der eigenen Entscheidungsspielräume
Ingenieure sind sich häufig nicht der vielen Handlungsalternativen bewusst, die ih-
nen in ihrer beruflichen Praxis zur Verfügung stehen. Folglich stellt sich ihnen zu-
weilen die Notwendigkeit als problematisch dar, verschiedene ethische Anforderun-
gen miteinander zu vereinbaren. Für solche Menschen ist es befreiend, bereits im
Studium ein Bewusstsein für ihre eigenen Entscheidungsspielräume kennen gelernt
zu haben. Wegen der komplexen Anforderungen an die Entscheidungen der Inge-
nieure, lässt sich dieses Bewusstsein wahrscheinlich am besten mithilfe von Fallstu-
dien entwickeln. Vorbereitend können Hinweise in Fachvorlesungen und anekdoti-
sche Beispiele aus der eigenen Berufspraxis helfen.
Dies setzt eine Bewusstseinsbildung bei den Professoren voraus. Daher sollte das
Thema Ingenieurethik und insbesondere das Bewusstsein eigener Entscheidungs-
spielräume an die Professoren herangetragen werden. Zusätzlich sollten Fallstudien
zur Festigung des Bewusstseins der eigenen Entscheidungsspielräume bei den Stu-
dierenden in den Curricula integriert werden.
Die skizzierten drei Vorschläge zur methodischen Integration der Ethik der Ingenieure
in der Lehre müssen von den Lehrenden der Ingenieurwissenschaften umgesetzt wer-
den. Standesorganisationen wie die Ingenieurkammer oder der VDI können mit Hilfe
der oben skizzierten Ansätze wesentlich dazu beitragen, dass das ethische Bewusstsein
der Ingenieure in den kommenden Jahren weiter entwickelt und gefestigt wird.
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs 119
Quellenangaben
[1] Berger, Christina: Werkstoffe, die unsere Welt verändern. acatech Journalistenworkshop
2009 am 29./30.04.2009
[2] Klemm, Marco: Betrieb und Instandhaltung von Energieanlagen – Verfügbarkeit und Le-
bensdauer. TU Dresden, Institut für Energietechnik, Folie 38/42.
Grenzwertüberschreitungen:
Todsünde oder kalkulierbares Risiko ?
Heyno Garbe
Institut für Grundlagen der Elektrotechnik und Messtechnik,
Leibniz Universität Hannover
Einleitung
Jedem Menschen ist bewusst, dass er ständig den unterschiedlichsten Gefahren ausge-
setzt ist. Diese Gefahren können in
• wahrnehmbare und
• nicht wahrnehmbare
Gefahren unterschieden werden. Zum Beispiel kann Feuer signalisieren, dass hier eine
Bedrohung von Leib und Leben vorliegt. Somit ist die Gefährdung klar zu erkennen. Im
Gegensatz dazu ist diese Bedrohung bei elektromagnetischen Feldern oder bei radioak-
tiver Strahlung nicht mit den fünf menschlichen Sinnen zu erfassen. Gerade in diesem
Fall wird nach einer Quantisierung der unsichtbaren Gefahr gefragt. Dies erfolgt durch
Grenzwerte, die somit indirekt eine mögliche Gefahr beschreiben.
Deshalb befasse ich mich mit der Frage: warum benötigt man eigentlich Grenz-
werte ? Hier soll nicht nur der Gefährdungsaspekt beleuchtet werden, sondern Grenz-
werte nehmen eine besondere Bedeutung zur Regelung des gesellschaftlichen Zusam-
menlebens ein.
Es schließt sich die Frage an: Wie findet man Grenzwerte ? Die grundsätzlichen Me-
thoden sollen dabei diskutiert werden. Man vergegenwärtige sich, dass neue Technolo-
gien durchaus Risiken beinhalten können, die zurzeit noch nicht bekannt sind. Am Bei-
spiel der Personenschutzgrenzwerte soll diese Problematik diskutiert werden.
Schon die Auswahl der Methode zur Gewinnung von Grenzwerten ist nicht unum-
stritten. Deshalb ist es durchaus verständlich, wenn die Sinnhaftigkeit der Einhaltung
der Grenzwerte in Frage gestellt wird. Dies soll vertieft an verschiedenen Konfliktfällen
diskutiert werden. Zum Beispiel:
Diese Konflikte sind beliebig erweiterbar. Jede Person in verantwortlicher Funktion hat
diesen Druck sicher schon verspürt und nach Auswegen gefragt.
Auswege und Lösungsmöglichkeiten sollen deshalb im folgenden Kapitel diskutiert
werden. Die Antwort wird zunächst sehr pessimistisch sein, dennoch soll aber der Ver-
such unternommen werden, über die » Verantwortung des Einzelnen « eine Lösung die-
ses ethischen Problems zu erreichen.
Je enger die Menschen einer Gesellschaft im sozialen Kontakt zueinander stehen, desto
mehr muss ein verbindliches Rahmensystem von Normen und Werten geschaffen wer-
den. Die gemeinsame Waschmaschine in einem Mehrfamilienhaus darf eben nur eine
bestimmte Stundenzahl pro Partei und Woche genutzt werden. Jede Gemeinschafts-
form, sei es die Familie oder die internationale Staatengemeinschaft, benötigt solche
Normen- und Werterahmen. Es erscheint indes sofort verständlich, dass bei zunehmen-
der Größe der Gemeinschaft die Findung gemeinsamer Werte schwieriger wird, und
dass Werte einem ständigen Diskurs unterliegen.
Anders sollte es aussehen, wenn nicht nur das Zusammenleben geregelt werden soll,
sondern der Schutz von Personen zur Diskussion steht. Betrachtet man hierzu die aktu-
elle Diskussion im Bereich Umweltschutz über die verschiedenen Emissionsgrenzwerte,
so drängt sich manchmal der Gedanke auf, der Handel mit Eimissionszertifikaten eine
Art » Ablasshandel « der Neuzeit darstellt. Früher war es die Seele, für die gelten sollte:
» Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt. «
Andererseits schafft man aber mit diesem Zertifikatshandel einen sanfteren Über-
gang zum emissionsreduzierten Zielzustand.
Die Notwendigkeit, diesen Zielzustand zu definieren, bleibt bestehen.
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? 123
2,5 nA/cm2/(kV/m)
Influenzierte Stromdichte 0,25 nA/cm2/μT
Induzierte Stromdichte 100 nA/cm2 Gehirn
Ruhestromdichte E = 40 kV/m
Äquivalente Felder B = 0,4 mT
130 nA/cm2/(kV/m)
Influenzierte Stromdichte 0,25 nA/cm2/μT
Induzierte Stromdichte 0,5 mA/cm2 Herz
Flimmerschwelle E = 4 MV/m
Äquivalente Felder B=2T
von mehr als 40 000 kV/m bzw. 400 mT beim magnetischen Feld wäre als gefährlich
anzusehen.
Eine häufig geäußerte Kritik an dieser Vorgehensweise ist, dass man als Untersu-
chungsobjekt einen erwachsenen Menschen betrachtet. Bei besonders großen oder klei-
nen Menschen oder bei Kindern sind die Verhältnisse sicher anders. Diese Unsicherheit
versuchte man aber durch vergrößerte Sicherheitsfaktoren zu berücksichtigen.
Weltweit hat man sich bei der WHO6 bei der Ermittlung von Grenzwerten auf dieses
wirkungsbasierte Prinzip geeinigt.
Das ALRA-Prinzip hingegen verfolgt eine andere Vorgehensweise. Hier wird davon
ausgegangen, dass die aktuelle Umwelt keinen schädlichen Einfluss auf den Menschen
hat. Erst das Hinzufügen eines neuen » Senders « könnte Gefahren bewirken. Folglich ist
das aktuelle elektromagnetische Klima gut und eine Erhöhung schlecht. Die schwedi-
sche Prüfstelle MPR7 hat Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach
diesem Prinzip die Grenzwerte für elektrische und magnetische Feldaussendungen von
Röhrenbildschirmen festgelegt. Besonders für magnetische Felder im tieffrequenten Be-
reich hatte man mit der damaligen Messtechnik erhebliche Empfindlichkeitsprobleme.
Deshalb nahm man als Grenzwert die damalige Messgrenze der aktuellen Messtechnik
an. Frei nach dem Vohenstrauß-Motto, wenn ich es nicht sehen kann, dann ist es auch
nicht da.
Für das Frequenzband 5 Hz bis 2 kHz wurde ein Wert von 250 nT festgelegt. Die da-
malige Nachweisgrenze lag bei 30 nT. Man berücksichtige, dass z. B. das Erdmagnetfeld
(Gleichfeld) in Hannover einen Wert von 47 μT hat und damit um den Faktor 188 grö-
ßer ist.
Die Kritik an diesem ALARA-Prinzip entzündet sich deshalb an der fehlenden argu-
mentativen Kausalität bei der Gewinnung der Grenzwerte. Dessen Motivation ist eher
emotional basiert. Diskussionen über das Einhalten der ALARA-Grenzwerte können
daher kaum rational geführt werden.
Nachdem die Grenzwerte entweder nach der wirkungsbasierten Methode oder nach
dem ALARA-Prinzip ermittelt worden sind, muss gewährleistet werden, dass diese auch
eingehalten werden. Drei verschiedene Strukturen haben sich im Laufe der Geschichte
hierfür herausgebildet.
1) Gesellschaftliche Vereinbarung
2) Staatliche, juristische Reglementierung
3) Religiöse Reglementierung
zu unterscheiden.
Die Autorität der regelnden Institution ist im ersten Fall der gesellschaftlichen Ver-
einbarung eher als gering zu betrachten. Zwar kennt man Gruppenzwang, jedoch ver-
fügt in einer Demokratie jede handelnde Person über zivile Grundrechte – und ist damit
auch ein Teil des » Gesetzgebers «. Gesellschaftlicher Konsens über Grenzwerte würde
voraussetzen, dass die Ziele der beteiligten Personen bezüglich dieses Themenbereichs
identisch sind.
Bei staatlichen Institutionen wird die » Gesetzgebungskompetenz « auf eine kleine
Gruppe von Menschen übertragen. Die Bereitschaft, diesen Anweisungen aus Einsicht
zu folgen, ist eher als klein zu bezeichnen, da die Gründe des Handelns der staatlichen
Institutionen nur wenigen Personen transparent ist. Im Falle eines Konfliktes wird des-
halb die Kompetenz der Institution angezweifelt, weil man meint, es selber besser zu
126 Heyno Garbe
wissen. Man folgt den Vorgaben des Staates, weil man durch das staatlich Gewaltmono-
pol sonst gezwungen werden kann.
Im Fall der religiösen Autorität ist dies, jedenfalls für strenggläubige Fundamenta-
listen, per Definition nicht möglich. Die göttliche Autorität darf axiomatisch nicht an-
gezweifelt werden.
Damit ist im dritten Fall eine absolute Verbindlichkeit gegeben, deren infrage stellen
schon einen Frevel darstellt. Dies ist natürlich beim gesellschaftlichen Konsens über-
haupt nicht der Fall. Jeder kann die Gruppe ohne große Konsequenzen verlassen. Hin-
gegen lebt bei der staatlichen Reglementierung die Verbindlichkeit von den möglichen
Zwangsmaßnahmen, die einer staatlichen Institution zur Verfügung stehen.
Wir berühren jetzt den letzten Punkt, die Konsequenzen des Nichtbefolgens. Wie ge-
rade gesagt, sind die beim gesellschaftlichen Konsens sehr vage und eher im psycholo-
gischen Bereich anzusiedeln. » Man tut so etwas nicht ! « Bei der Verletzung von Regeln
in staatlichen Systemen können hingegen die Strafen sehr drakonisch und unmittelbar
sein. Das religiöse System spielt mit der Ungewissheit einer möglichen Sanktion; die Be-
strafung (oder auch Belobigung) wird auf das Jenseits verlagert (zur Setzung von Axio-
men und zur Vermeidung jeder Diskussion über die Sinnhaftigkeit einer Regel wird dies
schon seit Jahrtausenden praktiziert).
Kommen wir jetzt aber zurück zu der eigentlichen Fragestellung dieses Vortrages. Na-
türlich bewegen wir uns bei der Frage nach der Befolgung von Grenzwerten in einem
staatlichen, von Menschen geschaffenen Reglementierungssystem.
Was sollen wir tun, wenn das Befolgen der Grenzwerte offensichtlich unsinnig ist ?
Warum soll man nachts auf der Autobahn bei völlig freier Strecke die Geschwindigkeits-
beschränkung einhalten ? Ich glaube, dass jeder schon einmal solch eine Situation er-
lebt hat.
Auch hier haben wir zwei Aspekte zu betrachten:
Jederzeit sind Situationen zu konstruieren, in denen die Handlungen nach der eige-
nen Vernunft und dem eigenen Wissen zu unterstützen wären. Andererseits setzt dieses
Handeln genau die eigene Kompetenz voraus. Bloß, wer entscheidet, ob im konkreten
Fall diese Kompetenz vorliegt ?
Betrachten wir hierzu noch einmal die eingangs dargestellten Konflikte:
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? 127
• Der Ingenieur, der eine Grenzwertüberschreitung toleriert, weil er weiß, dass noch
nie bei diesem Wert ein Problem aufgetreten ist.
• Der Ingenieur, der eine Maschine nicht frei gibt, da ein Grenzwert bei der Abnahme-
messung überschritten wurde.
• Handelt der Ingenieur vernünftig, der die Auslieferung einer Maschine nicht freigibt
und damit einen wirtschaftlichen Verlust der Firma in Kauf nimmt, nur weil ein
Grenzwert bei der Abnahmemessung überschritten wurde ?
• Ist der Ingenieur ein Pedant, der einen Raketenstart untersagt, weil er festgestellt hat,
dass Dichtungen unter einer Grenztemperatur brüchig und damit nicht mehr dicht
sein könnten ?
In beiden Fällen begibt sich der Ingenieur in ein ethisches Dilemma. Jedes Handeln
wird entweder als kleinkariert bei der Nicht-Freigabe oder als unverantwortlich im Fall
der Freigabe mit katastrophaler Konsequenz gesehen. Wir können nur eins erkennen,
dass es eine pauschale und damit objektiv richtige Antwort nicht gibt.
Wir befinden uns nunmehr in einer sehr negativen, deprimierenden Situation. Mög-
licherweise können Handlungen zu Katastrophen führen. Vielleicht aber hilft der Kate-
gorische Imperativ von Kant hier weiter:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein all-
gemeines Gesetz werde.
Schließlich müssen Grenzwerte wieder zur Diskussion stehen, wenn diese sich als
unzweckmäßig erwiesen haben. Dabei sind die entscheidenden Kriterien die Sicherheit
des Menschen und das Erhalten der ökologischen Grundlagen des Lebens. Änderungen
von Normen und Grenzwerten aus rein wirtschaftlichen Überlegungen ist unethisch !
Fazit
• dass basierend auf einer soliden fachlichen Basis Wechselbeziehungen zwischen den
Bereichen erkannt und analysiert werden können
• und die Bereitschaft, Problemfelder des eigenen Handelns zu benennen und ehrlich
zu analysieren.
Nur über Offenheit und Vertrauen kann gesellschaftlicher Konsens über Grenzwerte er-
zeugt. Ohne Grenzwerte und Regeln ist soziales Miteinander nicht möglich. Selbst Ro-
binson brauchte Regeln, als Freitag erschien.
Chancen und Risiken bei der Entwicklung
elektrotechnischer Systeme: Magnet-
schwebetechnik als exemplarischer Fall
Jürgen Meins
Institut für elektrische Maschinen, Antriebe und Bahnen, TU Braunschweig
Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4
Sicherheit
Für Bau und Betrieb der Magnetschwebebahn ist das Eisenbahn Bundesamt (EBA)
verantwortlich. Dieses schaltet Gutachter ein (z. B. Technische Überwachungsvereine
(TÜV), Fachleute, Experten), welche auf Basis ihres Fachwissens die entwickelte Tech-
nik einer systematischen Sicherheitsprüfung unterziehen. Aufgrund der zu Anfang
der 1970er Jahre vollständig neuartigen Fragestellungen in Bezug auf die Sicherheits-
nachweise für Magnetschwebe Verkehrsysteme ergab sich ein sehr enger Kontakt und
Entwicklern. Im Hinblick auf die geplante Anwendung der Magnetschwebetechnik in
einem Verkehrssystem ruhte eine erhebliche Verantwortung bei den beteiligten Inge-
nieuren.
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme 133
Die Ingenieure, die für die Entwicklung der Grundlagen des Transrapid zuständig
waren, hatten sich zunächst auf die Funktion des Systems konzentriert. Die Gutach-
ter untersuchten dagegen Fragen zum Gefährdungspotenzial, welches daraus resultieren
kann, dass konzeptionelle Entwicklungsfehler vorliegen, Ausfälle von Komponenten
oder aber Störungen im Betriebsablauf auftreten. Aus dem Dialog zwischen Entwick-
lern, an dem Bau beteiligten Firmen, dem Betreiber der Magnetbahnversuchsanlage
und Gutachtern entstanden technische Ausführungen welche die sicherheitstechni-
schen Anforderungen erfüllten. Die Erprobung und Führung der praktischen nach-
weise erfolgte auf der Transrapid Versuchsanlage im Emsland (TVE).
Eine Frage betraf, um ein erstes Beispiel zu nennen, den Störfall, dass das Trag-Ma-
gnetfeld ausfällt. Für diese Situation fanden die Ingenieure die Lösung von Kufen, die,
unten am Fahrzeug angebracht, ein Aufsetzen auf die Gleitleiste des Fahrweges ermög-
lichen. Eine andere Frage setzte sich mit dem Fall auseinander, dass das Magnetfeld
unkontrolliert zu groß wird. Für diese Situation wurde ein redundantes System zum
Abschalten des Magnetstromes entwickelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Systeme
zugleich ausfallen, und ein Abschalten des Magnetfeldes somit nicht möglich ist, ergab
einen hinreichend geringen Wert.
Eine weitere wichtige Frage zur Sicherheit des Betriebes bezog sich auf die Kon-
struktion der › Weichen ‹, und damit auf die Sicherheit des Betriebssystems. Wenn ein
Transrapid von einem › Gleis ‹ auf ein anderes wechseln muss, ist eine Weiche erforder-
lich. Durch eine › Biegeweiche ‹ kann der Fahrweg gebogen und der Transrapid auf das
andere Gleis geleitet werden. Dabei tritt die Frage der Fahrwegsicherung auf. Dass die
Weiche tatsächlich Anschluss an das gewünschte Gleis hat, muss selbstverständlich ge-
währleistet, aber auch gesichert werden. Gemäß den Forderungen der Gutachter musste
ein Konzept der Weichensicherung erarbeitet werden. Das gelang durch die Konstruk-
tion eines Verriegelungs-Mechanismus, für den ein spezieller ausfallsicherer Sensor ent-
wickelt wurde.
Auch die Frage des Sicherheitsbereichs längs des Fahrweges musste erarbeitet wer-
den. Beim Rad-Schiene-Systems gibt es Block-Abschnitte. Die Freigabe zum Durch-
fahren eines Blockabschnittes den der Zug zu durchfahren hat, erfolgt durch ein be-
treffendes sicheres Signal bzw. ein sicheres automatisches Überwachungssystem. Beim
Transrapid wird ein Sicherheitsbereich entsprechend der Länge des Bremsweges, fort-
während aktualisiert und dem entsprechenden Fahrzeug mitgeteilt. Kommt es zu einer
Verletzung dieses Sicherheitsbereiches, oder aber zu einem Ausfall der Übertragung
wird eine Bremsung des Fahrzeuges eingeleitet.
Aber auch die sicherheitstechnische Überprüfung von Schraubverbindungen wurde
bearbeitet. Die Stator-Pakete, die am Betonträger geschraubt sind, bestehen aus etwa
1 m langen Abschnitten. Das sicherheitsrelevante Versagen einer Schraubverbindung
wurde durch redundante Befestigung, sowie ein kontinuierliches dynamisches Überwa-
chungssystem hinreichend unwahrscheinlich gemacht.
134 Jürgen Meins
Aus der Kommunikation der Ingenieure, die den Transrapid entwickelten, mit den
Gutachtern ergab sich ein Sicherheitskonzept, das alle die Sicherheit betreffenden not-
wendigen Aspekte einschließt. Dabei wurden standardisierte Verfahren zum Nachweis
der Sicherheit eingesetzt. So beispielsweise » Ausfall-Analysen «, die ermitteln, was in
der vorhandenen Technik mit welcher Wahrscheinlichkeit ausfallen kann und welches
die Folgen eines Ausfalles sind. Wenn in diesem Sinne das Ausfallverhalten eines tech-
nisches Bauteiles betrachtet wurde, ging es für die Entwicklungsingenieure der beteilig-
ten Unternehmen darum, Berechnungen und Experimente durchzuführen sowie Nach-
weise zu erbringen, um seitens der Gutachter die nachgewiesene Sicherheit bestätigt zu
bekommen. Dabei musste notwendigerweise der Sachverstand der einen Seite mit dem
der anderen zusammenarbeiten. Auf beiden Seiten spielten die jeweiligen Erfahrungen
eine wesentliche Rolle: auf der Seite der Gutachter die Erfahrungen mit Sicherheits-
prüfungen, und auf der Seite der Entwicklungsingenieure die Erfahrungen und Kennt-
nisse des technischen Systems. Der Weg, die Kompetenzen beider Seiten zusammenzu-
bringen und Sicherheitskonzepte zu entwickeln, beruht auf Verantwortungsbewusstsein
in mehrfacher Hinsicht. Im Zusammenhang der technischen Fragen, die ingenieurwis-
senschaftlich beantwortet werden können, müssen ökonomische, soziale und psycholo-
gische Erwägungen einbezogen werden. In diesen vieldimensionalen Aspekten ist die
Verantwortung der beteiligten Ingenieure verankert.
Die Struktur der Verantwortungen und Zuständigkeiten für den Magnetbahnbetrieb
bildet ein komplexes Geflecht (Abb. 5). Ingenieurinnen und Ingenieure arbeiten im All-
gemeinen in Kooperationen. Deshalb kommt es auf eine kritische Prüfung dessen an,
Abbildung 5
Abbildung 6
Tätigkeits- Genehmigung,
Forschung Entwicklung Fertigung Vertrieb Gutachten
bereich Zulassung
was die Einzelnen in stärkeren oder schwächeren Maßen auslösen. Die Verantwortungs-
bereiche lassen sich auflisten (Abb. 6). Die Einzelnen tragen Verantwortung in ihrem
Tätigkeitsfeld. Sie sind aber auch aufgerufen, rechtzeitig auf all jene Mängel hinzuwei-
sen, die sie auch außerhalb davon erkennen können.
Transrapid
Der Transrapid erreichte im Jahre 1991 seine Einsatzreife. In Deutschland kam er nur in
einer Versuchsstrecke im Emsland zum Einsatz.
Die Versuchsstrecke im Emsland wurde ab 1979 – zunächst mit der Nordschleife –
erbaut und nahm 1984 den Betrieb auf. 1987 wurde die Strecke mit der Südschleife auf
insgesamt 31,5 km Fahrweglänge erweitert. Ziel war es, die Transrapid Technik auch im
Geschwindigkeitsbereich oberhalb 400 km/h zu erproben. Die maximal erreichte Ge-
schwindigkeit auf der Versuchsanlage im Emsland betrug 454 km/h und war durch die
Kurvenradien in Nord- und Südschleife und die damit begrenzten Geschwindigkeiten
festgelegt.
