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Verantwortung von

Ingenieurinnen und Ingenieuren


Lutz Hieber • Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.)

Verantwortung
von Ingenieurinnen
und Ingenieuren
Herausgeber
Lutz Hieber Hans-Ullrich Kammeyer
Universität Hannover Ingenieurkammer Niedersachsen (Hannover)
Deutschland und Bundesingenieurkammer (Berlin)
Deutschland

Gefördert und organisatorisch unterstützt durch die Ingenieurkammer Niedersachsen

ISBN 978-3-658-05529-5 ISBN 978-3-658-05530-1 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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rechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der
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benutzt werden dürften.

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer
Science+Business Media.
www.springer-vs.de
Inhalt

Hans-Ullrich Kammeyer & Lutz Hieber


Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil I: Grundsätzliches

Walther Ch. Zimmerli


Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ?
Theoretische Technikethik und angewandte Ingenieurethik . . . . . . . . . . 15

Hans-Ullrich Kammeyer
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Harald Noske
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . 39

Rainer Heimsch
Nachhaltigkeit als Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Lutz Hieber
Technische Aspekte der Risikogesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Wolfgang Mathis
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure . . . . . . . . 77
6 Inhalt

Gerhard Wegner
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren . . . . . . . . 85

Peter Nickl
Risikogesellschaft und die German Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Teil II: Technische Chancen und Risiken

Peter Schaumann
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Jörg Seume
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs . . . . . . 113

Heyno Garbe
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? . . . . . . 121

Jürgen Meins
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme:
Magnetschwebetechnik als exemplarischer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Manfred Krafczyk
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse
und Prognose von Ingenieursystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Teil III: Lehre und Studium

Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen


Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden
in den Ingenieurwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Bernd Meinerzhagen
Verantwortung in der Lehre. Zwei Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Heike Horeschi
Sensibilisierung für die Dimensionen
der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Inhalt 7

Teil IV: Sorgfalt und Sicherheit

Bernd Schulz-Forberg
Qualitätsmerkmal technische Sicherheit
als Basis für eine moderne Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Peter Hecker
Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt . . . . . . . . . . . . 191

Hans-Hermann Prüser
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse
relevant sein kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Hanspeter Boos
Energiecontrolling: Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik . . . . . . . . . . 215

Hero Weber
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens. Messtechnische Aspekte
beim Prüfen geometrischer Toleranzen in der Fertigungsmesstechnik . . . . . 221

Hans-Ullrich Kammeyer
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233


Einleitung

Hans-Ullrich Kammeyer & Lutz Hieber

Ingenieurinnen und Ingenieure tragen oft hohe Verantwortung. Wer eine Stahlkon-
struktion gestaltet, sich mit Grenzwerten elektromagnetischer Strahlung beschäftigt
oder eine Maschine entwirft, bewegt sich nicht nur im Feld der » exakten « Wissenschaf-
ten. Solche Tätigkeiten erfordern individuelle Wertungen. Nicht nur die harten Fakten
sind zu bedenken. Neben ökonomischen werden immer wieder ökologische, medizini-
sche, soziale, psychologische, kulturelle und politische Aspekte für die Ingenieurtätig-
keit relevant. Eine Stahlkonstruktion soll sicher gebaut sein, Strahlung darf Menschen
nicht gefährden, eine Maschine soll im Produktionsprozess problemlos funktionieren,
und außerdem sind Grundsätze der Nachhaltigkeit und Bedürfnisse beteiligter Men-
schen zu beachten. In diesem Sinne bestehen Parallelen zu anderen Berufsgruppen,
deren Tätigkeiten unmittelbar für menschliches und gesellschaftliches Befinden rele-
vant sind.
Der Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren kommt gesellschaftlich si-
cher ebenso große Bedeutung zu wie der Verantwortung von Ärzten. Doch das tech-
nische Denken ist nicht in derselben Weise mit Wertorientierungen durchflochten wie
medizinisches Denken und ärztliche Praxis. In der ärztlichen Praxis steht der Mensch
unmittelbar im Fokus des Handelns, während das technische Denken abstraktere Be-
trachtungen von unmittelbaren und mittelbaren Gefährdungen im Fokus hat. Im me-
dizinischen Feld steht zwar das Naturwissenschaftliche im Zentrum, doch in vielen Zu-
sammenhängen wird Verantwortung angesprochen – dieses Thema ist durchgehend in
der Berufspraxis präsent.
Für Ingenieure liegen die Verhältnisse jedoch anders, und zwar aufgrund der bis-
lang vorherrschenden Fachkultur. Ähnlich wie die Mediziner spüren auch Ingenieure
immer wieder den Druck der Verantwortlichkeit. Da ihr Denken indes durch einen all-
gemeinen Objektivitätsanspruch imprägniert scheint, schwebt dieses Thema oft gleich-
sam unverbunden neben dem fachlichen Diskurs. Deshalb bleibt es von der Berufswelt

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
10 Hans-Ullrich Kammeyer & Lutz Hieber

abgekoppelt und gerät auf diese Weise gewissermaßen in die Nähe von Privatangele-
genheiten, die nach Gutdünken entschieden werden. Dieser Zustand ist nicht zufrie-
denstellend. Die gegebenen Verhältnisse müssen aber durchaus nicht so bleiben, wie sie
gegenwärtig sind.
Zu kurz gegriffen wäre allerdings, das Problem der Verantwortung von Ingenieurin-
nen und Ingenieuren zu bewältigen, indem man es an die nach eigenem Verständnis für
moralische Fragen zuständigen Fachwissenschaften (Philosophie, Theologie oder So-
zialwissenschaften) abgäbe. Denn auf der Hand liegt, dass diese Disziplinen nur von
außen, also ohne angemessenen technisch-naturwissenschaftlichen Sachverstand, auf
die konkreten Problemstellungen der Ingenieure blicken können. Deshalb verbietet
sich ein bloßes Abschieben des Themas der Verantwortlichkeit auf diese Gruppe von
Ethik-Spezialisten. Und aus denselben Gründen verbietet es sich, Verantwortung für
technische Entwicklungen an die politischen Entscheidungsträger zu delegieren. Viel-
mehr muss es darum gehen, ganz ähnlich wie im Feld der Medizin, ein Bewusstsein für
Verantwortlichkeiten unmittelbar mit dem Beruflichen zu verknüpfen, um in konkre-
ten Fällen zu angemessenen Entscheidungen zu gelangen. So sind beispielsweise die
medizinischen Studiengänge nicht ausschließlich auf die Aneignung von Fachwissen
ausgerichtet, sondern ständig fließen auch gesellschaftliche Fragestellungen und Wert-
orientierungen ein. Ganz ähnlich erscheint es möglich, den ausschließlich technisch-
naturwissenschaftlichen Rationalismus der technischen Ausbildung im Hinblick auf
eine Sensibilisierung für Verantwortlichkeit zu erweitern. Und genau diese Sensibili-
sierung ist wichtig, weil nur Ingenieurinnen und Ingenieure eine angemessene fachliche
Beurteilungskompetenz besitzen.
Für das Spektrum der Ingenieurberufe kann also – ähnlich wie für die Medizin – die
Diskussion um Verantwortlichkeit weder auf Geistes- und Sozialwissenschaften noch
auf die Politik abgeschoben werden, weil dort eben entsprechender ingenieurwissen-
schaftlicher Sachverstand nur unzureichend vorhanden ist. Deshalb hat die Ingenieur-
kammer Niedersachsen das Thema aufgegriffen, das vermeintlich Fachfremde mit dem
fachlichen Diskurs zu verbinden. In diesem Zusammenhang wurden drei Symposien
durchgeführt, die an der Leibniz Universität Hannover, an der Technischen Universität
Braunschweig und an der Jade Hochschule in Oldenburg stattfanden. Zielsetzung war
das Sichtbarmachen ganzheitlicher Betrachtungen von Wirkungssystemen und der Ver-
such einer Synthese von fachlichen, ökonomischen und ethischen Aspekten. Die Inge-
nieurinnen und Ingenieure aus den Bereichen des Maschinenbaus, der Elektrotechnik
und dem Bauingenieurwesen trugen ihre Sichtweise zur Verantwortung in ihren Ar-
beitsfeldern vor, und sie diskutierten fächerübergreifend. Sie entwickelten aus ihrer be-
ruflichen Praxis hilfreiche Ansätze für verantwortungsbewusstes Denken und Handeln,
das sich selbstverständlich aus dem Kontext ihrer konkreten Arbeitsgebiete ergab. Da
sie Probleme ihrer beruflichen Praxis ansprachen, die nur durch umsichtiges Denken
und Handeln vermieden werden können, gelang es ihnen, Hinweise für das Vermeiden
problematischer Entscheidungen zu entwickeln.
Einleitung 11

Die Symposien öffneten sich auch philosophischen und gesellschaftswissenschaft-


lichen Ansätzen. Denn Sichtweisen von » außen «, von Sozialwissenschaftlern und Phi-
losophen, können nützliche Einsichten und Hilfen bieten – auch sie waren in den Dis-
kurs integriert. Insgesamt beteiligten sich siebzehn Ingenieurinnen und Ingenieure
unterschiedlicher Fächer und vier Geistes- bzw. Sozialwissenschaftler an den frucht-
baren Diskussionen. Im Vordergrund stand die notwendige ganzheitliche Betrachtung,
und es gelang, ausschließlich fachbezogene Sichtweisen zu überwinden.
Für die Vorbereitung jedes der Symposien waren viele Vorgespräche zu führen. Da-
bei zeigte sich eine Tendenz, die zwar auch für das Thema der Verantwortung des Inge-
nieurs relevant, aber zugleich nicht ingenieur-spezifisch ist. Ingenieure sind Menschen,
die fachwissenschaftlich ausgebildet und in entsprechenden Bereichen berufstätig sind.
Ihre berufsspezifische Sozialisation ist zwar für ihre Arbeit grundlegend, aber ihre Per-
sönlichkeitsstrukturen als Menschen sind unterschiedlich. Der Soziologe Norbert Elias
widmete sich in seinen » Studien über die Deutschen « der Analyse von Persönlichkeits-
strukturen. Er zeigte, dass sie Prägung durch geschichtliche Prozesse aufweisen. Für die
Mitteleuropäer weist er nach, dass eine über Jahrhunderte ungebrochene absolutisti-
sche und obrigkeitliche Tradition lange Nachwirkungen zeitigt. Denn Eltern und Schu-
len erziehen Kinder, und dadurch tragen sie bestehende Verhaltensweisen (die meist
unbewusst bleiben) weiter. Das heißt, sozialpsychologisch ausgedrückt, dass Zivilcou-
rage, also die Fähigkeit, individuelle Verantwortung emanzipatorisch wahrzunehmen,
ungleichmäßig verteilt ist. Solche Fähigkeiten sind aber erforderlich, wenn es um das
tatsächliche Wahrnehmen von Verantwortung geht. Da nun Ingenieurinnen und In-
genieure eben auch Menschen wie alle anderen sind, entwickeln einige die Fähigkeit,
über ihre Verantwortlichkeiten zu sprechen, während sich andere eher scheuen, sich auf
einem Symposium, also hochschulöffentlich, zu solchen Themen zu äußern. Deshalb
zogen sich einige der angesprochenen Ingenieure noch während der Planungsphase der
Symposien mit unterschiedlichen Begründungen zurück. Sie hätten zwar, wie sie un-
ter vier Augen erklärten, durchaus das Thema der Verantwortung von Ingenieuren aus
ihrer Erfahrung beleuchten können. Doch letztendlich entschieden sie, die Bühne des
hochschulöffentlichen Diskurses zu meiden. Auch solche Prozesse wirkten sich auf die
Auswahl der Referentinnen und Referenten aus, die an den Symposien teilnahmen. So
können die Ingenieurinnen und Ingenieure unterschiedlicher Fachrichtungen, die sich
zunächst auf den Symposien und dann anschließend als Autoren engagiert mit dem
Thema der Verantwortung auseinandersetzten, zur Ermutigung aller Fachkolleginnen
und -kollegen beitragen, ihre individuelle Verantwortung auch in beruflichen Fragen
wahrzunehmen. Hier gilt es, das Spannungsverhältnis zwischen Ökonomie, Staat und
Fachlichkeit im Sinne der Letzteren zu stärken.
Ingenieurinnen und Ingenieure sind wie kein anderer Kulturberuf wegen der zum
Teil nicht vorhersehbaren Auswirkungen technischer Errungenschaften dem Gemein-
wohl in herausragender Weise verpflichtet. Sie sollten sich also mit der Verantwortung,
die sie tragen, im praktischen Berufsleben auseinandersetzen können. Da das jedoch
12 Hans-Ullrich Kammeyer & Lutz Hieber

nicht jedem Einzelnen gleichermaßen möglich scheint, verweist auch darauf, dass es
unerlässlich ist, genau dieses Thema stärker in die Aus- und Weiterbildungsgänge einzu-
beziehen. Denn indem Dimensionen verantwortlichen Handelns zum Bestandteil fach-
spezifischer Sozialisation werden, erhalten sie im Ingenieur-Denken stärkere Präsenz
und können nach und nach zu etwas Selbstverständlichem werden.
Die Beiträge, die Ingenieurinnen und Ingenieure der unterschiedlichen Fachrich-
tungen und auch die Geistes- und Sozialwissenschaftler im Rahmen der Symposien
präsentierten, sind im vorliegenden Band zusammengefasst. Das Buch ist auf den Ge-
brauch in der ingenieurwissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung zugeschnitten. Da
wir uns bewusst sind, dass es nicht ausreicht, die Ausbildung von Ingenieurinnen und
Ingenieuren durch eine moralische Fassade aufzupeppen, beispielsweise durch eine zu-
sätzliche Vorlesung zur Ingenieur-Ethik, setzten wir grundlegend an: eben am Fach-
wissen. Das Buch verfolgt das Ziel, bereits studienbegleitend gangbare Pfade durch den
Wald der Formeln und Fakten zu legen, um den Ingenieurinnen und Ingenieuren zu
ermöglichen, ihre späteren beruflichen Tätigkeiten in gesellschaftlich verantwortungs-
voller Weise zu reflektieren. Darüber hinaus bietet es fundierte Ansätze aus den Geistes-
und Sozialwissenschaften, um die unmittelbar aus der Ingenieurtätigkeit erwachsenden
Überlegungen zu ergänzen und zu vertiefen. Das macht es auch für eine Selbstreflexion
derer, die im Ingenieurberuf stehen, geeignet. Dies Buch bietet also, durch die fachliche
Bandbreite der Beiträge und die Fundierung in der Ingenieurpraxis, die solide Grund-
lage einer Ethik des Ingenieurberufs in unserer kompliziert gewordenen technisch-in-
dustriellen Welt.
Teil I
Grundsätzliches
Verantwortung kennen oder
Verantwortung übernehmen ?
Theoretische Technikethik und angewandte Ingenieurethik

Walther Ch. Zimmerli


Stiftungsprofessur Geist und Technologie, Humboldt-Universität zu Berlin;
Collegium Helveticum, ETH Zürich

Der Begriff » Verantwortung « hat aus Gründen, die noch zu diskutieren sein werden,
auch und gerade vor dem Hintergrund einer zunehmend technologisierten Welt in den
letzten drei Jahrzehnten eine ebenso beeindruckende wie besorgniserregende Karriere
erlebt. In solchen Fällen drängt sich immer die bange ideologiekritische Frage auf, die
seit einem Jahrzehnt ihren Ausdruck in Harry Frankfurts inzwischen fast schon kano-
nisch zu nennender Vulgärformel gefunden hat: Handelt es sich dabei um ein » bull-
shit-Wort «1, also um eines jener beliebten omnipräsenten Füllwörter, die letztlich nichts
aussagen, weil sie sich nicht hinreichend konkretisieren lassen und mit denen man sich
prächtig durchmogeln kann ?
Um diesen Verdacht auszuschließen, ist es hilfreich, sich um die praktische Relevanz
in Form der Konkretisierbarkeit dieses Begriffs zu kümmern2, und das heißt hier: den
abstrakten Beriff » Verantwortung « zu kontextualisieren, anders: über die Differenz von
» Verantwortung kennen « und » Verantwortung übernehmen « nachzudenken.
Die Frage, ob (und wenn ja: in welcher Weise) Menschen auch für etwas verant-
wortlich sein können, das sie weder gewollt haben noch auch haben voraussehen kön-
nen, war im römischen Recht noch eindeutig negativ dahingehend entschieden, dass
man nicht verpflichtet sei, etwas zu tun, das man nicht tun könne (» ultra posse nemo

1 H. G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt a. M. 2006; vgl. W. Ch. Zimmerli/S. Wolf, » Außenansichten – oder
warum Spurwechsel so wichtig sind «, in: dies. (Hrsg.), Spurwechsel. Wirtschaft weiter denken, Hamburg
2006, 7 – 12, bes. 8 ff.; R. Dahrendorf, » Versuch und Irrtum. Das Prinzip Verantwortung im Kapitalis-
mus «, ebd. 171 – 184.
2 Vgl. hierzu und im Folgenden auch eine meiner früheren Studien, die im Zusammenhang eines Inge-
nieurkammer-Projekts anlässlich der im Jahr 2000 in Hannover durchgeführten EXPO entstanden ist:
Walther Ch. Zimmerli, » Ethik in der Technik – überfällig oder überflüssig ? «, in: ders. (Hrsg.), Ethik in
der Praxis. Wege zur Realisierung einer Technikethik, Hannover 1998, 13 – 29.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
16 Walther Ch. Zimmerli

obligatur «3). Unter Bedingungen eines an den Erfahrungen mit der Technikfolgenfor-
schung und -abschätzung geschulten spätmodernen Technikverständnisses scheint das
nicht mehr (oder jedenfalls: nicht mehr in jeder Hinsicht) uneingeschränkt selbstver-
ständlich zu sein. Zum einen ist daran zu erinnern, dass rechtliche und ethische Nor-
men zwar verwandt, aber nicht identisch sind. Zum anderen haben sich aber nicht
nur in der Ethik selbst (ebenso wie im Recht) allerhand Veränderungen ergeben, son-
dern insbesondere auch das hier anstehende Anwendungsgebiet, die Technik, ist gera-
dezu durch konstanten dynamischen Wandel charakterisiert. Die Binsenweisheit, dass
Technik die Welt verändert, gewinnt eine neue Dimension in dem Maße, in dem Tech-
nik rekursiv wird, und daraus erklärt sich auch die zunehmende Geschwindigkeit die-
ses Wandels.
Kurz: Nicht nur die Technik verändert sich mit zunehmender Geschwindigkeit, son-
dern auch die Ethik unterliegt einem Wandel, und es wird zu zeigen sein, wie der Wan-
del in der Ethik mit demjenigen in der Technik zusammenhängt. Im Folgenden soll
das – eher exemplarisch als systematisch – in vier Schritten versucht werden: In einem
ersten Argumentationsgang soll typologisch skizziert werden, wie es von dem Technik-
verständnis der frühen Neuzeit zu der gegenwärtigen Auffassung einer reflexiven Tech-
nologie kommen konnte (1). Der nächste Durchgang wird reziprok der Frage nach der
Entwicklung des Verantwortungsbegriffs in Interaktion mit den verschiedenen Technik-
typen gelten (2). Damit sind die Voraussetzungen bereit gestellt, um den Übergang von
theoretischer Ethik zur Angewandten Ethik herauszuarbeiten (3), um vor diesem Hin-
tergrund die Ingenieurethik als einen konkreten Fall dieser Hinwendung zur anwen-
dungsorientierten Ethik bis hin zu den Instrumenten einer professionellen Ethik des
Berufsstandes der Ingenieure in ihrer Orientierung am Dissens darzustellen (4).