In Shanghai wurde ein Transrapid-Verkehrssystem für die Verkehrsanbindung des
Flughafens gebaut (Abb. 7). Es nahm im Januar 2004 den Betrieb auf. Das Prototyp-
fahrzeug besteht aus 3 Sektionen mit einer Gesamtlänge von 79,7m, einer Fahrzeug-
136 Jürgen Meins
Abbildung 7
masse von 188,5 to und erreichte eine Maximalgeschwindigkeit von 550 km/h. Der
Einsatz der TRANSRAPID Magnetschwebetechnik in Shanghai verläuft bis heute pro-
blemlos.
Risiko und Verantwortung im Kontext
modellbasierter Analyse und Prognose
von Ingenieursystemen
Manfred Krafczyk
Institut für rechnergestützte Modellierung
im Bauingenieurwesen, TU Braunschweig
Der nachfolgende Beitrag setzt sich mit einigen Aspekten der Verantwortung von Inge-
nieuren auseinander, die primär (aber sicher nicht ausschließlich) für den Bereich der
universitären Ingenieurausbildung relevant sind, offensichtlich keinen Anspruch auf
Vollständigkeit erheben und durch die subjektive Sichtweise des Autors in seinem Tä-
tigkeitsgebiet als Hochschullehrer in den Bereichen Modellierung und Simulation kom-
plexer Transportprobleme sowie als tätiger Ingenieur im Bereich interdisziplinärer Pro-
blemstellungen gefärbt sind.
Vereinfachend gesagt, beschreibt der Begriff der Verantwortung die Zuweisung einer
Pflicht von Akteuren gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe aufgrund
eines normativen Anspruchs, der durch eine Instanz eingefordert werden kann und vor
dieser zu rechtfertigen ist. Die Handlungsfolgen können für den Handelnden zu Konse-
quenzen wie Belohnung, Bestrafung oder Ersatzleistungen führen [1, 2, 3]. Im Kontext
von Ingenieuraufgaben tritt der Fall der Verantwortung typischerweise dann ein, wenn
das im weiteren Sinn beauftragte Produkt nicht fristgerecht fertiggestellt wurde, we-
sentliche Aspekte seiner Funktion nicht hinreichend erfüllt oder aus seiner Funktionali-
tät heraus unvorhergesehene (meist negative) Seiteneffekte entstehen, die mit geltenden
Normen und Recht aus Sicht einer spezifischen Gruppe oder gesellschaftlichen Institu-
tion nicht zu vereinbaren sind.
Im Gegensatz zu eher erkenntnisorientierten Arbeiten in den Naturwissenschaf-
ten ist bei Ingenieuraufgaben nicht nur die Lösung einer mehr oder weniger komple-
xen Problemstellung selbst gefordert, sondern deren Erarbeitung unter der Einhaltung
materieller, zeitlicher und organisatorischer Randbedingungen im Sinne einer Opti-
mierung. Darüber hinaus sollte die Ingenieurzunft zumindest die technisch objekti-
vierbaren Grundlagen für eine weitergehende Abschätzung wirtschaftlicher und ge-
sellschaftlicher Auswirkungen ihres Wirkens durch andere Disziplinen zur Verfügung
stellen, da heutige und zukünftige technische Systeme und Anlagen auf großer Skala
mehr und mehr das Wohlbefinden einer Gesellschaft im Alltag nachhaltig und umfas-
send prägen. In Folge dessen hat sich die Technikfolgenabschätzung [4] zu einer we-
sentlichen Disziplin entwickelt, in deren Kontext die Prognose von (im allgemeinen
Fall gekoppelten) Risiken und deren Bewertung als wesentliche Elemente etabliert
wurden.
Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderun-
gen (WBGU) definiert Risiko als das Produkt von Eintrittshäufigkeit bzw. Eintrittswahr-
scheinlichkeit und Ereignisschwere bzw. Schadensausmaß. Es zeigt sich jedoch, dass
schon der der Risikobewertung vorausgehende Prozess der Risikoermittlung in der
praktischen Umsetzung eine Vielzahl von Problemen mit sich bringt, die nach Auffas-
sung des Autors in der universitären Ingenieurausbildung heute oftmals weder formal
noch in der nötigen Tiefe hinreichend vermittelt werden.
Auch fehlt oft ein grundlegendes Verständnis für die korrekte Interpretation grund-
legender statistischer Sachverhalte. Dies lässt sich z. B. am Begriff der Eintrittshäufigkeit
festmachen, welche die Häufigkeit angibt, mit der ein Ereignis innerhalb eines bestimm-
ten Zeitintervalls eintritt. So bedeutet z. B. eine Eintrittshäufigkeit von 0,01 Ereignissen
pro Jahr, dass im statistischen Mittel ein Schadensereignis einmal in 100 Jahren beob-
achtet worden ist. Solche Einschätzungen sind jedoch genuin abhängig von der entspre-
chenden Verfügbarkeit relevanter statistischer Daten und nur dann halbwegs verlässlich,
wenn eine genügend große Zahl von Beobachtungen vorliegt. Der Schluss, ein Ereignis
mit der beobachteten Eintrittshäufigkeit würde auch in Zukunft » nur alle 100 Jahre «
auftreten, ist daher ein nicht nur in der Bevölkerung weitverbreitetes Missverständnis,
welches auch bei der professionellen Risikoanalyse und -bewertung zu vielfältigen Feh-
lern geführt hat. Treten solche vergleichsweise leicht zu identifizierenden Fehler bei der
Risikoanalyse ein, sind weiterführende Probleme bei der anschließenden Risikobewer-
tung oft deutlich schwieriger zu identifizieren und zu beheben. Hier stellt sich zum Bei-
spiel die Frage, wie man Risiken vergleichend bewertet, die aus dem Produkt einer sehr
geringen Eintrittswahrscheinlichkeit und einer extremen Gefährdung (z. B. Kernkraft-
werk-GAU) einerseits und aus einer relativ hohen kumulierten Eintrittswahrscheinlich-
keit und einer statistisch unauffälligen Gefährdung (jährlich auftretende Sturm- oder
Flutschäden oder Wintergrippe) erwachsen. In beiden Fällen könnte man objektiv zu
der Auffassung kommen, den jeweiligen volkswirtschaftlichen Schaden über einen län-
geren Zeitraum als vergleichbar zu betrachten, allerdings wäre unter psychologischen
Gesichtspunkten eine entsprechend symmetrische Investition von Abwehrmaßnahmen
kaum gesellschaftlich konsensfähig.
Unabhängig von dieser Problematik liegt ein weiterer Umstand für die Minimierung
von Risiken in der Tatsache begründet, dass immer mehr Ingenieursysteme durch eine
Vielzahl von Multiplizitäten gekennzeichnet sind, was eine substantieller Erschwerung
ihrer Prognose bzgl. ihrer zukünftigen Funktionalität, Robustheit und Nebenwirkungen
(also der assoziierten Risiken) mit sich bringt. Diese Multiplizitäten sind beispielsweise
charakterisiert durch Begriffe wie:
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 139
• multi-physics (Das System wird beschrieben durch eine Vielzahl gekoppelter Teil-
prozesse mit unterschiedlichen Modellrepräsentationen wie z. B. Struktur, Strömung,
Strahlung, Materialien, Prozesse, …)
• multi-scale (vom Nanometer zur Skala des globalen Ökosystems, von der Millise-
kunde zum Millennium)
• multi-discipline (Mechanik, Mathematik, Physik, Informatik, Chemie, Wirtschaft,
Rechtskunde, Ökologie, …)
• multi-language (bei international kooperierenden Arbeitsgruppen)
• multi-modal (deterministisch, stochastisch, regelbasiert → Gesetze, Normen, …)
• Optimierung mit mehrdimensionalen Zielfunktionen aus unterschiedlichen Diszipli-
nen (z. B. architektonische Form vs. Funktionsfähigkeit und Ressourcenoptimierung)
Offensichtlich setzt der zukünftig sichere Umgang junger IngenieurInnen eine sehr
breite und auch durchaus theoretische Auseinandersetzung mit vielfältigen Themen
über die eigenen Kerndisziplinen der jeweiligen Ausbildungsgänge voraus, da ansons-
ten eine qualifizierte Verantwortungsübernahme für zukünftige Ingenieurlösungen
nicht durch entsprechende Fachkompetenz unterlegt werden kann. Dies stellt jedoch
insbesondere an eine zeitlich gestraffte Ausbildung im Kontext eines Bachelor-Master-
studiums große Herausforderungen, da gleichzeitig der Anteil der erfahrungsorientier-
ten Ausbildungsinhalte nicht übermäßig leiden darf.
Grundsätzlich besteht in der Ingenieurausbildung eine relativ große Spannung zwi-
schen der Vermittlung heuristischer, regelbasierter Korrelationen, die sich in einfa-
chen algebraischen Beziehungen zwischen Systemgrößen und entsprechenden Normen
niederschlagen und der Einführung in komplexe und multimodale Modellierungsan-
sätze, die eine erhebliche theoretische Modellierungskompetenz erfordern. Insbeson-
dere führt dies zu der Herausforderung, bei der Systembeschreibung im Sinne einer
Ressourcenoptimierung möglichst flexibel zwischen einfachen und schnell evaluier-
baren Modellen und solchen komplexerer Art zu wechseln, um eine hinreichend ver-
lässliche Systemanalyse bzw. -prognose mit möglichst geringem Aufwand zu realisieren
(A. Einstein: » Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfa-
cher «). Leider ist die Befolgung dieser Maxime in der Praxis oft nicht zu erkennen. Als
Beispiel hierzu diene der weit verbreitete Umgang mit Simulationssoftware zur Analyse
und Prognose des physikalischen Verhaltens von verschiedensten Systemen, die den
Bereichen der Struktur- und Strömungsmechanik zuzuordnen sind. Diese Systeme (in
welche bei den Marktführern oft hunderte Mannjahre an hochspezifischem Arbeitsauf-
wand und Know-How der unterschiedlichsten Disziplinen eingeflossen sind) möchten
dem Benutzer (also typischerweise dem Berechnungsingenieur) eine möglichst einfach
zu bedienende Programmumgebung zur Verfügung stellen, innerhalb derer das Verhal-
ten eines geplanten oder bestehenden komplexen (strömungs-)mechanischen Systems
berechnet werden soll. Dazu bedarf es modellintern einer konsistenten Verknüpfung
von unterschiedlichsten Modellebenen, von denen jede einzelne a priori fehlerbehaftet
140 Manfred Krafczyk
ist. Dies beginnt bei den Details der mathematisch-physikalischen Formulierung (typi-
scherweise als Satz nichtlinearer partieller Differentialgleichungen), geht über die Wahl
geeigneter Randbedingungen (wo beginnt bzw endet mein System und wie ist sein Zu-
stand an den angenommenen Grenzen charakterisiert ?) zur Wahl geeigneter Materia-
lien mit entsprechenden Eigenschaften aus entsprechenden Datenbanken bis zur geeig-
neten (fast niemals automatischen) Diskretisierung in Form eines Berechnungsnetzes
oder -gitters und der anschließenden Aktivierung geeigneter Gleichungslöser mit un-
terschiedlichen Konvergenzeigenschaften. Als Ergebnis all dieser vom Benutzer festzu-
setzenden Eigenschaften des virtuellen Systems erfolgt nach mehr oder weniger lang-
wieriger Berechnung die Erzeugung eines im Prinzip beliebig großen Datensatzes, den
es mit Hilfe geeigneter Visualisierungstechniken (wieder als Teil der Software verfüg-
bar) in Bezug auf die ursprünglich verfolgten Fragestellungen zu interpretieren gilt. Da
prinzipiell auf jeder der vorangegangenen Modellierungsebene zwangsläufig mehr oder
minder große Fehler gemacht werden, liegt es nahe, das der kompetente Benutzer einer
solchen Simulationssoftware in der Lage sein sollte, die wesentlichen Fehlerquellen sei-
ner Berechnung zumindest qualitativ einzuordnen und so letztlich eine belastbare Aus-
sage über die Genauigkeit seiner Analyse respektive Prognose zu treffen. Für nicht-
lineare Systeme ist eine solche Bewertung einer Simulationsrechnung allerdings oftmals
sehr schwierig, weswegen hochwertigere Problemlösungen tendenziell auch Sensitivi-
tätsstudien zu bestimmten Modellaspekten beinhalten sollten. In der Praxis bürgert sich
aber immer mehr eine Haltung ein, die aus Unkenntnis der (zugegebenermaßen sehr
komplexen) inneren Abläufe bei Simulationsrechnungen die Qualität der erzeugten Be-
rechnungsdaten nicht hinreichend hinterfragt, so dass die Berechnungsergebnisse die
Qualität eines Orakelspruches erlangen, das nicht hinreichend hinterfragt wird. Die aus
einer mangelhaften Auseinandersetzung mit den mathematischen, physikalischen und
informationstechnischen Grundlagen des eigenen Handwerkszeugs resultierende Un-
sicherheit führt dann zu einer Nutzung der Werkzeuge als black-box-Instrumentarium
mit nicht selten schwerwiegenden Folgen für die Funktionalität des realen Zielsystems.
In einem solchen Fall kann natürlich von verantwortlichem Handeln des Berechnungs-
ingenieurs nicht mehr die Rede sein, auch wenn dieser sich der Problematik nicht be-
wusst sein mag und kein Vorsatz vorliegt. Dieser Problematik ist nur mit einer vertief-
ten Ausbildung in den entsprechenden Grundlagenfächern in Verknüpfung mit dem
Studium realistischer Fallbeispiele zu begegnen und motiviert außerdem die enge Ver-
knüpfung von ingenieurpraktischen und grundlagenbezogenen Ausbildungs- und For-
schungsinhalten.
Der gewachsene Anspruch an die Ingenieurausbildung lässt sich exemplarisch auch
dokumentieren an einem Auszug der curricularen Ziele der American Society of Civil
Engineers. Demnach sollen zukünftig vermittelt werden:
1) Die Fähigkeit zur sicheren Anwendung von mathematischem sowie natur- bzw. in-
genieurwissenschaftlichem Wissen auf dem Niveau des Standes der Technik,
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 141
Der/die zukünftige IngenieurIn soll dies in der Funktion eines Integrators und einer
Führungspersönlichkeit durch Beherrschung der folgenden Disziplinen demonstrieren:
sicherer Umgang mit mathematischen Gleichungen (Differential- und algebraischen
Gleichungen), Statistik, Physik, Biologie, Chemie, Ökologie, Geologie, Ökonomie, Me-
chanik, Materialwissenschaften, Systemtheorie, Nanotechnologie und der angewandten
Informatik.
Diese erweiterten Qualifikationsansprüche sind nicht zuletzt durch einen wahr-
nehmbaren Wandel bei der Komplexität vieler heutiger Ingenieuraufgaben erwachsen,
die sich vereinfacht und stichpunktartig in Tabelle 1 angedeutet werden.
Im Bereich der universitären Forschung entstehen gerade im Bereich der Dokto-
randenausbildung immer öfter strukturierte Programme, bei denen Beteiligte aus meh-
reren Disziplinen (z. B. Mathematik, Informatik und einer Ingenieurwissenschaft) ge-
meinsam an einem Zielsystem forschen. Aus einem solchen Ansatz heraus lernen alle
Beteiligten etwas über die Prioritäten und den Stand der Technik der jeweils anderen
Disziplinen und werden solchermaßen in die Lage versetzt, aus dem daraus resultie-
renden methodischen Vorsprung einen echten Mehrwert für die belastbare (und damit
auch verantwortungsvolle) Analyse und Prognose von Ingenieursystemen zu generie-
ren. Ein analoger Mehrwert wird generiert, wenn entsprechende Teams aus experimen-
tell und theoretisch orientierten Partnern an einer gemeinsamen Problemstellung arbei-
ten. Allerdings muss in beiden Fällen auch klar antizipiert werden, dass der angestrebte
Mehrwert bei gemischten Teams auch eine gehörige Mehrleistung im Sinne einer inten-
Tabelle 1 Gegenüberstellung einiger generischer Aspekte bei der Lösung von Ingenieur-
problemen gestern und heute
siveren und aufwändigeren Kommunikationsleistung erfordert, die sich aber bei guter
Projektsteuerung im Allgemeinen bezahlt macht.
Da die heute in der Entwicklung und im Betrieb befindlichen technischen Systeme
fraglos immer komplexer werden, ist es auch mit einer beliebig verbesserten Grundaus-
bildung im Rahmen eines Studiums nicht getan, insbesondere da durch die gestrafften
zeitlichen Randbedingungen des Bachelor-Master-Systems weniger Zeit für eine sys-
temorientierte Ausbildung bleibt. Letztlich kann die/der IngenieurIn nur durch eine die
gesamte Berufstätigkeitsspanne umfassende Weiterbildung der Zunahme der Komple-
xität der anvisierten Zielsysteme begegnen.
Die Übernahme von Verantwortung im Sinne einer Absicherung bzw. Gewähr-
leistung für Ingenieurleistungen stellt heute also zunehmend höhere Anforderungen
an alle beteiligten Akteure als jemals zuvor. Die nachhaltige Motivation junger Inge-
nierInnen, sich auf einen solchen (schwer formalisierbaren) Prozess einzulassen, muss
daher zumindest implizit Bestandteil eines jeden hochwertigen universitären Curricu-
lums sein.
Über den Bereich der konkreten Systemanalyse und -prognose hinaus wäre im Sinne
einer umfassenderen Übernahme von Verantwortung die Vorhersage von Seiteneffek-
ten umgesetzter Ingenieursysteme auf das System Mensch/Umwelt wünschenswert.
Beispiele für solche schwer zu prognostizierenden Systeme finden sich im Kontext der
Langzeitfolgenanalyse der Nutzung von Kernenergie, der übermäßigen anthropogenen
Nutzung natürlicher Ressourcen oder der zunehmenden Urbanisierung von Ökosyste-
men unterschiedlichster Art. Bedauerlicherweise wird die Dynamik solcher Prozesse
durch das sog. Collingridge-Dilemma (auch » Steuerungs- oder Kontrolldilemma «)
[6, 7] signifikant beeinträchtigt:
Die Versuche der Technikfolgenabschätzung zur Gestaltung der Technikentwick-
lung beizutragen, stehen dabei vor dem Problem, dass einerseits langfristige Auswir-
kungen nicht leicht vorhergesehen werden können, solange eine Technologie noch nicht
ausreichend entwickelt und weit verbreitet ist und andererseits Kontrolle bzw. alterna-
tive Gestaltung deutlich schwieriger umzusetzen sind, wenn diese Technologie schon
umfassend etabliert ist. Anders ausgedrückt: Die Aussichten auf sicheres Folgenwissen
sind proportional zum Entwicklungsstand einer Technologie (d. h. je besser die Pro-
duktionsbedingungen, Nutzungskontexte und Entsorgungsverfahren bekannt sind). Al-
lerdings besteht dann keine Möglichkeit mehr, die Technik oder die Technikfolgen ge-
staltend zu beeinflussen, da deren Entwicklung bereits so weit fortgeschritten ist, dass
aus ökonomischen Gründen eine signifikante Modifikation oder Neuorientierung kaum
noch oder nicht mehr möglich ist.
Hier öffnet sich ein beträchtliches Spannungsfeld, inwieweit der Ingenieur als Teil
seiner erweiterten Verantwortungsübernahme für seine technischen Entwicklungen
auch an der Diskussion gesellschaftlicher Implikationen dieser Schöpfungen quali-
fiziert partizipieren soll und kann. Im weiteren Sinne könnte dies eine explizite Aus-
prägung der von dem Philosophen Søren Kierkegaard geäußerten Auffassung sein [8]:
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 143
» Der Mensch ist der, der durch Wahl für das, was er als das Zufällige ausschließt, eine
wesentliche Verantwortung übernimmt im Hinblick darauf, dass er es ausgeschlos-
sen hat. «
Literatur
1. http://de.wikipedia.org/wiki/Verantwortung
2. Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, Beck, München 1986, 263, oder Oswald Schwemmer in
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Vierbändige Enzyklopädie, hrsg. Jürgen
Mittelstraß, vierbändige Ausgabe, Metzler, Stuttgart 1980 – 1996, Band 4, 499 – 501
3. Eva Buddeberg: Verantwortung im Diskurs: Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneuti-
schen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel
und Emmanuel Lévinas, de Gruyter, Berlin 2011, Teil I: Explikation des Vorverständnisses,
pp. 11 – 46
4. Grunwald: Technikfolgenabschätzung – eine Einführung. 2. Auflage. edition sigma, Berlin
2010, ISBN 978-3-89404-950-8, S. 165.
5. http://de.wikipedia.org/wiki/Collingridge-Dilemma
6. David Collingridge: The Social Control of Technology. Pinter u. a., London u. a. 1982, ISBN
0-312-73168-X.
7. R. Wanger-Döbler: Das Dilemma der Technikkontrolle. Ed. Sigma, Berlin 1989, ISBN
3-89404-300-8
8. Søren Kierkegaard: Entweder – Oder. 2. Teil, Hrsg. Hermann Diem und Walter Rest, dtv,
München 1975, Kapitel II. Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen
in der Herausarbeitung der Persönlichkeit, 704 – 914
Teil III
Lehre und Studium
Innovationsschübe und die Verantwortung
der Lehrenden in den Ingenieurwissenschaften
Abstract
Die Lehre an der Hochschule misst sich heute insbesondere in den MINT-Fächern (Ma-
thematik – Informatik – Naturwissenschaft – Technik) vornehmlich an der Bildung
einer möglichst hohen fachlichen Kompetenz der Studierenden. Die Hochschullehre
bereitet die Studierenden darauf vor, auf neue Herausforderungen durch die Erweite-
rung und Weiterentwicklung bekannter Grundlagen zu reagieren. Allerdings zeigt sich,
dass notwendige Innovationsschübe erst durch die Beachtung völlig neuer Ideen und
Visionen tatsächlich möglich werden. Dies ist insbesondere in den Ingenieurwissen-
schaften relevant, da Ingenieure einen großen Anteil an der Entwicklung von Ideen zur
Gestaltung unseres zukünftigen Lebens haben.
Wir leben in einer spannenden, herausfordernden Zeit. Schlagwörter wie Krise, Zer-
fall, Katastrophe sind allgegenwärtig. Die Welt ist stärker denn je zusammengerückt,
bedenkt man wie vor allem die virtuelle und wirtschaftliche Vernetzung voranschreitet.
Es werden auf der einen Seite globale Zusammenhänge erkannt und gelebt. Auf der an-
deren Seite sind die persönlichen Kontakte und die gelebten Gemeinschaften nicht im
gleichen Maße entwickelt. In vielen von uns reift eine Ahnung, dass die alten Strukturen
nicht mehr tragen, etwas Neues entwickelt und Innovationen befördert werden müssen.
Voraussetzung für Innovation ist die Öffnung für kreative Prozesse und der Kontakt
des Einzelnen zu seinen Möglichkeiten. Die individuelle Entwicklung – mit Blick auf
die Kreativität und das persönliche Potential – ist notwendig. Daher stellt sich die Frage,
welche Verantwortung den Lehrenden in den Ingenieurwissenschaften heute zukommt,
welche Veränderungen wir zulassen und befördern können.
Ingenieure verstehen sich in der Regel als die geistigen Väter technischer Systeme, mit
deren Hilfe naturwissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen der Menschen angewen-
det werden. In weiten Teilen unserer Gesellschaft ist das Ingenieurbild eines scharfen
Denkers und Tüftlers verankert. Entsprechend diesem Bild ist der Ingenieur in der Lage,
auf jede Herausforderung eine technische Antwort zu liefern.
Was Ingenieure in unbestrittenem Maß besonders auszeichnet ist das Vermögen, die
Realität in Ingenieurmodelle zu übersetzen. Dieser Prozess versetzt sie in die Lage, Lö-
sungen für sehr komplexe Aufgabenstellungen zu finden.
1.1 Ingenieurmodelle
Ingenieurmodelle zeichnen sich dadurch aus, dass die Realität nicht exakt abgebildet
wird, sondern dass durch Reduktion die wesentlichen Einflüsse übersetzt werden [7].
Nach Heinz Duddeck ist ein Modell dann besonders gut, wenn das jeweils Richtige be-
halten und das jeweils Richtige weggelassen wird.
Die Weiterentwicklung von Ingenieurmodellen kann nach Duddeck durch zwei An-
triebe erfolgen:
Während der erste Antrieb ermöglicht, dass bekannte Grundlagen weiterentwickelt wer-
den, so kann durch den Zweiten die zukünftige Entwicklung in heute noch nicht er-
kennbare Richtungen gelenkt werden. Letzteres führt zu völlig neuen Ideen, Entwick-
lungen und Innovationsschüben.
1.2 Denkmodelle
Das alltägliche Denken des Ingenieurs in Modellen hinterlässt Spuren. Ingenieure su-
chen in vielen Fällen auf Herausforderungen jedweder Art eine technische Antwort –
selbst wenn objektiv gesehen eine emotionale Reaktion oder ein kommunikativer Aus-
tausch angemessen gewesen wäre. Eine gewisse Gefahr liegt dabei in der Tatsache
begründet, dass das Denken und Handeln in Modellen durch die Akteure oft unbe-
wusst erfolgt. Duddeck warf dazu schon 1984 die Frage auf, ob Ingenieure mit Modellen
schon so selbstverständlich umgehen, dass es ihnen gar nicht bewusst wird. Er fragt in
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 149
einem in [7] abgedruckten Beitrag weiter » Machen wir davon [von den Modellen] gar
im Sinne von › naiv ‹, d. h. nicht darüber reflektierend, Gebrauch ? «
An den Hochschulen und Universitäten setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis
durch, dass eine rein technisch-wissenschaftlich orientierte Ausbildung nicht ausrei-
chend ist. Die Sozialkompetenz der Studierenden muss ebenfalls geschult werden. Es
wurden und werden in derzeitige Lehrpläne Veranstaltungen aufgenommen, die die
überfachliche Kompetenz befördern. Dabei handelt es sich beispielsweise um Kurse zu
Rhetorik und Vortragstechniken, Fremdsprachen oder zu juristischen Aspekten.
Das Denken in Modellen ist in weiten Bereichen unseres täglichen Lebens fest ver-
ankert. Die Auswirkung des Denkens in Modellen auf weitere Lebensbereiche ist nicht
überraschend, wenn man die jüngeren Erkenntnisse der Gehirnforschung berücksich-
tigt: » Das Gehirn wird so, wie und wofür man es mit Freude und Begeisterung nutzt «,
bringt es der Neurowissenschaftler und Hirnforscher Gerald Hüther der Universität
Göttingen auf den Punkt (s. z. B. [14], [13]).
Hüther leitet aus seinen Forschungsergebnissen ab, dass eine völlig neue Lehr- und
Lernkultur entstehen muss, die die Potentialentfaltung des Individuums in das Zentrum
einer individualisierten Gemeinschaft stellt (siehe Abschnitt 3.2). Das Selbstverständnis
des Einzelnen und der bewusste Umgang mit seinen Fähigkeiten ist eine Schlüsselqua-
lifikation für gesellschaftliche Entwicklung zu mehr Freiheit im Denken und Wirken.
Weite Bereiche unseres täglichen Lebens sind geprägt durch Modelle und Vorstellun-
gen, die sich durch jahrelange Erfahrungen entwickelt und verfestigt haben. Wir ha-
ben gesellschaftliche Konventionen und eine starke Übereinkunft, welche Ansichten
bzw. Vorgänge richtig und möglich und welche falsch und unmöglich sind. Die Kon-
sequenz daraus ist eine Einengung unserer Möglichkeiten und die fehlende Akzeptanz,
dass auch Unbekanntes oder fremd erscheinendes Wissen möglich ist und sein kann.
In besonderem Maße gilt dies für die Ingenieurwissenschaften. Die heutige techni-
sche Entwicklung basiert zu einem überwiegenden Teil auf dem Weltbild, das Newton
durch seine Mechanik bereits im 17. Jahrhundert (1665) begründete. Newtons Idee zur
Beschreibung der Gravitation und die Beobachtungen des Offensichtlichen, wie die Be-
wegungen der Sterne, haben das heutige mechanistische Weltbild entstehen lassen. Das
mechanische Modell hat sich für unzählige Aufgabenstellungen bewährt und die Basis
für den heutigen technischen Entwicklungsstand geschaffen.
Die Ausrichtung des damaligen Denkens und der entsprechenden Forschung mit
den dazu passenden Fragestellungen bedeuteten eine Weichenstellung zu unserer heuti-
gen erlebten Realität. Einige gesellschaftliche Konsequenzen sind die Abtrennung (vom
Lebendigen) und der Dualismus mit einer Individualisierung und einem starken Den-
ken in den Kategorien Richtig und Falsch.
150 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen
Damit stellt sich die Frage, ob den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft
mit einem rund 350 Jahre alten Modell adäquat begegnet werden kann.
• Bewirken die fest in uns verankerten etablierten Modelle, dass wir nicht wirklich
offen für Innovationen sein können ?
• Welche Wahrnehmungen neben der visuellen Beobachtung und dem physikalischen
Messgerät lassen wir zu ?
Die Quantenphysik gibt uns Hinweise, dass die Möglichkeiten der Gestaltung unserer
Realität zum Einen offen sind und zum Anderen von der Fragestellung selbst abhän-
gen. Die Fragestellung bzw. Messung legt die Realität in dem Moment der Messung fest.
Diese Erkenntnis der Quantenphysik geht insbesondere auf das Gedankenmodell von
Schrödingers Katze [18] zurück. Dabei werden die Zustände » Katze tot – Katze leben-
dig « erst in dem Moment der Messung (Öffnen der Kiste und hinein schauen) festgelegt.
Während die Katze mit der tödlichen Apparatur1 gemeinsam in der verschlossen Kiste
verbleibt, existiert sie in einem uns unbekannten Zustand. Wir können der Katze einen
potentiellen Zustand (zwischen tot – lebendig) zuschreiben, der in unserem Weltbild
als unmöglich erscheint, jedoch bei Nahtoderfahrungen als real erlebt und beschrie-
ben wird [10].
Das von Bohr [2] eingeführte Komplementaritätsprinzip trägt der Tatsache Rech-
nung, dass beispielsweise ein Elektron als Welle oder als Teilchen beschrieben wird –
je nach der Art der Messung. So dass sie » als komplementäre aber einander ausschlie-
ßende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen « sind (Bohr 1928:
245). Gemeinsam bilden das Welle- und das Teilchenmodel eine vollständige Beschrei-
bung, zwischen den beiden besteht jedoch ein logischer Widerspruch. Carl Friedrich
von Weizäcker (1941/42: 492) [21] merkt an » Beide Modelle bilden eine vollständige Dis-
junktion. Folgt daraus, dass sich eine physikalische Realität an einem bestimmten Ort be-
findet, dass sie sich nicht zugleich an einem anderen Ort befinden kann, so nennen wir sie
ein Teilchen, folgt dies nicht, nennen wir sie ein Feld (und dies ist es ja, was wir mit dem
ungenauen Terminus › Welle ‹ meinen) «. Das Komplementaritätsprinzip stellt einen un-
lösbaren Widerspruch dar, der dem rationalen Geist der Ingenieure gar nicht gefällt.
Die Bildung von Modellvorstellungen in Gesellschaft und in Wissenschaft resultie-
ren weiterhin vornehmlich aus der visuellen Betrachtung unserer Realität und der Inter-
1 Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man
gegen den Zugriff der Katze sichern muss) in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzi-
ge Menge radiokativer Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen
zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt
über ein Relais, ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert.
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 151
pretation von Ereignissen, Messergebnissen bzw. empirischen Daten, letztlich der Be-
obachtung des Offensichtlichen. Weite Bereiche der Wissenschaft beschäftigen sich auch
heute noch fast ausschließlich mit der Erforschung der Materie (sichtbar), obwohl in
der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion längst ganz selbstverständlich und aner-
kanntermaßen über dunkle Materie und Energie gesprochen wird [5], Erscheinungen
die nicht offensichtlich sind und deren Bedeutung für unsere Existenz noch völlig un-
klar erscheinen.
Die Frage, welche Möglichkeiten sich für den Ingenieur ergeben, wenn aktuelle physi-
kalische Theorien zur Beschreibung unserer Welt verwendet werden, und welche Aus-
wirkungen dies auf das gesellschaftlich verankerte Weltbild hätte, hat 2010 die Ring-
vorlesung Neue Weltsicht – Neue Weitsicht | Physik und Ingenieure heute an der TU
Braunschweig thematisiert [3].
Der Physiker Thomas Görnitz führte hier in seinem Vortrag mit dem Titel » Wa-
rum auch Nichtphysiker das Wesentliche der Quantentheorie kennen sollten « folgende
Punkte an, die die Quantenphysik charakterisieren:
Siehe Veröffentlichungen von Thomas & Brigitte Görnitz [11], [12], [3].
Hans-Peter Dürr, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in Mün-
chen und Schüler Werner Heisenbergs, leitet in seinem Beitrag im Rahmen der Ring-
vorlesung [3] aus der Quantenphysik Schlussfolgerungen ab:
Im Vergleich zur Newtonschen Weltsicht ergibt sich ein völlig anderer Blick auf die Rea-
lität. Dürr spricht hierbei von einem Paradigmenwechsel, der sich vollziehen muss. Ein
Wechsel von einem materialistischen Weltbild hin zu einer Weltsicht, die jeden Moment
als Bifurkationspunkt unendlich vieler Möglichkeiten erfasst. Als Folge dieser neuen
Weltsicht gibt es keine manifeste Realität mit zwanghaft konsequenten Abläufen son-
dern Felder von Potentialität [9][3]. In einem seinem Buch » Das Lebende lebendiger
152 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen
werden lassen: Wie uns neues Denken aus der Krise führt « [8] zeigt Hans-Peter Dürr
auf, wie die Enge unseres materialistischen Weltbilds überwunden werden kann, so dass
Leben in besserem Einklang mit der Natur möglich wird. Er beschreibt Wege, wie mit
neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigt sowie das eigene
Leben und das aller anderen lebendiger gemacht werden können.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Nutzen der etablierten Ingenieur-
modelle und der klassischen Mechanik nicht in Frage zu stellen ist. Es ist (aber) uner-
lässlich, für die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Modelle zu sensibilisieren
und sich diese bewusst zu machen. Deutlich wird, dass weder die klassische noch die
Quantenmechanik zu einer vollkommenen Vereinheitlichung der Physik führt – eine
allumfassende Weltformel existiert bis heute nicht. Dies bemerkt der Astrophysiker
Stephen Hawking in seinem Buch Die kürzeste Geschichte der Zeit [19]. Hawking führt
weiterhin aus: » Bislang waren die meisten Wissenschaftler zu sehr mit der Entwicklung
neuer Theorien beschäftigt, in denen sie zu beschreiben versuchten, was das Universum
ist, um die Frage nach dem › Warum ‹ zu stellen. «. Aus seiner Sicht ist es an der Zeit, Wis-
senschaft und Philosophie in Einklang bringen.
2.2 Materie-Geist-Frage
» Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch – Auf dem Grund
des Bechers wartet Gott «
Werner Heisenberg
Als Beispiel sei hier Max Planck genannt, der das Materie-Geist-Problem für sich wie
folgt beschreibt [1]:
» Es gibt keine Materie an sich ! Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche
die Atomteilchen in Schwingungen bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms
zusammenhält. Da es aber im ganzen Weltall weder eine intelligente noch eine ewige Kraft
gibt […] –, so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten Geist annehmen. Dieser Geist ist
der Ursprung aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre
und Wirkliche, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre. Da es aber Geist an
sich nicht geben kann und jeder Geist einem Wesen angehört, so müssen wir zwingend Geist-
wesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, sondern geschaf-
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 153
fen worden sein müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu
nennen, wie ihn alle alten Kulturvölker der Erde genannt haben: Gott. Damit kommt der Phy-
siker, der sich mit der Materie zu befassen hat, vom Reiche des Stoffes in das Reich des Geistes.
Und damit ist unsere Aufgabe zu Ende, wir müssen unser Forschen weitergeben in die Hände
der Philosophie. «
Max Planck
In jüngster Zeit haben die Physiker Michael König und Jochen Häuser unabhängig von-
einander die Theorie von Burkhart Heim [20] aufgegriffen. Dieser hatte angestrebt, Ein-
steins Ansätze in eine einheitliche Feldtheorie zu überführen. König gelingt auf dieser
Basis eine mathematisch und physikalisch schlüssige Herleitung einer Instanz, die er
mit dem Göttlichen in Verbindung bringt [16]. Häuser nutzt Heims alternative Sicht-
weise auf beispielsweise die Gravitation und gelangt so zu innovativen Antriebssyste-
men für die Raumfahrt [5] [6]. Diese Beispiele zeigen, dass die Offenheit des Einzelnen
es möglich macht, dass wirklich Neues in die Welt kommt.
Hierzu sei abschließend bemerkt, dass die Beobachtung an sich eine Potentialität
in die Realität überführt. Thilo Hinterberger – Hirnforscher vom Lehrstuhl für Ange-
wandte Bewusstseinswissenschaften der Unviersität Regensburg – führt dazu in [4] aus,
dass es eine interne Repräsentation der Außenwelt gibt und dass erst durch das gegen-
seitige Spiegeln ein soziales Gefüge entsteht. Die bewusste Beobachtung führe zu einer
Trennung, Kohärenz stabilisiere dabei das System.
Der Antrieb für die Entwicklung von neuen Technologien geht einher mit einem neuem
Verständnis und mit der Bildung von neuen Modellen. Damit die zukünftigen Ingenieu-
re auf die Herausforderungen unserer Zeit vorbereitet sind, muss die Hochschullehre sie
in die Lage versetzten, die notwendigen Entwicklungsimpulse leisten zu können.
Bisher bereitet die Hochschullehre die zukünftigen Ingenieure fast ausschließlich auf
die Ausweitung und Weiterentwicklung bekannter Grundlagen vor. Innovationschübe
und -sprünge [7] können nur entstehen, wenn völlig neue Ideen und Visionen in den
Entwicklungsstrom eingespeist werden. Woher kommen die Impulse, wie werden völlig
neue Ideen geschöpft ?
Es ist offensichtlich, dass wir mit den Modellen der Vergangenheit die Herausfor-
derungen unserer Zeit nicht adäquat bearbeiten können. Oder wie es schon Albert
Einstein formulierte: » Die signifikanten Probleme, die sich uns stellen, können nicht mit
dem gleichen Grad des Denkens gelöst werden, den wir hatten als wir sie kreiert haben. «
Daher müssen zukünftige Gestalter in der Lage sein, offen für völlig Neues zu werden.
Dazu wird insbesondere eine Offenheit benötigt, bewährte Ansätze und Modelle hin-
sichtlich ihrer Anwendbarkeit für neue Herausforderungen in Frage zu stellen.
154 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen
Etwas wirklich Neues zu entdecken wird möglich, wenn die Frage nach der Gültig-
keit der bestehenden Modelle gestellt wird. Eine offene Fragestellung in diesem Zusam-
menhang ist:
Hierbei geht es nicht darum, die bewährten Modelle selbst in Frage zu stellen, sondern
es geht darum, weitere Möglichkeiten (Potential) zuzulassen.
Die Kreativität und Neuschöpfung wird u. a. von Eckart Altenmueller als Arzt und
Musikwissenschaftler anhand der Improvisation beim Musizieren untersucht. Er stellt
fest, dass Planung und Kontrolle, die nachweislich in der vorderen Gehirnregion (Prä-
frontaler Cortex) ablaufen, hinderlich beim Improvisieren eines Musikers sind. Er sagt
recht anschaulich » Wir müssen die Wachen vor den Stadttoren abziehen «, um kreativ
sein zu können. Und meint damit, dass Entspannung und Meditation oder auch Trance
den Kontrollapparat im vorderen Hirnbereich deaktivieren und damit Kreativität zu-
lassen [4].
Die Öffnung für etwas Neues und Unbekanntes fällt uns häufig schwer. Es bedeu-
tet ja das Bekannte und Vertraute loszulassen, womit eine Unsicherheit einhergeht. Wir
fühlen uns sicher, wenn:
Diese Sicherheit ist wichtig in unserem alltäglichen Leben. Es bedeutet ein Wagnis, ein
Abenteuer, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen. Wie können wir
Um sich den Antworten auf diese Fragen zu nähern, möchten wir gerne den sogenann-
ten U-Prozess heranziehen, den C. Otto Scharmer – ein deutscher Soziologe und Wirt-
schaftswissenschaftler, der am MIT tätig ist – in seinem Buch Theorie U – Von der Zu-
kunft her führen [17] erläutert.
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 155
Abbildung 1 U-Prozess: Wie kommt etwas Neues in Welt ? Nach C. Otto Scharmer [17]
Er hat sich der Frage gewidmet: Wie kann es gelingen, sich gemeinsam an einer krea-
tiven Zukunftsgestaltung zu beteiligen und einzubringen ? Er entwickelt die U-Theorie
und eine Methode, mit der wir lernen, mit Herausforderungen umzugehen, auf die es
bisher keine Antworten aus der Erfahrung heraus gibt. Er beschreibt mit dem U-Pro-
zess eine Strategie, die sich von dem üblichen Vorgehen unterscheidet, bei dem man
zunächst (ingenieurmäßig) das Problem analysiert, Lösungsstrategien plant und dann
umsetzt. Es geht ihm darum, dass es gelingt, Zukunftspotentiale zu erspüren. Scharmer
hat die Theorie auf Basis von Interviews mit herausragenden und visionären Persönlich-
keiten entwickelt.
Anzumerken ist dabei, dass er diese Theorie als Technik zur Zukunftsgestaltung all-
gemein formuliert, diese aber insbesondere in den Kontext von Führung stellt. Hier stel-
156 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen
len wir die Theorie in Zusammenhang mit der Frage, wie Innovationen gelingen kön-
nen und wie Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gefunden werden, da
hierzu nicht nur technische Probleme sondern auch der gesellschaftliche und soziale
Kontext gehören. Wir benötigen eine Kultur und ein kollektives Selbstverständnis, das
es ermöglicht, die Sicherheit zu haben, sich auf die Erfahrung von etwas Neuem ein-
zustellen.
Bei dem U-Prozess ist der erste Schritt, die aktuelle Situation umfassend wahrzuneh-
men – zunächst aus der üblichen Perspektive. Danach ist die Perspektive der eigenen
Wahrnehmung zu erweitern.
Diese Phase wird als Phase des Hinsehens (Seeing) bezeichnet. Wesentlich sind in
dieser Phase eine Perspektiverweiterung und -wechsel. Gelingt uns dies nicht, werden
wir auf die Situation in gewohnter Form reagieren. Wir werden unsere gewohnten Mus-
ter und Handlungsstrategien anwenden. Muster und Handlungsstrategien, die aus unse-
ren Erfahrungen und Prägungen in der Vergangenheit entstanden sind.
Im U-Prozess geht es darum, die Vergangenheit loszulassen. Der erste Schritt ist es,
sich selbst, die eigene Umgebung, die momentane Situation wahrzunehmen und zu er-
leben. Man bringt sich selbst in Bewegung, erweitert seine Perspektive der Wahrneh-
mung und verabschiedet sich vom üblichen und gewohnten Downloading [15].
In der nächsten Phase, die Scharmer Sensing nennt, ist es hilfreich still, zu werden.
In dieser Phase geht es darum, die Wahrnehmung zu erweitern und die Situation zu er-
spüren. Dieser Prozess ist durchaus auch körperlich zu erleben. Etwas zu spüren hat mit
Körperempfindungen zu tun. Wir neigen dazu, unserem Verstand die Führung zu über-
lassen. Können wir eine Stille (im Kopf) ertragen und uns einlassen auf ein vermutlich
Neues und Unbekanntes (Körper)empfinden und ganz genau hinhören ?
Scharmer nennt den Punkt des völligen Öffnens Presencing – ein Punkt der An-
wesenheit (Presence) und des Spürens (sensing). Ein Punkt, an dem Geist, Herz und
Willen geöffnet sind für das Neue, für den Möglichkeitsraum. Von diesem Punkt aus
kann völlig Neues in die Welt gebracht werden, indem man zunächst zulässt, dass etwas
Neues passieren kann und annimmt, dass etwas Neues Platz haben möchte (Christalli-
zing). In der letzten Entstehungsphase – dem Prototyping – wird das Neue ausprobiert,
bevor gehandelt und gestaltet wird (Performing).
Die Lehre – besonders an den Hochschulen – soll die Lernenden in die Lage versetzen,
die Zukunft zu gestalten und die Lebensgrundlage für den Menschen zu erhalten und
nach Möglichkeit zu verbessern. Wir leben mit Konventionen im Denken und Handeln,
die als Grundlage für das Funktionieren unserer Gesellschaft notwendig sind. Die Auf-
gabe und Mission der Lehrenden muss sein, die Kreativität und das Vertrauen des ein-
zelnen in sich Selbst zu fördern, zu stärken und anzuerkennen. Dies ist die Grundlage
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 157
für eine Öffnung des Einzelnen zu seinem Potential und dem Einbringen in den Prozess
der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung der Zukunft.
Der in Kapitel 3.1 beschriebene und von C. O. Scharmer entwickelte U-Prozess (Ab-
bildung 1) identifiziert sieben Kernkompetenzen und -methoden, die es ermöglichen,
selbstbewusste und selbstbestimmte Handlungen und Denkweisen zu erlangen und ver-
antwortungsvoll anzuwenden [15]. Diese sind:
1) Raum geben
2) Innehalten
3) Erspüren
4) Verbinden
5) Annehmen
6) Ausprobieren
7) Vom Ganzen her verantwortungsvoll handeln
Wie kann es den Hochschullehrern nun gelingen, derartige Kernfähigkeiten bei den Stu-
dieren den zu befördern ? Wie können Randbedingungen an der Hochschule und in der
Gesellschaft geschaffen werden, die den persönlichen Kontakt mit einer im Entstehen
begriffenen Zukunftsmöglichkeit erlauben ?
Aus Sicht der Autoren geht dies über eine reine Vermittlung von Fachwissen hinaus.