1 Technikentwicklung

Wie Friedrich Nietzsche bereits festgestellt hat4, tendieren wir Menschen dazu, uns dem
Zwang der zu Begriffen geronnenen Metaphern auszuliefern und unser Denken von
diesen Verdinglichungen beherrschen zu lassen. Das gilt in starkem Maße auch für den
Begriff » Technik «. Zwar sagen uns alle Analysen, dass sich Technik, längst zu Techno-
logie geworden, derzeit nicht nur auf dem Weg in ein nachmodernes Zeitalter befindet,
sondern selbst auch als einer der Haupttreiber dieses Prozesses wirkt. Nichtsdestowe-
niger ist unser Denken von Technik (und auch von Mensch, Natur und Kultur) immer
noch an traditionell substantialistischen Modellen orientiert, so als ob sie, selbst wenn

3 Digesten 50,17,185.
4 F. Nietzsche, » Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne «, in: ders., Sämtliche Werke. Kri-
tische Studienausgabe Bd. 1, München/Berlin 1980, 88 f. et passim.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 17

sie sich wandelt, substanziell das bliebe, was sie » ihrem Wesen nach und eigentlich « ist.
Und eben daraus erklärt sich der jahrhundertelange » Streit um die Technik «5, der – bei
Lichte besehen – weitgehend obsolet ist.
Ein anderes, der Gegenwart angemesseneres und flexibleres Modell versteht alle Be-
griffe, und in unserem Falle ganz besonders die Begriffe » Technik «, » Mensch «, » Na-
tur « und » Kultur « als Knotenpunkte in einem dichten Netzwerk6, die sich gegenseitig
funktional definieren. Konkreter: Unter Verwendung unterschiedlich weit entwickel-
ter Werkzeuge verändern die Menschen die Natur so, dass sie ihr materielle wie ideelle
Werte abgewinnen können. Die auf diese Weise gesellschaftlich wie geschichtlich unter-
schiedliche Weise des Veränderns nennen wir » Kultur «, und so ist es denn auch nicht
weiter verwunderlich, wenn von » Technologie als Kultur «7 die Rede sein kann.
Im Folgenden sei auf eine Typologie zurückgegriffen, die, an anderer Stelle ausführ-
licher entwickelt8, die funktionale Dynamik der Entwicklung von Technik zu Techno-
logie in vier Stufen an der Differenz der Beziehungsmuster von Mensch, Technik, Natur
und Kultur eher illustriert als analysiert: Dieser Typologie zufolge lässt sich die Entwick-
lung der neuzeitlichen europäischen Technik, die von allem Anbeginn an einen engen
Zusammenhang zu derjenigen der Wissenschaft hatte, ohne jedoch mit dieser zusam-
menzufallen, in vier Stufen mit jeweils korrespondierenden Typen unterteilen. Dabei ist
festzuhalten, dass sich diese Stufen nicht trennscharf ablösen, sondern durchaus auch
überlagern können, – ja: es finden sich palimpsestartig durchaus auch Überschreibun-
gen der verschiedenen Typen, so dass es auf jeder Stufe eine Art Koexistenz mit tiefer
liegenden Relikten früherer Stufen gibt:
Das erste Beziehungsmuster von Mensch, Natur, Kultur und Technik ist geprägt
durch das, was ich den Judo-Typus nenne: Technik wird hier im Kontext der sich her-
ausbildenden neuzeitlichen Wissenschaften als menschliche Kunstfertigkeit verstanden,
die Natur durch die gezielten menschlichen Eingriffe so zu verändern, dass sie den In-
teressen der Menschen besser nützen kann. Im als Grundmodell unterstellten » Kampf «
der Menschen gegen die Natur bekämpfen die Menschen diese nicht durch frontalen
Angriff, sondern durch gezielten Einsatz der Naturkräfte selbst, in einer Formel von
Francis Bacon: » natura non nisi parendo vincitur «9. Der technikverwendende Mensch
der beginnenden Neuzeit versteht sich so zwar als » homo faber «, aber nach Maßgabe
der Natur, in die er eingreift, also » homo faber mensura naturae «.

5 F. Dessauer, Streit um die Technik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1958.


6 Der Begriff ,Netzwerk ‹ ist in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu einer Art von Metaparadigma ge-
worden, das sich in nahezu allen Bereichen von Wissenschaft, Technologie und Lebenswelt durchge-
setzt hat, nicht zuletzt unterstützt und plausibilisiert durch die ubiquitäre Wirksamkeit des WWW. Vgl.
auch W.Ch. Zimmerli, » Die Menschen der Zukunft – Vom Denken und Handeln in Netzwerken «, in:
G. Seubold (Hrsg.), Die Zukunft des Menschen – Philosophische Ausblicke, Bonn 1999, 145 – 167.
7 Walther Ch. Zimmerli, Technologie als Kultur, 2., überarb. Aufl. Hildesheim/Zürich/New York 2005.
8 Vgl. hierzu und im Folgenden Walther Ch. Zimmerli, » Wandelt sich die Verantwortung mit dem tech-
nischen Wandel ? «, in: H.Lenk/G. Ropohl (Hrsg.), Technik und Ethik, Stuttgart 1987, 92 – 111.
9 F. Bacon, Novum Organum, in: ders., Works 1, 157 (1.3).
18 Walther Ch. Zimmerli

Mit der industriellen Revolution entsteht ein neues Beziehungsmuster, das ich als
Reproduktions-Profit-Typus bezeichne. Nun wird nämlich Technik unter dem überwäl-
tigenden Eindruck, den die Umwälzung durch die industrielle Güterproduktion hinter-
lässt, durch den Verwertungszusammenhang der industriell gefertigten Produkte defi-
niert. Aufgrund der Eigenschaften der » großen Maschinerie « werden nämlich jetzt die
Produkte maschinell nahezu identisch reproduzierbar. Dadurch aber wird die Technik
zugleich zu einer der notwendigen Bedingungen einer gewinnorientierten Ökonomie,
die auf Massenproduktion beruht (» economy of scale «). Aufgrund eben der Eigenschaf-
ten der industriellen Produktion, die die massenhafte Herstellung identischer Güter er-
laubt, wird aber – und darauf hat niemand deutlicher hingewiesen als Karl Marx10 – der
einzelne Arbeiter austauschbar, da er nicht mehr durch seine spezifische handwerkliche
Kunstfertigkeit definiert ist. Das wiederum bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf das so-
zioökonomische System, innerhalb dessen sich das ereignet, und damit auch auf das
Selbst- und Fremdverständnis der beteiligten Menschen und deren Kultur. Es resultiert
die Vorstellung eines » homo faber «, der dadurch definiert ist, dass er haushälterisch auf
die Bilanzen seines auf massenhafte Reproduzierbarkeit angelegten Produzierens achtet:
der » homo faber oeconomicus «11.
Die oben bereits erwähnte Rekursivität wissenschaftlich induzierter oder mindestens
optimierter Technik findet ihren ersten manifesten Ausdruck in der zweiten, der wis-
senschaftlich-technischen Revolution, in der Wissenschaft, technisch vermittelt, selbst
zur Produktivkraft wird12. Das so entstehende Beziehungsmuster von Mensch, Natur,
Kultur und Technik nenne ich den Weißkittel-Typus. Eben dadurch dass Wissenschaft
selbst Produktivkraft wird, verändert sich auch das zuvor industriell geprägte Bild von
Technik: Statt ölverschmierter Monteure und Fabrikarbeiter mit Schraubenschlüsseln in
der Hand treten nun die Damen und Herren in weißen Kitteln, die die hochkomplizier-
ten digitalen Instrumente ablesen und interpretieren. Nur noch in wenigen Bereichen
sind Nicht-Techniker bzw. Nicht-Wissenschaftler überhaupt in der Lage, Korrekturen
oder gar Reparaturen der von ihnen benutzten technischen Systeme selbst vorzuneh-
men. Für homo faber bedeutet das, dass seine ursprüngliche und ihm wesenhaft zuzu-
schreibende Kompetenz, seine technische Welterfassung und -veränderung seinerseits
noch zu kontrollieren, zusehends schwindet; in dem Maße, in dem er zum » homo faber
scientificus « wird, transformiert er sich zugleich in den » homo faber ignorans «.
Und damit sind wir nun in der Gegenwart angelangt, in der Wissenschaft und Tech-
nik längst zur Technologie hybridisiert sind, und zwar in dem (zunehmenden) Maße, in
dem sich die rekursive Wendung diese Hybridisierung ihrer selbst in Gestalt der IuK-

10 K. Marx, Das Kapital I, Marx Engels Werke (MEW), Bd. 23, 508 ff. et passim.
11 Vgl. G. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, Tübingen 1991. Die übliche Diskussion um den » homo oeco-
nomicus « greift in der Regel zu kurz, da sie diese produktionstechnische Dimension vernachlässigt.
12 Beispielhaft für die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im Systemwettstreit breit geführte Diskus-
sion vgl. E. Stölting, Wissenschaft als Produktivkraft. Die Wissenschaft als Moment des gesellschaftlichen
Arbeitsprozesses, München 1974.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 19

Technologie als Quertechnologie bedient. Damit ist verbunden, dass – seinerseits ver-
mittelt durch IuK-Technologie – der Traum von der Beherrschung und immer weiteren
Verbesserung der Welt durch Technologisierung immer weiterer Lebensbereiche aus-
geträumt ist, weswegen ich dieses Beziehungsmuster von Mensch, Natur, Kultur und
Technik als Aufwach-Typus bezeichne. Er ist charakterisiert durch eine zunehmende
Beschäftigung mit den (ungewollten) Folgen und Nebenfolgen, die die zunehmende
Technologisierung mit sich bringt. Es ist das zu verzeichnen, was man eine » reflexive
Wendung « nennen könnte, die sich von der Lebenswelt bis in die Wissenschaft hinein
durchzieht. Der Preis, den wir lebensweltlich für zusätzliche Komfortelemente techno-
logischer Art zu entrichten bereit sind, sinkt; wir mitteleuropäischen Menschen sind
zutiefst zerrissen und gespalten angesichts unserer ungewollten, aber immer weiter zu-
nehmenden Abhängigkeit von unseren Technologien, die zudem – NSA lässt grüßen –
auch zu einer zunehmenden Aufweichung der Sicherheit unserer Privatsphäre geführt
hat. Wissens-, wissenschafts- und technologietheoretisch wirkt sich das so aus, dass das
klassische wissenschaftliche Wissen vom Typus 1 immer stärker durch das reflexiv ge-
wendete Wissen vom Typus 213 überformt wird. Eine Befassung mit den verschiedenen
Formen des Nichtwissens scheint unabweisbar zu werden.14 So hat der bislang höchste
Fortschritt des Wissens invers einen fast nicht mehr steigerbaren Grad des Nichtwissens
herbeigeführt; und das ist nicht nur so, sondern wir wissen auch, dass es so ist: homo fa-
ber technologicus ist nicht nur weiterhin homo faber ignorans, sondern nun auch homo
faber doctus ignorans «.

2 Verantwortungsbegriff

Nachdem wir nun den Wandel des Technikverständnisses in der Neuzeit typologisch
rekonstruiert haben, wäre es zwar reizvoll, das auch in Bezug auf die Ethik und zumal
auf den in Bezug auf Technik in ihr dominierenden Verantwortungsbegriff zu tun, aber
das stieße auf zwei nicht so sehr ethische als vielmehr epistemologische Hindernisse:
Zum einen haben wir in unserem durch die deutschsprachige Ethik zumal eines Im-
manuel Kant geprägten moralischen Diskurs einen deontologischen Bias, soll heißen:
für uns ist eine Berücksichtigung der Folgen einer Handlung für die Ermittlung ihrer
Moralität nach wie vor eine vielleicht akademisch interessante, aber ethisch eher nach-

13 M. Gibbons/C. Limoges/H. Nowotny/S. Schwartzman/P. Scott/M. Trow, The New Production of Know-
ledge: the Dynamics of Science and Research in Contemporary Society, London 1994; H. Nowotny/
P. Scott/M. Gibbons, Re-thinking Science: Knowledge in an Age of Uncertainty, Cambridge 2001. Vgl.
auch L. Hessels/H. von Lente, » Re-thinking New Knowledge Production: A Literature Review and a Re-
search Agenda «, in: Research Policy, vol. 37 (2008), 740 – 760.
14 Vgl. W. Ch. Zimmerli, » Weisheit in einer technologischen Zivilisation. Gedanken über Wahrheit, Glau-
ben und Wissen, Nichtwissen und Magie «, in: U. Nehmbach/H. Rusterholz/P. M. Zulehner (Hrsg.), In-
formationes Theologiae Europae, Frankfurt a. M. 2012, 173 – 186.
20 Walther Ch. Zimmerli

geordnete, wenn nicht rundweg unmoralische Betrachtungsweise; für die Bewertung


der Moralität einer Handlung zählt eher die in sie investierte Gesinnung. Zum anderen
aber bezieht sich der hier relevante Begriff der Verantwortung ganz explizit auf die Fol-
gen einer Handlung, messe man deren moralischen Gehalt nun utilitaristisch oder in
irgendeiner anderen Weise. Und das wird noch verschärft dadurch, dass sich eine der
wirkungsvollsten ethischen Auseinandersetzungen mit der » technologischen Zivilisa-
tion» , das Hauptwerk des Philosophen Hans Jonas, ganz explizit » Das Prinzip Verant-
wortung «15 nennt.
So betrachtet, unterliegt zwar auch der Verantwortungsbegriff einem Wandel, aber er
kann per definitionem nicht genau mit dem typologisch dargestellten Wandel des Tech-
nikverständnisses korrelieren. Daher soll nun weniger historisch idealtypisch, sondern
zunächst ontologisch und dann begriffsanalytisch vorgegangen werden, nicht zuletzt
auch in der Absicht, an Hans Jonas und seinen Versuch anzuknüpfen, den Humeschen
Einwand gegen einen Schluss vom Sein auf das Sollen, den sogenannten naturalisti-
schen Fehlschluss, zu entkräften. Dazu sei ein kurzer Blick hinter die scheinbare Selbst-
verständlichkeit geworfen, die das Verbot des Schlusses von Sein auf Sollen plausibel zu
machen scheint.
Explizit verbieten muss man ja eigentlich nur etwas, das sich nicht schon von selbst
verbietet. Und in der Tat ist das, was damit gemeint ist, wenn von einem » naturalisti-
schen Fehlschluss « die Rede ist, außerhalb der akademischen Philosophie gang und
gäbe. Die in positiver wie negativer Formulierung sich äußernde normative Kraft des
Faktischen ist allgegenwärtig – etwa in der Gestalt der Formel » Das haben wir schon
immer so gemacht « oder » Das haben wir noch nie so gemacht «, in Kurzform » Wo kä-
men wir denn da hin ? « Gewiss, man kann das nun syllogistisch ausbuchstabieren, und
dann sähe es etwa so aus:

• Alles, was immer schon auf eine bestimmte Art und Weise gemacht worden ist, hat
sich bewährt und ist daher gut.
• X wurde immer schon auf diese bestimmte Art und Weise gemacht.
• Die Art und Weise, in der X gemacht wurde, hat sich bewährt und ist daher gut.

Man kann dies auch die » konservative Variante « des naturalistischen Fehlschlusses nen-
nen. Dieser korrespondiert reziprok die » progressive Variante «, nach dem syllogisti-
schen Muster:

• Alles, was immer schon auf eine bestimmte Art und Weise gemacht worden ist,
hemmt den Fortschritt und ist daher schlecht.
• X wurde immer schon auf diese bestimmte Art und Weise gemacht.

15 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frank-
furt a. M. 1979.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 21

• Die Art und Weise, in der X immer schon gemacht worden ist, hemmt den Fort-
schritt und ist daher schlecht.

An diesen beiden Extremfällen lässt sich eines zeigen: Im engeren Sinne handelt es sich
weder um einen Fehlschluss, noch ist er in anderer Hinsicht falsch und daher zu ver-
bieten. Ganz im Gegenteil: Beide Schlüsse sind formal korrekt und könnten nun hand-
lungstheoretisch auch noch als praktische Syllogismen rekonstruiert werden. Für un-
seren Zusammenhang wichtiger ist aber, dass in beiden Syllogismen Begriffe enthalten
sind, die man als Hybride von deskriptiven und präskriptiven Geltungsansprüchen ver-
stehen kann; ich meine die Begriffe » bewährt « und » fortschrittlich «.
Versucht man nun, diesen Befund genauer auf die Bedingungen seiner Möglichkeit
zu befragen, so kann man davon ausgehen, dass es gar nicht um den Dualismus von
Sein und Sollen, sondern um das geht, was diesen Dualismus erst ermöglicht. Und das
wiederum kann nicht seinerseits ein Dualismus sein. So betrachtet sieht es so aus, als ob
der Quellgrund oder die » Gabelung « des Seins in Sein und Sollen etwas mit dem das
Sein vom Sollen unterscheidenden Wesen, dem Menschen zu tun hätte. Anders formu-
liert: Wir Menschen führen die Sein-Sollen Differenz durch unserer sprachlich-gedank-
liche Auslegung in die Welt erst ein, indem wir einen deskriptiven und einen präskrip-
tiven Gestus unserer Weltauslegung einnehmen können. Nochmals anders formuliert:
In dem Maße, in dem wir die Welt, genauer: die Natur, als ein vielfach rückgekoppeltes
Netzwerk verstehen, lässt sich auch sagen, dass letztlich alles mit allem zusammenhängt.
Im deskriptiven Gestus führt das zu einem komplexeren Verständnis von Kausalität,
im präskriptiven Gestus zu einem anderen und ebenfalls komplexeren Verständnis von
Zuständigkeit oder Verantwortung. Kurz und formelhaft: Da in der Natur alles mit al-
lem zusammenhängt und da reflektierte Zusammenhänge dieser Art im präskriptiven
Gestus » Verantwortung « heißen, ist im Prinzip jeder für alles verantwortlich (Sartre16).
Vor diesem ontologischen Hintergrund stellt der Begriff » Verantwortung « so etwas
wie die im präskriptiven Gestus sprachlich gefasste reflexive Stufe dessen dar, was im
deskriptiven Gestus als bloßes Faktum der Relationalität im Netzwerk erscheint. Das
bedeutet aber, verantwortlich sein oder verantwortlich gemacht werden kann ein Hand-
lungssubjekt nur für solches, was in mehr oder minder starkem Maße von ihm abhängt
bzw. von ihm beeinflusst werden kann. Und das hat nun zur Folge, dass der Verantwor-
tungsbegriff sich zunächst nur auf die Folgen derjenigen Handlungen bezieht, an denen
der Mensch als Handlungssubjekt (oder Akteur) auslösend oder zumindest mit-auslö-
send beteiligt gewesen ist. Für solches von ihm Ausgelöstes oder Mit-Ausgelöstes muss
der Mensch als Handlungssubjekt Rede und Antwort stehen, eben: sich ver-antwort-en.
Dadurch wird der Mensch als Handlungssubjekt zugleich auch zum Verantwortungs-

16 J.-P. Sartre, » Ist der Existentialismus ein Humanismus ? «, 1946, dt. in ders., Drei Essays, Frankfurt/Ber-
lin/Wien 1979, 12 ff.
22 Walther Ch. Zimmerli

subjekt, und die an die Auslösungsbedingung geknüpfte Art von Verantwortung soll
» interne Verantwortung « heißen.
So weit trägt uns die ontologisch hinterlegte Analyse des Zusammenhangs von de-
skriptivem und präskriptiv reflektiertem Netzwerkparadigma und damit auch die theo-
retische oder reine Ethik. Nun aber ereignet sich der Einbruch der Technik in die Welt,
deren Entwicklung wir oben typologisiert haben. Mit der zunehmenden Ausdifferenzie-
rung und Hochspezialisierung der wissenschaftsinduzierten Technologie wächst auch
die Unüberschaubarkeitsvermutung gegenüber den Folgen der Anwendung von Tech-
nologien und mit ihr die Einsicht, dass eine Einschränkung der Verantwortung auf die
» interne Verantwortung « (s. o.) nicht mehr ausreicht und auch normativ nicht mehr zu-
lässig ist.
Um das besser verstehen zu können, sei nun der Verantwortungsbegriff einer ele-
mentaren sprachphilosophischen Analyse unterzogen, die uns fraglos helfen wird, der
ihrerseits hochkomplex gewordenen Untersuchung der Verantwortungsbeziehung wei-
ter zu folgen. Betrachten wir zu diesem Zwecke den Verantwortungsbegriff genauer, so
stellt sich heraus, dass er zwar beliebig viele begriffliche Facetten hat – begriffsanaly-
tisch formuliert: eine im Grundsatz n-stellige Relation ist –, dass es aber ein Minimaler-
fordernis gibt, um ihn zu bestimmen – erneut begriffsanalytisch formuliert: dass » Ver-
antwortlichsein « eine mindestens dreistellige Relation ist:
Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas oder jemanden (Verantwortungsbe-
reich) einer anderen Person oder Institution gegenüber (Verantwortungsinstanz) verant-
wortlich.
Alle drei, Instanz, Bereich und Subjekt der Verantwortung, haben sich im Verlauf
der Geschichte der neuzeitlichen Säkularisierung entscheidend verändert: An die Stelle
Gottes als universeller Verantwortungsinstanz tritt – jedenfalls zum Teil und jedenfalls
im Nordwesten – die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen in Gegenwart und Zukunft.
Der Verantwortungsbereich wird um die Menge neuer Handlungsmöglichkeiten linear
und in jüngerer Zeit durch deren Unterstützung durch die neuen Technologien expo-
nentiell erweitert.
Und daher stellt sich denn die in den vergangenen Jahren breit diskutierte Frage,
ob sich auch das Verantwortungssubjekt entsprechend verändert habe. Ausgehend von
der zutreffenden Beobachtung, dass es von den Unternehmen über Parteien und an-
dere Institutionen eine an Bedeutung zunehmende Anzahl von überindividuellen Ak-
teuren gibt, herrschte eine Zeitlang die Meinung vor, diese Erweiterung des Spektrums
der Akteure habe auch eine entsprechende Verschiebung beim Verantwortungssubjekt
zur Folge. Dagegen hielt und halte ich fest: Das ist nicht so; mit der unbestreitbaren Tat-
sache der immer weiteren Verlagerung der Ebene der handelnden Subjekte in Richtung
auf Teams, Gruppen, Kollektive und Institutionen verlagert sich nicht auch das Verant-
wortungssubjekt. Dieses bleibt das einzelne Individuum; es ist und bleibt Letztadressat
moralischer Verantwortung, wenn auch in unterschiedlichen Rollen, die es im Einzel-
nen zu analysieren gilt.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 23

Eine andere Verschiebung indessen ist erheblich größerer Bedeutung: Während in


dem linear-kausalen Modell der Zurechnung individueller Verantwortung das Verant-
wortungssubjekt nur für solche Handlungsfolgen verantwortlich war (oder sich verant-
wortlich fühlen musste), die es selbst kausal ausgelöst hatte (» interne Verantwortung «),
ist das nun angesichts der neuen Technologien nicht mehr der Fall; vielmehr treten
Handlungs- und Verantwortungssubjekt auseinander; anders: Von einem Verantwor-
tungssubjekt müssen nun auch Handlungsfolgen verantwortet werden, die nicht von
ihm (oder nicht von ihm allein) ausgeführt oder veranlasst worden sind. Das ist eine
Konsequenz, die sehr viel radikaler und weiter führend ist, als es die Verschiebung der
Rolle des Letztadressaten der Verantwortung vom Individuum auf die Institution wäre.