Wir müssen die Studierenden inspirieren und ermutigen, ihr eigenes Potenzial und da-
mit auch die genannten Kernfähigkeiten zu entwickeln. Dafür ist es essentiell notwen-
dig, dass sich bei den Lehrenden eine Öffnung für das Unbekannte vollzieht. Der Mut,
sich vom Denken und den Mustern der Vergangenheit und der Konventionen zu lösen,
muss wachsen. Wir haben die Verantwortung, die Gemeinschaft zu entwickeln und per-
sönliche Übervorteilungen zu vermindern. Das verstärkte kollektive Bewusstsein der
Verbundenheit mit Allem und allen Handlungen wird durch die globale Vernetzung im-
mer deutlicher und nachvollziehbarer.
Abschließend sei bemerkt, dass an dieser Stelle bewusst offen gelassen werden muss,
wie Lehr- und Lernkultur insgesamt und die Lehr- und Lerninhalte im Besonderen in
den Ingenieurwissenschaften zukünftig aussehen werden. Eine Öffnung für das Unbe-
kannte ermöglicht in diesem Zusammenhang eine große Chance, die Inhalte und die
Gestaltung für die jeweilige Gruppe (Ingenieure, Mediziner, Lehrberufe, . . . ) passend
zu gestalten. Die Autoren möchten die Leser einladen, sich für ihr eigenes Potential zu
öffnen, zu erleben und anzuerkennen.
» A human being is a part of the whole, called by us › Universe, ‹ a part limited in time and space.
He experiences himself, his thoughts, and feelings as something separated from the rest, a kind of
optical delusion of his consciousness. This delusion is a kind of prison for us, restricting us to our
personal desires and to affection for a few persons nearest to us. Our task must be to free oursel-
ves from this prison by widening our circle of compassion to embrace all living creatures and the
158 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen
whole of nature in its beauty. Nobody is able to achieve this completely, but the striving for such
achievement is in itself a part of the liberation and a foundation for inner security. «
Albert Einstein
Literatur
[1] Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 11 Planck, Nr. 1797.
[2] Niels Bohr. Das quantenpostulat und die neuere entwicklung der atomistik. Die Naturwis-
senschaften, 16: 245 – 257, 1928.
[3] Jens-Uwe Böhrnsen. Neue Weltsicht – Neue Weitsicht | Physik&Ingenieure heute. Braun-
schweiger Schriften zur Mechanik, online, 2010. www.infam.tu-braunschweig.de/index.php?m
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[4] Jens-Uwe Böhrnsen. Neue Weltsicht – Neue Weitsicht | Kompetenz & Kreativität. Braun-
schweiger Schriften zur Mechanik, online, 2012. www.infam.tu-braunschweig.de/index.php?m
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[5] Jochem Hauser; Walter Dröscher. Gravity-like fields new paradigm for propulsion science.
International Review of Aerospace Engineering (I.RE.AS.E), 4(5), 2011.
[6] Jochem Hauser; Walter Dröscher. On the reality of gravity-like fields. In 48th AIAA/ASME/
SAE/ASEE Joint Propulsion Conference & Exhibit. AIAA, 2012.
[7] Heinz Duddeck. Jenseits und diesseits von Technik. Texte und Reden 1962 – 2002, Braun-
schweig, 2002.
[8] Hans-Peter Dürr. Das Lebende lebendiger werden lassen: Wie uns neues Denken aus der
Krise führt. Oekom, 2011.
[9] Hans-Peter Dürr. Es gibt keine Materie ! Crotona, 2012.
[10] Günther Ewald. Gehirn, Seele und Computer. Der Mensch im Quantenzeitalter. Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft, 2006. ISBN-10: 3534196155.
[11] Thomas Görnitz; Brigitte Görnitz. Der kreative Kosmos; Geist und Materie aus Quantenin-
formation. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2002. ISBN 978-3-827-41368-0.
[12] Thomas Görnitz; Brigitte Görnitz. Die Evolution des Geistigen; Quantenphysik – Bewusst-
sein – Religion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2008. ISBN 978-3-525-56717-3.
[13] Gerald Hüther. Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Vandenhoeck & Rup-
recht, 2010.
[14] Gerald Hüther. Was wir sind und wie wir sein könnten. S. Fischer, 2012.
[15] C. Otto Scharmer; Katrin Käufer. Führung vor der leeren Leinwand. OrganisationsEnt-
wicklung, 2, 2008.
[16] Michael König. Das Urwort: Die Physik Gottes. Scorpio Verlag, 2010.
[17] C. Otto Scharmer. Theorie U – Von der Zukunft her führen. Carl-Auer, 2009.
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 159
Bernd Meinerzhagen
Institut für Elektronische Bauelemente und Schaltungen, TU Braunschweig
Abstract
Anhand von zwei Fallbeispielen wird versucht zu verdeutlichen, wie sich das Thema
Verantwortung in der Lehre konkret manifestiert. Beim ersten Beispiel geht es um die
Gratwanderung der Lehrenden bei der Vermittlung von fundamental wichtigen, aber
nicht einfach zu erfassenden, Lehrinhalten und beim zweiten Beispiel um den Umgang
mit Studierenden aus fremden Kulturen.
1 Fallbeispiel 1
1.1 Einleitung
Die Lehre an den deutschen Universitäten steht insbesondere bei den Studiengängen,
die traditionell als schwierig empfunden werden, zunehmend in der Kritik. Bei den-
jenigen Studiengängen, bei denen zusätzlich ein Mangel an Absolventen beklagt wird,
wie zum Beispiel in vielen Ingenieurwissenschaften, bezieht sich diese Kritik insbeson-
dere auf die dort oft als hoch empfundenen Abbrecherquoten. Dabei wird zumeist völ-
lig übersehen, dass es gerade in den als schwierig empfundenen Fächern meist keinerlei
Zulassungsbeschränkung gibt, wodurch die erste neutrale Beurteilung der Eignung der
Studierenden für das von ihnen gewählte Fach durch die Universität erst durch die re-
gulären Prüfungen nach den ersten Grundlagenvorlesungen erfolgt. Dadurch ersetzen
diese ersten Prüfungen in den Grundlagenfächern die an vielen ausländischen Univer-
sitäten üblichen Eingangsprüfungen, die dort zur besseren Orientierung der Lehrenden
und der Studierenden und zur Vermeidung hoher Abbrecherquoten vor dem Studium
durchgeführt werden.
Die Netzwerktheorie ist eines der zentralen Theoriegebiete der Elektrotechnik, das
von keinem anderen Studiengang gelehrt wird. Innerhalb der Netzwerktheorie ist die
Theorie der linearen, zeitinvarianten Netzwerke das wichtigste Teilgebiet. Das Verhalten
von linearen und zeitinvarianten Netzwerken wird durch endlich viele komplexe Zah-
len, die auch oft als natürliche Frequenzen bezeichnet werden, bestimmt. Insbesondere
hängen wichtige Eigenschaften linearer und zeitinvarianter Netzwerke wie die asymp-
totische Stabilität und die Existenz eines periodisch eingeschwungenen Zustandes bei
periodischer Anregung ausschließlich von den Eigenschaften der natürlichen Frequen-
zen ab. Die Anzahl der verschiedenen natürlichen Frequenzen eines linearen und zeit-
invarianten Netzwerks ist immer nach oben durch die Ordnung des Netzwerks begrenzt
und fast immer auch durch diese Ordnung gegeben. Daher ist es von sehr hohem Inter-
esse, die Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes zu kennen.
Verantwortung in der Lehre 163
1.2.1 Lehrbeispiel 1
Mit n ist in diesem Beispiel offensichtlich die Ordnung des Netzwerkes gemeint. Diese
wird mit » unabhängigen « Energiespeichern in Verbindung gebracht, wobei der Begriff
der Unabhängigkeit nur anhand von einfachen Beispielen erklärt wird. Aber selbst diese
164 Bernd Meinerzhagen
1.2.2 Lehrbeispiel 2
* C’s and L’s are independent if they can not be combined with other C’s and L’s (in series
or parallel, for example)
Auch hier wird die Ordnung des Netzwerks wieder auf die unabhängigen Energiespei-
cher im Netzwerk zurückgeführt und die Erklärung des Begriffs der Unabhängigkeit ist
vergleichbar inkorrekt und unvollständig wie im Lehrbeispiel 1. Wiederum wird wie-
der weitgehend offen gelassen, was unter unabhängigen Energiespeichern genau zu ver-
stehen ist.
1.3 Auswirkungen auf das Wissen der Studierenden über die Ordnung
eines Netzwerkes
Wie sich die in den beiden Lehrbeispielen aufgezeigten Defizite auf die Fähigkeiten der
Studierenden auswirken, wichtige elementare Netzwerke zu beurteilen, soll nun anhand
des Netzwerkes aus Abbildung 1 demonstriert werden.
Das Netzwerk zwischen den beiden gestrichelten Linien in Abbildung 1 beschreibt
das auf dieser Welt zweifellos meistverwendete elektrische Bauelement, den MOS-Tran-
sistor in dem technisch besonders wichtigen sogenannten Kleinsignalbereich. Angeregt
Verantwortung in der Lehre 165
u gd (t)
Cgd
wird das Netzwerk durch zwei ideale Spannungsquellen. Als Energiespeicher enthält
das Netzwerk drei Kapazitäten, die weder in Reihe, noch parallel geschaltet sind. Für
Studierende, die analog zu den Lehrbeispielen 1 und 2 ausgebildet wurden, liegt es also
nahe anzunehmen, dass dieses elementare Netzwerk die Ordnung 3 und somit wahr-
scheinlich 3 verschiedene natürliche Frequenzen hat. Diese Einschätzung, die nur auf-
grund der oben erwähnten Lehrdefizite naheliegt, ist aber völlig falsch. Studierende, de-
nen der Begriff der Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes vollständig
mit allen notwendigen mathematischen Begriffsbildungen vermittelt wurde, erkennen
leicht, dass aus den elementaren Gleichungen des Netzwerkes folgende drei algebraische
Gleichungen folgen:
1 −1 1 ug(t) 0
1 0 0 ∙ ud(t) = vi(t)
0 1 0 ugd(t) v0(t)
0 ≤ n = nA − n R
166 Bernd Meinerzhagen
Dabei ist nA die maximale Anzahl der differenzierbaren Variablen und nR die maximale
Anzahl von unabhängigen zustandsreduzierenden Gleichungen eines Netzwerkes. Stu-
dierende, denen diese Zusammenhänge und Begriffe geläufig sind, können also für das
Netzwerk aus Abbildung 1 sofort folgern:
0 ≤ n = nA − nR ≤ 3 − 3 = 0 → n = 0
Für vollständig und sachgerecht ausgebildete Studierende erschließt sich somit ohne
komplizierte Rechnung, dass das wichtige elementare Netzwerk aus Abbildung 1 die
Ordnung 0 hat und es somit keine natürlichen Frequenzen für dieses Netzwerk gibt. Da-
her ist das Netzwerk asymptotisch stabil und jede Spannungs- und Stromfunktion des
Netzwerkes ist bei streng periodischer Anregung sofort ohne Einschwingzeit streng pe-
riodisch.
Netzwerktheorie wird heute an den Universitäten zumeist so gelehrt, dass die Studie-
renden selbst bei elementar wichtigen, einfachen linearen und zeitinvarianten Netzwer-
ken die Ordnung nicht immer problemlos bestimmen können. Versetzt man die Studie-
renden aber durch eine fundiertere Vermittlung der Netzwerktheorie in die Lage, die
Ordnung solcher Netzwerke stets auf einfache Art und Weise bestimmen zu können,
so wird die Vorlesung durch die zusätzlich notwendigen mathematischen Begriffe und
Begründungen von den Studierenden als schwerer empfunden. In Hinblick auf die not-
wendige fundierte Grundlagenausbildung unserer Studierenden haben die Lehrenden
in den Grundlagenvorlesungen in diesem Spannungsfeld eine besondere Verantwor-
tung und sollten dem wachsenden Druck widerstehen, ihre Vorlesungen durch ein Ab-
senken des Niveaus und den Verzicht auf eine sachgerechte mathematische Vermittlung
der Inhalte auf bequeme Art und Weise leichter verständlich zu machen. Aber auch die
Fakultätsleitungen und Universitätspräsidien sollten sich ihrer Verantwortung bewußt
sein und die Beurteilung von Vorlesungsevaluationen niemals ohne genaue Kenntnis
der Vorlesungsinhalte vornehmen.
2 Fallbeispiel 2
Aus diesen Ausführungen geht schon deutlich hervor, dass die Studentin vor Auf-
nahme des Studiums nicht kompetent und unabhängig von den finanziellen Interessen
der Vermittlungsagentur beraten wurde. Typischerweise haben viele ausländische Stu-
dierende mit einem ähnlichen Hintergrund aber auch keinerlei Interesse an einer unab-
hängigen Beratung durch einen Vertreter der aufnehmenden Universität und erschei-
nen zu Beratungsgesprächen auch nur, wenn man sie dazu zwingt. Der Grund dafür
liegt nahe und ist offensichtlich die Angst, dass die mangelnde Sprachkompetenz bei der
Beratung auffallen und somit die Zulassung gefährden könnte. Bei der Studentin aus der
Nähe von Shanghai wäre diese Angst jedenfalls berechtigt gewesen, denn sowohl ihre
mangelnde Sprachkompetenz, von der ich mich in mehreren schwierigen, längeren Ge-
sprächen und mündlichen Prüfungen überzeugen konnte, als auch ihr fehlendes Talent
für ein ingenieurwissenschaftliches Studium, haben letztendlich dazu geführt, dass sie
trotz intensivem Bemühen, das angefangene Studium aufgrund zu vieler nicht bestan-
dener Prüfungen nicht erfolgreich beendet hat. Dies ist für außereuropäische Studie-
rende besonders hart, da diese in der Regel, wie auch im vorliegenden Fall, aufgrund der
deutschen Visavorschriften, keine Chance auf eine Fortsetzung in einem alternativen
Studiengang erhalten, sondern das Land nahezu umgehend verlassen müssen.
Was sind die Folgen der zu einfachen Zulassung der Studentin in den Studien-
gang Wirtschaftsingenieurwesen-Elektrotechnik ohne sachgerechte Überprüfung ih-
rer Sprachkompetenz und ihrer Vorbildung ? Die Studentin hat durch ihr Scheitern im
Ausland » ihr Gesicht verloren «, was in China ein sehr schwerwiegender Makel ist. Die
Eltern der Studentin, die ihr Studium finanzierten, haben für chinesische Verhältnisse
ein Vermögen verloren und der durchaus hohe, öffentlich finanzierte Aufwand der TU
Braunschweig hat zu keiner erfolgreichen Absolventin geführt und ist daher ebenfalls
verloren. Nur die Agentur in China, die hohe Vermittlungsgebühren berechnet hat, ist
wahrscheinlich zufrieden.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Fall kein Einzelfall war, sondern dass die
schlechte Erfolgsquote der chinesischen Studierenden des Jahrgangs 2002/2003 in vie-
len Fällen ähnliche Ursachen hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass die Zulassung von Stu-
dierenden aus fremden Kulturen eine besondere Sorgfalt erfordert und die Lehrenden
hier auch eine besondere Verantwortung haben, da das Scheitern dieser Studierenden
für diese sehr oft erheblich schwerwiegendere Konsequenzen hat, als dies bei deutschen
oder europäischen Studierenden der Fall ist. Studierende aus fremden Kulturkreisen
verursachen und benötigen typischerweise auch deutlich mehr Betreuung als deutsche
Studierende und eignen sich auf gar keinen Fall, um Auslastungsprobleme kurzfristig
auf einfache Art und Weise zu lösen.
Zur Ehrenrettung meiner Universität möchte ich abschließend noch erwähnen, dass
wir aus diesen Erfahrungen gelernt haben und die Zulassung außereuropäischer Studie-
render heute mit sehr viel mehr Sorgfalt gehandhabt wird, so dass ich seit Jahren keine
ähnlich gelagerten Fälle mehr feststellen konnte.
Sensibilisierung für die Dimensionen
der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre
Heike Horeschi
Private Fachhochschule für Wirtschaft und Technik,
Studienbereich Ingenieurwesen » Dr. Jürgen Ulderup «, Diepholz
Zahlreiche aktuelle Beispiele belegen, dass die Verantwortung von Ingenieuren für ihre
Arbeit zunehmend mehr in das Blickfeld der Gesellschaft rückt. Prozesse gegen Inge-
nieure gehen durch die Medien. Beispielhaft seien hier der Prozess um den Einsturz der
Eissporthalle in Bad Reichenhall und das Zugunglück von Eschede aufgeführt. Zahl-
reiche Rückrufaktionen verschiedener Automobilbauer, Rückrufe technischer Geräte
wie Haartrockner und verschiedenster Werkzeuge künden davon, dass auch Ingenieure
nicht perfekt und fehlerfrei arbeiten. Und dann kommt immer die Frage, wer hat Schuld
und wer übernimmt die Verantwortung ?
In der beruflichen Praxis ist der Ingenieur immer wieder gefordert sein Handeln
und das anderer zu prüfen. Ein Beispiel hierfür ist die Auslegung eines Chassis (Maschi-
nenträger) einer Windkraftanlage durch ein ausländisches Ingenieurbüro betreffs der
Betriebsfestigkeit. Dabei müssen vor allem die Schweißnähte sorgfältig ausgelegt wer-
den, da diese hinsichtlich der Betriebsfestigkeit immer einen Schwachpunkt darstellen.
Die Berechnung erfolgte mit der Finiten Elemente Methode.
Es handelte sich hierbei um eine dünnwandige Struktur (Abbildung 1), welche mit
viel zu großen Volumenelementen vernetzt wurde (Abbildung 2). Die Festigkeitsanalyse
des Ingenieurbüros wurde durch eine französische Zertifizierungsgesellschaft geprüft
und zertifiziert. Die Maschinenträger gingen so in Serie und wurde in Windkraftanla-
gen verbaut.
Ein neuer Geschäftsführer des Windkraftanlagenherstellers war von Struktur und
Haltbarkeit des Maschinenträgers nicht überzeugt und ließ die Festigkeit durch ein
zweites Ingenieurbüro prüfen. Die Nachrechnung ergab eine völlig unzureichende Be-
triebsfestigkeit für die Schweißnähte. Sämtliche Anlagen wurden sofort vom Netz ge-
nommen. Eine Überprüfung vor Ort ergab, dass tatsächlich die kritischen Schweiß-
nähte rissbehaftet waren. Folglich mussten die Chassis ausgetauscht werden, was das
Unternehmen finanziell nicht verkraftete. Neben dem Erwerbsausfall für die Betreiber
der Windkraftanlagen gingen in der Folge Arbeitsplätze verloren. Das ausländische In-
genieurbüro hatte das verwendete Berechnungswerkzeug ohne qualifiziertes Fachwis-
sen eingesetzt und so falsche Ergebnisse erhalten. Grundsätzlich sollten dünnwandige
Strukturen mit Schalenelementen vernetzt werden. Bei Einsatz von Volumenelementen
ist auf ein ausreichend feines Netz, mindestens 2 – 3 Elemente über der Wanddicke bei
geeignetem Seitenverhältnis der Elementkanten, und auf die Verwendung höherer An-
satzfunktionen zu achten. Dies ist im vorliegenden Fall eindeutig nicht geschehen. Es
wurde lediglich ein Volumenelement über der Dicke von 8 – 20 mm verwendet bei sons-
tigen Elementkantenlängen von über 500 mm. Dies widerspricht den Grundregeln der
FEM-Anwendung [Kl]. Trotzdem konnte weder das Ingenieurbüro noch die Zertifizie-
rungsgesellschaft für den Schaden haftbar gemacht werden.
Selbstverständlich sollte jeder von klein auf lernen, für sein Handeln Verantwortung
zu übernehmen. Jedoch zieht sich das Lernen von Verantwortung und verantwortliches
Handeln durch das gesamte Leben eines jeden Menschen. Dies gehört zum lebenslan-
gen Lernen, zumal es sehr verschiedene Arten von Verantwortung gibt, wie z. B. ökono-
mische, politische, ökologisch, soziale und moralische Verantwortung. Weiterhin gehö-
ren Haftungsverantwortung und Selbstverantwortung dazu.
Ingenieurverantwortung berührt und beinhaltet viele dieser Aspekte. Angehende In-
genieure und Ingenieurinnen müssen zu verantwortungsbewusstem Handeln befähigt
werden. Hier ist es die Aufgabe der Hochschulen und insbesondere der Hochschulleh-
rer das Thema zu vermitteln und adäquat die verschiedensten Aspekte verantwortlichen
Handelns in den passenden Lehrveranstaltungen aufzugreifen. An den Hochschulen
sollen nicht nur Fachwissen und Methodenkompetenzen vermittelt werden, sondern
auch Sozialkompetenzen, und dazu gehört unabdingbar das Übernehmen von Verant-
wortung für sich und andere. Dies betrifft u. a. verantwortliches Handeln gegenüber den
Mitmenschen, gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der Umwelt.
Wie dies in der Praxis erfolgen kann, soll an einigen Beispielen exemplarisch darge-
stellt werden.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 171
(1.) Die juristische Seite der Ingenieurverantwortung wird im Modul Recht beleuchtet.
Hier wird z. B. die Frage geklärt, was Produkthaftung bedeutet. Der Sachverhalt wird zu-
nächst theoretisch erläutert und an praktischen Beispielen vertieft.
» Mit dem Begriff Produkthaftung bezeichnet man umgangssprachlich die gesetz-
liche Haftung des Herstellers für Schäden, die durch sein fehlerhaftes Produkt hervor-
gerufen wurden. « [Kr] Ist durch ein fehlerhaftes Produkt ein körperlicher oder sach-
licher Schaden entstanden, so kann der Geschädigte seine Ansprüche entweder nach
dem § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches oder nach dem Produkthaftungsgesetz gel-
tend machen. Beiden liegt eine unterschiedliche Haftungsstruktur zugrunde.
Die strafrechtliche Verantwortung erstreckt sich nicht » nur auf Vorstände, Ge-
schäftsführer oder leitende Angestellte, auch die » normalen « Mitarbeiter eines Unter-
nehmens können strafrechtlich verfolgt werden « [Kr].
Bei nachgewiesener Fahrlässigkeit und Nichtbeachtung technischer Standards kann
also jeder Mitarbeiter eines Unternehmens für sein Handeln zur Verantwortung gezo-
gen werden. Ein bekanntes Beispiel ist das Zugunglück von Eschede 1998, bei dem we-
gen eines verschlissenen Radreifens 101 Menschen ums Leben kamen [VDI]. Angeklagt
wurden drei Ingenieure, die maßgeblich an der Entwicklung der Radreifen beteiligt wa-
ren. Während des acht Monate dauernden Prozesses wurden an insgesamt 52 Verhand-
lungstagen 93 Zeugen gehört. Die Frage, ob die Angeklagten die Bruchgefahr der Rad-
reifen hätten erkennen müssen, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Das Verfahren
wurde gegen die Zahlung von jeweils 10 000 € eingestellt.
Ein weiteres Beispiel ist der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall im Januar
2006, bei dem 15 Menschen, darunter 12 Kinder, getötet wurden. Ursache war nicht die
Schneelast, sondern » Fehler bei der statischen Berechnung und der Konstruktion so-
wie später bei der Instandhaltung des Gebäudes « [SO]. Es wurde gegen vier Personen
Anklage erhoben, u.a gegen » den für die Erstellung der Halle maßgeblichen Bauleiter,
der bei dem für die Dachkonstruktion zuständigen Unternehmen als Konstrukteur tätig
war « [ZIS]. Dieser wurde zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
(2.) Auf die Beachtung technischer Standards wird im Modul Konstruktion viel Wert ge-
legt. Die Anwendung und Kenntnis von DIN Normen, die den aktuellen Wissens- und
Entwicklungsstandard widerspiegeln, wird erklärt und geübt. Ein Konstrukteur ist ver-
pflichtet, den Stand der Technik zu kennen und einzusetzen. Weiterhin geben Richtli-
nien, wie z. B. die VDI-Richtlinien, richtungsweisende Arbeitsunterlagen und fundierte
Entscheidungshilfen. Normen und Richtlinien bilden den Maßstab für einwandfreies
technisches Vorgehen, sie spiegeln sozusagen den » State of the Art « wieder.
Eine Konstruktion muss nicht nur normgerecht gestaltet werden und die geforderte
Funktion erfüllen. Es sind Aspekte wie Ergonomie, also die menschengerechte Gestal-
tung des Systems Mensch-Produkt-Umwelt [Co] und Recyclinggerechtigkeit vor dem
Hintergrund des verantwortungsvollen Materialeinsatzes [Pa] zu beachten. Die Studie-
172 Heike Horeschi
renden lernen, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit mindestens genauso wichtig sind,
wie Wirtschaftlichkeit und Funktionalität.
(3.) Im Modul Finite Elemente Methoden (FEM) werden die Studierenden hinsichtlich
des sorgfältigen und verantwortlichen Umganges mit Berechnungssoftware sensibili-
siert. Der Einsatz von derart komplexen Programmen, wie es FEM-Programme sind,
erfordert solide Ingenieurkenntnisse und ein hohes Maß an Verantwortungsbewusst-
sein. Die zunehmend benutzerfreundlichen Oberflächen verleiten zu der Annahme, das
ist ganz einfach und von (fast) jedem beherrschbar. Und in der Tat ist es mit vielen Pro-
grammen recht einfach möglich » bunte Bilder « zu produzieren, die bei nicht fachge-
rechter Anwendung des Programmes eben auch nicht mehr als das sind.
An einem ganz einfachen Beispiel – einem Biegebalken (Abbildung 3)– wird in der
Lehrveranstaltung demonstriert, wie schnell es passieren kann, das man völlig falsche
Ergebnisse erzielt, die bei flüchtiger Betrachtung auch noch plausibel erscheinen kön-
nen [Mü]. Der Balken ist an der linken Seite eingespannt und wird rechts mit einer ein-
zelnen Kraft belastet.
Da eine Abmessung deutlich größer ist als die beiden anderen und die Belastung
quer zur Längsrichtung wirkt, kann hier mit der Balkentheorie gerechnet werden. Das
Linienmodell wird mit Balkenelementen vernetzt.
Bei ungeeigneter Elementwahl und/oder ungeeigneten Einstellungen für die Vernet-
zung erhält man Ergebnisse, wie sie in Abbildung 4 dargestellt sind. Vorgenannte Fehler
passieren Nutzern ohne vertiefte Kenntnisse des Programmes und der dahinter stecken-
den Theorie sehr leicht.
Die symmetrische Spannungsverteilung über dem Balkenquerschnitt und das Auf-
treten von Zugspannungen an der Oberseite und Druckspannungen an der Unterseite
in der Höhe von ± 60 mm N 2 scheinen plausibel. Trotzdem sind die Ergebnisse völlig falsch.
Die tatsächlich auftretenden Spannungen und Verformungen kann jeder Student spä-
testens im zweiten Semester analytisch berechnen. Demnach treten die maximalen
Spannungen in Höhe von ± 120 mm N 2 an der Einspannung auf.
Ursache für die extrem abweichenden Ergebnisse der numerischen Berechnung sind
der Einsatz eines Elementes mit linearem Verschiebungsansatz und der Verwendung
von nur einem Element für die gesamte Balkenlänge. Dies ist natürlich ein Extrem-
fall, welcher bei den meisten Programmen auch unter Verwendung der Standardein-
stellungen nicht auftreten wird. Aber er führt bei den Studierenden zunächst zu einem
» Huch «-Effekt. Wieso kann das Programm denn so falsch rechnen ?
Verwendet man bei gleicher Vernetzung ein Element mit quadratischem Verschie-
bungsansatz, erhält man korrekte Ergebnisse, wie in Abbildung 5 dargestellt.
Die Erläuterung der theoretischen Hintergründe führt zum » Ahh «-Effekt. Es folgen
weitere Analysen des Biegebalkens mit mehr Elementen, welche bei linearem Verschie-
bungsansatz zu besseren, aber nicht exakten Ergebnissen führen.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 173
Abbildung 3 Biegebalken-Modell
(4.) Ein weiterer Aspekt sind die FEM-Module in gängigen CAD-Programmen, wie bei-
spielsweise SimulationXpress von Solid Works. Hier erfolgt eine Verknüpfung der Mo-
dule Konstruktion und FEM. Die Analyse des Biegebalkens gestaltet sich sehr einfach.
Das Modell wird im CAD Programm als einfaches Volumen modelliert. Die Vernetzung
der Struktur ist zu keiner Zeit sichtbar, Diskretisierungsuntersuchungen somit nicht
möglich. Die berechneten Spannungen (Abbildung 6) sind zu hoch.
Immerhin weist das Programm im Kleingedruckten darauf hin, dass » Meist … ein
umfassenderes Analyseprodukt für genauere und vollständigere realitätsgetreue Simu-
lationen vor der endgültigen Annahme der Konstruktion nötig « [SW] ist.
Das Tool ist durchaus nützlich und sinnvoll, um konstruktionsbegleitend festzu-
stellen, wo Spannungsmaxima auftreten und wie sich die Struktur verformt, aber eine
schlussendliche Aussage zu den absolut auftretenden Spannungen und Verformungen
kann damit nicht getroffen werden.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 175
Literaturverzeichnis
[Kl]: Bernd Klein, FEM, , Friedr. Vieweg & Sohn, Wiesbaden 2003
[Kr]: Volker Krey, Arun Kapoor, Praxisleitfaden Produktsicherheitsrecht, 2009, Carl Hanser
Verlag München Wien
[VDI]: Katja Wilke, Haftung – auch bis hin zur Haft ?, 22. 7. 2005, VDI nachrichten.com
[SO]: , Baumängel führten zum Hallen-Einsturz, 20. 07. 2006, Spiegel Online
[ZIS]: Stephan Stübinger, Zurechnungsprobleme beim Zusammenwirken mehrerer fahrlässiger
Taten, , Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 7/2011, 602 – 615
[Co]: Klaus-Jörg Conrad, Taschenbuch der Konstruktionstechnik, 2004, Fachbuchverlag Leip-
zig im Carl Hanser Verlag
[Pa]: Gerhard Pahl u. a., Konstruktionslehre, 2003, Springer-Verlag Berlin Heidelberg
[Mü]: Günter Müller, Clemens Groth, FEM für Praktiker – Band 1: Grundlagen, 2002, expert
verlag, Renningen
[SW]: , SolidWorks Lehredition
Teil IV
Sorgfalt und Sicherheit
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit
als Basis für eine moderne Fehlerkultur
Bernd Schulz-Forberg
VDI-Ausschuss Technische Sicherheit
Der Text gliedert sich in vier Hauptpunkte, nämlich die VDI Denkschrift » Qualitäts-
merkmal Technische Sicherheit «, den VDI Leitfaden » Technische Sicherheit « als Ent-
wurf mit dem Stand Januar 2012, der Fehlerkultur und letztlich einer Botschaft.
1) Einleitung
2) Bedarf für ein sicherheitsmethodisches Vorgehenskonzept
3) Erzeugen von Sicherheit
4) Grenzen der Sicherheit
5) Überprüfbarkeit der Sicherheit
6) Gesellschaftliche Betrachtungen
7) Empfehlungen.
In der Einleitung der Denkschrift wird unter anderem darauf hingewiesen, dass Unfälle
Ingenieure stets aufs Neue in die Pflicht nehmen, die Wirksamkeit sicherheitstechni-
scher Maßnahmen zu hinterfragen. Reichen also das sicherheitstechnische Fachwissen,
die Vorgehensweise, die technischen Regelwerke sowie die gesetzlichen Regelungen aus ?
Wird der Sicherheit moderner technischer Systeme heute nicht mehr die Bedeutung wie
früher zugemessen ? Wird der Wirtschaftlichkeit gar Vorrang vor der Sicherheit einge-
räumt ? Finden die einschlägigen technischen Regelwerke nicht mehr die hinreichende
Beachtung ? Wird sich vielleicht sogar über Gesetze und Rechtsverordnungen hinwegge-
setzt ? Mangelt es an der Überwachung durch Behörden und aufsichtsführende Institu-
Der Leitfaden ist noch im Entstehungsprozess und demzufolge erstens nicht als fertige
Unterlage vorzustellen und zweitens noch beeinflussbar. Der Ausschuss » Technische Si-
cherheit « des VDI sieht eine allgemeine Einleitung auf der Basis der Denkschrift vor
und arbeitet zurzeit an der Gestaltung der alle Technikbereiche umfassenden Vorge-
hensweise zur Generierung und zum Erhalt von technischer Sicherheit. Dazu wird in
die großen Rubriken der deterministischen und probabilistischen Maßnahmen unter-
teilt, wobei bei den probabilistischen Maßnahmen auf das Zuverlässigkeits-Handbuch
des VDI Bezug genommen wird.
Für die ersten drei Phasen des Lebenszyklus eines Produkts oder Systems liegt die
Ausarbeitung in Form eines Ablaufplans und dazu gehöriger Beschreibung umfang-
reichster Art schon vor.
In dem Flussdiagramm startet das System mit der Ermittlung der Versagensfor-
men: Nach der Auswahl der zu betrachtenden Baueinheit des Gesamtsystems wird eine
Verhaltensanalyse für die Funktionselemente der betrachteten Baueinheit unter Be-
rücksichtigung der ursächlichen Versagensformen durchgeführt, und zwar zufallsbe-
dingt, umgebungsbedingt und nutzungsbedingt. Danach erfolgen die Klassifizierung
der Versagensauswirkungen der betrachteten Funktionselemente sowie die Auswahl
der Versagensformen der betrachteten Baueinheit, die allein (Einfach-Versagen) oder
in Verbindung mit für sich allein nicht sicherheitskritischen Versagensformen ande-
rer Baueinheiten (Mehrfach-Versagen) zu einem sicherheitskritischen Versagen des Ge-
samtsystems führen.
Danach wird entschieden, ob im System ein sicherheitskritisches Versagen allein
durch ein Versagen der betrachteten Funktionselemente, also eines Einfach-Versagens,
verursacht werden kann. Ist das Einfach-Versagen begründbar durch unverlierbare na-
turgegebene Eigenschaften der betrachteten Baueinheit auszuschliessen, kann zunächst
mit den deterministischen Maßnahmen gegen dieses Einfach-Versagen die Betrachtung
fortgesetzt werden.
Kann dieses Einfach-Versagen begründbar durch unverlierbare, technisch bedingte
Eigenschaften der betrachteten Baueinheit ausgeschlossen werden, so gilt dieselbe
Schlussfolgerung.
Nur wenn diese beiden Fälle nicht mit » Ja « beantwortet werden können, muss die-
ses Einfachversagen weiter differenziert werden. Kann nämlich dieses Einfach-Versagen,
begründbar durch unverlierbare, technisch bedingte Eigenschaften der Baueinheit, die
der betrachteten Baueinheit übergeordnet ist, ausgeschlossen werden ?
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 183
Beantwortet sich diese Frage mit » Ja «, dann ist eine sicherheitsgerechte Auslegung
fortführbar, allerdings im semi-probabilistischen Bereich. Lautet die Antwort » Nein «,
ist ein Neuentwurf notwendig.
Kann ferner dieses Einfach-Versagen, begründbar durch unverlierbare, technisch
bedingte Eigenschaften einer oder mehrere Baueinheiten, die der betrachteten Bauein-
heit hierarchisch nicht zugeordnet sind, ausgeschlossen werden ? Beantwortet sich diese
Frage mit » Ja «, dann ist eine sicherheitsgerechte Auslegung fortführbar, allerdings im
probabilistischen Bereich. Lautet die Antwort » Nein «, ist ein Neuentwurf notwendig.
Ohne auf eingängige Beispiele zurückzugreifen, kann im Rahmen dieses Beitrages
der Ablaufplan nicht weiter im Detail erläutert werden.
Man erkennt aber, dass es sich bei dem Leitfaden-Teil für die ersten drei Phasen um
eine umfassende Darstellung technikfeldübergreifender Art handelt.
Mit der Bearbeitung der Realisierungs- und der Betriebsphase werden die Arbeiten
komplettiert. Der VDI-Leitfaden » Technische Sicherheit « ist zu gegebener Zeit für De-
tails heranzuziehen.
Zunächst ist festzuhalten, dass in Deutschland überwiegend eine Kultur der Schuld-
zuweisung vorherrscht, wodurch vielfach die eigentlichen Ursachen eines Ereignisses/
Unfalls mindestens überdeckt werden können. In Neu-Deutsch nennt man dies blame
culture.
Für die Untersuchung von Vorfällen ist es entscheidend, ob sich ein Produkt oder ein
System den allgemeinen anerkannten Regeln der Technik, dem Stand der Technik oder
dem Stand von Wissenschaft und Technik zuordnen lässt.
Handelt es sich bei dem Produkt oder dem System um ein handelsübliches und ge-
bräuchliches, so müssen die Fehler nur innerhalb des fest umrissenen Systems gesucht
werden und für die zukünftigen Vorhaben ausgeschlossen werden. Handelt es sich aber
um ein Gebiet der technologischen Fortentwicklungen, so sind zwar die Rechtsgrund-
lagen weiter zuzuordnen, auch die Aufsicht für den betreffenden Anwendungsfall ist
festgelegt, aber es ist der Stand der Technik zu berücksichtigen. Und hier befindet man
sich in einem nicht durchgehend kodifizierten Bereich, der Auslegungen unterschied-
licher Art zulässt. In diesem Zusammenhang ist auf die VDI-Denkschrift hinzuweisen,
die die Normierung des Weges zur Erreichung des Standes der Technik beschreibt. Da-
mit ergibt sich für die Gerichte eine entscheidende Verbesserung hinsichtlich der An-
forderungen an und der Bewertung von Sachverständigengutachten.
Kommt man in den Bereich der technologischen Innovationsvorhaben, so sind die
vorhandenen Rechtsgrundlagen nicht mehr zwingend anwendbar. Dann werden so ge-
nannte Verlegenheitslösungen, wie beispielsweise das Gesetz über den Bau und Betrieb
von Versuchsanlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr, zur
184 Bernd Schulz-Forberg
Abbildung 2 Zusammenhang von allgemein anerkannten Regeln der Technik mit dem Stand der
Technik und dem Stand von Wissenschaft und Technik
Hilfe genommen. Ferner muss für diese Fälle auch die Aufsicht definiert werden und
natürlich wird mindestens der Stand der Technik heranzuziehen sein, wenn nicht sogar
auf den Stand von Wissenschaft und Technik zurückgegriffen werden muss.
Verlegenheitslösungen unzureichender Art aber ergeben sich aus Zeit- und Geld-
mangel auf der Basis nicht wahrgenommener Verantwortung. Im Falle des Kölner Ar-
chivs ist beispielsweise die Aufsicht der ausführenden Firma übertragen worden. Eine
fast unglaubliche Verantwortungslosigkeit, sofern die Meldung in der Presse wirklich
zutreffend ist.
Auch beim Einsturz der Halle in Bad Reichenhall sind bezüglich der Aufsicht, der
Sachverständigengutachten und darüber hinaus schon bei dem Konzept und der Defi-
nition Ungereimtheiten zu erkennen, die letztlich noch der Klärung harren.
In Abb. 2 findet sich eine Darstellung des Zusammenhanges vom Stand der Technik,
dem Stand von Wissenschaft und Technik sowie zu den allgemein anerkannten Regeln
der Technik. Näheres dazu findet sich auch in der VDI-Denkschrift.
Aus diesen Betrachtungen heraus wird deutlich, dass es sich bei der Ereignisauswer-
tung keinesfalls nur um Unfälle oder auch Beinahe-Unfälle handelt, sondern dass der
gesamte Lebenszyklus eines Produktes oder Systems betrachtet werden muss. So endet
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 185
ja der Planungsprozess mit der Freigabe, die aber nur erteilt wird, wenn alle Planungs-
schritte erfolgversprechend ausgeführt wurden. Auch in diesem Bereich gibt es Fehlent-
scheidungen, die systematisch zu untersuchen wären. Allerdings fallen Ereignisse im
Planungsprozess nicht in die öffentliche Betrachtung, sie bleiben vielmehr firmenintern.
Ähnliches vollzieht sich im Realisierungsprozess, der mit einer Abnahme endet. Viel-
fach wird dieser Realisierungsprozess nicht in einem einzigen Durchlauf abgewickelt
werden können, sondern es werden auch hier Iterationsschritte nötig, weil Fehler in der
Ausführung vor der Inbetriebnahme auffällig geworden sind. Und nur die Unfälle und
Störungen im Betriebsprozess erreichen auch in vielen Fällen die Öffentlichkeit.
Die zu betrachtenden unerwünschten technischen Systemzustände können sich also
auf verschiedenen Eskalationsstufen realisieren. Sie können sowohl durch Bedienungs-
fehler als auch auf vorgelagerten Entscheidungsstufen durch Management-, Wartungs-
und Konstruktionsfehler sowie durch praxisuntaugliches Design hervorgerufen werden.
Letztendlich sind auch die Desaster der letzten Zeit, wie die Kernreaktor-Katastrophe in
Fukushima oder der massive Ölunfall der » Deepwater-Horizon «-Plattform im Mexika-
nischen Golf hier ursächlich einzuordnen.
Die Ereignisse, die zu einer Störung im Betrieb führen, sind die Ereignisse der drit-
ten Art. Sie sind häufig öffentlichkeitswirksam, in jedem Fall auch über den Betrieb bzw.
die unmittelbare Situation hinaus beobachtbar. Sie wirken unmittelbar zurück auf den
Betriebsprozess.
Ereignisse der zweiten Art sind jene, die in der Abnahme des Produktes, des Systems
auftreten. Sie wirken unmittelbar zurück in die Herstellung und in die Entwicklung/
Konstruktion.
Ereignisse der ersten Art sind jene, die im Rahmen der Freigabe erkennbar werden.
Sie wirken unmittelbar zurück auf den Planungsprozess. Die Abb. 3 zeigt die Iterations-
schleifen im Lebenszyklus von Technischen Produkten bzw. Systemen.
Nun haben sich in jedem Fachgebiet Besonderheiten herausgebildet, so dass be-
reichsübergreifende Betrachtungen erschwert werden. Diese grundsätzliche Feststel-
lung gilt auch für den Bereich der Ereignisauswertung, also der so genannten Lessons
Learned. Gerade hier aber könnte aus den Ereignissen nicht nur im jeweiligen System
gelernt werden, sondern vor allem auch fachgebietsübergreifend. Allerdings hat die Zahl
der Fachgebiete laufend zugenommen und zu einer in entsprechenden Rechtsbereichen
gefassten Isolierung geführt. Um den maximalen Nutzen aus den Ereignissen ziehen
zu können, müssen die Begriffe und die Bewertungsprozesse unbedingt vergleichbar
sein, die Dokumentation und die Veröffentlichung müssen zum Vorteil der Volkswirt-
schaft nach einvernehmlichen Regeln gestaltet werden. In jedem Fall muss das so ge-
nannte Beinahe-Ereignis integraler Bestandteil der Erfassung und Auswertung sein, da
hier ein enorm großes Lernpotenzial vorliegt und aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht
ungenutzt bleiben darf. Emil Ninov berichtete in 2002, dass auf einen Unfall mit schwe-
rer Verletzung 10 Unfälle mit leichter Verletzung und 30 Unfälle mit Sachschaden sowie
600 Beinah-Unfälle ohne Schäden kommen.
186 Bernd Schulz-Forberg
Planungsprozess
nein
Freigabe
Ja
nein
Ja Änderung
Realisierungsprozess Realisierungs-
prozess
Abnahme
nein
Ja
nein
Ja Änderung
Betriebsprozess Betriebsprozess
Störung
Ja
nein
Alles
Alles im im grünen
grünen
Bereich
Bereich
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 187
System
Komponente
Lebenszyklen
Baugruppe
Fahrzeug/Anlage
Entwurf
Qualitätssicherung
Systemgrenzen
Fertigung
Regelwerksentwicklung Umgebung/Nutzung
Inbetriebnahme
Durch den Markt
Betrieb
Durch den Hersteller
Störung/Unfall
Konformitätsbewertung
Entsorgung
Zulassung / Genehm.
Überwachung
Ereignisauswertung
Es gilt also, den Prozess der Generierung von Sicherheit als einen Regelkreis anzusehen
und sämtliche Ereignisse in diesen Kreis einzubeziehen. Dazu ist es notwendig, die fol-
genden Punkte stärker zu beachten und voranzutreiben:
So bildet die VDI-Denkschrift einerseits die Grundlage für den zur Zeit abzuleitenden
Leitfaden zur Generierung von Sicherheit in allen Technikfeldern, wie andererseits die
engeren Regelkreise sichtbar gemacht werden müssen, um sie in einen äußeren Regel-
kreis zum Nutzen der Volkswirtschaft und in vielen Fällen auch der jeweiligen Betriebs-
wirtschaft einzufügen, s. Abb. 4.
188 Bernd Schulz-Forberg
IV Botschaft
Angesichts der Folgen technischer Stör- und Unfälle für Mensch, Betrieb und Volks-
wirtschaft ist eine verbesserte Prävention und ein intensiveres Lernen aus Ereignissen
geboten. Wie oben beschrieben, kann von einer umfangreicheren und strukturierteren
Datenlage wesentlich profitiert werden, indem besondere Betriebsereignisse – auch un-
terhalb der derzeitigen gesetzlichen Berichtsschwelle – erfasst, untersucht und doku-
mentiert werden. Hier gilt es, unter Einbeziehung von nicht-meldepflichtigen Ereignis-
sen und Beinahe-Unfällen Lehren für die Praxis technischen Handelns zu ziehen, also
organisationales Lernen ermöglichen.
Auf Einzelanlagen bezogen könnten entsprechende Erkenntnisfortschritte auf den
verschiedenen Ebenen – eingesetzte Stoffe, Prozesse und Komponenten – zu laufen-
den Verbesserungen der Anlagensicherheit führen.1 Mehr noch: die Bereitstellung und
Pflege einschlägiger Berichts- und Analysedatenbanken könnten diese Lernprozesse
in noch größerer Breite unterstützen, wenn ihre anlagenübergreifende Zugänglichkeit
gegeben wäre und wenn die ihnen zugrundeliegenden Kategoriensysteme einheitlich
gestaltet wären. Entsprechend strukturierte Informationsangebote würden dann nicht
nur betriebs- oder branchenweit von Interesse sein, sondern auch sicherheitsbezogene
Analogieschlüsse auf ganz andere Anlagen erlauben. Diese Möglichkeit der Verallge-
meinerung würde umfassende Sicherheitskonzepte und fortschrittliche Regelsetzungen
unterstützen, die letztendlich national und zunehmend europäisch, eventuell auch in-
ternational Anerkennung und Anwendung finden könnten.