3 Ethik – von der Theorie zur Praxis

So weit – aber auch nicht weiter – kommt man mit der reinen theoretischen Ethik. Im
Bereich der Verantwortungsethik reicht sie zur Begründung eines allgemeinen Verant-
wortungskonzeptes, zur Analyse der Aspekte des Verantwortungsbegriffes und zur Be-
antwortung der Frage nach dem Letztadressaten sowie der Veränderung von Verant-
wortungsinstanz und Verantwortungsbereich aus. Indessen fehlt es ihr an inhaltlicher
Füllung, die über die Funktion von Beispielen hinausginge.
In diesem Zusammenhang gilt es nun, einem Phänomen Rechnung zu tragen, das
man als die » Anwendungswendung « (» application turn «) bezeichnen kann: In der zwei-
ten Hälfte des 20.Jahrhunderts sind Anwendungsfragen immer stärker in den Fokus
des Interesses gerückt, und es haben sich immer mehr Bindestrich-Ethiken auch akade-
misch etabliert, wofür nicht zuletzt die Veröffentlichung eigener Handbücher ein siche-
res Indiz ist17: Das reicht von der noch eher traditionellen Rechtsethik über Wirtschafts-
und Unternehmensethik bis zur Medizinethik oder allgemeiner: der Wissenschaftsethik,
der Genethik, der Medienethik, der Tierethik und der ökologischen Ethik etc. In diesem
bunten Strauß darf dann natürlich auch unser Thema, die Technikethik, oder stärker in
Richtung der professional ethics formuliert: die Ingenieurethik, nicht fehlen.
Um diese Wendung zu verstehen, ist es hilfreich, sich an den Titel eines kleinen Auf-
satzes von Stephen Toulmin aus dem Jahr 1982 zu erinnern: » How Medicine Saved the
Life of Ethics «18. Damit ist ein Zusammenhang angesprochen, der als » Rekursivität « be-
zeichnet werden kann, da er sich auf die Rückwirkung der Anwendung ethischer Prin-
zipien auf diese selbst bezieht. Je vielfältiger nämlich die potentiellen Anwendungsfel-
der von Ethik werden, desto offensichtlicher wird, dass es keineswegs so ist, wie uns die

17 Stellvertretend für viele andere sei hier nur das umfassende Standardhandbuch genannt: J. Nida-Rüme-
lin (Hrsg.), Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, 2. überarb. und erw.
Aufl. Stuttgart 2005.
18 S. Toulmin, » How medicine saved the life of ethics «, in: J. P. DeMarco/R. M. Fox (eds.), New Directions
in Ethics: The Challenge of Applied Ethics, New York 1986, 265 – 281.
24 Walther Ch. Zimmerli

alte – deontologische oder teleologische – Prinzipienethik einzureden versuchte: dass


nämlich die ethischen Prinzipien überzeitlich und unwandelbar gelten, während sich
nur immer neue Anwendungsfelder eröffnen. Vielmehr zeigt sich mit unübersehbarer
Deutlichkeit, dass sich mit der Dynamik der sich verändernden Anwendungsfälle auch
die Prinzipien verschieben können. Das ist mit der Rede von der » Rettung « der Ethik
durch Anwendung, in diesem Falle in der Medizin, gemeint.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass die diesem Zusammenhang zu
Grunde liegende Struktur noch um mindestens ein Glied komplexer ist: Die Ange-
wandte Ethik beruht auf der Anwendung geltender moralischer Prinzipien, der Kritik
von deren Anwendbarkeit bzw. Reichweite sowie der Formulierung neuer, abgewandel-
ter, erweiterter oder präzisierter Prinzipien. Wer philosophisch geschult ist, sieht leicht,
dass die hier am Beispiel der Angewandten Ethik vorgeführte Struktur Analogien zu
dem aufweist, was wir im Kontext des Verstehens den » hermeneutischen Zirkel « nen-
nen (was damit zu tun haben mag, dass in Gadamers Worten Verstehen Applikation im-
mer einschließt19), der wie die hier analysierte Anwendungsstruktur in der Ethik nicht
vitiös, sondern heuristisch konstruktiv ist.
Dass das, obwohl es sofort ins Auge fällt, dennoch nur selten gesehen wird, mag
daran liegen, dass die » alte « Ethik, deren Leben durch die neuen Anwendungsschleifen
gerade gerettet wird, diese hermeneutische Rekursivität nicht nur nicht gesehen, son-
dern im Namen des von ihr häufig vertretenen Universalitätsanspruches sogar explizit
geleugnet und als Relativismus verteufelt hat. Während die Ethik vor ihrem » application
turn « Begründung moralischer Prinzipien mit aus vorwiegend didaktischen Gründen
ersonnenen Beispielen war, besteht sie heute vorwiegend aus Anwendungsanalyse, die
sich um die veränderte Begründung moralischer Prinzipien kümmert. Kurz, prägnant
(und daher wohl auch ein wenig irreführend) formuliert:
Heute reicht es nicht mehr zu wissen, was moralisch richtig ist, sondern man muss dar-
über hinaus als Ethiker über sehr viel richtiges Wissen in den Feldern der Anwendung ver-
fügen.
An dem in der Technikethik und in der Politik derzeit intensiv diskutierten Beispiel
der Energieversorgung nach der Energiewende lässt sich das erkennen. Regenerative
Energien sind per se eben noch keine ethisch abgesicherte Option, so lange keine Ant-
wort auf die entscheidende Frage gegeben wird, wie aus Sonnen- und Windkraftwerken
gewonnene Energie gespeichert werden kann, und solange man nicht weiß, dass hier
die Wasserstoffspeichertechnologie eine entscheidende Rolle spielen könnte.
Dazu kommt aber noch ein Weiteres, das in der Definition von Angewandter Ethik
bereits angelegt ist:
Es reicht heute nicht mehr aus, sehr viel richtiges Wissen über die Anwendung des mo-
ralisch Richtigen zu haben, sondern man muss auch wissen, wie man es umsetzt.

19 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 290 ff. et passim.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 25

Erneut an unserem Beispiel expliziert: Selbst wenn man weiß, dass Wasserstofftech-
nologie als Speichertechnologie eine entscheidende Rolle spielen kann, sind regenera-
tive Energien per se immer noch keine ethisch abgesicherte Option, so lange man nicht
weiß, mit welchem Druck (60 bar) der gewonnene und als Energiespeicher genutzte
Wasserstoff wieder in die Gasnetze eingespeist werden kann bzw. muss.
Die mit dem hermeneutischen Charakter der Technikethik zusammenhängende
» Wissensimprägnierung « ist indessen nicht das einzige neue Charakteristikum der An-
gewandten Ethik; es gilt in ihr vielmehr auch noch, der Tatsache Rechnung zu tragen,
dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der das Problem nicht darin liegt,
dass wir keinen Wertekanon mehr hätten, sondern dass wir nicht mehr einen allgemein-
verbindlichen Wertekanon, sondern viele haben. Und das ist gemeint mit der Rede von
der pluralistischen Gesellschaft: Unter Bedingungen des Wertepluralismus muss Ab-
schied genommen werden von der Vorstellung der einen allgemeinverbindlichen Ethik.
Vielmehr gilt es, moralisch legitime Verfahren eben nicht » von Staats wegen «, sondern
im Rahmen unserer pluralistischen » civil society « zu finden. Das aber heißt, dass die
Angewandte Ethik sowohl hermeneutisch als auch prozedural angelegt sein muss – und
das gilt nicht nur, aber auch für die Technikethik.
Daher müssen wir nach Verfahren suchen, die in einer pluralistischen Gesellschaft
z. B. dazu dienen sollen, in Situationen, von denen Menschen mit durchaus unterschied-
lichen Wertvorstellungen betroffen sind, Lösungen zu finden, auf die diese sich einigen
können, nicht weil sie dieselben, sondern obwohl sie eben ganz verschiedene Wertvor-
stellungen haben. Das müssen von der pragmatischen Logik her, Prinzipien sein, die in-
haltlichen Dissens ermöglichen. Anders formuliert: Es geht um Prinzipien, die sicher-
stellen, dass die inhaltlichen Dissense so spät wie irgend möglich zum Austrag kommen,
also um Prinzipien der Dissensermöglichung. In philosophischer Terminologie ausge-
drückt handelt es sich dabei um Verfahrensprinzipien, die die Bedingungen der Mög-
lichkeit von Dissensen sicherstellen, anders gesagt: um transzendentale Prinzipien, und
diese können zunächst einmal, da sie sicherstellen sollen, dass es erst so spät wie irgend
möglich, um inhaltliche Dissense geht, nicht ihrerseits materiale, sondern nur formale
Prinzipien sein:20

1) Bei der Beurteilung der Moralität einer technischen Handlung, eines Handlungs-
kontextes oder gar einer ganzen Technologie wird daher auf einer obersten Ebene
nur deren Konformität hinsichtlich der formalen Vernunftprinzipien der Moderne
(universelle Verallgemeinerbarkeit, Gerechtigkeit als Fairness etc.) geprüft; alles, was
aufgrund dieser Prüfung nicht eindeutig ver- oder geboten ist, muss auf der nächsten
Ebene weiter abgeklärt werden.

20 Vgl. W. Ch. Zimmerli/M. Aßländer, » Wirtschaftsethik «, in: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik,
a. a. O., 311.
26 Walther Ch. Zimmerli

Tabelle 1 4-Stufen-Modell der ethischen Beurteilung

Verboten Weiter abzuklären Geboten

(1) Formale Prinzipien

(2) Regionale Prinzipien

(3) Berufsständische Prinzipien

(4) Materiale Werte

2) Auf dieser Ebene sind die regional verallgemeinerbaren Prinzipien angesiedelt, z. B.


der Grundsatz des Vorrangs der schlechten Prognose (» worst case analysis «) o. ä.
Auch hier wird nach demselben Muster der Elimination von eindeutig ge- bzw. ver-
botenen Handlungsoptionen geprüft, und nur die aufgrund dieses Tests nicht ein-
deutig zuzuordnenden Optionen sind auf einer dritten Ebene weiter abzuklären.
3) Diese Ebene beinhaltet die in berufsständisch stark ausdifferenzierten Gesellschaften
wie der unsrigen immer wichtiger werdenden Prinzipien der professionellen Ethiken,
aufgrund deren bestimmte Handlungen zwar nicht universell und auch nicht regio-
nal, sondern nur für Angehörige desselben Berufsstandes allgemein verbindlich oder
untersagt sind.
4) Nur das, was weder aufgrund der formalen Vernunftprinzipien der Moderne noch
aufgrund der regional oder berufsständisch verallgemeinerbaren Prinzipien eindeu-
tig positiv oder negativ entschieden werden kann, muss nun einer Entscheidung auf-
grund differenter materialer Werte unterzogen werden.

Wenn oben in den verantwortungstheoretischen Erörterungen allgemein davon die


Rede war, dass trotz aller institutionellen und überindividuellen Ausdifferenzierung das
Individuum stets Letztadressat der Verantwortung bleibe, ist hier der Ort, die sich hier-
bei nahe legenden Fußangeln zu diskutieren, um potentielle Missverständnisse auszu-
schließen: Und zwar geht es dabei insbesondere um die Unterscheidung des Individu-
ums als Verantwortungssubjekt von den möglichen theoretischen Zugängen. Das lässt
sich, da es dort bereits am differenziertesten analysiert und diskutiert worden ist, am
besten anhand der Beziehung von Technik- und Wirtschaftsethik darstellen21, bei der
es um die Verantwortung von Akteuren geht, die z. B. im Kontext eines Unternehmens
technisch handeln. Was häufig verwechselt wird (und daher zum Trugschluss führt,
auch korporative oder institutionelle Akteure könnten Letztadressat von Verantwor-
tung werden), ist die Differenz zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene, auf denen

21 Vgl. ebd., 327.


Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 27

Tabelle 2 Systematische Einteilung der Wirtschafts- und Technikethik

individualethisch institutionenethisch

Mikroebene z. B.: Fragen nach der Verantwortung des In- z. B.: Fragen nach der Internalisierung unter-
dividuums im ökonomischen Entscheidungs- nehmensspezifischer Handlungsintentionen
findungsprozess

Mesoebene z. B.: Fragen nach den zu ändernden Orga- z. B.: Fragen nach der Verantwortung von Un-
nisationsstrukturen, die Individualmoral zu- ternehmen für Handlungsfolgen
lassen

Makroebene z. B.: Fragen nach der Rückwirkung ökonomi- z. B.: Fragen nach der Rolle von Unternehmen
scher Prozesse auf das Selbstverständnis des in der Wirtschaftspolitik
Individuums

das Handeln der Akteure jeweils sowohl individual- als auch institutionenethisch be-
urteilt werden kann. Anders und weniger theorielastig formuliert: Selbst wenn ein In-
dividuum z. B. in seiner Rolle als CEO eines Unternehmens agiert, bleibt es selbst mo-
ralisch individuell für die Folgen seiner Handlungen verantwortlich, und das gilt auch,
wenn das Unternehmen die Haftung für diese Folgen ganz oder teilweise übernimmt.
Das ist es, was im Englischen mit der Differenz von » responsibility « und » liability « aus-
gedrückt wird.

4 Ingenieurethik als Fall professioneller Ethik –


Orientierung am Dissens

Nach dem bisher Ausgeführten ist klar, dass wir uns bei der Frage nach der Verantwor-
tung im Bereich der Ingenieurethik auf der dritten Ebene des skizzierten formal-pro-
zeduralen Modells einer hermeneutischen Technikethik bewegen. Daher ist die Kon-
kretisierung, um die es hier geht, diejenige der Ingenieurprofession, und die Prinzipien,
nach denen gefragt wird, sind – jedenfalls in den berufsständisch organisierten Teilen
der Ingenieurprofession – in deren berufsständischen Kodizes niedergelegt (s. die drei
Beispiele im Anhang). Ausführlich auf diese einzugehen, würde sich aufgrund von ih-
rer relativen Inhaltsarmut kaum lohnen; wichtig an ihnen ist eher das Faktum, dass sie
existieren und dass sich Angehörige von Ingenieurberufen durch sie gebunden fühlen,
Stattdessen soll hier exemplarisch noch ein Blick auf die grundsätzliche Bedeutung eini-
ger Tools geworfen werden, die in der pragmatischen Wendung auf die Anwendung
zum Einsatz gekommen sind (oder immer noch zum Einsatz kommen).
Das Grundszenario geht dabei von der bereits angesprochenen Einsicht aus, dass
in einer pluralistischen Gesellschaft Konsens weder der Regelfall noch ein sinnvoller-
weise anzustrebendes Ziel ist. Vielmehr müssen wir eher von einem anderen Bild aus-
28 Walther Ch. Zimmerli

gehen: dass wir uns in einem Meer von Dissensen bewegen, in dem es darauf ankommt,
verschiedene Verfahren einzusetzen, um beim Versuch, in diesem Meer zu navigieren,
nicht die Orientierung zu verlieren.
Ein noch stark am Idealbild des Konsenses orientiertes Instrument, das dabei um
Einsatz kam und immer noch kommt, sind Konsensuskonferenzen: Ethik-, Technik- und
Wirtschaftsexperten treffen mit Laien zusammen, da sie zwar Experten auf ihren Gebie-
ten sind, aber eben deswegen nie das ganze Problem sehen und darüber hinaus nie die
vollständige Grundlage für den ethischen Aspekt der Entscheidung repräsentieren kön-
nen. Es geht also neben der Gewährleistung der Perspektivenvielfalt auch um die Über-
brückung der Kluft zwischen Experten und Laien. Dabei wird der moralische common
sense sozusagen als Expertise sui generis eingebracht.
Ähnliches gilt auch für das noch stärker als Instrument der Politikberatung konzi-
pierte Instrument der Planungszellen nach Dienel22. Dabei geht es stärker noch als bei
den Konsnsuskonferenzen um eine Art von politischen Frühwarnsystem in dem man
durch Gestaltung solcher Planungszellen einen Sensor für die Akzeptanz technologie-
politischer Entscheidungen bereitstellt, indem man die allgemeingesellschaftliche Ak-
zeptanz gleichsam in vitro simuliert.
Stellt man diese Ende des letzten Jahrtausends und daher immer noch stark am
Idealbild des Konsenses ausgerichteten Verfahren nun aber in den Kontext der prin-
zipiellen Dissensorientierung, geht es darum, durch eine sorgfältig definierte Gruppe
von Experten und Laien » Konsensinseln « als die Ausnahmen in dem Regelzustand des
Dissenses zu lokalisieren und zwischen ihnen zu navigieren. Das aber kann nur, wer
Diskurse führt. Diese sind ihrerseits selbstähnliche Exempel dessen, worüber geredet
wird, nämlich institutionalisierte dissensorientierte, pluralistische und pragmatische
Ethos-Lernlabors.
Daraus geht nun aber auch hervor, dass es hier – wie in allen Fällen der Angewand-
ten Ethik – um etwas geht, das man in der Theologie als den » Sitz im Leben « bezeich-
net hat23. Diese pragmatische Verortung der Ingenieurethik » inmitten « der durch Inge-
nieurhandeln geprägten Umwelt ist selbst ein (temporaler) Faktor des normativen
Wertewandels. Das soll heißen, dass Ethik nach dem Paradigmenwechsel des » applica-
tion turn « nicht mehr bloß kognitive Theorie, sondern pragmatische Praxis zur Bildung
der moralischen Urteilskraft selbst geworden ist. Gerade das Beispiel der Verantwor-
tung in der und für die Technik zeigt, dass ihre theoretische ethische Erfassung (» Ver-

22 P. C. Dienel, Die Planungszelle. Der Bürger als Chance, 5. Aufl. Wiesbaden 2002.
23 Zur ursprünglich hermeneutischen Bedeutung dieses Konzepts, das Hermann Gunkel in seinem » Ge-
nesis-Kommentar « in dem von D. W. Nowack herausgegebenen Handkommentar zum Alten Testament
1902 entwickelt hat, vgl. A. Wagner, » Gattung und › Sitz im Leben ‹. Zur Bedeutung der formgeschicht-
lichen Arbeit Herrmann Gunkels (1862 – 1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe Text «, in:
S. Michaelis/D. Tophinke (Hrsg.), Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik, München/Newcastle 1996,
117 – 129.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 29

antwortung kennen «) und das Ethos des Umgangs mit ihr (» Verantwortung wahrneh-
men «) zwar auch, aber keineswegs ausschließlich eine Angelegenheit des Berufsstands
der Ingenieure ist.

Anhang24

a) Bekenntnis des Ingenieurs (VDI)

Der Ingenieur übe seinen Beruf aus in Ehrfurcht vor den Werten jenseits von Wissen
und Erkennen und in Demut vor der Allmacht, die über seinem Erdendasein waltet.

Der Ingenieur stelle seine Berufsarbeit in den Dienst der Menschheit und wahre im
Beruf die gleichen Grundsätze der Ehrenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit,
die für alle Menschen Gesetz sind.

Der Ingenieur arbeite in der Achtung vor der Würde des menschlichen Lebens und in
der Erfüllung des Dienstes an seinen Nächsten, ohne Unterschied von Herkunft, so-
zialer Stellung und Weltanschauung.

Der Ingenieur beuge sich nicht denen, die das Recht eines Menschen gering achten und
das Wesen der Technik missbrauchen, er sei ein treuer Mitarbeiter an der menschlichen
Gesittung und Kultur.

Der Ingenieur sei immer bestrebt, an sinnvoller Entwicklung der Technik mit seinen
Berufskollegen zusammenzuarbeiten; er achte deren Tätigkeit so, wie er für sein eigenes
Schaffen gerechte Wertung erwartet.

Der Ingenieur setze die Ehre seines Berufsstandes über wirtschaftlichen Vorteil; er
trachte danach, dass sein Beruf in allen Kreisen des Volkes die Achtung und Anerken-
nung finde, die ihm zukommt.

24 Vgl. H. Lenk/G. Ropohl, a. a. O. und R. Liedtke, Der Ingenieureid. Ethische, naturphilosophische, juristi-
sche Perspektiven, Michelbach 2000.
30 Walther Ch. Zimmerli

b) Ethikkodex (IEEE)

Präambel:
Ingenieure, Natur- und Technikwissenschaftler beeinflussen die Lebensqualität aller
Menschen in unserer komplexen technischen Gesellschaft. Es ist daher unerlässlich,
dass die Mitglieder des IEEE in der Ausübung ihres Berufs ihre Arbeit in ethischer Hal-
tung durchführen, so dass sie das Vertrauen ihrer Kollegen, Arbeitgeber, Kunden und
der Öffentlichkeit verdienen (…).

Artikel I:
Die Mitglieder sollen ein hohes Niveau an Sorgfalt, Kreativität und Produktivität auf-
rechterhalten und sollen:

1) Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen;


2) ehrlich und realistisch sein, wenn sie Behauptungen oder Schätzungen aus vorlie-
genden Daten ableiten
3) technische Aufgaben nur dann durchführen und Verantwortung nur dann überneh-
men, wenn sie durch praktische Übung oder Erfahrung dafür qualifiziert sind, oder
nach vollständiger Offenlegung der relevanten Qualifikationen gegenüber ihren Ar-
beitgebern oder Kunden;
4) ihre beruflichen Fähigkeiten auf dem Stand der Technik halten und die Bedeutung
der aktuellen Entwicklung in ihrer Arbeit zur Kenntnis nehmen;
5) Die Integrität und das Prestige des Berufs fördern, indem sie diesen in ehrenhafter
Weise und für angemessenes Entgelt ausüben.

c) » Termaximus «-Eid (Bundesingenieurkammer)

In Ehrfurcht und Achtung vor den gegenwärtigen, einstigen und zukünftigen Genera-
tionen

spreche ich diesen Eid:

Ich bekenne mich zum schöpferischen Wissen der Ingenieure, werde die ethischen
Grundsätze mit Sorgfalt wahren und mich im Sinne der edlen Überlieferung fortbilden.

Ich übernehme die alte und ehrenvolle Pflicht, als vernunftbegabter Teil der Natur dem
Erhalt der gesamten Schöpfung zu dienen.

Im Geist der Tradition und unter dem demokratisch verbürgten Schutz des Gewissens
stelle ich mich der besonderen moralischen Verantwortung meines Amtes.
Verantwortung kennen oder Verantwortung übernehmen ? 31

Mein Beruf trage dazu bei, allen Lebewesen ein Dasein in Würde, in Sicherheit und in
Gesundheit zu ermöglichen. Ich unterlasse berufliche Handlungen, die diesen Werten
widersprechen, wenn ich abschätzen kann, dass die Folgen meines Handelns die Gebote
der Menschlichkeit jetzt oder in Zukunft verletzen und dem Leben schaden.

Unter Einhaltung der Grenzen meines Könnens und Dürfens beuge ich mich nicht den
Weisungen Dritter und führe keine Aufgaben aus, die meine Kompetenzen überschrei-
ten oder meinem Sachverstand widersprechen. Ich verpflichte mich zur Offenlegung
meiner beruflichen Qualifikationen und zur wahrheitsgetreuen Information der Öffent-
lichkeit über Chancen und mögliche Risiken meiner Arbeit.

Ich achte die gesellschaftliche Bedeutung und Würde der Ingenieurkunst und bemühe
mich mit allen Kräften, dieses Ansehen den Standesregeln meines Berufes gemäß zu
fördern.

Dies alles gelobe ich feierlich, bei meiner Ehre und zum Wohle von Mensch und Um-
welt.
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure

Hans-Ullrich Kammeyer
Präsident der Bundesingenieurkammer (Berlin) und
Präsident der Ingenieurkammer Niedersachsen (Hannover)

Ingenieurverantwortung – sind Ingenieure berufsbedingt in besonderer Weise verant-


wortlich ? … und wenn ja, dann wem gegenüber ? … gegenüber sich selbst, gegenüber
ihrem Auftraggeber/Arbeitgeber oder gegenüber der gesamten Gesellschaft und Um-
welt ? Gibt es eine besondere ethische Anforderung an Ingenieure, sozusagen eine Ethik
für Ingenieure – warum Ethik nur für Ingenieure ? Gilt das nicht für alle Berufe ? Ja !!
Aber zuerst einmal haben die sogenannten » freien Berufe « noch eine besondere, über
das normale Maß hinausgehende Verantwortung.
Dazu ein Zitat aus dem Leitbild der Freien Berufe: » Das Bundesverfassungsgericht
hat in seiner jüngsten Entscheidung vom 15. Januar 2008 bekräftigt «, dass die Freien
Berufe » durch eine Reihe von Besonderheiten in der Ausbildung, der staatlichen und
berufsautonomen Regelung ihrer Berufsausübung, ihrer Stellung im Sozialgefüge, der
persönlichen, eigenverantwortlichen und fachlich unabhängigen Erbringung ihrer Leis-
tung « geprägt werden (BfB 2009: 18).
Aufgrund ihrer vertieften akademischen Ausbildung und ihres Spezialistentums
sind Freiberufler den anderen Mitgliedern der Gesellschaft in besonderem Maße ver-
antwortlich. Das wird von den Berufsständen, aber auch vom Gesetzgeber und den Ge-
richten auch entsprechend bewertet. In diesem Sinne sind jedoch als Freiberufler nicht
nur selbständige Freischaffende aufzufassen, wie z. B. Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerbera-
ter, Architekten, Ingenieure, sondern auch die entsprechend ausgebildeten Berufsträger
in Anstellung müssen sich ihrer besonderen Verantwortung bewusst sein. Deshalb legt
das bereits zitierte Leitbild der Freien Berufe auf die Feststellung wert: » In vielen Fällen,
jedoch nicht zwingend, sind Freiberufler auch in wirtschaftlicher Hinsicht selbstständig.
Für die Einordnung der Ausübung einer Tätigkeit als Freier Beruf ist es aber nicht rele-
vant, ob diese selbstständig, in einem Angestellten- oder Beamtenverhältnis erfolgt. Die
Rechtsform des Arbeitsverhältnisses ist irrelevant, sie muss aber die Unabhängigkeit der
fachbezogenen Urteilsbildung des Freiberuflers garantieren « (BfB 2009: 23 f.).

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
34 Hans-Ullrich Kammeyer

Das wird im Allgemeinen auch so wahrgenommen – so würde sich z. B. kein an-


gestellter Arzt im Krankenhaus medizinische Entscheidungen vom Krankenhausdirek-
tor vorgeben lassen. Ist jedoch der Chef selbst Berufsträger (z. B. der Chefarzt) kann er
schon die Entscheidung verändern, übernimmt dann aber auch selbst die Verantwor-
tung (und das kann er auch aufgrund seines Expertenwissens).
Warum ist dies nun für fast alle Freiberufler selbstverständlich, aber bei Ingenieuren
nicht im gleichen Maße rechtlich verankerter Teil des beruflichen Handelns, obwohl
doch gerade ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft besonders hoch ist ? Und
obwohl sie genauso wie andere Freiberufler akademisch ausgebildete Spezialisten mit
besonderen Kenntnissen sind ?
Gerd Hortleder sagt in seinem Buch über » Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs «
aus den 1970er Jahren: » Die Tatsache, dass ein Jahr nach der ersten Mondlandung
keine größeren Studien zum Ingenieurberuf vorliegen, stimmt nachdenklich. Ist sie ein
Glied in der Beweiskette jener, die den Sozialwissenschaften ein getrübtes Verhältnis
zur Wirklichkeit vorwerfen ? In der Tat gibt es keine vernünftigen Gründe, eine Arbeit
zur Soziologie der Apotheker wichtiger zu nehmen als eine zur Soziologie des Inge-
nieurs. Auch macht es stutzig, dass in dem über 500 Seiten starken Werk Ralf Dahren-
dorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland die Bezeichnung » Ingenieur « nicht
einmal auftaucht […]. Andererseits sollte man die Ursachen für die mangelnde Refle-
xion über diesen zentralen Beruf nicht ausschließlich bei den Sozialwissenschaftlern
suchen, für die im Übrigen Dahrendorf nur ein Beispiel ist. Denn die Abstinenz der
Soziologie gegenüber dem Ingenieur spiegelt nur die Rolle wider, die dieser Beruf im
Bewusstsein unserer Gesellschaft bis vor nicht allzu langer Zeit gespielt hat; sie ist ein
Ausdruck der Unfähigkeit des Ingenieurs und seiner Interessenvertretungen, die eigene
Position und seine spezifischen Interessen in dieser Gesellschaft zu erkennen und sie
wirkungsvoll zu artikulieren « (Hortleder 1970: 7). Diese Feststellung gilt bis heute un-
verändert.
Die Bedeutung technischer Entwicklungen für die Gesellschaft ist nicht immer in
dem Maße wahrgenommen worden, wie die daraus bedingten Veränderungen tatsäch-
lich fortschrittlich in das Leben der betroffenen Menschen eingegriffen haben. Auch
dann nicht, wenn sich Technik in den Dienst des Menschen gestellt und von gesamtge-
sellschaftlichem Nutzen war: Ich denke hier an die sozialen Auswirkungen der frühen
Technisierung, der veränderten Mobilität und Versorgung, aber auch an die Lebensver-
längerung, die auf technische Entwicklungen in den Bereichen Medizin und Hygiene
zurückzuführen ist. Alle diese Fortschritte wären ohne technische Entwicklungen und
ohne das Wirken von Ingenieurinnen und Ingenieuren nicht denkbar gewesen. Spätes-
tens mit den rasanten Entwicklungsschritten seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ist der
gewaltige Technikeinfluss beinahe allen bewusst: Technische Entwicklungen bestimmen
nahezu alle unsere Lebensbereiche. Sie erleichtern unseren Alltag und verbessern un-
sere Lebensqualität. Sie sichern unsere Zukunft, stellen uns aber auch vor neue Heraus-
forderungen – einschließlich der Risiken und Nebenwirkungen.
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure 35

Wie aber verhält sich die Gesellschaft gegenüber diesen Tatsachsen ? Welche Auswir-
kungen haben sie auf den Umgang mit Ingenieurinnen und Ingenieuren ? Angesichts
der Bedeutung und Einflussnahme von Technik scheint es umso bemerkenswerter, dass
es bisher ausgeblieben ist, Ingenieurinnen und Ingenieuren gesamtgesellschaftlich den
Stellenwert einzuräumen, der ihrer hohen Verantwortung gegenüber Mensch und Natur
gerecht wird – und sie zugleich auch mit den erforderlichen gesellschaftlichen Kompe-
tenzen und Mitteln ausstattet. Denn wer verantworten soll, muss auch » ja « oder » nein «
sagen dürfen ! Tatsächlich bestanden jedoch bisher in dieser Hinsicht Hemmnisse, die
eigentlich erforderliche Entwicklungen behinderten.
Eine Ursache dafür liegt darin, dass die Ingenieurausbildung anfangs nicht als wirk-
lich akademisch angesehen wurde, sondern sich ihren Platz in den Universitäten erst er-
obern musste. Sichtbares Zeichen dafür ist der – inzwischen eher als besondere Leistung
empfundene – Dr.-Ing., der im Unterschied zu anderen Dr.-Graden groß geschrieben
wird. » Während sich z. B. die Juristen bereits fest etabliert hatten, waren die Ingenieure
ein noch junger Berufsstand, dessen heterogene Zusammensetzung aus den verschie-
densten Statusgruppen zu Vorurteilen geradezu herausforderte. Vielfach wurden sie
einfach nicht ernst genommen oder, und dies traf besonders im Falle der Juristen zu, gar
nicht beachtet « (Hortleder 1970: 76).
Eine weitere Ursache für die genannten Hemmnisse besteht im Habitus der Inge-
nieure, der durch fachspezifische Sozialisation erworben wird. Dieser ist daran orien-
tiert, Probleme zweckrational zu lösen, ohne sie ethisch, d. h. im Hinblick auf die eigene
gesellschaftliche Verantwortung zu hinterfragen. » In dieser Sichtweise erscheint « dann,
wie der Philosoph Rapp sagt, » der technische Wandel als ein von unserem Willen unab-
hängiger naturgesetzlicher Prozess, dem wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind «
(Rapp 1987: 37).
Dass die Beteiligten den technischen Wandel als einen eigenständigen und unabhän-
gigen Prozess auffassen, erscheint bei starker Arbeitsteilung nachvollziehbar. Aber auch
dann entstehen Gesamtprodukte, für die Ingenieure individuell verantwortlich zeich-
nen sollten – und nicht nur eine Firmenleitung.
Edward Teller, der Vater der Wasserstoffbombe, geht so weit zu sagen, dass das, was
machbar ist, auch gemacht werden wird. Wir müssen uns jedoch über die Grenzen des
technisch Machbaren klar werden. Wo die Grenzen des technisch Machbaren noch
lange nicht erreicht sind, können die des Vertretbaren längst überschritten sein. Zwi-
schen diesen Polen bewegen wir uns.
Ich halte in einer Zeit hochkomplexer technischer Entwicklungen bereits die Aus-
sage des Philosophen H. Sachse, dass die Techniker die Entscheidungen vorbereiten
und begründen, die aber durch Decisionmaker [decision making] aus Gesellschaft und
Politik zu treffen wären, für überaus bedenklich. Denn wir werden – worauf einige Vor-
gänge der jüngeren Vergangenheit verweisen – immer wieder erleben, dass Techni-
ken gegenüber geplanten Szenarien aus dem Ruder laufen, und gewohnte Formen der
Planung von Abläufen nicht mehr hinreichen. Spätestens dann ist technischer Sach-
36 Hans-Ullrich Kammeyer

verstand bei den eventuell kurzfristig zu treffenden Entscheidungen nötig. In solchen


Fällen hilft nur der Fachmann, der Ingenieur. Dagegen ist jeder politische und gesell-
schaftliche Decisionmaker, sei er noch so hoch geschätzt, fehl am Platze, weil als Laie
inkompetent. Technische Folgen weit möglichst vorausplanen, aber auch im Augenblick
möglicher Sondersituation technisch sinnvoll reagieren, können nur bestens ausgebil-
dete, fortgebildete, erfahrene und verantwortungsbewusste Ingenieure an den entschei-
denden Stellen.
Deshalb folge ich dem Philosophen Kenneth D. Alpern, der » eine strenge Auffassung
von der moralischen Verantwortung verteidig[t], die von berufstätigen Ingenieuren « zu
tragen ist, » die gefordert sind, bereitwillig größere Opfer zu bringen, als sie üblicher-
weise von anderen Individuen erwartet werden « (Alpern 1987: 179). Dieses Denken ist
in eine Reihe von Ethik-Kodizes eingegangen, die uns für eine sinnvolle Umsetzung
dieser Prinzipien zur Verfügung stehen. Voraussetzung ist jedoch die tatsächliche An-
erkennung der echten Freiberuflichkeit des Ingenieurs – auch in unseren Köpfen. Dazu
gehört selbstverständlich an erster Stelle der Freiraum für eigenverantwortliches Han-
deln. Für Ingenieurinnen und Ingenieure bedeutet dies: die Belange verantwortlichen
Handelns sowohl auf eine rational begründete und ebenso verantwortungsbewusst-mo-
ralische Entscheidungsgrundlage zu stellen.
Gerade im Hinblick auf die Ingenieurverantwortung müssen wir unser Augenmerk
in Zukunft verstärkt auf das Vermitteln der Grundsatzfragen verantwortlichen Han-
delns in der Ingenieurausbildung richten. Hier hilft nicht die einzelne Ethikvorlesung.
Die Aspekte von Verantwortlichkeit und Moral sollten in alle Vorlesungen und Übungs-
arbeiten einer qualifizierten akademischen Ausbildung für Ingenieurinnen und Inge-
nieure einfließen.
Jeder Einzelne sollte die Kompetenz erwerben, sich bewusst mit seiner persönlichen
Verantwortung in seinen Entscheidungsfindungen auseinanderzusetzen. Das technische
Wissen um das Bewusstsein für Verantwortung zu ergänzen und damit eine fachbezo-
gene Ethik zum Gegenstand der Lehre in den ingenieurwissenschaftlichen Studiengän-
gen zu machen, nutzt den handelnden Ingenieuren ebenso wie der Gesellschaft. Die
Bedingungen dafür sind: 1. die gesellschaftliche Absicherung durch eine klare Defini-
tion, wer denn Ingenieur im Sinne dieser Verantwortlichkeit ist, 2. Regelungen zu Füh-
rung und Kontrolle in besonderen Bereichen, die durch großes Verantwortungspoten-
tial gekennzeichnet sind, durch den Staat oder durch von ihm autorisierte Institutionen,
3. vielleicht notwendige Versicherungen und 4. die tatsächliche Handhabe und Möglich-
keit für den einzelnen Ingenieur, » Nein « sagen zu können, wenn es darauf ankommt.
Eine hochtechnisierte Gesellschaft kann auf eine Diskussion um Verantwortung und
Werte nicht mehr verzichten. Deshalb möchten wir den interdisziplinären Austausch
über diese Fragen fördern und beleben.
Grundsätzliches zur Ethik für Ingenieure 37

Literatur
Alpern, Kenneth D. (1987): » Ingenieure als moralische Helden «. In: Hans Lenk/Günter Ropohl
(Hg.), Technik und Ethik, Stuttgart: Philipp Reclam. S. 177 – 193.
BfB [Bundesverband der Freien Berufe] (2009): Leitbild der freien Berufe. Berlin.
Hortleder, Gerd (1970): Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Rapp, Friedrich (1987): » Die normativen Determinanten des technischen Wandels «. In: Hans
Lenk/Günter Ropohl (Hg.), Technik und Ethik, Stuttgart: Philipp Reclam. S. 31 – 48.
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung

Harald Noske
Vorstand der Stadtwerke Hannover (enercity)

Verantwortung von Ingenieuren offenbart sich als ein spannendes und facettenreiches
Thema. Dies aus Sicht der beruflichen Praxis zu diskutieren, hat einen besonderen Reiz.
Als ich im Frühjahr begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, die öffentliche De-
batte gerade geprägt von » Stuttgart 21 « – aktuell steht das Thema Energiewende in der
medialen öffentlichen Wahrnehmung ganz vorn. Ich fragte mich in der Vorbereitung
damals, wie ich eine Brücke bauen könnte von meiner Rolle als Manager in der Ener-
giewirtschaft hin zu einer eher grundsätzlichen Sicht auf den Begriff der Verantwortung.
Doch die Ereignisse in Fukushima führen sie uns konkret und plastisch vor Augen. Die
Frage, wofür Wissenschaftler und Ingenieure in ihrem Handeln verantwortlich sind ist
damit aktueller denn je.

I. Roter Faden

Aus eigener Erfahrung würde ich sagen, dass » Roter Faden «


für den angehenden Ingenieur das Thema Ver-
antwortung eher abstrakt und kaum fassbar ist. Ingenieur
Anfang der 1980er Jahre, als ich mit dem Inge-
nieurstudium fertig wurde, schauten wir voller Verantwortung
Tatendrang und Zuversicht auf das vor uns lie- Orientierung
gende Arbeitsleben, wir wollten durchstarten
persönliche
und einfach nur erworbenes Wissen praktisch Erfahrungen

anwenden. Die Grundstimmung war seiner-


zeit auch getragen von einer positiven Sicht auf
Technik sowie der Faszination vom grenzenlo-
sen Nutzen technologischer Entwicklungen.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
40 Harald Noske

Die große Überschrift war, in Anlehnung an die erste Zeile des Ingenieurliedes von
Heinrich Seidel:

Dem Ingenieur ist nichts zu schwere –


Er lacht und spricht: » Wenn dieses nicht, so geht doch das ! […] «1.

Etwas salopper hat dieser Satz sogar Eingang in die Comic Welt Disneys gefunden. Dort
wurde dem genialen Erfinder Daniel Düsentrieb der Satz in den Mund gelegt: » Dem In-
genieur ist nix zu schwör ! «
Wenn wir über die Verantwortung von Ingenieuren nachdenken, fallen uns sofort
eine ganze Reihe von Fragen ein:

• Wofür genau trage ich eigentlich Verantwortung und woran merke ich, dass ich sie
trage ?
• Welche Normen und Regeln gelten eigentlich für mich und mein Handeln ?
• Wie geht es mit der technischen Entwicklung weiter ? Wohin verschiebt sich die
Grenze des Machbaren durch die Grundlagenforschung ?
• Welche Rolle spiele ich/spielt unser Berufsstand in dieser Gesellschaft ?