Darüber hinaus würde eine Institutionalisierung der systematischen Ereignisanalyse
auch zu einer Neuausrichtung von Fehlerkultur hin zu einer Lernkultur beitragen, die
die negativen Anreize der bisherigen » Schuldkultur « vermeidet. So krankt das hier der-
zeit angewandte Schuldprinzip daran, dass Fehler im Betrieb oft nicht gemeldet werden,
da ihre Meldung Sanktionen nach sich ziehen kann. Anreizsysteme sind zu überden-
ken, um mehr Transparenz und Effektivität in die Organisation technischer Sicherheit
einzuführen. Erste Gedanken hierzu könnten hin zu einer begrenzten Anonymisierung
von Ereignisdaten evtl. in Verbindung mit einer Abschwächung des Verursacherprin-
zips – nicht der erstmalige Fehler, sondern nur seine Wiederholung ist stark zu ahn-
den – weisen.
Gerade vor der augenblicklichen Entwicklung der Strukturen im zusammenwach-
senden Europa und auch weltweit ist es zwingend notwendig, die Gewährleistungsver-
antwortung des Staates mit der Durchführungsverantwortung der Akteure immer wie-
der neu auszubalancieren.
Eine zwingende Voraussetzung für diese Balance ist eine Datenlage, die aufgrund
übersichtlicher und transparenter Vorgaben zur Verfügung gestellt wird. Mit geeigne-
1 Vergl. OECD Workshop on Lessons Learned from Chemical Accidents and Incidents; http://www.oecd.
org/env/accidents
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 189
ten Methoden, die entsprechend normiert sind, können dann verlässliche Erkenntnisse
über die Güte der technischen Systeme abgeleitet werden.
Sicherlich ist es besser, zukünftig von einer Lernkultur zu sprechen anstatt von einer
Fehlerkultur. Die Technik muss sich dazu deutlicher in die Diskussionen zu Technolo-
gie und Gesellschaft einbringen und darf das Feld nicht länger primär den Juristen und
Volkswirten überlassen. Der VDI, die Leopoldina, die Ingenieurkammern, die acatech
und viele anderen stakeholder der Technik wie die Technischen Universitäten und die
einschlägigen Wissenschaftsorganisationen müssen sich einer Struktur bewusst werden,
aus der heraus sie die gesellschaftlichen Erfordernisse maßgeblicher mitgestalten kön-
nen. Beispielsweise hat die Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissen-
schaftlich-technischer Entwicklungen eine Projektskizze » Fehlerkultur und technische
Sicherheit « erarbeitet (September 2011) , was der Unterstützung hinsichtlich Inhalt und
Förderung bedarf.
Der VDI schlägt im Übrigen in seiner Denkschrift vor, die Idee eines Technikra-
tes weiter zu verfolgen, eine Konzeption zu erarbeiten und letztlich die Etablierung zu
ermöglichen. Und auf dem Weg dorthin müssen die Diskurse breit unterstützt wer-
den. Zahlreiche einzelne Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der
Robert Bosch und der Heinrich Böll Stiftung oder auch seitens einiger Behörden (z. B.
der angekündigte Technikdialog der Bundesnetzagentur im Frühjahr 2012) sind ver-
stärkt wahrnehmbar. Erlaubt sei in diesem Zusammenhang auch ein Hinweis in eige-
ner Sache: In Berlin hat sich derzeit das FORUM Technologie & Gesellschaft etabliert,
auf dessen Veranstaltungen Technik sowohl als integraler Bestandteil unseres Lebens-
alltages, aber eben auch als wichtiger Innovationstreiber verstanden und entsprechend
diskutiert wird (www.forum46.eu). Hier kommen Vertreter und Multiplikatoren aus al-
len gesellschaftlichen Bereichen zusammen, um in einer aufgeschlossenen Atmosphäre
nachhaltige Lösungsansätze zu entwickeln. Jeder ist herzlich eingeladen, diese Heraus-
forderungen mit branchenübergreifendem Verständnis und persönlichem Engagement
anzunehmen. Letztlich wird es darauf ankommen, Risiken und Chancen der Technik
nicht einseitig und ideologisch zu bewerten, sondern gemeinsam ein am Menschen
orientiertes Technikverständnis weiter zu entwickeln.
Kooperation von Mensch und
Maschine in der Luftfahrt
Peter Hecker
Institut für Flugführung, TU Braunschweig
Abbildung 1
30 900
Annual
accident Annual
rate onboard
(per million fatalities
departures)
20 600
10 300
0 0
60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12
Über allem muss indes die Sicherheit im Flugverkehr stehen. Diese Dimension, die auch
für die Akzeptanz des Flugzeugs als Transportmittel zentral ist, soll im Folgenden ad-
ressiert werden. Eine langjährige Statistik über Unfallzahlen in der kommerziellen Luft-
fahrt ist Diagramm (Abb. 2) gegeben. Dort zeigt die durchgezogene Linie die Raten der
Unfälle mit Verlust an Menschenleben pro einer Million Starts. Nach einer hohen An-
zahl in den frühen 1960er Jahren sank sie, dank der immer weiter entwickelten Piloten-
Assistenz-Systeme, immer weiter ab. Diese technischen Systeme unterstützen den Pilo-
ten in allen wesentlichen Aufgaben von der Situationserfassung und -interpretation, der
Planung und Planimplementierung bis hin zur Flugüberwachung. Gleichzeitig lassen
sie sein Aufgabenfeld kontinuierlich komplexer werden.
Probleme
Abbildung 3 Absturz LH 2904 bei Warschau am 14. 09. 1993 (Quelle: www.baaa-acro.com/Photos
d‹accidents 1993.htm)
der LH 2904 bei Warschau (Polen) am 14. 09. 1993 (Abb. 3), illustriert werden. Hierbei
handelte sich um einen planmäßigen Flug von Frankfurt nach Warschau/Okecie. Die
Bahn 11, die eine Länge von 2800 m besitzt, wurde für die Landung freigegeben. Bei
einsetzendem Regen warnte die Anflugkontrolle warnte den anfliegenden Verkehr vor
Wind Shear, plötzlich verändernden Windrichtungen. Wie das Handbuch vorsieht, er-
höhte der Pilot (PF, Pilot Flying) daraufhin die Anflug- und die Landegeschwindigkeit.
Das Flugzeug setzte auf regennasser Bahn auf. Aufgrund von drehenden Windrichtun-
gen sowie weiterer, im folgenden betrachteter Gründe, wurde nach dem Aufsetzen die
Flugzeuggeschwindigkeit zu langsam abgebaut, so dass als Folge Runway Overshoot auf-
trat, d. h. das Flugzeug rutschte über die Landebahn hinaus.
Die Ursachen des Unfalls liegen in den Problemen konventioneller Automation. Wa-
rum das so ist, lässt sich an der Funktionsweise des automatisierten Bremssystems erläu-
tern. Die Beschreibung ist hierbei in Teilen vereinfacht, um klarer auf die sich ergeben-
den und grundlegenden Herausforderungen in der Automatisierung von Flugsystemen
hinzuweisen.
Setzt ein Flugzeug auf der Landebahn auf, aktiviert sich das Bremssystem mit auto-
matisierter Bremshilfe, d. h. Ground Spoiler und Engine Reverser werden aktiviert. Die
Ground Spoiler (Bremsklappen an den Flügeln) klappen hoch, um die Geschwindig-
keit zu verlangsamen (Abb. 4a). Demselben Zweck dient der Engine Reverser, der die
Antriebsysteme auf Schubumkehr schaltet (Abb. 4b). Ground Spoiler und Engine Re-
verser kann der Pilot automatisiert betreiben, indem er die Stärke des Bremsvorgangs
am Auto-Brake Panel einstellt (in Abb. 4c rot umrandet). Das Bremssystem funktioniert
dann, wenn die automatisierter Bremshilfe eingeschaltet ist, wie folgt: Die Ground Spoi-
ler fahren aus, wenn beide Hauptfahrwerke eingefedert sind (weil sie auf dem Boden
aufsetzen), oder wenn die Radgeschwindigkeit der Fahrwerke eine vorgegebene Marke
überschreitet (weil das Flugzeug Bodenkontakt bekommen hat). Die Engine Reverser
werden aktiviert, wenn beide Hauptfahrwerke eingefedert sind.
194 Peter Hecker
Wind Shear trug wesentlich zum Unfall beim Landevorgang des Fluges am 14. 09. 1993
bei. Das Flugzeug sollte eigentlich an der » Schwelle « der Landebahn aufsetzen. Der
erste Bodenkontakt des rechten Fahrwerks kam sehr spät, da der Pilot wegen Rücken-
wind die Geschwindigkeit erhöhen musste. Im problemlosen Normalverlauf hätten zu-
erst die beiden Hauptfahrwerke aufgesetzt, und dann das Bugfahrwerk, und nach dem
Einfedern aller Fahrwerke hätte die Bremsautomatik eingesetzt. Doch im vorliegenden
Fall geschah das – wegen des drehenden Windes – nicht. Zuerst federte das rechte Fahr-
werk ein, anschließend das Bugfahrwerk, und dann erst das linke Fahrwerk. Nun erst
(1.525 m nach der Schwelle) kam die Freigabe von Ground Spoiler und Umkehrschub
durch die Schaltlogik der automatischen Bremshilfe. Die Bremsautomatik setzte also zu
spät ein. Die verbleibenden 1.275 m Landebahn reichten unter den gegeben Witterungs-
bedingungen nicht zum Abbremsen. Deshalb verständigten sich Pilot (PF) und Kopi-
lot (PNF) kurz vor Ende der Landebahn, das Seitenruder nach rechts herumzureißen.
Trotzdem war die Kollision mit dem Erdwall, der sich 90m hinter Bahnende befindet,
nicht mehr zu vermeiden.
Rückblickend kann hierbei festgestellt werden, dass u. a. Defizite im Zusammenwir-
ken von Mensch (Pilot) und Maschine (automatisiertes Bremssystem) in der gegebenen
Situation zu einer katastrophalen Situation geführt haben.
Herausforderungen
Das Lufttransportsystem wächst kontinuierlich um zwei bis drei Prozent pro Jahr. Wirt-
schaftswachstum, Globalisierung und rasche Entwicklung der Schwellenländer tragen
dazu bei. Mit dem Wachstum des Luftverkehrsaufkommens steigen auch die Anforde-
rungen an die Piloten. Sie müssen mit dichterem Verkehr in komplexeren Szenarien zu-
rechtkommen.
Das Lufttransportsystem ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Einbindung
menschlicher Bediener in die Führungsprozesse. Der Pilot trägt die Verantwortung für
sicheren Flug von Gate zu Gate, der Fluglotse für die sichere Koordination der Luftver-
kehrsströme.
Als Folge der drohenden Überforderung von Piloten findet zunehmend konventio-
nelle Automatisierung im Cockpit statt. Das Wort » konventionell « sagt in diesem Kon-
text, dass die Automatisierung einzelner Funktionen technologiegetrieben erfolgt, dass
der Stand der Technik also vorgibt, was Technik übernehmen kann. Der Pilot, der die
Gesamtverantwortung trägt, kann Einzelfunktionen an Automaten delegieren. Aber
problematisch ist dabei die steigende Zahl von unabhängigen Automatismen. Die Cock-
pittechnologie (Super Constellation) des Jahres 1951 war noch überschaubar, aber auch
sie ist durchaus beeindruckend (Abb. 5). In den folgenden Jahren weisen Komplexität
und Quantität der Systeme zur Mensch-Maschine-Kooperation (Anzeige- und Bedien-
systeme) allerdings eine stark steigende Tendenz auf. Bei der Concorde des Jahres 1969
196 Peter Hecker
Crew Assistenzsystem
Sensoren
Kommunikation
Erfassung von
Situationselementen
Situations-
interpretation
Plangenerierung Plangenerierung
& Bewertung & Bewertung
Planungs-
entscheidung
Planungs- Planungs-
ausführung ausführung
ist die Zahl der Geräte im Cockpit immens gewachsen (Abb. 6). Die nachfolgenden
Flugzeugausrüstungen mit sog. » Glas-Cockpits « (unter Verwendung von Computer-
Bildschirmen), wie z. B. in der Airbus A-320 Familie führen diese Tendenz fort.
Der Pilot kann Aufgaben an Geräte delegieren. Er hat eine zunehmende Zahl von
Apparaturen im Cockpit, trägt aber Verantwortung dafür, welche er eingeschaltet hat.
Seine Verantwortung für Sicherheit umfasst die operationelle Anwendbarkeit und die
kontextbezogene Sicherheit. Er muss entscheiden, ob die vorhandenen technischen Ge-
räte für eine gegebene Situation angemessen sind. Prinzipiell jedoch stellt die durchgän-
gige Kenntnis des jeweiligen Delegationsrahmens eine große Herausforderung dar, weil
die Automatisierung einen sehr hohen Komplexitätsgrad erreicht hat.
Grundsätzlich nimmt der Pilot seine Flugführungsaufgabe im Rahmen eines sog.
» Recognize-Act-Cycles « war. Dabei erfasst er eine gegebene Situation und interpretiert
sie unter Einbeziehung von Vorwissen. Darauf aufbauend entwirft er, bezogen auf seine
Aufgabe (Flug von A nach B), einen Plan und entscheidet ggf. zwischen alternativen
Planvarianten und -parametern. Für bestimmte Situationen kann er sich der Hilfe von
automatisierten Systemen bedienen, und z. B. den Autopiloten einschalten. Ein schema-
tischer Ablauf der Handlungsstränge in einer konventionellen Arbeitsteilung zwischen
Mensch (Crew im Cockpit) und Automaten (von Ingenieuren als Assistenzsystem ent-
worfen und implementiert), lässt sich im Diagramm der Abb. 7 darstellen.
198 Peter Hecker
Pilot: Ingenieur:
++ fliegerische/betriebliche ++ technisch/wissenschaftliche Aus-
Ausbildung bildung
O wissenschaftlicher Hinter- O operationeller Hintergrund
grund
• denkt Szenarien vor
• Führung des Luftfahrzeugs • entwirft Automatismen/Systeme
anhand v. Systemen
• Anwendung prozeduralen übernimmt (Teil-)Verantwortung
Wissens
trägt Gesamtverantwortung
Wie eingangs angedeutet, ergibt sich nun mit zunehmender Komplexität von Flug-
systemen ein Dilemma. Auf der einen Seite befindet sich der Pilot mit seiner fliegeri-
schen Ausbildung. Er trägt die volle Verantwortung für die sichere Durchführung eines
Fluges. Dabei führt er das Flugzeug anhand von Systemen, die Ingenieure entwickel-
ten. Er wendet sein Wissen prozedural an. Er ist trainiert, Handlungsanleitungen zu
befolgen, und er hat dies habitualisiert. Auf der anderen Seite befindet sich der Inge-
nieur. Er ist technisch gut ausgebildet, besitzt aber in der Regel nur ein begrenztes ope-
rationelles Grundlagenwissen. Sofern er die Avionik gestaltet, indem er beispielsweise
ein automatisiertes System entwickelt, das dem Piloten dienen soll, übernimmt er im
ideellen Sinne einen Teil der Verantwortung für den sicheren Flug (Abb. 8). Der Ent-
wickler denkt für den Piloten Szenarien » vor «, er übernimmt Verantwortung, um in
Situationen von Überlast die Belastung durch Automatisierung auf ein erträgliches Maß
zu reduzieren. Der Pilot nutzt die komplexen Systeme des Cockpits im Allgemeinen mit
begrenzter Detailkenntnis der technischen Interna in den Flugsystemen und deren Ein-
setzbarkeit in einem gegebenen situativen Kontext.
Das Dilemma tut sich also durch die Kluft zwischen den beiden beteiligten Zu-
gangsweisen auf, nämlich dem Piloten mit fliegerischer Ausbildung auf der einen und
dem Ingenieur als technischem Experten auf der anderen Seite. Es zu bewältigen, erfor-
dert neue Prozesse der Systementwicklung, deren Kern » Joint Teams « bilden können
(Abb. 9). Dabei geht es im Prinzip darum, dass Ingenieure die erforderlichen Systeme
gemeinsam mit den Anwendern entwickeln. Vorteilhaft ist dabei die Beteiligung » tech-
nischer Piloten «, also von Piloten, die über eine fundierte Basis technischer Kenntnisse
verfügen. In solchen Joint Teams ist die Verantwortung nicht mehr auf den Piloten und
den Ingenieur aufgeteilt, sondern liegt bei diesen Teams.
Change Management
Crew Assistenzsystem
Sensoren
Kommunikation
Situations- Situations-
interpretation interpretation
Plangenerierung Plangenerierung
& Bewertung & Bewertung
Planungs-
entscheidung
Planungs- Planungs-
ausführung ausführung
tionen zu erfassen und zu bewerten, und sie können sogar Pläne generieren und bewer-
ten. Durch solche Parallelfähigkeiten von Mensch und Maschine wird der Pilot entlastet,
wobei die Planungsentscheidung nach wie vor in seiner Verantwortung liegt.
Mit solchen Entwicklungen arbeiten Ingenieure gemeinsam mit den Beteiligten aus
der Crew daran, den Begriff der Verantwortung im Flugverkehr neu zu definieren. Die
Sicherheit des zivilen Luftfahrtsystems, die bereits seit den 1960er Jahren beträchtliche
Fortschritte erreichte, wird auf eine höhere Stufe gehoben.
Was bei der Planung und Herstellung
einer Eisenbahntrasse relevant sein kann
Hans-Hermann Prüser
Abteilung Bauwesen, Jade Hochschule/Oldenburg
Vorbemerkungen
Die Anlagen der Infrastruktur sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland von her-
ausragender Bedeutung. Sie vernetzen Wohn- und Arbeitsstätten; sie sind die Plattform
für den Austausch von Gütern, Energie, Halbfertigprodukten und Komponenten zur Si-
cherstellung einer konkurrenzfähigen Produktion und sie sind Grundlage zur Befriedi-
gung der Freizeitbedürfnisse der Bevölkerung.
Die Notwendigkeit zum Erhalt, Aus- und Umbau der Infrastruktur ist grundsätzlich
unstrittig. Die Akzeptanz, ist insbesondere bei Neubauten innerhalb der betroffenen Be-
völkerung oft nur schwer erreichbar, da die Umgebung nachhaltig verändert wird. Die
Verkehrsträger Straße, Schiene, Wasser oder Luft haben deshalb ihre Neubauplanungen
im Rahmen umfangreicher Planfeststellungsverfahren einer Genehmigung zuzuführen.
Im Ergebnis wird eine Lösung angestrebt, die Einflussfaktoren Ökonomie, Ökologie so-
wie die Lebens(=Wohn)qualität im Sinne einer gesellschaftlichen Gesamtbetrachtung
optimiert.
Die planenden Ingenieuren/innen nehmen in diesem Zusammenhang ausgespro-
chen verantwortungsvolle Aufgaben wahr. Sie arbeiten sachkundig, unabhängig, inter-
disziplinär und zielorientiert. Nachfolgend sollen am Beispiel einer Trassenplanung im
Eisenbahnbau ausgewählte Problemfelder aufgezeigt werden, in denen die Übernahme
von Verantwortung erforderlich ist.
Allgemein zählen der statische Nachweis und die Herstellung eines Tragwerkes auf der
Baustelle zu zentralen Aufgaben eines Bauingenieurs. So richtig diese Aussage auch dem
SEd ≤ SRd
Grunde nach ist, sie wird umso bedenklicher, je strikter hier nach Abgrenzung von Ver-
antwortlichkeiten gesucht wird.
Die Tabelle 1 zeigt die prinzipielle Vorgehensweise bei der Nachweisführung nach
dem Euro-Code. Danach wird ein simulierter Bemessungswert für eine Beanspruchung,
eine Verformung, etc. dem Bemessungswert der Tragfähigkeit oder zulässigen Parame-
tern des System- oder Bauteilverhaltens gegenübergestellt.
Die Übernahme von Verantwortung als individuelle Leistung erfolgt formal durch
die vom Ingenieur/in geleistete Unterschrift. Sie dokumentiert deutlich mehr als z. B.
die isolierte Aussage » 4.82 < 5.02 «, sie erklärt die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Be-
rechnung im technischen, im wirtschaftlichen und im juristischen Sinne. Der/die Un-
terzeichnende ist sich über die Wechselwirkungen, die zwischen Bauwerk und Umge-
bung bestehen, bewusst und versichert insbesondere auch, dass
Im Jahre 1985 wurde die Errichtung einer ICE-Neubaustrecke in den Bedarfsplan für
Bundesschienenwege aufgenommen. Nach 17 Jahren, von denen nur die letzten 6 Jahre
für den eigentlichen Bau notwendig waren, wurde 2002 diese Strecke in Betrieb genom-
men. Die Reisezeit zwischen den Hauptbahnhöfen Köln und Frankfurt verkürzt sich
von 133 auf 76 Minuten. Die Gesamtmaßnahme beinhaltet entlang der ca. 180 km langen
Eisenbahntrasse zahlreiche Tunnel- und Ingenieurbauwerke, den Umbau/die Entwick-
lung der begleitenden Infrastruktur (Erd- und Straßenbau, Leitungsverlegungen) sowie
zahlreiche Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Sicherstellung einer angemessenen
Umweltverträglichkeit.
In der Abbildung 1 sind 2 Folien wiedergegeben, die den Zeitbedarf und die unter-
suchten Varianten der Linienführungen darstellen. Letztlich zur Ausführung gekom-
men ist eine Linienführung mit den folgenden Haltepunkten:
Das Ergebnis stellt eine Lösung dar, in der die Anforderungen an den Fahrkomfort, Um-
weltschutzaspekte sowie die Kosten für Investition und Betrieb gemeinsam optimiert
worden sind. Im Ergebnis werden als wesentliche Parameter für den Entwurf definiert:
• Die Strecke ausschließlich für den Personenverkehr unter Einhaltung von Mindest-
radien und maximalen Steigungen für eine Entwurfsgeschwindigkeit von 300km/h
ausgelegt.
• Die Trasse wird, dort wo es möglich ist, in enger Bündelung zur bestehenden Bun-
desautobahn A3 verlegt; die übrigen Bereiche werden durch einen hohen Anteil an
Tunnelstrecken landschaftlich schonend behandelt.
• Die erwartete Auslastung der Strecke wird durch die Anbindung von zwei interna-
tionalen Flughäfen und der Landeshauptstädte Wiesbaden und Mainz verbessert.
• Die sich im Hochgeschwindigkeitsbetrieb ergebenden hohen Wartungskosten eines
Schotterbettes werden durch den Einsatz eines durchgehenden Betonkörpers zur
Auflagerung des Schienen/Schwellensystems (Feste Fahrbahn) minimiert.
Wie sich die Optimierung verschiedener Einflussgrößen lokal darstellen kann ist in
den Bildern der Abbildung 2 zu erkennen. Das Fällen und Roden zusammenhängender
Waldflächen und die enormen Bewegungen von Erdmassen lassen sich nur unter Be-
rücksichtigung der Gesamtmaßnahme verantwortlich vertreten. Das linke Bild der Ab-
bildung 2 zeigt im Vordergrund allerdings auch sehr deutlich den Einfluss einer land-
schaftsschonenden Trassenplanung. Der Betonkörper zeigt den Anfang eines Tunnels
an. Seine Anlegung hat keinerlei fahrdynamische Erfordernisse sondern sie ergibt sich
rein aus ökologischen Gesichtspunkten. Hier wird ein wertvolles Landschaftsschutzge-
biet mit einer sehr wertvollen Flora und Fauna unterquert.