Wann entsteht Verantwortung ganz konkret ? – Sie entsteht unmittelbar immer dann,
wenn es gilt eine Entscheidung zu treffen, die mit Folgen für Sicherheit, Wirtschaftlich-
keit, Umwelt und den arbeitenden Menschen einhergeht. Diese Folgen sind immer ge-
geben, da der Ingenieur fast immer mit dem Einsatz und der Bündelung von Kräften
und Energien zu tun hat.

II. Der Ingenieur in der Gesellschaft

Wenn wir zurückschauen zu den begrifflichen


Wurzeln des Ingenieurs, so landen wir im latei-
nischen und altfranzösischen Wortschatz: » In-
genium « steht für Scharfsinn und Begabung.
Der Begriff findet sich z. B. wieder im engli-
schen Wort » engine « für Maschine bzw. sinn-
reiche Erfindung. Also könnte man es so sagen:
Ingenieure sind Menschen, die mit ihren Fä-
higkeiten von Logik und Berechnung sinnvolle
technische Anwendungen schaffen. Diese For-

1 Akademischer Verein Hütte, mit Verweis auf das » Hüttenliederbuch (1904) «: http://www.av-huette.de/
seidel.html
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 41

mulierung zeigt: Ingenieurmäßiges Arbeiten


ist in der Gesellschaft überall präsent.
Wie groß ist denn die Bedeutung der Inge-
nieure in unserer Gesellschaft ? Bei der Frage
muss man meines Erachtens zwischen der
nackten Zahl und der gesellschaftlichen Be-
deutung unterscheiden.
Zunächst die nackte Zahl: Rund 750 000
Ingenieure gibt es zurzeit in Deutschland.
Das heißt, jeder sechzigste Erwerbstätige in
Deutschland ist Ingenieur ! Entspricht das der Wahrnehmung im gesellschaftlichen All-
tag ? Der Vergleich mit anderen Berufsständen zeigt interessante Konstellationen2.
Der Ingenieur gehört also zu den zahlenmäßig am stärksten vertretenen Berufsgrup-
pen. Die gefühlte Bedeutung und Präsens in der gesellschaftlichen Diskussion ist aber
gering. Hier kommen z. B. Ärzte und insbesondere Juristen viel häufiger vor. Die von
Medien und Gesellschaft signalisierte Wertschätzung gegenüber der Arbeit der Inge-
nieure erscheint im Vergleich zu gering.
Die Ingenieure müssen offensichtlich an ihrer Wahrnehmung arbeiten und kommu-
nikativer werden.
Der Ingenieur und seine Arbeit stehen, trotz mangelhafter Wahrnehmung seiner tat-
sächlichen Bedeutung, mitten in unserer Gesellschaft. Ich möchte dies anhand von drei
Begriffspaaren beleuchten, welche die Arbeit der Ingenieure nach meiner Erfahrung
recht gut beschreiben:

A. Forscher und Entwickler:


Der Ingenieur vermittelt zwischen den Naturwissenschaften und der (technischen)
Wirklichkeit, indem er physikalische Gesetzmäßigkeiten für praktische Anwendung
nutzbar macht. Dabei bezieht er handwerkliche Präzision genauso mit ein wie künstle-
rische Inspiration. Neben praktischem Nutzen achtet er im Idealfall auch auf den Her-
stellungsprozess und die Ästhetik eines Produktes. Die Produktbeispiele reichen vom
Hightech-Automobil bis zum MP3-Player, von der Windenergieanlage bis zum Design-
Mixer.

B. Umsetzer und Optimierer:


Der Ingenieur ist zumeist jemand, der Ideen, Menschen und Geld zusammenbringt. Er
ist derjenige, der Ideen aufgreift, ausgestaltet und umsetzt. Er ist häufig derjenige, der
die Menschen begeistert an dieser Idee und ihrer Umsetzung mitzuarbeiten. Und, er ist
derjenige, der potentiellen Geldgebern vermittelt, warum es sinnvoll und auch wirt-

2 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsmarkt für Akademiker/innen in Deutschland, Arbeitsmarktbe-


richterstattung, Ingenieurinnen und Ingenieure. Nürnberg 2010.
42 Harald Noske

schaftlich ist, in diese Idee zu investieren – warum es gut und nützlich ist, Innovationen
aus Ideen zu entwickeln.
Planen, prüfen und berechnen, Statik, Dynamik und Barwert; schließlich Einbezie-
hung des menschlichen Verhaltens – das sind die Fähigkeiten und Dimensionen, in de-
nen sich ein Ingenieur bewegen muss, um Apparate zu bauen oder Verfahren zu ent-
wickeln oder beides in ihrer Funktion und/oder Wirtschaftlichkeit zu optimieren.

C. Darsteller und Erklärer:


Der Ingenieur, das ist der, der mit einem leeren Blatt Papier und einem Bleistift gleicher-
maßen umgeht wie mit den IT-Werkzeugen und Prozessen der Computer Aided Techno-
logies (CAT). Er ist derjenige, der Pläne, Ideen und Sachverhalte grafisch darstellen und
durch Visualisierung von Zusammenhängen veranschaulichen kann. Er verknüpft Zah-
len, Daten und Fakten zu Erkenntnissen und leitet daraus funktionierende Systeme und
komplexe Strukturen ab. Er » kann « Komplexität. Er kann sie analysieren, durchschauen,
darstellen und erklären.
Gerade die letzte Eigenschaft macht ihn zum idealen Erklärer und Begründer. Nur,
um diese Funktion in der Gesellschaft, die einen riesigen Bedarf daran hat, intensiver zu
nutzen, muss er lernen, seine » Technik-Ecke « öfter zu verlassen und gezielte Kommu-
nikation zu betreiben.
Ingenieure sollten viel mehr außerhalb der » Technik-Ecke « und in engerer Verknüp-
fung mit Kaufleuten und Juristen darlegen und erklären, was sie warum wie tun !

III. Notwendige Balance der Ingenieursarbeit

Wenn man mitten im Leben steht als Ingenieur – mitten in dieser modernen Welt mit
ihren rasanten Entwicklungen auf allen Ebenen des täglichen Lebens – woran kann man
sich orientieren ? – Woran macht sich Verantwortung ganz praktisch fest ? – Wie muss
die Arbeit und das Arbeitsergebnis beschaffen sein ?
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 43

A. » legal «
Zu allererst haben wir einen gesetzlich-normativen Rahmen, der auf nationaler, euro-
päischer und auch internationaler Ebene gilt. Gesetze und Verordnungen stellen einen
guten und unverzichtbaren Handlungsrahmen dar. Alles was wir tun, muss dem An-
spruch genügen legal zu sein, es muss sich aus dem geltenden gesetzlich-normativen
Rahmen heraus rechtfertigen lassen. Alle Ingenieurprodukte müssen sicher und zuver-
lässig handhabbar sein. Wo dazu Ausführungsdetails von Nöten sind, müssen techni-
sche Regelwerke geschaffen und gepflegt werden, die den Stand der Technik oder die
allgemein anerkannten Regeln der Technik (aaRdT) beschreiben. Beispiele hierfür sind
die Regelwerke des DIN, VDE oder DVGW. Auf diese wird auch häufig in Gesetzen ver-
wiesen. Derartige Regelwerke sind lebendiger Ausdruck der technischen Selbstverwal-
tung, die sich Ingenieure als Rahmen geben, und der gesetzlich anerkannt ist.

B. » rational «
Daneben gilt es, Entscheidungen nach objektiven Kriterien zu fällen, sie den Gesetzen
der Logik folgen zu lassen und sie mit einem konsistenten Zahlen- und Rechenwerk ar-
gumentativ zu fundieren. Alle planbaren Entscheidungen sollen (im Idealfall) streng ra-
tional begründet sein.
Dies gilt für spontane, nicht planbare Entscheidungen natürlich gleichermaßen. So-
fern die hier dominierende » Bauch-Entscheidung « auf einem hohen Maß an Erfahrung
beruht, ist auch diese als hinreichend rational einzustufen.

C. » legitim «
Aber reicht das, reichen die Perspektiven der Legalität und der Rationalität aus, um
verantwortlich Entscheidungen zu treffen ? Geht es lediglich darum, unser Tun zu
rechtfertigen, oder gibt es weitere Dimensionen wie die Gewissensfrage ? Neben Le-
gal und Rational steht als dritte Dimension bzw. Perspektive noch Legitim im Raum.
Eine Entscheidung, eine Handlung muss insofern auch, außer dass sie gerechtfertigt
und begründbar, geboten und angemessen ist, auch ethisch verantwortbar sein. Deshalb
begann vor rund sechzig Jahren, im Jahr 1950, das Bekenntnis der Ingenieure im Verein
Deutscher Ingenieure (VDI), mit folgenden Formulierungen:

» Der Ingenieur übe seinen Beruf aus


in Ehrfurcht vor den Werten jenseits von Wissen und Erkennen
und in Demut vor der Allmacht,
die über seinem Erdendasein waltet. «3

3 Jens Reese (Hrsg.): Von der Anstrengung, der Technik ein Gesicht zu geben. In: Ders. (Hg.): Der Inge-
nieur und seine Designer, Berlin-Heidelberg-New York 2005: Springer. S. 71.
44 Harald Noske

Diese pastorale Sprache und Sicht ist uns heute vielleicht fremd. Sicherlich hallt auch
der Schrecken des 2. Weltkrieges in diesem Text nach. Und doch reiht er sich ein in das
Bemühen von Menschen, universelle moralische Grundsätze für ihren Berufsstand zu
formulieren – was beispielsweise mit dem hippokratischen Eid der Ärzte um 400 v. Chr.
anfängt.
Man kann diesen ethischen Aspekt auch etwas kürzer und moderner formulieren,
wie es Helmut Schmidt in seiner Rede vor der Max-Plank-Gesellschaft vom Januar des
Jahres 2011 getan hat: » Wissenschaft ist […] eine zur sozialen Verantwortung verpflich-
tete Erkenntnissuche «4. Dieser Satz war an die Forschergemeinschaft gerichtet, gilt aber
in der Formulierung » zur sozialen Verantwortung verpflichtet « auch in gleichem Maße
für uns Ingenieure als Vertreter der Ingenieurwissenschaften.
Das eigene Handeln diesen drei abstrakten Ideen von legal, rational und legitim fol-
gen zu lassen ist schon eine echte Herausforderung. Doch reicht das aus ?
Schauen wir uns das konkrete Arbeitsfeld der Ingenieure in der täglichen, prakti-
schen, modernen Welt genauer an !

• Der Ingenieur fungiert als Nutzenschaffer und Problemlöser für technische und
wirtschaftliche Aufgaben für sein Unternehmen.
• Der Ingenieur ist eingebunden in eine Welt des ewigen Wachstums-Anspruches und
des dauernden Innovation-Zwanges.
• Der Ingenieur hat mehr denn je wirtschaftlichen Zwängen zu folgen als technischen
Möglichkeiten.
• Der Ingenieur benötigt für seine Arbeit Inspiration und handwerkliche Hilfe von
den Menschen und Mitarbeitenden seiner Organisation.

Diese Betrachtungen zeigen, dass das Handeln des Ingenieurs von zahlreichen Abwä-
gungen geprägt ist, z. B. zwischen Nutzen und Aufwand, zwischen Wirkung und Neben-
wirkung, zwischen Qualität und Kosten, zwischen Funktion und Risiko. Kurzum, das
Denken und Handeln des Ingenieurs muss neben legal, rational und legitim auch wirt-
schaftlich und sozial abgewogen sein. – Das ist nun die vollständige Beschreibung der
Verantwortung von Ingenieuren !

4 Max-Planck-Gesellschaft, Rede von Helmut Schmidt anlässlich des Jubiläums 100 Jahre Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft, Berlin, 11. Januar 2011: http://www.mpg.de/990353/Verantwortung_der_Forschung?page=1
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 45

IV. Empfehlungen aus meiner persönlichen Praxiserfahrung

Wie nimmt man Verantwortung nun in der beruflichen Praxis wahr ? Geht das automa-
tisch oder » auf Knopfdruck « ?
Die Wahrnehmung von Verantwortung entwickelt sich für den Ingenieur langsam
und steigt parallel zu seiner Entscheidungskompetenz an. Am Anfang entscheidet er
vielleicht über ein Leistungsmerkmal einer Maschine oder die Auslegung eines Zukauf-
teils, später über die Ausgestaltung eines Arbeitsprozesses oder den Einsatz von Mitar-
beitenden für eine Arbeitsaufgabe. Beim weiteren Erklimmen der Karriereleiter kön-
nen auch Produktentwicklung oder strategische Unternehmensausrichtung zu Ihren
Entscheidungen gehören. Spätestens dann tragen Sie die faktische Verantwortung für
wichtige Lebensumstände zahlreicher Mitarbeitenden, den Erfolg oder Misserfolg Ihrer
Kunden, Ihres Unternehmen und vielem mehr.
Wie wächst man nun am besten in diese Verantwortung hinein ? Wie wird Verant-
wortung zur Lust und nicht zur Last ? Ich will meine beruflichen Erfahrungen in folgen-
den Empfehlungen für Ingenieure zusammenfassen:

1) Verschaffen Sie sich immer ein solides Fachwissen zu den Themen und Technologien
Ihres Aufgaben- und Verantwortungsbereiches.
2) Achten Sie stets auf die Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen.
Beachten Sie Regelwerke als die gute Empfehlung aus gesammelter Erfahrung und
weichen Sie nur im Ausnahmefall und mit sehr guten Begründungen davon ab.
3) Hören Sie Ihren Auftraggebern sehr genau zu, um Leistungsanforderungen und
Wünsche exakt kennen zu lernen. Dokumentieren Sie diese und scheuen Sie sich
nicht nachzufragen. Eine exakt spezifizierte Aufgabenstellung ist der halbe Erfolg für
das Arbeitsergebnis.
4) Nutzen Sie für Ihre eigene Ingenieursarbeit jede nur mögliche Verknüpfung mit Kol-
legen anderer Disziplin und Ausbildung. Tauschen Sie Ihre jeweiligen Sichten und
46 Harald Noske

Beurteilungsperspektiven aus. Verlassen Sie so häufig wie möglich Ihre » Technik-


Ecke «. Interdisziplinäre Zusammenarbeit erweitert den Wahrnehmungs- und Be-
wertungshorizont.
5) Hinterleuchten Sie jede anstehende Entscheidung auf die Wirkung und die Neben-
wirkungen für das Produkt, den Prozess, die damit arbeitenden Menschen und das
wirtschaftliche Ergebnis. Schauen Sie immer über den Tellerrand hinaus.
6) Haben Sie Entscheidungen zu treffen, auf der Basis von Arbeits- und Ergebnisbe-
richten von Mitarbeitenden oder zuarbeitenden Organisationen, so nutzen Sie Ihr
Fach- und Methodenwissen zu logischen Hinterfragungen und Plausibilitätsprüfun-
gen. Nötigen Sie Ihr Gegenüber, seine Empfehlungen detailliert zu begründen. Kurz
gesagt: Machen Sie immer wieder punktuelle » Tiefbohrungen «, um den Dingen und
Zusammenhängen auf den Grund zu gehen und die notwendige Balance (s. o.) zu
überprüfen.
7) Achten Sie immer auf die gesellschaftspolitische und soziale Relevanz bzw. Einord-
nung Ihrer Entscheidungen und Positionierungen. Bedenken Sie vorausschauend
die weiteren Auswirkungen.
8) Erklären Sie stets Ihren Mitmenschen und Mitarbeitenden, was Sie warum wie tun.
Schaffen Sie Transparenz über die Beweggründe Ihrer Handlungen und Entschei-
dungen. Nur wer Anderen die Dinge erfolgreich erklären kann, kann seiner Sache
sicher sein !

Wenn Sie diese Empfehlungen stets beachten, wachsen Sie mit Sicherheit ohne Schwie-
rigkeiten in die praktische Wahrnehmung der Ingenieurs-Verantwortung hinein. Es
wird ein natürlicher, ein organischer Prozess sein.
Erlauben Sie mir zum Abschluss eine besondere Betonung des letzten Punktes. Ge-
rade » Stuttgart 21 « oder die wichtigen Entscheidungen zur Energiewende in Deutsch-
land machen deutlich, dass auch (und vielleicht gerade) die Zunft der Ingenieure allzu
lange schweigend, ohne Erklärungen zu geben, ihren Job gemacht hat – und dabei ihre
Empfehlungen aus persönlicher Praxiserfahrung 47

wichtige Rolle als Erklärer und Darsteller von Sachverhalten und Zusammenhängen
vernachlässigte. Als Ergebnis werden ingenieur-technische Selbstverständlichkeiten
von großen Teilen der Bevölkerung nicht erkannt, nicht verstanden und am Ende nicht
» Wert geschätzt «. Auch die Ingenieure haben es in der Hand, dieses wieder zu ändern –
durch lückenlose Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung !
Nachhaltigkeit als Herausforderung

Rainer Heimsch
Ing.-Büro Rainer Heimsch VDI/AGÖF, Rastede und Vechta

In den » Ethischen Grundsätzen des Ingenieurberufs « hat der Verein Deutscher Inge-
nieure (VDI) u. a. folgende Handlungsanleitungen formuliert1:

Die Ingenieurinnen und Ingenieure


• » bekennen sich zu ihrer Bringpflicht für sinnvolle technische Erfindungen und nachhalti-
ge Lösungen. «
• » sind sich bewußt über Zusammenhänge technischer, gesellschaftlicher, ökonomischer
und ökologischer Systeme und deren Wirkung in der Zukunft «.

Und sie

• » vermeiden Handlungsfolgen, die zu Sachzwängen und zur Einschränkung selbstverant-


wortlichen Handelns führen. «

Betrachten wir nun unsere Umwelt und deren latente Zerstörung, ist festzustellen, dass
weder der VDI noch die Ingenieure – mit wenigen Ausnahmen – diesen Ansprüchen
gerecht werden.
Diese zugegeben ketzerische Aussage zu bestätigen, soll beispielhaft an drei Themen-
feldern versucht werden.
Doch zunächst die Grundlage für die Beurteilung nachhaltigen Wirkens. Der Begriff
stammt ursprünglich aus der Forstwirtschaft: Es wird nur soviel Holz entnommen, wie
nachwachsen kann. Die heutige Definition basiert auf einem Bericht der Vereinten Na-
tionen aus der » Brundtland-Kommission «, die 1983 einberufen wurde. In dem Bericht
steht eine neue Definition: » Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürf-

1 VDI Verein Deutscher Ingenieure: Ethische Grundsätze des Ingenieurberufs. Düsseldorf, 2002.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
50 Rainer Heimsch

nisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre
eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. «
Ins deutsche Grundgesetz ist daraus im Artikel 20a aufgenommen: » Der Staat
schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebens-
grundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Ge-
setzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt
und Rechtsprechung «2.
Nun zur Wirklichkeit. Um die klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zu er-
reichen, dürfte jede Person in Deutschland 2,5 t CO2 pro Jahr verursachen. Tatsächlich
sind dies jedoch derzeit 10,63 t/Jahr (Bild 1).
Durch die bisherigen Energiesparmaßnahmen, basierend auf Gesetzen und Verord-
nungen – am bekanntesten ist die Energieeinsparverordnung (EnEV) – wurde zwar der
Raumwärmebedarf pro m² seit 1960 von ca. 220 auf 120 kWh/m²a verringert, gleichzei-
tig stieg jedoch die Wohnfläche pro Kopf von ca. 20 auf ca. 56 m² an. Im Ergebnis führt
dies dazu, dass der Raumwärmebedarf in kWh pro Kopf und Jahr mit ca. 7 500 kWh im
Jahr 2005 deutlich höher war als 1960 mit ca. 4 000 kWh !3 (Bild 2).
Haben Architekten und Ingenieure darüber hinweggesehen, um sich besser selbst
zu verwirklichen, höhere Honorare zu erzielen ? Oder haben sie es einfach nicht wahr-
genommen, weil sie sich für diese Zusammenhänge nicht ausreichend interessierten ?
Aus diesem Fehlverhalten heraus haben sich drängende Probleme unserer Zeit ent-
wickelt. Sehr übersichtlich und einprägend hat dies Dr.-Ing. B. Krick 2011 zusammen-
gefasst4 (Bild 3). Aufgrund der Lebensweise, insbesondere in den sogenannten » hoch-
entwickelten Gesellschaften « und der daraus resultierenden Phänomene ansteigender
CO2-Konzentration in der Atmosphäre mit steigenden Temperaturen und Meeresspie-
gel, Verlust von Siedlungs- und Ackerflächen und in der Folge Vergrößerung des Hun-
gers, zunehmende Flüchtlingsströme, Reduzierung der Biodiversität sowie Ressour-
cen- und Verdrängungskriege lässt sich nachweisen, dass u. a. die oben postulierten
» Ethischen Grundsätze des VDI « also Anforderungen an Ingenieure nicht massiv bzw.
nicht ausreichend genug in die öffentliche Diskussion eingebracht wurden. Warum ?
Die Alt-68-er haben ihre Elterngeneration immer wieder danach gefragt, warum sie
so wenig gegen das Nazi-Regime und dessen fürchterliche, menschenverachtende Po-
litik unternommen haben. Die Antwort war oft, » wir haben dies doch nicht gewusst «
oder » was hätte man denn dagegen tun können, bei aktivem Widerstand war doch das
eigene Leben in Gefahr. «
Dies soll hier – auch aus Zeitgründen – in seiner Gesamtproblematik zunächst nicht
weiter vertieft werden. Greift man jedoch die Rechtfertigung » mangelnde Information «

2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 05. 1949, zuletzt geändert durch Art. 1 G v.
11. 07. 2012 | 1478.
3 Santarius, T.: Der Rebound-Effekt. Wuppertal, 2012.
4 Krick, B. Dipl.-Ing.: Möglichkeiten zur weiteren Optimierung von Strombedarf, Hülle und Haustechnik
Nachhaltigkeit als Herausforderung 51

Bild 1 CO2-Fußabdruck pro Person und Jahr in Deutschland (Quelle: klimAktiv CO2-Rechner,
01. 04. 2014)

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Bild 2 Raumwärmebedarf in kWh pro Kopf und Jahr (Quelle: T. Santarius. Der Rebound-Effekt.
Wuppertal 2012)
52 Rainer Heimsch

Bild 3 Drängende Probleme unserer Zeit (Quelle: B. Krick 2011)

Bild 4 Energiekonzept der Bundesregierung vom 28. 09. 2010


Nachhaltigkeit als Herausforderung 53

heraus, so ist festzustellen, dass dieses Argument für uns heute nicht mehr zutrifft. Wer
will, kann sich in einem Maße informieren, dass er/sie die Problemstellungen in vielen
Bereichen erkennen müsste.
So ist bekannt, dass die in der Politik angestrebten Ziele der CO2-Reduzierung bis
2020 bzw. 2050 mit den eingeschlagenen Pfaden nicht erreicht werden kann. 2011 be-
trug der Anteil erneuerbarer Energien 12,2 %. Ein guter Wert – er reicht aber nicht
aus, ist nicht nachhaltig genug, um die im Energiekonzept der Bundesregierung vom
28. 09. 2010 beschlossenen Ziele auch nur annähernd zu erreichen (Bild 4).

***

Doch kommen wir zu den angekündigten drei Beispielen für das vielfältige unverant-
wortliche Handeln von Ingenieuren, Architekten und Wissenschaftlern.

Erstes Beispiel: Wissenschaftlich erwiesen ist, dass die Sonne 2 850-mal mehr Energie auf
die Erde sendet als derzeit genutzt wird. Derzeit ist ungefähr 1 % davon technisch nutz-
bar, immerhin noch sechsmal mehr als die Weltbevölkerung heute benötigt5.
Nachhaltiges Handeln ist mehr denn je gefordert. In vielen Schubladen » schmoren «
die Lösungen, werden aber immer noch von kurzfristigen ökonomischen Interessen
verdrängt. Dies lässt sich an dem Beispiel » nachwachsende Rohstoffe « derzeit beson-
ders drastisch verdeutlichen. Monokulturen in unseren Regionen führen zur » Ver-
maisung « der Landschaft. Überall schießen Biogas-Anlagen wie Pilze aus dem Boden
mit dem einzigen Ziel, Strom zu erzeugen. Die dabei anfallende Wärme kann vielfach
nicht genutzt werden und wird über Notkühler in die Luft abgegeben. Alles Produkte
nicht nachhaltigen Handelns von Industrie, Ingenieuren, Spekulanten und Landwirten
(Bild 5).
In anderen Erdteilen werden Ur- und Regenwälder zerstört, um z. B. Palmöl für Bio-
kraftstoffe oder Sojabohnen für unsere Fleischmastbetriebe anzubauen. Getreide, Mais,
Zuckerrüben – oft einzige Grundnahrungsmittel für viele Menschen – werden für die
Gewinnung von » Bio-Ethanol « eingesetzt, um u. a. den extrem hohen Spritverbrauch
im Verkehrsbereich abzudecken (Bild 6).

Zweites Beispiel: Heute wird die energetisch zu erreichende Qualität eines Gebäudes im
Wesentlichen über den Primärenergiebedarf » Qp «, d. h. den Verbrauch in Kilowattstun-
den pro Jahr( kWh/a) bewertet.
Untersucht man dieses Verfahren näher, stellt man schnell fest, dass die hierfür fest-
gesetzten sogenannten Primärenergiefaktoren, z. T. willkürlich politisch aus kurzfristi-
gen Interessen heraus festgelegt wurden.

5 Greenpeace International: Energy revolution. A sustainable pathway to a clean energy future for Euro-
pe. 2005.
54 Rainer Heimsch

Bild 5 Biogas-Blockheizkraftwerk mit Notkühlung

Bild 6 Zerstörung von Regenwald, » Vermaisung « der Landschaft


Nachhaltigkeit als Herausforderung 55

Bild 7 Vergleich anlagentechnische Verluste

Um ein Gebäude mit der erforderlichen Wärme zu versorgen ist – unabhängig vom
Heizsystem – eine Wärmemenge von ca. 400 000 kWh/a erforderlich. Beim Vergleich
von fünf verschiedenen technischen Varianten in der Wärmeerzeugung weist die Va-
riante 3 (Holzpellet-Anlage mit Warmwasser-Solaranlage) die höchsten anlagentechni-
schen Verluste auf (Bild 7).
Vergleicht man den Primärenergiebedarf der fünf Varianten, steht plötzlich die (bei
den anlagentechnischen Verlusten) schlechteste Anlage als beste da. Warum ist dies so ?
Die Erklärung liefert die Betrachtung der Primärenergiefaktoren. In Deutschland wer-
den Pellet-Anlagen mit einem Primärenergiefaktor von 0.2 bewertet, in der Schweiz da-
gegen mit einem Faktor von 0.8. Setzt man nun diesen Faktor 0.8 in das oben erwähnte
Beispiel des Primärenergieverbrauches ein, so verändert sich die Reihenfolge, wie dies
in Bild 8 zu sehen ist, dramatisch. Variante 2 und 4 schneiden (mit dem Schweizer Fak-
tor) deutlich besser ab als Variante 3. Schließt man in diese Betrachtung dann noch die
CO2-Bilanz bei der Stromerzeugung ein, schließt die Variante 4 mit Abstand am bes-
ten ab. Wo bleibt die Reaktion der Fachleute und der Fachverbände auf diese politisch
durchsichtige Aktion ?
56 Rainer Heimsch

Bild 8 Vergleich Primärenergiebedarf mit unterschiedlichen Primärenergiefaktoren

Als drittes Beispiel dient ein lokaler Schildbürgerstreich, das sogenannte » Schlaue Haus «
in Oldenburg6 (Bild 9).
Im Rahmen » Oldenburg – Stadt der Wissenschaft 2009 « entstand die Idee eines ste-
ten Dialoges zwischen Wissenschaft und Bürgern. Hierfür wurde in bester zentraler
Lage ein abbruchreifes Baudenkmal (Fachwerkhaus) incl. Neubau aufwändig zum
» Schlauen Haus « ausgebaut, in dem Forschungsergebnisse aus den Bereichen Energie/
Klima und Wohnen/Leben unterhaltsam vermittelt werden sollen. Eine denkmalge-
rechte Sanierung bei dem Baudenkmal war aus konstruktiven/statischen Gründen nicht
möglich. Nur die Fassade wurde ansatzweise erhalten.
Die offiziell veranschlagten Baukosten wurden mit 3,5 Millionen Euro angesetzt, eine
von Fachleuten immer kritisch hinterfragte Summe.
Die Stadt Oldenburg zog sich aufgrund eines Ratsbeschlusses aus dem Projekt zu-
rück, Träger wurde nunmehr eine gemeinnützige GmbH, ein Zusammenschluss von
Universität Oldenburg und Jade Hochschule. Demokratisch gefasste Beschlüsse aus bei-
den Hochschulgremien liegen nach unserer Kenntnis hierfür nicht vor. Die Baukosten
sind nun um über 1,5 Millionen Euro gestiegen. Wer trägt diese Kosten ? Der Steuer-
zahler.

6 Konzept von 2008 der Stadt Oldenburg


Nachhaltigkeit als Herausforderung 57

Bild 9 Das Schlaue Haus Oldenburg

Neben der Tatsache, dass ein bei solchen Projekten üblicherweise durchgeführter Ar-
chitektenwettbewerb fehlte, ist es fachlich völlig unverständlich, dass statt des maro-
den Fachwerkhauses nicht eines der dringend sanierungsbedürftigen Gebäude der Jade
Hochschule zu einem nachhaltigen und energieeffizienten » Schlauen Haus « umgebaut
wurde. Hier hätte, ebenfalls in recht zentraler Lage, sowohl für die Ausbildung der Stu-
dierenden in Praxis als auch für die Reduzierung von hohen Energieverlusten beispiel-
haft viel getan werden können.
Wo waren die Professoren, Studierenden, Architekten und Ingenieure aus der Re-
gion ? Ernsthaftes Aufbegehren gab es nur zu der Frage des fehlenden Architektenwett-
bewerbes aber nicht zur Wahl des Gebäudes. Was ist nachhaltig an diesem Projekt ?

***

» Nachhaltigkeit als Herausforderung « – warum werden zu wenige Ingenieure dieser


Fragestellung gerecht, was riskieren sie ?
Nicht ihr Leben wie z. B. im Widerstand im » Dritten Reich « oder in anderen totalitä-
ren Ländern. Vereinfacht gesagt im schlimmsten Fall ihren Arbeitsplatz, aber – und dies
zeigt meine eigene Erfahrung – kann dies auch völlig neue, spannende Perspektiven für
nachhaltiges Handeln eröffnen.
58 Rainer Heimsch

Im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universi-


tät Stuttgart in den Jahren 1974 – 1978 war ich sowohl im Widerstand gegen Atomkraft-
werke als auch im Umweltschutz aktiv. Meine Kenntnisse und Erfahrungen habe ich
mit einsetzen können, um Bürgerinitiativen, Presse und Öffentlichkeit mit Informa-
tionen, Material und Vorträgen in ihrer Arbeit zu unterstützen. Darüber hinaus war
ich gewerkschaftlich orientiert, war Mitglied im Kreisvorstand und in der Bezirksabtei-
lung Forschung und Wissenschaft und der Betriebsgruppe der Universität in der ÖTV
(heute ver.di) aktiv, was zu diesen Zeiten im Ingenieurbereich völlig ungewöhnlich war.
In der Betriebsgruppe haben wir uns kritisch mit der damals nicht unüblichen privaten
Inanspruchnahme von Universitätsangestellten durch Professoren auseinandergesetzt.
Im Rahmen der daraus resultierenden Spannungen und Auseinandersetzungen kam es
letztlich zur Kündigung eines ebenfalls aktiven Kollegen und mir mit der Begründung,
dass keine Mittel für unsere Stellen zur Verfügung stehen würden, was objektiv und
nachweisbar falsch war.
In einem Arbeitsgerichtsprozess konnte die Wiedereinstellung nicht durchgesetzt
werden, ein Vergleich war das Ende der wissenschaftlichen Tätigkeit. Daraus resultierte
dann aber letztlich nach einigen Wegstationen, die immer das Ziel einer nachhaltigen
Gesellschaft vor Augen hatten, die Gründung eines eigenen Ingenieurbüros. Erst dort
war dann die Möglichkeit geschaffen, selbstbestimmt Ziele zu verfolgen, die der Nach-
haltigkeit dienen. Seit über dreißig Jahren ein nicht immer einfacher, aber letztlich er-
folgreicher » Umstieg «, der ohne diese Kündigung möglicherweise so nicht gekom-
men wäre.
Deshalb mein Aufruf an alle Ingenieure, Architekten und Wissenschaftler: Betrach-
tet die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen eures Tuns genauer. Handelt nachhaltig
und handelt vorausschauend, um nicht später Folgen mindern zu müssen wie bei den
Atomkatastrophen in Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima.

Status Quo
» Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt «
Erich Fried
Technische Aspekte der Risikogesellschaft

Lutz Hieber
Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover

Mit téchnē bezeichnete die griechische Antike mehr als das, was wir heute › Technik ‹
nennen. Sie fasste mit diesem Begriff alle Fertigkeiten des Menschen, handwerklich-
zweckbezogen und gestaltend wirksam zu werden, unterschied also nicht – was für uns
heute zentral ist – das › Künstliche ‹ vom › Künstlerischen ‹. » In diesem weiten Sinne ist
noch in den Maschinen-Büchern des 17. Jh. von den Künsten und der Kunst die Rede.
Die alten handwerklichen Tätigkeiten waren › mechanische Künste ‹ im Gegensatz zu
den › freien Künsten ‹ «. Erst im Zuge der Industriellen Revolution setzt sich die Bezeich-
nung › Technik ‹ für praktische Mechanik und das Maschinenwesen durch, und » seit
dem letzten Viertel des 19. Jh. bezeichnet › Technik ‹ das Teilgebiet der Kultur, das auch
heute damit gemeint ist « (Stöcklein 1969: 31 f.).
Das Fundament der Technisierung unserer Welt bilden die Naturwissenschaften.
Daneben sind zum einen die Mathematik, als Geisteswissenschaft, immer mit von der
Partie, zum anderen ebenso der Mensch in seinen sozial, psychologisch und kulturell
bedingten Handlungen und Wahrnehmungen. » Menschliche Körper, physikalische
Dinge und symbolische Zeichen sind alle zusammen erforderlich, Technik zu konsti-
tuieren. Eine Maschine ohne jemanden, der sie steuert oder in Gang setzt, ist im gesell-
schaftlichen Sinn keine Technik « (Rammert 1998: 317).
Die naturwissenschaftlich-mathematische Basis der Technik bedingt, dass das
menschliche Sensorium allein nicht ausreicht, Risiken einzuschätzen oder Störfälle
sachgerecht wahrzunehmen. Folgen technischer Unregelmäßigkeiten sind oft für Laien
weder sichtbar noch spürbar. Ins Zentrum der öffentlichkeitswirksam geführten Aus-
einandersetzungen rücken mehr und mehr » Gefährdungen, die der › Wahrnehmungs-
organe ‹ der Wissenschaft bedürfen – Theorien, Experimente, Messinstrumente –, um
überhaupt als Gefährdungen › sichtbar ‹, interpretierbar zu werden « (Beck 1986: 265). In
dieser Hinsicht sind die betroffenen › Laien ‹ entmündigt, denn sie sind auf Expertenwis-
sen angewiesen, wenn Probleme auftreten.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
60 Lutz Hieber

Ingenieure tragen im zivilen Feld dazu bei, unsere Lebenspraxis zu erleichtern und
unser Zusammenleben angenehmer zu machen. Zugleich tragen sie jedoch in beson-
derer Weise Verantwortung, weil technische Innovationen durchaus eben auch mit Ri-
siken und Gefährdungen unterschiedlicher Art einhergehen können. Ihre beruflichen
Aufgaben bestehen nicht nur darin, technische Probleme zu lösen, sie umfassen auch
die besondere Verantwortung, die sie als Experten tragen. Deshalb ist es dringend er-
forderlich, die rein fachlich-ingenieurwissenschaftliche Aus- und Weiterbildung durch
die Vermittlung von Kompetenzen anzureichen, die zum Handhaben ihrer Verantwort-
lichkeit erforderlich sind.
Zu berücksichtigen ist indes, dass Experten allein, egal welcher Profession sie sind,
niemals vollständig zureichende Risikobeurteilungen vornehmen können. Denn » Tech-
nikexperten « sind » genauso wie Wissenschaftsexperten zwar Experten, aber «, sie kön-
nen » eben dadurch, dass sie solche Spezialisten sind, gerade nie das ganze Problem se-
hen «. Deshalb fordert Zimmerli, auch diejenigen zu beteiligen, die zwar keine Fachleute
sind, aber » über ein moralisches, lebensweltliches und pragmatisches Know-How ver-
fügen «, eben » die Laien « (Zimmerli 1998: 26).
An einer Einschätzung von technischen Risiken sind tatsächlich mehrere Menschen
beteiligt, die unterschiedliche Interessen haben und sich in unterschiedlichen Situa-
tionen befinden. Es ist nicht einfach, alle relevanten Personengruppen in die Kommu-
nikation über verantwortliches Handeln einzubeziehen, doch es ist machbar. Um die
Bedingungen zu diskutieren, die dafür erforderlich sind, erscheint es mir zunächst er-
forderlich, zunächst den Status von Experten in unserer verwissenschaftlichten Welt zu
klären. Daran anschließend möchte ich die Schwierigkeiten einer Kommunikation von
Experten und Laien diskutieren, und zwar zum einen aus wissenschaftstheoretischer
Sicht, und zum anderen aus der Sicht der fachspezifischen Sozialisation von Ingenieu-
rinnen und Ingenieuren. Daraus möchte dann ich einen Vorschlag ableiten.

Experten und Laien aus wissenschaftstheoretischer Sicht

Die Trennung in › Laien ‹ und › Experten ‹ besteht seit der Begründung der Naturwissen-
schaften, wie wir sie verstehen. Am einfachen Beispiel des Fallgesetzes möchte ich darle-
gen, dass diese Trennung durch die Struktur der Naturwissenschaften – in diesem Falle
der Physik – bedingt ist.
Seit der klassischen Antike haben Philosophen fallende Gegenstände beobachtet
und deren Bewegungserlauf theoretisch gefasst. Für Aristoteles, dessen Theorie für zwei
Jahrtausende unzweifelhafte Gültigkeit besaß, besteht das Gesetz fallender Körper aus
zwei Teilen. Der eine Teil widmet sich dem Medium, durch das ein Körper fällt. » Das
Medium der Bewegung ist «, so führt er aus, » ein Grund für (geringere Geschwindig-
keit), weil es Widerstand leistet «. Denn schließlich gilt: » ein Medium, das schwer zu
durchteilen ist, leistet mehr Widerstand « (Aristoteles 1983: 215a). Da sich jeder fallende
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 61

Körper durch ein Medium bewegt, formuliert Aristoteles den allgemeingültigen Satz:
» Je unkörperlicher, widerstandsärmer und leichter durchteilbar das Medium, desto
schneller die Bewegung in ihm « (a. a. O.). Damit erklärt er die Bewegung als Folge der
Tatsache, dass sich jeder bewegende Körper gegen – wie man sagen könnte – Reibungs-
widerstand durchsetzen muss. Der zweite Teil des aristotelischen Fallgesetzes befasst
sich mit dem Einfluss der Schwere von Körpern1. Aus der Beobachtung wissen wir, stellt
Aristoteles fest, » dass die Körper mit größerer Fallkraft […] bei sonst gleichen Umstän-
den (ihrer Gestalt) eine Strecke schneller zurücklegen (als solche mit geringerer Fall-
kraft […]), und zwar proportional zu ihren Ausdehnungsgrößen « (a. a. O.: 216a). Ein
Körper, beispielsweise ein Stein, fällt nach unten, und zwar umso schneller, je schwerer
er ist. Selbstverständlich hätte der Philosoph nie zwei Körper unterschiedlicher Form,
also beispielsweise ein Blatt und einen Stein verglichen.
Die beiden Teile des aristotelischen Fallgesetzes ergeben sich durch lebensweltliche
Erfahrung. Sie sind also empirisch – eben anhand der Beobachtung alltäglicher Vor-
gänge – gewonnen. Aristoteles widmete sich der Beobachtung von Körpern, sofern diese
ohne Hilfsmittel geschehen konnte. Warf er ein Kieselsteinchen einmal ins Wasser und
ein andermal in Olivenöl, so sah er, dass es sich im leichter durchteilbaren Medium
schneller nach unten bewegte als durch das dichtere. Beobachtete er leichte Sandkörn-
chen, wie sie langsam durchs Wasser rieseln, und verglich das mit dem schnellen Plump-
sen eines schweren Steines nach unten, so fand er bestätigt, dass der Schnelligkeit des
Falles vom Gewicht abhängig ist. Und auch wir können, wenn wir entsprechende Be-
obachtungen durchführen, zu keinem anderen Ergebnis kommen als Aristoteles. Denn
die aristotelische Physik ist, genau genommen, eine Theorie lebensweltlicher Erfahrung.
Allerdings versagt diese einfache Form der Beobachtungsmöglichkeiten von Fallbe-
wegungen, sobald die Vorgänge nicht mehr unmittelbar erfassbar sind. So entzieht sich
die genaue Beschreibung des Bewegungsablaufs eines Steines, der durch Luft fällt, jedem
lebensweltlichen Zugriff. Das Auge kann ihn nicht angemessen genau verfolgen, denn er
fällt zu schnell. Lehrer im heutigen Schulunterricht müssen elektronische Stoppuhren
verwenden, um bei entsprechenden Körpern den Geschwindigkeitszuwachs bezogen
auf die Zeiteinheit zu messen.
Die aristotelische Physik galt uneingeschränkt bis in die frühe Neuzeit, weil sie mit
alltäglichen Erfahrungen übereinstimmte und daher überzeugte. Erst mit dem Aus-
gang des Mittelalters traten nach und nach technische Innovationen auf, die zu neuen
Fragestellungen führten und entsprechend neue Untersuchungsmethoden erforderlich
machten. Sie führten schließlich zur Begründung eines neuen Typs von Wissenschaft.
Für mein Thema ist von grundlegender Bedeutung, dass der durch Galilei begründete
Wissenschaftstyp zur Grundlage der Ingenieurwissenschaften werden konnte. Doch be-

1 Für Aristoteles › fällt ‹ Rauch, der aus einem brennenden Feuer aufsteigt, dank seiner Leichtigkeit nach
oben. Doch solche Vorgänge klammere ich aus, um allein Körper zu betrachten, die dank ihrer Schwe-
re nach unten fallen.
62 Lutz Hieber

vor ich darauf zu sprechen kommen kann, möchte ich die wesentlichen Strukturen der
neuen, durch Galilei begründeten Wissenschaft darlegen, die uns heute zwar selbstver-
ständlich und unhinterfragbar erscheint, aber tatsächlich ein historisches Produkt ist.
Galilei schuf mit seinen Untersuchungen zur Fall- und Wurfbewegung die Grund-
lagen dessen, was wir heute als Physik bezeichnen. Seine Empirie ist nicht mehr die
bloße Beobachtung, sondern das Experiment. Die Fragen, die ihn bewegten, benennt er
im ersten Satz seiner Discorsi von 1638: » Die unerschöpfliche Tätigkeit eures berühmten
Arsenals, ihr meine Herren Ventianer, scheint mir den Denkern ein weites Feld der Spe-
kulation darzubieten, besonders im Gebiete der Mechanik « (Galilei 1973: 3). Er interes-
siert sich für das Arsenal, in dem Kriegsgerät gelagert wird. Seine Neugier richtet sich
auf die Funktionsweise technischer Instrumente. Die Gründe, warum er das tat, kann
ein kurzer Exkurs in die Wissenschaftsgeschichte erläutern.