Für den Fortschritt und die Realisierung eines Projektes ist es erforderlich, Entschei-
dungen vorzubereiten, verbindlich abzustimmen und umzusetzen. Dabei gilt es bei den
Betroffenen eine Akzeptanz der Maßnahme insgesamt zu erreichen und dann die ver-
schiedenen Randbedingungen so neutral wie möglich abzuwägen.
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 205
Es wird nicht immer gelingen können, Problemlösungen zu finden, die allseits ein
positives Echo finden. Es ist dann im Sinne der Verantwortung für die Gesamtmaß-
nahme die beste Lösung durchzusetzen.
Als Beispiel soll hier eine Teilleistung im Zuge der Errichtung einer Eisenbahnbrücke
gemäß Abbildung 3 behandelt werden. Ohne auf Details im Einzelnen eingehen zu wol-
len: Es ist erforderlich, dass in der Mitte der Brücke in unmittelbarer Nähe zu einem
Bachlauf ein Brückenpfeiler zu errichten ist. Die Baugrundverhältnisse erlauben die
Flachgründung auf einen Einzelfundament. Die Sohle des Pfeilerfundamentes liegt un-
terhalb des Grundwasserspiegels, dessen Höhenlage mit dem Gewässerwasserstand
kommuniziert. Ohne bauliche Maßnahmen würde sich bei der Herstellung des Pfeilers
die auszuhebende Baugrube mit Wasser füllen und der Bachlauf würde durch die Bau-
grube führen.
Abhilfe schafft die Ausbildung eines wasserdichten Spundwandkastens, der den
Gründungsbereich des Brückenpfeilers vollständig umschließt. Das Grundwasser kann
dann nicht mehr von der Seite in die Baugrube einfließen, sondern nur noch von unten.
Wegen der angetroffenen Bodenverhältnisse (Wasserdurchlässigkeit) sind diese Wasser-
mengen zwar beachtlich; sie sind aber durch Pumpeneinsatz technisch problemlos be-
herrschbar. Der Bachlauf kann in jedem Fall in seiner natürlichen Lage verbleiben.
Rechts in der Abbildung 3 ist die sich ergebende Situation während der ca. 6 Monate
langen Bauzeit dargestellt. Das von unten in die Baugrube einströmende Grundwasser
wird, bevor es die Baugrubensohle erreicht, noch im gewachsenen Boden abgepumpt
und beseitigt. Dadurch wird die Baugrube trocken gehalten. Um den Spundwandkas-
ten herum wird jetzt der Grundwasserstand großflächig abgesenkt. Nachdem das Fun-
dament und der aufgehende Pfeiler hergestellt sind, wird die Baugrube geräumt, die
Spundwände werden gezogen und der Grundwasserstand erreicht wieder seine ur-
sprüngliche Lage.
Die Baustelle befindet sich in einem ausgewiesenen Landschaftsschutzgebiet und es
ist für die notwendige Grundwasserabsenkung eine Genehmigungsplanung durch den
Bauherrn aufzustellen. Dabei sind Abstimmungen zwischen dem ausführenden Bau-
betrieb und den Belangen des Landschaftsschutzgebietes erforderlich, um eine trag-
fähige Lösung des Eingriffes » Bauzeitliche Grundwasserabsenkung « zu erarbeiten.
Im vorliegenden Fall waren im Wesentlichen drei unabhängige naturschutzrechtliche
Fachdienste zu beteiligen. Sie werden nachfolgend Fische-Freund, Gräser-Freund und
Vogel-Freund genannt, ohne dass diese vereinfachende Wortwahl herabwürdigend ge-
meint ist.
Der Baubetrieb suchte nach einer Möglichkeit, das während der Bauzeit geförderte
Grundwasser aus dem Baustellenbereich herauszubekommen. Der Ablauf der Abstim-
mungen erfolgte in mehreren aufeinander folgenden Schritten:
• Variante 1: Das geförderte Grundwasser wird in den Bachlauf eingeleitet. Diese Maß-
nahme ist mit dem Fische-Freund abzustimmen. Es sind dabei die Menge und die
Beschaffenheit des geförderten Grundwassers anzugeben.
Die Genehmigung wurde versagt, weil durch die Einleitung des O2-freien Grund-
wassers die Sauerstoffkonzentration im Bachlauf insgesamt abnimmt und damit die
Überlebensmöglichkeiten der Fische stark einschränken kann. Das gilt insbesondere
für die Sommermonate, wenn der Wasserstand und der Sauerstoffgehalt im Bach
ohnehin gering sind.
• Variante 2: Das geförderte Grundwasser wird in einem hohen Bogen – freifallend –
in den Bachlauf gegeben. Beim Einfallen des Grundwassers in den Bachlauf wird
in ausreichendem Umfang Sauerstoff im Wasser gelöst und es besteht keine Gefahr
mehr für die Fische.
Die Genehmigung für diese Variante wird jedoch von dem Gräser-Freund versagt,
denn die in der Nähe des Brückenpfeilers wachsenden Gräser werden durch die
Grundwasserabsenkung während der 6-monatigen Bauzeit nicht mehr mit genü-
gend Bodenfeuchtigkeit versorgt und werden folglich Schaden nehmen. Das gilt be-
sonders in den niederschlagsarmen Sommermonaten.
• Variante 3: Das geförderte Grundwasser wird nicht mehr in den Bachlauf eingeleitet,
sondern permanent im näheren und weiteren Umfeld der Baustelle mit Hilfe geeig-
neter Anlagen verregnet. Damit bleibt der Bachlauf unbeeinflusst und die Gräser
über der Grundwasserabsenkung erhalten ausreichend Feuchtigkeit.
Dies Variante muss aber von dem Vogel-Freund abgelehnt werden. Im Bereich der
geplanten Beregnung sind bodenbrütende Vogelarten festgestellt worden. Durch den
6 monatigen Dauerregen werden die Brut und die Aufzucht der Jungen verhindert.
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 207
Für die Herstellung des Brückenpfeilers wird die Baugrube mit einem wasserdichten
Spundwandkasten umschlossen und, wie beschrieben, das Grundwasser während der
Bauzeit abgesenkt.
Es ist noch zu klären, auf welcher Höhenkote die Spundwand enden soll (vgl. Abbil-
dung 3, rechts). Die Antwort ist einfach: » Natürlich so hoch, dass ein Hochwasser des
Bachlaufes nicht zu einem Überschwemmen der Pfeilerbaugrube führt ! « Aber niemand
weiß, wie sich der maximale Wasserstand im Bachlauf während der Bauzeit einstellen
wird. Es liegt damit in der Verantwortung der beteiligten Ingenieure abzuwägen und
1 Zeitlich limitiert bedeutet, dass jemand der eine extensive landwirtschaftliche Nutzung (z. B. Gras mä-
hen) nicht dauerhaft betreiben darf. Das Land muss zwischendurch, wie früher in der Dreifelderwirt-
schaft, ein Jahr brach liegen bevor erneut geerntet wird. Mit diesem Passus wollte man die gewerbliche/
industrielle Landwirtschaft aus dem Landschaftsschutzgebiet hinausdrängen.
208 Hans-Hermann Prüser
unter Berücksichtigung von Kosten und Risiken die Höhe der Spundwandoberkante
festzulegen. Für den Eintrittsfall ist ein Szenarium für die Räumung der Baustelle abzu-
stimmen.
Im Betriebszustand entstehen an dieser Eisenbahnbrücke keine besonderen Ge-
fahren.
Angesichts der Erfahrung, wonach alles, was schiefgehen kann, auch irgendwann ein-
mal schiefgehen wird (… frei nach Murphy), muss sich eine verantwortungsvolle Pla-
nung mit möglichen Risiken und Gefahren befassen, die sich im Umfeld eines Bauwer-
kes sowohl im Bauzustand als auch im Betriebszustand ergeben. Zur Veranschaulichung
wird die Baumaßnahme » Stützwand Elzer Berg « behandelt, die im Zuge der ICE Neu-
baustrecke Köln-Frankfurt errichtet wurde. Es handelt sich dabei um den Übergang der
Eisenbahntrasse zwischen einem Geländeeinschnitt und einen Tunnelabschnitt, der in
unmittelbarer Nähe zu einer Autobahn liegt.
Die Abbildung 5 zeigt, dass hier ein erhebliches Gefahrenpotenzial gegeben ist. Die
Steckenführungen von Schiene und Autobahn verlaufen annähernd parallel, aber auf
unterschiedlichen Höhenkoten. Die Autobahn muss deshalb im Endzustand dauerhaft
und im Bauzustand temporär durch eine Stützkonstruktion (» Elzer Berg «; vgl. Abbil-
dung 5) gesichert werden.
Die Abwehr von Risiken und Gefahren, die sich im laufenden Eisenbahnbetrieb erge-
ben, werden im Entwurf berücksichtigt und in den Planfeststellungsunterlagen rechts-
verbindlich festgelegt. Einzelheiten können aus der Abbildung 5 den Lageplänen ent-
nommen werden. Wesentlich dabei sind die folgenden Aspekte:
Durch den Abkommensschutzwall ergibt sich für die Stützwand aus dem einwirkenden
Erddruck eine erheblich höhere Beanspruchung, verbunden mit einer deutlichen Kos-
tensteigerung der Konstruktion. Eine zweifelsohne sinnvolle Investition in die Unfall-
vorsorge und in die Verkehrssicherheit.
Die Tiefe des Baugrubenverbaus wird durch einen lagenweisen Aushub erreicht. Die
wesentlichen Arbeitsschritte der Herstellung sind in der Abbildung 6 dargestellt. Im
Einzelnen:
beginnender Einbau der bewehrten Einbau der Rück- … rückverankert; … die Sohle
Aushub Spritzbetonausfachung verankerung jetzt die 2. Lage ist erreicht
In dem Lageplan der Abbildung 5 ist die Schnittführung 1-1 gekennzeichnet. In der Ab-
bildung 7 zeigen die dargestellten Querprofile die Einzelheiten der Stützkonstruktionen
im Bauzustand und im Endzustand. Der Höhenunterschied der Verkehrswege unterein-
ander beträgt an dieser Position nach Fertigstellung der Baumaßnahme ca. 14m.
Der Baugrubenaushub wird mit einem 6,50 m hohem temporären Verbau in Ver-
bindung mit einer Böschung gesichert (vgl. Abbildung 7). Der Verbau wird mit 3-lagi-
gen Verpresskörpern rückverankert. Nachdem die Stützwand (vgl. Abbildung 7; rechts)
fertig gestellt und hinterfüllt ist, nimmt sie den gesamten Erddruck auf. Der im Boden
verbleibende Verbau hat dann rechnerisch keine statische Funktion mehr. Der Verbau
muss folglich nur während der entsprechenden Bauzeit halten und nicht länger. Wäh-
rend dieser Zeit ist er die einzige wirksame Sicherung des ca. 17m hohen Geländesprun-
ges zwischen der Autobahn und der Baugrubensohle.
Die beschriebene, an sich verlässliche Verbaukonstruktion erweist sich hier jedoch
als problematisch, weil das angetroffene Grundwasser betonangreifend ist. Die rückver-
ankernde Wirkung der Verpesskörper wird also mit der Zeit nachlassen, bis der Verbau
in einer absehbaren Zeit zwangsläufig einstürzen muss ! Angesichts des damit verbun-
denen, enormen Gefahrenpotenzials sind vorbeugende Maßnahmen zu planen und auf
der Baustelle umzusetzen:
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 211
• Die Bauzeit der Stützwandkonstruktion ist möglichst kurz zu halten. In idealer Weise
soll die Herstellung von März bis Dezember erfolgen. Vor und zu Beginn dieser Zeit-
spanne sind auch die erforderlichen Baustraßen anzulegen.
• Bauzeitverzögerungen – z. B. witterungsbedingt – können grundsätzlich nicht aus-
geschlossen werden. Lieferengpässe, Streiks, der Konkurs eines Baubeteiligten, … es
sind viele Gründe denkbar, die dazu führen können, dass der rückverankerte tempo-
räre Baugrubenverbau deutlich länger als geplant die Autobahn sichern muss.
Es liegt deshalb in der Verantwortung des Ingenieurs dafür Sorge zu tragen, dass die
Standzeit des Verbaus ggf. ausgedehnt werden kann.
• Der aktuelle Grad der Schädigung der Betonverpresskörper durch das Grundwasser
ist während der Standzeit des Verbaus zu bestimmen. Das Nachlassen der Rückver-
ankerung ist an einer beginnenden Zunahme der horizontalen Verformung des Ver-
baukopfes in Richtung der Baugrube erkennbar. Entsprechend wird die Spundwand
mit einer entsprechenden Ausstattung zur Messung eventuell auftretender Verfor-
mungen ausgestattet. Regelmäßige Messkampagnen sind Bestandteil des Pflichten-
heftes der Bauüberwachung.
• Der zeitliche Verlauf der gemessenen Verformungen ist zu dokumentieren und zu
beurteilen. Treten keine Verformungen am Verbau auf, so sind die Baustelle in der
Baugrube und der Autobahnverkehr sicher.
• Ab welcher Größenordnung und in welchem Zeitraum werden Verformungen be-
denklich und was ist dann unbedingt zu tun ? Ein derartiges Notfallkonzept ist im
Vorfeld der Baumaßnahme vollständig durchzuplanen und mit den Beteiligten ab-
zusprechen. Die Maßnahmen reichen vom nachträglichen Einbau zusätzlicher Ver-
presskörper, über Teilverfüllungen der Baugrube bis zu den im schlimmsten Fall
einzuleitenden Verkehrsumlegungen auf der Autobahn.
212 Hans-Hermann Prüser
Die Abbildung 7 zeigt sehr anschaulich die hohe Beanspruchung der Stahlbetonkon-
struktion » Stützwand Elzer Berg «, die sich im Endzustand aus dem Abkommensschutz-
wall und den Verkehrslasten auf der Autobahn ergibt, nachdem der im Boden verblei-
bende Verbau seine Tragfähigkeit verloren hat.
Die Stützwand muss dauerhaft standsicher sein und ihre Herstellung hat in einem
angemessenen Finanzrahmen zu erfolgen. Zum Schutz gegen das betonangreifende
Grundwasser müssen die erdberührten Flächen der Betonkonstruktion beschichtet
werden. Die Stützwand erhält außerdem am rückwärtigen Sporn eine Drainageleitung,
mit der das Grundwasser im unmittelbaren Bauwerksbereich abgesenkt wird. Das an-
fallende Grundwasser wird in der Streckenentwässerung der Eisenbahntrasse abge-
führt. Damit kann die Bemessung der Stützwand » nur « für Erddruck ohne drückendes
Grundwasser durchgeführt werden und die Kosten verringern sich. Zur Kontrolle des
Grundwasserstands am Bauwerk müssen Dauermesspegel vorgehalten und beobachtet
werden.
Für die Betriebs- oder Lebensdauer einer Verkehrsanlage werden üblicherweise
80 bis 100 Jahre angegeben. Das bedeutet, dass auch alle Planunterlagen entsprechend
lange zur Verfügung gestellt und ggf. nach Umbaumaßnahmen aktualisiert werden
müssen. Für den sicheren Betrieb der Konstruktion ist entsprechend geschultes Fach-
personal erforderlich. Diese Anforderung ist angesichts der technischen und gesell-
schaftlichen Entwicklungen eine Herausforderung, die keinesfalls trivial zu erfüllen ist.
Ein Blick in die Vergangenheit belegt dieses eindeutig: Vor nur 50 Jahren konnten sich
unsere Vorfahren nicht vorstellen, wie die Archivierung von Bestandsunterlagen heute
erfolgt.
Schlussbemerkungen
Die erläuterten Beispiele haben aufgezeigt, dass die Übernahme von Verantwortung für
Ingenieurleistungen ein komplexer Prozess ist. Welche Voraussetzungen muss ein/e In-
genieur/in also mitbringen, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können ?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die technische und gesellschaftliche Entwick-
lung voranschreitet. Auf einer Internetseite ist zu lesen: » Die Technik von heute kann der
Kunstfehler von morgen sein « ! 2 Damit ist die Verpflichtung zur Pflege und Weiterbil-
dung des technischen know-how’s eine Grundvoraussetzung für die Durchführung von
Ingenieurleistungen. Das individuelle Ingenieurwissen ist permanent zu aktualisieren;
dazu gehören Vorschriften, der Umgang mit EDV-Werkzeugen und die Verfolgung der
einschlägigen Literatur.
2 www.bauingenieur-Volker-Ring.de
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 213
Die Übernahme von Verantwortung hat immer auch damit zu tun, eine Baumaß-
nahme in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die Kommunikationsfähigkeit aller Betei-
ligten ist hier gefordert. Es sind die Belange unterschiedliche Fachdisziplinen zu be-
rücksichtigen. Es ist aus einem Expertenteam heraus – unter inhaltlicher Abwägung der
Prioritäten – eine Entscheidung zu treffen. Die » beste Lösung für ein Projekt « wird in
der Regel kaum alle, an sich berechtigten Einwendungen befriedigen können. Sie ist zu
erarbeiten, vorzustellen, zu verteidigen. Für sie ist zu werben und sie ist notfalls auch
gegen Widerstände durchzusetzen.
Es ist akzeptiert, dass sich der Bauherr für die Bereitstellung der Finanzierung, für
die Ausgestaltung der Verträge sowie für die Auftragsverhandlung und -erteilung ange-
messen Zeit nimmt. Andererseits wird für die Vorbereitung und Ausführung einer pla-
nerischen Arbeit hingegen oft viel zu wenig Zeit bereitgestellt. Der damit einhergehende
Zeitdruck gefährdet die erreichbare Qualität, denn erst nachdem alle Randbedingungen
abgefragt und geklärt sind, kann verlässlich geplant werden. Nach Erfahrungen Anderer,
die an vergleichbaren Objekten gemacht worden sind, ist zu recherchieren und sie sind
ggf. zu berücksichtigen. Man muss sich die erforderliche Zeit nehmen, um eine gute
Planung mit anschließender Herstellung zu realisieren. Der/die Ingenieurin benötigt
hier ein sehr stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein, um auch in den wirklich hektischen
Bearbeitungsphasen den notwendigen zeitlichen Rahmen einzufordern, ihn durchzu-
setzen und damit Fehler zu minimieren und Qualität zu optimieren.
Das verantwortungsvolle Umgehen mit einem Bauwerk endet weder mit der Fertig-
stellung der Planung noch mit seiner Herstellung. Bestandsunterlagen, in dem das Bau-
werk in seiner wirklichen Substanz abgebildet ist sind, zu erstellen. Diese Dokumente
müssen auch noch zukünftig sicher hinterlegt und lesbar sein. Sie sind Grundlage für
die Bauwerkserhaltung und für die Sicherstellung der Betriebsabläufe.
Verantwortung zu tragen ist also keine selbstverständliche Angelegenheit – aber viel-
leicht machen ja gerade die damit verbundenen Aufgaben den Reiz des Ingenieurberu-
fes aus !
Energiecontrolling:
Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik
Hanspeter Boos
Geschäftsführer Boos Klima und Kälte GmbH, Varel
Einführung
Nach einer Sanierung der lüftungstechnischen Anlagen stellte der Betreiber des Wellen-
bades Baltrum einen starken Anstieg der Stromkosten fest. Unsere Firma wurde dar-
aufhin mit der Durchführung einer Ist-Analyse (08/86) beauftragt. Dazu haben wir mit
einem vorübergehend installierten digitalen Regelsystem zwei Wochen lang Betriebsab-
läufen protokolliert, Temperatur- und Feuchtewerte aufgezeichnet sowie den Stromver-
brauch sowie die Schalthäufigkeit und Einschaltdauer wichtiger Elektroverbraucher mit
Hilfe eines Thermodruckers aufgezeichnet. Die Auswertung der Daten führten zur Ent-
wicklung eines Sollkonzepts, das im Februar 1987 vor Ort umgesetzt wurde. Eine nun-
mehr fest installierte DDC-Regelungsanlage (DDC=Direct Digital Control) beseitigte
Abbildung 1
die festgestellten Schwachstellen. Sie regelte die Lüftung, schaltete die Kessel lastabhän-
gig und begrenzte (durch zeitweise Abschaltung der Klimakompressoren in den Lüf-
tungsgeräten sowie der Wellenanlage) das vom EVU verrechnete Elektro-Maximum.
Zur Einregulierung auf optimalen den Betriebszustand wurde die Anlage (über ein
von der Post gemietetes Modem mit 300 bd) fernaufgeschaltet. Einmal täglich wurden
nun die wichtigsten Betriebsdaten übermittelt und protokolliert (Abb. 1).
Wöchentlich haben wir dann den tatsächlichen Energieverbrauch dem zuvor ermit-
telten Wert gegenübergestellt und die Anlage schrittweise optimiert (Abb. 2).
In den folgenden Jahren konnte der Energieverbrauch des Schwimmbades um 23 %
gesenkt werden. Ich führe dieses Beispiel auf, um zu zeigen, dass ein systematisches
Energiecontrolling auch schon mit den technischen Mitteln der 80er Jahre möglich war.
Abbildung 2
Bis dahin hatte unsere Firma – in ihrer Rolle als Anlagenbauer – lediglich betriebstech-
nische Anlagen nach detaillierten Vorgaben von Planungsbüros errichtet. In den auch
heute noch üblichen Ausschreibungsverfahren nach VOB war zwar der Auftrag an das
wirtschaftlichste Angebot zu vergeben, das wurde aber häufig mit dem billigsten Ange-
bot gleichgesetzt. Alternativvorschläge, die zwar von der Investition her teurer waren,
dafür aber zu geringeren Folgekosten führten, hatten keine Chance. Mit dem Drittfi-
nanzierungsmodell hatten wir die Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen. Wir übernah-
men erstmals die Verantwortung nicht nur für die einwandfreie Funktion, sondern auch
für die wirtschaftliche Betriebsweise der Anlage. Dafür setzten wir eigenes Kapital ein,
das wir nur zurückerhielten, wenn die im Angebot gemachten Vorhersagen hinsichtlich
der Energieeinsparung auch eintraten.
Beim St. Johannes-Stift in Varel wir im Jahr 1990 einen Betrag von 230 000 DM in die
marode Heizzentrale investiert. Ein neuer Brennwertkessel mit einer Leistung von 1 MW
und eine frei programmierbare DDC-Regelung wurden installiert. Die überdimensio-
nierten Zubringerpumpen für die einzelnen Gebäudeteile wurden auf eine reduzierte
Drehzahl umgestellt – heute erreicht man das über die in der Pumpe integrierte Rege-
lung. Der Gaszähler wurde automatisch abgelesen, der Verbrauch monatlich über ein
Kalkulationsblatt mit den gemessenen Außentemperaturen verglichen. Der witterungs-
bereinigte Verbrauch konnte während der Vertragslaufzeit um 23 % gesenkt werden.
Ein Folgeprojekt beim St. Willehad-Hospital in Wilhelmshaven (mit einer Investi-
tionssumme von 350 000 DM) verlief ähnlich erfolgreich. Die beiden Krankenhäuser
218 Hanspeter Boos
Abbildung 3
konnten auf diesem Wege ihre veralteten Anlagen sanieren, gleichzeitig wurde kostbare
Primärenergie eingespart und die Umwelt geschont.