Exkurs zur Fall- und Wurfbewegung:


Seit dem 14. Jahrhundert hatten sich nach und nach die ersten Anzeichen einer militä-
rischen Revolution bemerkbar gemacht: Feuerwaffen kamen auf. Die ersten Geschütze
waren aus Eisen geschmiedet, die Munition bestand aus steinernen Kugeln. Bald arbei-
teten auch Glockengießer, dank ihrer handwerklichen Kenntnisse, für die Herstellung
von Büchsen aus Bronze. Schmiede stellten tragbare Büchsen von erheblich kleinerer
Dimensionierung her, die im Vergleich zu den bislang verwendeten Armbrusten billiger
herzustellen und einfacher zu bedienen waren.
Die frühen großen Kanonen wurden eingesetzt, um Befestigungsmauern zu bre-
chen. Sie waren anfangs unbeweglich, auf Balken (oder in Kasten) gelagert; der Büch-
senmeister versah sie am hinteren Rohr-Ende mit einem Preller, nachdem er die Ladung
eingebracht hatte (Abb. 1). Die » Dulle Griet « in Gent » ist mit 4,98 Metern Länge und
16,4 Tonnen Gewicht das größte noch erhaltene schmiedeeiserne Riesengeschütz aus
dem 15. Jh. in Europa. Diese Bombarde schoss Steinkugeln von 64 Zentimetern Durch-
messer und 356 Kilogramm Gewicht « (Schmidtchen 1990: 197).
Die Handhabung derartiger Geschütze war außerordentlich schwerfällig. Waren sie
installiert, lag ihre Schussrichtung fest. Um sie vielseitiger einsetzbar zu machen, wurde
auf unterschiedlichen Wegen versucht, ihre Beweglichkeit zu erhöhen. Ein erster Ansatz
war, die auf eine feste Lafette, d. h. Gestell, montierte Kanone mittels Richtstangen ver-
tikal veränderbar zu machen (Abb. 2). Horizontale Beweglichkeit brachte die Montage

Abbildung 1 Von Eisen geschmiedete Ka-


none, die an beiden Enden offen ist und von
hinten geladen wurde; englische Waffe aus
der Schlacht bei Crécy 1346. (Demmin 1869:
S. 516 Nr. 1).
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 63

Abbildung 2 Deutsche, von vorn zu ladende Kanone mit


Richtstangen. (Demmin 1869: S. 522 Nr. 27).

der Lafette auf einem Räderkarren (Abb. 3). Schließlich kam in der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts der Durchbruch. Die » entscheidende Innovation stellten die in deut-
schen Bilderhandschriften erstmals auftauchenden Schildzapfen an den Büchsen dar.
Dies waren im Schwerpunkt des Geschützes angeschmiedete oder angegossene runde
Zapfen, die eine Lagerung des Rohres in einer Wandlafette ermöglichten «; der entschei-
dende Vorteil der Kanone mit Zapfen war, dass nun » ein stufenloses Richten in der Ver-
tikalen « möglich war (a. a. O.: 204.). Eine Zeichnung des namentlich nicht fassbaren
Hausbuchmeisters 2 aus dem späten 15. Jh. zeigt eine kleinkalibrige Kanone mit Zapfen
auf einer einachsigen Räderlafette, daneben die Version einer andersartig gelagerten
Kleinkanone auf vierrädrigem Karren (Abb. 4). Die am Schwerpunkt der Kanone ange-
brachten Zapfen, die ihrer Lagerung auf der Lafette dienen, bewährten sich und setzten
sich durch.
Der Festungsbau musste sich verändern, um Kanonen zur Abwehr von Angrei-
fern einsetzen zu können. Kanonen wurden selbstverständlich auch auf Schiffen instal-
liert. » Für die Zeit nach 1370 belegen glaubwürdige Berichte den Einsatz von Artillerie
auf See « (Parker 1990: 111). Die gesamte Kriegsführung erhielt also eine neue Struktur.
» Stehende Heere, neue Waffen und wachsender Professionalismus sowie neue Schiffs-
konstruktionen « bestimmten künftig die militärischen Schauplätze (Keen 1999: 291;
Übers. L. H.). Damit bin ich am Ende meines Exkurses angelangt und komme nun zu
Galileis großer Leistung: der Begründung der Physik als Experimentalwissenschaft.

Abbildung 3 Deutsche Feldschlange, Vorderlader, auf beweg-


licher und mit Richtstangen versehener Lafette, nach einer
Handschrift aus dem 15. Jahrhundert in der Bibliothek des
Fürsten von Waldburg-Wolfegg. (Demmin 1869: S. 522 Nr.24).

2 Der Hausbuchmeister, auch Meister des Amsterdamer Kabinetts genannt, wirkte in Heidelberg und
Mainz, auch Köln hatte er besucht.
64 Lutz Hieber

Abbildung 4 Kanonen mit Zap-


fen, nach einer Zeichnung des
Hausbuchmeisters, um 1475 – 1485.
(Hutchinson 1985: S. 221 Abb. 117

Die Fortschritte der Kanonen-Technik ermöglichten es das Rohr nach Belieben aus-
zurichten. Aber das Zielen bereitete Schwierigkeiten, da der Verlauf der Wurfbahn
noch unbekannt war. Damit war ein Komplex von Fragen aufgeworfen, die im frühen
16. Jahrhundert immer drängender nach Antworten verlangten. Die bloße Beobachtung
konnte im Bereich der Feuerwaffen tatsächlich nicht mehr als empirische Basis dienen.
Die Kanonen bedienten Büchsenmeister, höhere Handwerker, die über vielfältige
Kenntnisse verfügten. Ihre Erfahrung war zwar noch in keiner Weise theoretisch fun-
diert, aber bei ihnen handelte es sich doch um Berufe mit einem hohen Grad an Fach-
kenntnissen und Spezialisierung, die sie auch in Büchern darlegten. Da der soziale
Abstand zwischen den akademisch gebildeten Gelehrten und diesen höheren Handwer-
kern zusammenschmolz, konnten schließlich die Gelehrten die Methoden der Praktiker
übernehmen (Zilsel 1976). Als erster beteiligte sich der Mathematiker Tartaglia im Jahre
1532 an der Durchführung eines Experiments.
Dieses erste überlieferte Experiment kam zustande, weil Tartaglia von einem be-
freundeten Bombardiero aus Verona veranlasst worden war, über die Tragweite und
die Schusslinien der Feuerwaffen nachzudenken. Die Behauptung, ein Erhebungswinkel
von 30°, und nicht – wie von Tartaglia vermutet – der von 45° ergebe die größte Schuss-
weite, bewog ihn zu Versuchen. » Man schoss bei Santa Lucia mit einer zwanzigpfündi-
gen Schlange um die Wette, wobei die Elevation von 45° eine Wurfweite von 1972 sechs-
füßigen Veroneser Ruten, die Erhöhung von 30° nur einen Ertrag von 1872 Ruten ergab «
(Jähns 1889: 596). Tartaglia » benutzte einen Quadranten, der aus zwei durch einen Vier-
telkreis verbundenen Linealen gebildet wurde. Das eine Lineal wurde zur Bestimmung
der Neigung der Achse des Laufes in diesen gesteckt, der andere mittels eines Senkels
vertikal gestellt « (Gerland/Traumüller 1965: 109). Dieses experimentelle Ermitteln des
Schusswinkels für die größte Wurfweite brachte allerdings nur einen marginalen Beitrag
zur Theorie der Wurfbewegung.
Deshalb musste das Problem noch hundert Jahre später Galilei beschäftigen. Er
konnte erst in seinem Alterswerk, den Discorsi, die Lösung mitteilen. Das Buch ließ er
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 65

1638 in Holland drucken, weil er einige Jahre zuvor in seiner Heimat Italien vor die In-
quisition zitiert worden war.
Beim schiefen Wurf werden – in moderner Sichtweise – zwei Komponenten wirk-
sam. Wird ein Körper unter einem Winkel α geworfen, so überlagern sich erstens die
ihm verliehene Geschwindigkeit v0 und zweitens der durch die Schwerkraft verursachte
freie Fall. Deshalb ging es für Galilei in einem ersten Schritt darum, das Gesetz des freien
Falles zu finden. Weil der freie Fall eines schweren Gegenstandes durch das Medium
Luft mit bloßem Auge nicht genau zu beobachten ist, ersann er eine experimentelle An-
ordnung. Sein Ziel war, die Bewegung des fallenden Körpers – mit den ihm damals zur
Verfügung stehenden Mitteln – messbar zu machen. Er beschreibt den Versuchsaufbau:
» Auf einem Lineale, oder sagen wir auf einem Holzbrette von 12 Ellen Länge, bei einer
halben Elle Breite und drei Zoll Dicke, war auf dieser letzten schmalen Seite eine Rinne
von etwas mehr als einem Zoll Breite eingegraben. Dieselbe war sehr gerade gezogen,
und um die Fläche recht glatt zu haben war inwendig ein sehr glattes und reines Perga-
ment aufgeklebt; in der Rinne ließ man eine sehr harte, völlig runde und glattpolierte
Kugel laufen « (Galilei 1973: 162). Das Brett auf die schmale Seite zu stellen, verhinderte
weitestgehend ein Durchbiegen des Brettes, schuf also eine nahezu ideale schiefe Ebene.
Die glatte Kugel, die nahezu reibungsfrei läuft, stand für einen Massenpunkt. Idealisie-
rungen dienten also dazu, unerwünschte Randbedingungen auszuschließen. Da Galilei
noch keine Stoppuhren zur Verfügung standen, hat er die Fallzeit mithilfe einer durch-
dachten Vorrichtung gemessen: » Zur Ausmessung der Zeit stellten wir einen Eimer voll
Wasser auf, in dessen Boden ein enger Kanal angebracht war, durch den ein feiner Was-
serstrahl sich ergoss, der mit einem kleinen Becher aufgefangen wurde, während einer
jeden beobachteten Fallzeit: das dieser Art aufgesammelte Wasser wurde auf einer sehr
genauen Waage gewogen; aus den Differenzen der Wägungen erhielten wir die Verhält-
nisse der Zeiten und zwar mit solcher Genauigkeit, dass die zahlreichen Beobachtungen
niemals merklich voneinander abwichen « (a. a. O.: 163). Mit der Gleichung des Fallge-
setzes, die Galilei in langen Jahren der Experimentiertätigkeit schließlich fand, konnte
er nun die Wurfbahn ermitteln.

Verantwortung im Spannungsfeld des Fachwissens

Die neuzeitliche Naturwissenschaft entstand aus der Verbindung von mathematisch for-
mulierter Theorie und instrumenteller Praxis. Galilei verkörpert diese Einheit, die we-
der eine auf lebensweltlicher Erfahrung basierende Philosophie noch handwerkelndes
Probieren mehr ist, weil sie beide umfasst. » Jede seiner Manipulationen ist vom Gedan-
ken, jeder seiner Gedanken von der experimentellen Prüfbarkeit geleitet « (Weizsäcker
1970: 170 f.).
Da Galilei einen technischen Vorgang untersuchte, nutzte er ein technisches Verfah-
ren, das Experiment. Das Interesse an technischer Verwertung wissenschaftlicher Er-
66 Lutz Hieber

kenntnisse führt zu einer spezifischen Neuorientierung. Die empirische Methode Galil-


eis ist, im Unterschied zum aristotelischen Erfahrungsbegriff, an die Bedingungen einer
messenden Praxis gebunden. » Als empirisches Wissen tritt nicht mehr auf, was sich als
vor-theoretisches Wissen «, d. h. als lebensweltliche Erfahrung, » theoretisch fassen lässt,
sondern was mit den Instrumentarien einer physikalischen bzw. technischen Praxis
(häufig gegen das Erfahrungswissen einer lebensweltlichen Praxis) gewonnen wurde «
(Mittelstraß 1974: 66). Während die Lehre des Aristoteles durch lebensweltliche Erfah-
rung begründet und daher anschaulich ist, trifft dies für das physikalische Wissen nicht
mehr ohne weiteres zu – es ist oft unanschaulich.
Basis der Physik ist experimentelle Erfahrung, die vermittels technischer Geräte
durch messende Praxis gewonnen wird. Diese Erfahrung wird in der formalen Sprache
der Mathematik formuliert. Physik handelt nicht mehr von Gegenständen der alltägli-
chen Lebenswelt, sondern von abstrakten Objekten (wie z. B. dem Massenpunkt), sofern
diese durch Messverfahren zugänglich gemacht werden. Insofern sind die theoretischen
Begriffe, mit denen die Befunde erfasst werden, durch instrumentelle Technik bestimmt.
So betonte Albert Einstein am Beispiel der Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse, dass
der physikalische Begriff der Zeit die technischen Verfahren der Zeitmessung voraus-
setzt (Einstein 1917: 14). Entsprechend stellte auch Werner Heisenberg fest, dass der
sinnvolle Gebrauch von Grundbegriffen der Quantenmechanik, wie › Ort ‹ oder › Ge-
schwindigkeit ‹ eines Elektrons, Messverfahren dieser Größen voraussetzt (Heisenberg
1927: 179). Da also bereits die Grundbegriffe durch technische Verfahren bestimmt wer-
den, sind die Resultate der Physik technisch verwertbar. Entsprechende Möglichkeiten
sind selbstverständlich der aristotelischen Physik fremd.
Physikalisches Wissen ist seit Galilei – und das ist entscheidend – nur denjenigen
Menschen angemessen zugänglich, die erstens in der Lage sind, Experimente nachzu-
vollziehen, und die zweitens die mathematisch formulierten Theorien verstehen können.
Für die Naturwissenschaften ist der genetische Zusammenhang von lebensweltlichem
und wissenschaftlichem Wissen zerrissen. Die beiden Bereiche sind durch jenen episte-
mologischen Bruch getrennt, durch den sich die Physik von der Auffassung der anti-
ken Philosophie unterscheidet. In den jeweiligen Wissensgebieten sind die unterschied-
lichen » Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die
als wahr anerkannt wird « (Foucault 1974: 204), und diese Bedingungen sind nicht kom-
patibel. Deshalb ist die Grenzziehung zu beachten, die lebensweltlich orientierte Laien
von den wissenschaftlich-technischen Experten trennt.
Laien verfahren, sicher meist nicht auf dem Reflexionsniveau des Aristoteles, aber
doch vom Prinzip her in seiner Weise. Sie bilden Ideen zu Vorgängen und Zusammen-
hängen ihrer lebensweltlichen Wirklichkeit. Auch ihre Theorien basieren auf lebens-
weltlicher Empirie. Genau deshalb erhält der epistemologische Bruch, den die galilei-
sche Physik begründet, zentralen Stellenwert. Nur durch ihn lassen sich die Hürden
verstehen, die Laien daran hindern, Zugang zu technisch-naturwissenschaftlichem Wis-
sen zu bekommen.
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 67

Abbildung 5 Mechanisches Kurbel-Planetarium (Deutsches Museum München).

Die Naturwissenschaften haben sich zwar immer bemüht, Brücken zu bauen, die das
Verstehen des abstrakten Fachwissens erleichtern sollen. Dazu dienten Modelle, die
das Unanschauliche in Anschauliches übersetzen. Doch Modelle können dies oft nur in
engen Grenzen leisten. Das möchte ich an einem Beispiel illustrieren, an den Tischpla-
netarien, wie sie im 18. Jahrhundert gebaut wurden, um die Struktur unseres Sonnen-
systems vor Augen zu führen.
Solche mechanischen Kurbel-Planetarien übersetzten die Bewegung der Planeten
(mit ihren Monden) um die Sonne in eine handgreifliche Apparatur (Abb. 5). Drehte
man an der Kurbel, kreisten die Planeten um das Zentralgestirn. Damit sollte der Auf-
bau unseres Sonnensystems anschaulich werden. Doch gibt das mechanische Modell die
Verhältnisse wirklich angemessen wieder ? Hat, wer das Modell in Bewegung versetzt
und betrachtet, die Sachverhalte verstanden ? Dazu zwei Zahlen: Die Erde rast auf ihrer
Umlaufbahn um die Sonne mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 29,8 km/
sec. Die Rotationsgeschwindigkeit der Erde in Äquatornähe beträgt 465 m/sec. Vom
Standpunkt lebensweltlicher Erfahrung ist deshalb bezüglich der Bewegung der Erde im
Modell des Tischplanetariums die Fragen zu stellen, ob die Mechanik die tatsächlichen
Verhältnisse angemessen wiedergibt (Hieber 1979: 158). Wenn man beispielsweise einen
68 Lutz Hieber

Tisch sehr schnell wegzieht, werden die Dinge, die sich auf ihm befinden, hinter ihm
herunterfallen. Da die Erde mit ihrer immensen Translationsgeschwindigkeit auf ihrer
Bahn entlang rast (die so groß ist, dass man sie einem Tisch niemals verleihen könnte)
müsste sie doch – das sagt die lebensweltliche Erfahrung – alle Gegenstände, die sich auf
ihr befinden, längst hinter sich gelassen haben. Auch bezüglich der Rotation der Erde
wären vergleichbare Ungereimtheiten festzustellen. Wegen hohen Rotationsgeschwin-
digkeit eines Ortes auf der Erdoberfläche in unseren Breitengraden Erde müsste ein
Vogel, der aufgestiegen ist, ziemlich schnell zurückfallen und niemals zu seinem Nest
zurückkehren können, weil sich die Erde unter ihm in östlicher Richtung wegdrehte.
Solche Überlegungen übrigens brachten die Philosophen der Antike dazu, das helio-
zentrische Modell unseres Planetensystems abzulehnen, das von einer ruhenden Sonne
als Zentrum und den um sie herum kreisenden Planeten ausging (Toulmin/Goodfiled
1970: 132). Zugleich lassen derartige Einwände erkennen, dass das mechanische Kurbel-
Planetarium die Bewegung der Planeten zwar ein Stück weit anschaulich macht, aber
zum angemessenen Verständnis schließlich doch weitere physikalische Kenntnisse er-
forderlich wären.
So können handgreifliche Modelle bereits für die Klassische Mechanik nur eine
Brücke zur Anschaulichkeit sein, die nicht zureichend ist. Für den atomaren Bereich
versagen solche Modelle vollkommen. Weil für die Naturwissenschaften insgesamt die
Möglichkeiten einer Veranschaulichung durch Modellbildung nicht weit tragen, stehen
für Laien beim Versuch, naturwissenschaftlich-technische Sachverhalte zu durchdrin-
gen, erhebliche Hürden im Wege.
Deshalb bleibt ihnen, worauf Carl Friedrich von Weizsäcker hinwies, nicht viel mehr
als ein Glauben. Zu den sozialen Säulen des Glaubens zählen erstens ein Priesterstand
und zweitens die Rituale. Zum Ersten: Die Texte der naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Fachliteratur erschließen sich zwar den Experten, nicht aber den Laien. Glei-
chen sie in diesem Sinne nicht, so fragt Weizsäcker, » einem jener heiligen Texte, die der
Eingeweihte liest und die dem Laien ein Geheimnis bleiben ? « (Weizsäcker 1976: 5). Zum
Zweiten: Der Ritualkodex, der aus dem Glauben erwächst, gibt die Regeln des richtigen
Verhaltens gegenüber den übersinnlichen Mächten an. Der moderne Mensch kann zwar
viele der religiösen Rituale früherer Epochen nicht mehr nachvollziehen, doch er ist die-
sem Bewusstseinszustand in recht guter Analogie nahe, nämlich » in seiner Bereitschaft,
die Gebrauchsanweisungen zu befolgen, die mit jedem Stück moderner Apparatur mit-
geliefert werden « (a. a. O.: 8).
Sofern Laien naturwissenschaftlich-technisches Wissen nicht nachvollziehen kön-
nen, lastet umso mehr Verantwortung auf dem Experten. Die Verantwortung der Exper-
ten wächst in dem Maße, wie sich die Kluft zwischen ihrem Wissen und dem der Laien
vertieft (Abb. 6).
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 69