Leider wurden die Empfehlungen der EG-Kommission nicht zügig von den Mit-
gliedsländern umgesetzt. In Deutschland haben einige Bundesländer diese Gedanken
aufgegriffen und z. B. Leitfäden für Einsparcontracting-Projekte herausgegeben. In vol-
ler Breite kam dieses nützliche Instrument jedenfalls nicht zum Einsatz.
Energiecontrolling heute
Ein konsequentes Energiecontrolling ist auch heute noch für viele Großverbraucher
– seien es Kommunen, Behörden oder Wirtschaftsunternehmen – ein Fremdwort. Es
wird häufig noch manuell durchgeführt. Der Hausmeister liest den Verbrauch monat-
lich am Zähler ab und übermittelt ihn an die Verwaltung, die ihn in eine Datenbank
einträgt. Einfache Ablesefehler werden nicht erkannt und beeinflussen die Auswertung.
Der Abgleich mit der Außentemperatur des Verbrauchszeitraums erfolgt später, ein Jah-
resbericht muss von Hand erstellt werden und liegt erst im April vor und dann weiß
man, wieviel kWh man wieder mehr verbraucht hat als im Vorjahr.
Verbrauchsspitzen werden so zu spät erkannt; ihre Ursachen können im Nachhinein
nicht mehr gefunden werden. Eine automatische Erfassung – kombiniert mit einem
Frühwarnsystem – würde es dagegen ermöglichen, sofort zu reagieren, die exakten Zei-
ten der Ausreißer zu erkennen und so die Energielecks zu stopfen.
Energiecontrolling: Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik 219
Abbildung 4
Hero Weber
Institut für Mess- und Auswertetechnik, Jade Hochschule/Oldenburg
1 Einleitung
Dieser Beitrag will nun zeigen, mit welch hohem Aufwand speziell beim Prüfen geome-
trischer Größen Ingenieurinnen und Ingenieure in der Lage sind, für einen unter Um-
ständen sehr weitreichenden Prüfentscheid Verantwortung zu übernehmen.
Die Gestalt eines Werkstücks wird in einer Konstruktionszeichnung in den meisten Fäl-
len durch Maße und Positionen von Regelgeometrien festgelegt (wie beispielsweise Ebe-
nen, Zylinder oder Kegel); wir sprechen hier von sogenannten Nennmaßen. In dem sich
anschließenden Fertigungsprozess ist unvermeidbar, dass das produzierte reale Werk-
stück von der vorgegebenen idealen Darstellung der Konstruktionszeichnung abweicht.
Für diese Abweichungen zulässige Grenzwerte (Toleranzen) so festzulegen, dass der vor-
gesehen Einsatz des Werkstücks dennoch sichergestellt ist (Werkstückfunktion), ist eine
in hohem Maße verantwortungsvolle Aufgabe der Konstruktion. Beispiel: Festlegung
einer zulässigen Rundheitsabweichung an den Lagerstellen einer Nockenwelle derart, dass
die Aufgabe » 150 000 km Laufleistung « sichergestellt ist. Diese Aufgabe der Konstruktion
mag im ersten Moment einfach erscheinen, ist jedoch im Wettstreit insbesondere der
Anforderungen » Funktion des Werkstücks « und » Kosten des Fertigungsprozesses « zu
sehen. Nur mit großer Erfahrung ist es möglich, Toleranzen nur so klein wie nötig vor-
zugeben. Gerne hört man » Leichthin vom Tausendstel redet der normende Jüngling, bis
er das Hunderstel schafft, ist er ein würdiger Greis. « Nennmaß und Toleranz bilden in ih-
rer Gesamtheit eine Spezifikation für die geometrischen Eigenschaften eines Werkstücks.
2.2 Prüfung
Beim Prüfen wird nun festgestellt, ob die tatsächlichen Maße, Abstände usw. eines ge-
fertigten Werkstücks nur innerhalb der vorgegebenen Toleranzen von den Nennma-
ßen abweichen. Am Ende des Prüfvorgangs steht also die verantwortungsvolle und ggf.
weitreichende Konsequenzen nach sich ziehende Entscheidung, ob das Werkstück ver-
wendet werden kann oder ob es als Ausschuss deklariert werden muss (Abb. 1).
Beim sogenannten subjektiven Prüfen verlassen wir uns auf unsere fünf Sinne. Bei-
spielsweise wird im Automobilbau auf diese Weise geprüft, wie sich die Innenausklei-
dung des Fahrzeuges anfühlt, mit welchem Klang die Fahrzeugtür zuschlägt oder wie
gleichmäßig die Metallic-Lackierung aussieht.
Wenn wir es mit einer hohen Anzahl an Prüfungen zu tun haben (Beispiel: Ein Werk
produziert mehrere Millionen Nockenwellen pro Jahr), ist eine Automatisierung des Prüf-
prozesses fast immer zwingend erforderlich. Wir fällen dann den Prüfentscheid » objek-
tiv « meistens auf Grundlage eines Messergebnisses.
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens 223
Wir wollen uns auf das weit verbreitete Prüfen geometrischer Größen beschränken. Zu
diesem Zweck verwendet die Fertigungsmesstechnik besondere Geräte, die die Werk-
stückoberfläche punktweise in 2D- oder 3D-Koordinaten erfassen können (z. B. Koor-
dinaten-, Form-, Kontur- oder Rauheitsmessgeräte, Abb. 2). Moderne Messgeräte tasten
heute die Werkstückoberfläche in hoher Dichte mit Messpunkten ab; Punktabstände
kleiner 1 μm (also 0,001 mm) sind Stand der Technik. Die Messung der Punktkoordina-
ten kann dabei mit einer Auflösung von 1 nm (also 0,001 μm) und kleiner erfolgen. Eine
solch » nahezu vollständige « Erfassung der tatsächlichen Oberfläche, durch die auch
Gestaltabweichungen mit lokal kleiner Ausprägung detektiert werden können, bildet
die wesentliche Grundlage für den Prüfentscheid.
Die Entscheidung, ob ein Werkstück die vorgegebene Spezifikation erfüllt oder nicht er-
füllt, ist nun nicht so einfach, wie man denken könnte. Beispiel: Der Durchmesser einer
Bohrung ist mit einem Nennmaß von 100 mm und einer Toleranz von ±0, 1 mm spezifi-
ziert, so dass der tatsächliche Durchmesser zwischen 99,9 und 100,1 mm liegen darf. Ge-
messen wurde ein Wert von 100,085… mm. Durch direkten Vergleich von Nenn- und Ist-
Maß könnte man entscheiden, dass die Bohrung die Spezifikation erfüllt.
Allen Messungen ist nun immanent, dass sie immer mit Messabweichungen behaf-
tet sind. Diese Messabweichungen machen den ermittelten Wert unsicher, d. h. wir wis-
sen nicht, auf wie viele Dezimalstellen unser ermittelter Wert (hier Durchmesser) über-
haupt » genau « ist. Liegen die Messwerte an den Grenzen der Spezifikation, so kann ein
Werkstück als Ausschuss deklariert werden, obwohl es die Spezifikation erfüllt, und um-
gekehrt.
Jede Messgröße (z. B. Durchmesser) besitzt einen so genannten wahren Wert, der
sich messtechnisch – » leider « – niemals realisieren lässt. Abweichungen zwischen die-
sem wahren Wert und dem gemessenen Wert heißen Messabweichungen, die wir nach
ihrer Wirkungsweise in systematische und zufällige unterteilen. Systematische Mess-
abweichungen treten bei wiederholter Durchführung der Messung jedes Mal mit dem-
selben Betrag und demselben Vorzeichen auf. Durch Vergleichsmessungen zu Mess-
geräten mit übergeordneter Genauigkeit können diese festgestellt werden, so dass der
ermittelte Messwert korrigiert werden kann, ja sogar korrigiert werden muss.
Zufällige Messabweichungen, die mit unterschiedlichen Vorzeichen und Beträgen
auftreten, sind nicht korrigierbar, können aber in ihrer Ausdehnung statistisch abge-
sichert geschätzt werden. Diese und die verbleibenden unbekannten systematischen
Messabweichungen ergeben zusammen die Messunsicherheit, die zu jedem ermittelten
Messwert angegeben werden muss (Abb. 3).
Ein Prüfentscheid im Randbereich der Spezifikation ist also immer dann nicht mög-
lich, wenn der Messwert in die durch die Messunsicherheit aufgeweitete Spezifikations-
grenze fällt (Abb. 4). Beispiel: Beträgt im vormals genannten Beispiel die Messunsicher-
heit 0,03 mm, so können wir bei Messwerten, die in den Bereichen 99.87 … 99.93 mm und
100.07 … 100.13 mm liegen, keinen Prüfentscheid fällen.
Abbildung 6 Beispiel für 100 Wiederholungsmessungen an einem Kugelnormal mit einem Form-
messgerät. Die zufälligen Messabweichungen besitzen eine Standardabweichung von 0,002 μm =
2 nm; der systematische Anteil beträgt weniger als 0,036 μm.
4 Zusammenfassung
Literatur
Wolfgang Dutschke, Claus P. Keferstein: Fertigungsmesstechnik. 2005. Vieweg+Teubner Verlag.
Edgar Dietrich, Alfred Schulze, Stephan Conrad: Eignungsnachweis von Messsystemen. 2008.
Hanser Fachbuch.
Guide to the expression of uncertainty in measurement (GUM). Joint Committee for Guides in
Metrology 2008.
Schlusswort
Hans-Ullrich Kammeyer
Die fachlichen Beiträge der Ingenieurinnen und Ingenieure, die sich an den Veranstal-
tungen des Symposium zur Ingenieurverantwortung beteiligten, zeigten deutlich, dass
die Bandbreite von Fragestellungen und Problemen im Zusammenhang mit einer ver-
antwortungsvollen Ausübung des Ingenieurberufs einer intensiven ganzheitlichen Dis-
kussion bedarf.
Technik bestimmt unser Leben und hat Auswirkungen auf alle elementaren Lebens-
bereiche. Sie ist zunehmend relevanter für den Einzelnen und bestimmender für die Ge-
sellschaft. Mit spürbar deutlichen Auswirkungen auch auf die Strukturen menschlichen
Zusammenlebens wird die Dominanz von Technik vor allem in den Kommunikations-
und Nachrichtenbereichen erkennbar. Die Technik erweitert das Wirkungsfeld des Ein-
zelnen, stellt ihn immer mehr in den Mittelpunkt und verändert soziale Verflechtungen.
Mit dem Einfluss auf den Einzelnen sowie ihrer zunehmenden Relevanz für die Ge-
sellschaft wird die Wahrnehmung der Ambivalenz von Technik differenzierter und kri-
tischer. Der Einsatz von Technik mit ihren womöglich unerwünschten Auswirkungen,
Gefahren und Risiken für Mensch und Umwelt wirkt gesamtgesellschaftlich und be-
einflusst Sicherheit und Ordnung des Gemeinwesens. Ingenieurinnen und Ingenieure
entwickeln sich immer mehr zu Sachwaltern für die Umwelt in der technisierten Welt.
Diese Schlussfolgerungen lassen sich auch aus den Beiträgen der Philosophen und
Theologen ziehen, die sich dieses Themas aus Sicht der Gesellschaft und der wandeln-
den gesellschaftlich tätigen Akteure widmen.
Technische Entwicklungen haben in allen Jahrhunderten wichtige Resultate mit Ein-
wirkungen auf die Menschheit und den Kosmos hervorgebracht und das Leben des
Einzelnen wie sein Zusammenleben mit Anderen stetig verändert. Der Einfluss von
Technik hat sich im 20. und 21. Jahrhundert in einer nicht vorhersehbaren Weise mul-
tipliziert. Technische Innovationen prägen die heutige Gesellschaft so stark wie nie zu-
vor. Der Mensch setzt heute nicht nur Technik täglich ein, er ist auch immer mehr der
rufs. Dringend erforderlich ist daher, Regelungen in Bezug auf den Ingenieurberuf zu
stärken, die über den Schutz der Berufsbezeichnung › Ingenieur ‹ hinausgehen. Diese ist
zwar geregelt, jedoch nicht die Art und Weise der Berufsausübung. Darüber hinaus be-
darf es der Sicherstellung, dass Aufgaben, die von der Gesellschaft als besonders schüt-
zenswürdig angesehen und deren Erledigung zur präventiven Gefahrenabwehr dienen,
ausschließlich von dafür qualifizierten Ingenieurinnen und Ingenieuren durchgeführt
werden. Auf diesem Wege ist die einzelne tätige Person, die die Berufsbezeichnung › In-
genieur ‹ führt, in besondere Pflicht gestellt. Komplexe technische Leistungen in vor al-
lem sicherheitsrelevanten Bereichen, die Auswirkungen auf die Belange der Allgemein-
heit wie auch auf den Bürger haben, erfordern zusätzlich zu umfangreichen technischen
Kenntnissen spezifisches Beurteilungsvermögen, welche nur Personen besitzen, die die
Berufsbezeichnung › Ingenieur ‹ führen dürfen. Einen solchen Berufsrechtsvorbehalt ge-
bietet die Notwendigkeit der präventiven Gefahrenabwehr, welche dem Staat auf Grund
seiner Fürsorgeverpflichtung gegenüber dem Bürger obliegt.
Diese berufsrechtsvorbehaltene Qualitätssicherung verbunden mit der klaren Zu-
rechnung von Verantwortung dient dem Schutz der Gesellschaft aber auch der tätigen
Ingenieurinnen und Ingenieure. Ingenieurleistungen wirken in der Regel nicht nur ge-
genüber dem Auftraggeber, sondern insbesondere auch gegenüber der Öffentlichkeit
und der Gesellschaft. Infolge des jeder Ingenieurleistung innewohnenden Gefährdungs-
potenzials, der wachsenden Abhängigkeit von Technik und der zunehmenden Automa-
tisierung technischer Steuerungssysteme besteht ein großes Schutzbedürfnis der Allge-
meinheit. Unter Berücksichtigung dieses Schutzbedürfnisses ist Vertrauen nur möglich,
wenn im Bewusstsein des Bürgers verankert ist, dass im Bereich sicherheitsrelevanter
Ingenieuraufgaben hochkompetente Personen tätig werden. Nur so kann dem Gebot
des Schutzes der Allgemeinheit sowie der vorbeugenden Gefahrenabwehr Rechnung
getragen werden. Diese qualitätssichernden Bedingungen sind in Bereichen der Ener-
gietechnik ebenso wie in der Luft- und Schifffahrttechnik oder der Straßen- und Ver-
kehrstechnik unumgänglich und in gesetzliche Vorgaben des Sicherheits- und Ord-
nungsrechts oder des entsprechenden Baurechts einzubinden.
In diesem Zusammenhang erscheint es anachronistisch, wenn Ingenieurleistungen
im Allgemeinen auch von Nichtingenieuren erbracht werden können. Dies ist umso
paradoxer, da technische Aufgabenstellungen immer komplexer und anspruchsvoller
werden und Ingenieurleistungen in aller Regel Wirkungen nicht nur gegenüber dem je-
weiligen Auftraggeber oder Arbeitgeber, sondern auch gegenüber Öffentlichkeit und
Gesellschaft entfalten. Folgerichtig existiert ein System des Berufsrechtsvorbehaltes bei
einer großen Anzahl Freier Berufe. Dies trägt einer Allgemeinwohlverpflichtung Rech-
nung und soll die Abhängigkeit von rein ökonomischen Aspekten zu verringern helfen.
Es ist unverständlich, dass dieses System bei dem Großteil der Freien Berufe, jedoch
nicht bei der hochkomplexen für die Gesellschaft prägenden Ingenieurtätigkeit gesetz-
lich geregelt ist, obwohl der Ingenieur wie kein anderer Beruf Einfluss auf bedeutende
Rechtsgüter hat. Regelungen zur Qualitätssicherung durch Aus- und Fortbildung wie
232 Hans-Ullrich Kammeyer
Böhrnsen, Jens-Uwe, Dr.-Ing., promovierte 2002 an der Fakultät für Bauwesen an der TU
Braunschweig und führt seit 1998 ein Büro für Bauplanung und Tragwerksplanung, ko-
ordiniert derzeit das Graduiertenkolleg des Sonderforschungsbereiches 880 (Hochauf-
trieb künftiger Verkehrsflugzeuge) an der TU Braunschweig.
Boos, Hanspeter, Dr.-Ing., Studium des Maschinenbaus an der RWTH Aachen, 1976Pro-
motion zum Dr.-Ing. am Forschungsinstitut für Rationalisierung, seit 1980 tätig zunächst
als Projektleiter, später Geschäftsführer in einem mittelständischen Familienbetrieb in
Varel. Spezialgebiete: Energiemanagement, Energieeffizienz durch Gebäudeautomation.
Garbe, Heyno, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik, Promotion 1986 zum Dr.-Ing.
an der Universität der Bundeswehr Hamburg, 1986 bis 1992 ABB Forschungszentrum
Schweiz, Dättwil, zuletzt als Geschäftsführer der ausgegründeten Firma EMC Baden,
seit 1992 Professor an der Leibniz Universität Hannover, Leiter des Fachgebiets Elektro-
magnetische Verträglichkeit und zurzeit geschäftsführender Leiter des Institutes für
Grundlagen der Elektrotechnik und Messtechnik. Fellow der Institution of Electrical
and Electronics Engineers (IEEE), USA.
Hecker, Peter, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig mit
dem Abschluss Dipl.-Ing. 1989, von 1989 bis 2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR e. V. in den Bereichen Funknaviga-
tion, Flugführung, Luftverkehrsführung, Pilotenunterstützung, von 2000 bis 2005 Ab-
teilungsleiter Pilotenassistenz am DLR e. V., Promotion an der TU Braunschweig im
Jahre 2002, seit 2005 Professor (Lehrstuhl: Flugführung) und geschäftsführender Leiter
des Instituts für Flugführung an der TU Braunschweig. Forschung und Lehre in den Ge-
Heimsch, Rainer, Dipl.-Ing., seit 1982 Inhaber des Ingenieurbüros Rainer Heimsch in
Rastede, Mitglied im Verband Beratender Ingenieure (VBI), Verein Deutscher Inge-
nieure e. V. (VDI) und in der Arbeitsgemeinschaft ökologischer Forschungsinstitute e. V.
(AGÖF). Arbeitsgebiete: technische Gebäudeausrüstung, Bauphysik, Energiekonzepte,
Kirchenheizung. Mitautor Kirchliches Bauhandbuch der EKD, Mitarbeit in nationalen
und europäischen Normenausschüssen.
Hieber, Lutz, Prof. Dr. rer. pol. habil. Diplom-Physiker, Studium der Physik an der Rhei-
nischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, anschließend Studium der Soziologie
und der Politischen Wissenschaft und Promotion, 1981 Venia Legendi für das Fachge-
biet Soziologie, 1987 Professor, lehrt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität
Hannover. Arbeitsgebiete: Techniksoziologie, Kultursoziologie und Mediensoziologie.
Mathis, Wolfgang, Prof. Dr.-Ing. habil., Studium der Physik und Mathematik an der TU
Braunschweig, Promotion zum Dr.-Ing. 1990 bis 1996 Professor an der Bergischen Uni-
versität Wuppertal und 1996 bis 2000 an der Otto-von-Guericke-Universität Magde-
burg, seit 2000 Professor für Theoretische Elektrotechnik an der Gottfried Wilhelm
Leibniz Universität Hannover. Fellow der Institution of Electrical and Electronics Engi-
neers (IEEE), USA. Korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akade-
mie der Wissenschaften, Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften
(acatech).
Meins, Jürgen, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig mit
dem Abschluss Dipl.-Ing.im Jahre 1973, Promotion am Institut für Elektrische Maschi-
nen, Antriebe und Bahnen (IMAB) der TU Braunschweig im Jahre 1981, anschließend
Beschäftigung bei Thyssen Henschel, Kassel, von 1992 bis 1994 Professor an der Fach-
hochschule München, seit 1994 Professor an der TU Braunschweig (Institut für Elektri-
sche Maschinen, Antriebe und Bahnen).
Nickl, Peter, Dr. phil. habil., Studium der Philosophie in München und in Pavia. 1991 bis
1999 Wiss. Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, 2003 – 2010 Pro-
fessurverwalter am Philosophischen Seminar der Leibniz Universität Hannover, 2010
bis 2012 Professurvertretung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Pro-
jektleiter des » Festivals der Philosophie « an der Leibniz Universität Hannover und apl.
Prof. an der Universität Regensburg.
Noske, Harald, Dipl.-Ing., studierte Maschinenbau an der Universität Hannover mit der
Fachrichtung Verfahrenstechnik und Anlagenplanung, ab 1982 bei der Stadtwerke Han-
nover AG tätig, nach verschiedenen Aufgabenbereichen seit 2005 Vorstandsmitglied
(Technischer Direktor) der Stadtwerke Hannover AG (enercity). Mitglied in zahlrei-
chen energiewirtschaftlichen Gremien, so u. a. auch Kurator des Forums für Zukunfts-
energien e. V.
Seume, Jörg, Prof. Dr.-Ing., Studium an der Berufsakademie in Mannheim mit Ab-
schluss Dipl.-Ing. (BA), 1984 Master of Science der University of Wisconsin in Madison
und 1988 Ph. D. University of Minnesota in Minneapolis (USA). Ab 1989 Entwicklung
solar betriebener Stirling-Motoren bei der Firma Sunpower Inc. in Athens, Ohio (USA),
1991 Wechsel zu Siemens in Mülheim/Ruhr und 1993 nach Berlin, wo er Gasturbinen
entwickelte, testete und Managementtätigkeiten auch im Qualitätsmanagement und der
Produktion ausübte. Seit 2000 Professur für Strömungsmechanik und Strömungsma-
schinen an der Leibniz Universität Hannover, seit 2010 der Dekan der Fakultät Maschi-
nenbau.
Weber, Hero, Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Ing. Vermessungswesen (TU Berlin), Promotion zum
Dr.-Ing. im Bereich der Koordinatenmesstechnik (Helmut Schmidt Universität Ham-
burg), Entwicklungsingenieur einer Firma für Form-, Rauheits- und Konturmessgeräte,
seit Wintersemester 1996/97 Professur an der Jade Hochschule in Oldenburg.
Wegner, Gerhard, Dr. theol., Apl. Prof. für Praktische Theologie an der Universität Mar-
burg und Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in
Deutschland in Hannover.
Autorinnen und Autoren 237
Zimmerli, Walther Ch., Prof. Dr. phil. habil., studierte am Yale College und an den Uni-
versitäten Göttingen und Zürich Philosophie, Germanistik und Anglistik. Seit 1978 Pro-
fessuren für Philosophie an der TU Braunschweig, an den Universitäten Bamberg und
Erlangen sowie Marburg. Ab 1999 Präsident der privaten Universität Witten/Herdecke,
der AutoUni Wolfsburg und der BTU Cottbus. Seit 2013 ist er Associate Fellow des Col-
legium Helveticum der ETH und der Universität Zürich und Stiftungsprofessor an der
HU Berlin. Zu seinen weiteren Aufgaben zählen u. a. die Tätigkeit als Vorstandsmitglied
des DAAD, sowie die Mitgliedschaft am Institute for Corporate Culture Affairs (ICCA),
der Schweizerischen Akademie für Technikwissenschaften (SATW) und an der nationa-
len Akademie der Technikwissenschaften (acatech).