Abbildung 6 Experten und Laien

fachspezifische Bildung lebensweltliche


(Experiment und Theorie) Kenntnisse

Experte Laie

technisch-natur-
wissenschaftliches Glauben an Technik
Wissen

Verantwortung im Spannungsfeld fachspezifischer Sozialisation

Bertolt Brecht widmete sich dem Thema der Verantwortung, nachdem die Entdeckung
der Uranspaltung durch die Zeitungen gegangen war, in seinem Stück » Leben des Gali-
lei «. Er lässt seinen Galilei die Idee äußern, » Naturwissenschaftler « (leider denkt Brecht
nicht an die Ingenieure) hätten » etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte ent-
wickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwen-
den « (Brecht 1967: 1341).
Doch so einfach kann eine Übertragbarkeit aus dem medizinischen in das techni-
sche Feld nicht gelingen. Anders als beim Arzt, der es jeweils mit einem konkreten Men-
schen zu tun hat, reichen technisch-naturwissenschaftliche Innovationen oft in Gebiete
des Ökonomischen, des Ökologischen, des Sozialen, des Medizinischen, des Psycholo-
gischen, des Kulturellen und des Politischen. Tatsächlich kann der einzelne Naturwis-
senschaftler oder Ingenieur in einer Berufswelt, die auf Arbeitsteilung aufgebaut ist, nur
schwer die Folgen seines Handelns abschätzen. Er ist zwar Experte seines Fachgebiets,
doch links und rechts davon ist auch er ein Laie. Die Folgen aus naturwissenschaft-
lichem und technischem Handeln entstehen aus mehr oder weniger langen Interak-
tionsketten – welcher fachliche Spezialist sollte da nicht überfordert sein ?
Gleichwohl ist festzuhalten, dass Ingenieure große Verantwortung tragen. Sie kön-
nen, als Experten, möglicherweise auftretende Probleme und Gefahren einschätzen, die
außerhalb ihres Fachgebiets niemand zu erkennen in der Lage ist. Die Frage ist aller-
dings, was für sie an die Stelle des hippokratischen Eides treten könnte. Da auf der Hand
70 Lutz Hieber

liegt, dass die im engeren Sinne für moralische Fragen zuständigen Fachleute – bei-
spielsweise Philosophen oder Theologen – nur aus der Sicht ihrer Disziplinen, also
gewissermaßen von außen auf die konkreten technischen Problemstellungen blicken
können, verbietet sich eine Auslagerung des Themas der Verantwortlichkeit auf die ver-
meintlichen Ethik-Spezialisten. Vielmehr muss es darum gehen, unmittelbar am Be-
ruflichen anzusetzen. Allerdings gibt es dafür zwei ganz wesentliche Voraussetzungen:
Zum einen müssen sich Experten eine Vorstellung über die gesellschaftlichen Interak-
tionsketten verschaffen, in die ihre Tätigkeit eingebunden ist. Zum anderen sollten sie
in der Lage sein, ihre fachlich fundierten Einschätzungen in einer Weise weiter zu ver-
mitteln, die gegebenenfalls Schäden vermeiden hilft. Erst auf dieser Grundlage können
sie ihrer Verantwortung gerecht werden.
Doch dem stehen Momente der fachspezifischen Sozialisation der technisch-natur-
wissenschaftlichen Ausbildung entgegen, die ich kurz skizzieren möchte. Dazu zählt in
erster Linie, dass die Gegenstandsbereiche der technischen Ausbildung objektivierbar
sind. Lange Phasen des Ingenieurstudiums bestehen aus der Aneignung gesicherten
Lehrbuchwissens. Die Studierenden akzeptieren den Lehrstoff aufgrund der Autorität
des Lehrers und des Lehrbuches, nicht aufgrund von Beweisen. Hätten sie auch eine an-
dere Wahl oder Befugnis ? » Die in den Lehrbüchern geschilderten Anwendungen stehen
dort nicht als Beweis, sondern weil ihr Erlernen ein Teil des Erlernens des Paradigmas «
ist, dem die betreffende wissenschaftliche Praxis folgt (Kuhn 1967: 114).
Menschen, die durch die gleiche fachspezifische Bildung geprägt sind, verfügen
über Gemeinsamkeiten im Habitus. » Der Habitus « kann » als ein System verinnerlich-
ter Muster « betrachtet werden, » die es erlauben, alle typischen Gedanken einer Kultur
zu erzeugen – und nur diese « (Bourdieu 1974: 143). Der methodische Lehrbetrieb, das
im Studium erworbene System von Denk- und Wahrnehmungskategorien, schreibt sich
in den Lernenden ein. Das in den Jahren des Studiums oft mühsam Erlernte und Ein-
geübte wird bald so selbstverständlich, dass sich schließlich der ausgebildete Ingenieur
darin bewegt, als ob es › naturgegeben ‹ sei. Während seiner beruflichen Tätigkeit habitu-
alisiert er das Wesentliche, es geht ihm › in Fleisch und Blut ‹ über. Ganz ähnlich wie ein
erfahrener Autofahrer nicht mehr darüber nachdenken muss, den Fuß auf das Brems-
pedal zu setzen, wenn er ein Hindernis auf der Straße vor sich sieht, sondern diese Tä-
tigkeit reflexartig vollzieht. Was die Routine des berufserfahrenen Ingenieurs ausmacht,
kann als das fachkulturell Unbewusste seines beruflichen Handelns bezeichnet werden.
Der ausgebildete Ingenieur steht zu seiner erworbenen und schließlich in täglicher Pra-
xis gefestigten Bildung in einem Verhältnis, das sich weniger als › tragen ‹ sondern viel-
mehr als › getragen werden ‹ bezeichnen lässt: Er ist sich » nämlich nicht bewusst […],
dass die Bildung die er besitzt, ihn besitzt « (a. a. O.: 120). Der ausgebildete Ingenieur hat
die Denk- und Handlungsweisen seines Faches inkorporiert, sie sind Bestandteil seines
Habitus. Weil sie sein fachkulturell Unbewusstes bilden, setzt er sie in der Kommunika-
tion mit Anderen stillschweigend voraus. Auf diese Weise ist der Experte durch seinen
Habitus vom Laien getrennt (Abb. 7). Dazu zählt, dass Ingenieure geübt und gewohnt
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 71

Abbildung 7 Das kulturell Unbewusste

Kommunikations-
barriere

fachspezifische Sozialisation lebensweltliche


des Ingenieurs Erfahrung und
Ideenbildung

Habitus des Experten Laie

fachkulturell Alltagsverständnis
Unbewusstes von Technik

sind, Sachverhalte zu objektivieren, also Gegenstände ihres Fachgebietes gemäß instru-


mentellen Verfahren und mathematischer Berechenbarkeit zu beurteilen. Solche Fähig-
keiten sind den Laien verschlossen.
Zur Veranschaulichung des › kulturell Unbewussten ‹ ein einfaches Beispiel zu Kom-
munikationsschwierigkeiten, die durch fachspezifische Sozialisation bedingt sind: Bei
mir keimte während meines Physik-Studiums die Frage, warum es die Physik gibt, und
warum sie so ausnehmend gut mit finanziellen Mitteln ausgestattet ist. Mein Problem
führte mich in die Soziologie. In meinem ersten soziologischen Seminar, das ich be-
suchte, warf ich eine Frage auf. Und ich tat das damals, wie als Physiker gewohnt, in
einem Satz. Daraufhin beschäftigten sich die Seminarteilnehmer ausgiebig damit, her-
auszufinden, was ich gemeint habe. Mir schien meine Frageweise selbstverständlich. In
der Physik sind die Begriffe der Fachsprache präzise definiert, weil sie durch Messver-
fahren definiert sind (Mittelstaedt 1968: 32) und dadurch ihre intersubjektive Gültigkeit
gewährleistet ist. Entsprechendes trifft für die Soziologie nicht zu, da Soziologen wissen,
dass sie selbst stets Bestandteile ihres Forschungsgegenstandes sind. Weil ich also den
mir selbstverständlichen physikalischen Habitus in die Soziologie getragen hatte, führte
ich dort zu Verwirrung.
72 Lutz Hieber

Schlussfolgerungen

In technischen Fragen ist der Ingenieur aufgefordert, Verantwortung wahrzunehmen.


Denn die Laien sind, weil sie nicht über erforderliches Fachwissen verfügen, dazu nicht
in der Lage. Um seiner Verantwortung gerecht zu werden, kann der Experte nicht
darauf verzichten, mit Fachfremden über die Folgen seines Tuns zu kommunizieren.
Dies zum einen, um die gesellschaftliche Reichweite technischer Innovationen einschät-
zen zu können, die oft über den Horizont seiner unmittelbaren Fachkompetenz hinaus-
ragt. Und zum anderen, um diejenigen Laien, die Entscheidungen über Technik in po-
litischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Hinsicht treffen, oder die als Mitglieder
der Gesellschaft davon betroffen sind, über Technik aufzuklären.
Der verantwortungsbewusste Ingenieur muss deshalb, um seiner Aufgabe gerecht zu
werden, zwei Schranken überwinden: Erstens kommt er nicht umhin, den epistemologi-
schen Bruch zu überwinden, der die in lebensweltlich orientierter Erfahrung verwurzel-
ten Laien von den an wissenschaftlicher Praxis orientierten Experten trennt. Zweitens
wirkt sich der Habitus des Ingenieurs hinderlich aus, der durch fachspezifische Sozialisa-
tion geformt ist, und der deshalb die professionellen Gewissheiten so sehr inkorporiert
hat, dass sie ihm als Basis seines Handelns und Denkens gar nicht mehr bewusst sind.
Beide Schranken erschweren es, im Hinblick auf die Auswirkungen technischer Innova-
tionen angemessen zu handeln.
Eine Einschätzung von Risiken, die aus technischer und naturwissenschaftlicher Tä-
tigkeit folgen können, setzt immer Kommunikation voraus. Denn an Technik sind Men-
schen beteiligt, die unterschiedliche Interessen haben und sich in unterschiedlichen so-
zialen Situationen befinden. Sie alle müssen in ein Nachdenken über technische Risiken
einbezogen werden. Ingenieure können nur dann ihrer Verantwortung gerecht werden,
wenn sie über die Fächergrenzen hinweg kommunikationsfähig sind. Dabei müssen so-
gar die Laien beteiligt werden, die zwar keine Fachleute sind, aber über moralisches, le-
bensweltliches und pragmatisches Know-How verfügen. Es kommt darauf an, dass die
Ingenieure ihre Fachkompetenz mit gesellschaftlichen Prozessen verbinden.
Dabei kann die Schaffung institutioneller Pfeiler, wie sie Meihorst vorschlug durch-
aus hilfreich sein (Meihorst 1998: 156). Sie können sowohl organisatorische Strukturen
für fächerübergreifende Diskussionen und Schutz für die handelnden Ingenieure bie-
ten. Aber ihre Reichweite ist insofern begrenzt, als kontroverse Fragen nicht gänzlich
auf Institutionen übertragen werden können. Schließlich können im Falle von Risiko-
konflikten weder Politiker noch andere Laien von den Experten eindeutige Antworten
erwarten. » Dies ist deswegen so, weil es niemals eine, sondern immer mehrere sich wi-
dersprechende Ansprüche und Gesichtspunkte verschiedener sozialer Akteure und Ex-
pertengruppen gibt, die Risiken sehr unterschiedlich definieren « (Beck 1998: 276). Für
den Gang technisch-industrieller Entwicklungen müssen Beurteilungen stets prozess-
begleitend und durch Kommunikation unterschiedlicher Akteure stattfinden.
Technische Aspekte der Risikogesellschaft 73

Der Schwerpunkt verantwortlichen Handelns bleibt, das ist festzuhalten, bei den Ex-
perten. Denn sie stecken mittendrin in der Produktion technischer Weiterentwicklun-
gen. Dank ihres Sachverstandes können sie Kenntnisse über – möglicherweise proble-
matische – Sachverhalte haben, die Nicht-Fachleuten unzugänglich sind oder erst zu
spät zugänglich werden. Je schwieriger überwindbar die Schranken zwischen dem Fach-
wissen der Ingenieure und Ingenieurinnen auf der einen und den Laien auf der anderen
Seite sind, desto stärker sind selbstverständlich die Ingenieure, und nur sie, gefordert,
das Richtige zu tun und entsprechende Weichenstellungen einzuleiten.
Unsere demokratische Gesellschaft muss den Ingenieurinnen und Ingenieuren die
Möglichkeiten an die Hand geben, Verantwortung wahrzunehmen. Das ist gegenwär-
tig nicht zureichend gegeben. Diskussionsforen und Vernetzung (gemäß Meihorsts
Vorschlag) könnten dafür eine gewisse Basis schaffen. Allerdings setzt dies die in sehr
vielen Fällen eine Fähigkeit zur Kommunikation mit Laien voraus. Damit diese gelin-
gen kann, wären die hinderlichen Effekte fachspezifischer Sozialisation zu überwin-
den. Als der beste Ort, die Qualifikationen zu erwerben, die Ingenieure in die Lage
versetzen, in einer demokratischen Gesellschaft tatsächlich Verantwortung wahrzu-
nehmen, erscheint das Studium. Schließlich nähmen auch diese Studiengänge keinen
Schaden, wenn der zentralen und rein fachlichen Ausbildung auch Trainigs beigesellt
würden, die einer Reflexion des fachspezifischen Unbewussten und einer Förderung all-
gemeiner Kommunikationsfähigkeit dienen. Solche Bausteine der Ausbildung könnten
indes nicht nur eine Grundlage verantwortlichen Handels bilden. Sie könnten vielmehr
zugleich zur Verbesserung der Tätigkeit in einer zunehmend arbeitsteiligen Berufswelt
dienen.

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Die » schöne neue Welt «
und die Verantwortung der Ingenieure

Wolfgang Mathis
Institut für Theoretische Elektrotechnik, Leibniz Universität Hannover

Ingenieurmäßiges Arbeiten hat unsere Welt verändert und tut es nach wie vor. Das
dies in uneingeschränkter Weise eine positive Entwicklung ist, war bis zum Ende des
19. Jahrhunderts Konsens zumindest in den führenden gesellschaftlichen Schichten. Die
programmatische Basis für diesen Fortschrittsoptimismus wurde in der Zeit der Auf-
klärung u. a. durch Francis Bacon, englischer Jurist, Staatsmann und Philosoph, am An-
fang des 17. Jahrhunderts gelegt ([1], S. 173): » Das wahre und rechtmäßige Ziel der Wis-
senschaften « und ich möchte an dieser Stelle hinzufügen, und auch der Technik, » ist
kein anderes, als das menschliche Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu berei-
chern «. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren jedoch die Folgen der tech-
nischen Industrialisierung unübersehbar geworden und man begann über die Tech-
nikfolgen nachzudenken. Die Technik wurde Thema für Philosophen, Literaten und
die Ingenieure selbst, wobei zunehmend auch die Konsequenzen von Wissenschaft
und Technik ausgeleuchtet wurden. Noch hundert Jahre zuvor war die langsame evo-
lutionäre Entwicklung der Technik im Leben des Einzelnen nur wenig fassbar. Erst der
Sturm der Neuerungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte dies grundle-
gend. Die von Wissenschaft und Technik geprägte » schöne neue Welt «, deren Potential
zur Entmenschlichung u. a. von Aldous Huxley [4] bereits in den zwanziger Jahren des
letzten Jahrhunderts beschrieben wurde, hatte schon deutlich erkennbar nicht nur für
den Teil – eigentlich eher kleinen Teil – der Menschheit, dem die Segnungen der Tech-
nisierung zu Gute kamen, sondern für die gesamte Menschheit in der einen oder ande-
ren Weise auch negative Folgen. Wir erleben dies tagtäglich in den Nachrichten. Aber
wer trägt die Verantwortung, wenn etwas schief geht ? Gibt es No-Go-Konzepte für die
technisch Handelnden, für Ingenieurinnen und Ingenieure ?
Natürlich mangelte es nicht an Versuchen, das Problem der Technik auch in seiner
ethischen Dimension auszuleuchten. Das ist auch seitens der Techniker immer wieder
geschehen. Es sei an Friedrich Dessauer, Physiker und Politiker in der Weimarer Repu-

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
78 Wolfgang Mathis

blik, und dessen zahlreiche Schriften sowie sein Spätwerk » Streit um Technik « aus dem
Jahre 1956 erinnert [3]. Auch alle wichtigen Ingenieurvereinigungen haben sich dieses
Themas in Symposien und Schriften immer wieder angenommen [15] [16]. So bleibt mir
eigentlich nur, noch einmal auf einige wesentliche Gesichtspunkte dieser Problematik
hinzuweisen.
Technisches Handeln im allgemeinen Sinne ist zweifellos darauf angelegt, die Welt
wie sie ist oder wie sie war, in künstlicher Weise und nach den Ideen des Menschen zu
verändern. Auf der Leiter der technisch Handelnden haben Ingenieurinnen und Inge-
nieure sicherlich die höchste Stufe inne. Während die Naturwissenschaften die in der
Natur vorhandenen Vorgänge auf der Basis geeigneter Präparationen in ihren feinsten
Ausprägungen untersuchen, möchte ingenieurmäßiges Handeln neue künstliche Ele-
mente oder Prozesse in der Natur erschaffen, welche naturgemäß den u. a. in der Physik,
Chemie und Biologie formulierten Gesetzen unterliegen müssen.
Auch wenn diese Beschreibung einsichtig erscheint, so weist doch der Technikphi-
losoph Friedrich Rapp darauf hin, dass » angesichts der … mannigfachen Arten des tech-
nischen Handelns, die im Verlauf der historischen Entwicklung anzutreffen sind, … von
vornherein keine begriffliche Festlegung (von Technik) zu erwarten (ist), die allen auftre-
tenden Besonderheiten gerecht wird « ([9], S. 38). Das soll kurz anhand einiger Defini-
tionsversuche illustriert werden. Eine umfassende Übersicht der verschiedenen Defi-
nitionsvorschläge findet man beispielsweise bei Lenk [6] und Ropohl [10]. Um einen
möglichst umfassenden Begriff von » Technik « zu erhalten, wird vielfach auf sehr ab-
strakte Definitionen zurückgegriffen. Nach Rapp unterscheidet man Definitionen
(siehe [9], S. 42 – 43), die auf das aktive Handeln im Allgemeinen abheben, wie etwa der
im 19. Jahrhundert lebende Maschinenbauingenieur Max Eyth: » Technik ist alles, was
dem menschlichen Wollen eine körperliche Form gibt «, von solchen, die den methodi-
schen Charakter des aktiven Handelns besonders betonen, wie etwa v. Gottl-Ottlilien-
feld: » Technik im objektiven Sinne ist das abgeklärte Ganze der Verfahren und Hilfsmittel
des Handelns, innerhalb eines bestimmten Bereichs menschlicher Tätigkeit «. » Von diesem
sehr weit gefassten Technikbegriff « – so Rapp – » ist der engere Wortsinn zu unterscheiden,
der das technische Handeln des Ingenieurs einschränkt «; v. Gottl-Ottlilienfeld spricht von
der » Realtechnik «. Wir würden uns also sehr schnell verlieren, wenn wir uns auf das
fraglose interessante Feld des philosophischen Diskurses über Technik einlassen. Für
uns bleibt festzuhalten, dass technisches Handeln mit dem menschlichen Willen ver-
knüpft ist und somit auch mit menschlichen Wertesystemen. Damit wird das » Gut «
oder » Böse «, das ein Wertesystem impliziert, zumindest in den künstlichen Anteil der
Natur, der durch Technik geschaffen wurde, hineingetragen. In Frage steht dann aber
auch, ob der restliche Teil der Natur, die ursprünglich vor aller Menschheit vorhandene
Natur ebenfalls irgendwelchen Wertvorstellungen unterliegt. Eine interessante philoso-
phische Frage, auf die beispielsweise Hans Jonas [5] näher eingeht.
Technik setzt willentliches Handeln voraus, für das somit diejenigen, die handeln,
Verantwortung tragen können. Aber worauf bezieht sich diese Verantwortung ?
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 79

Sind Philipp Reis und Alexander Graham Bell, die im 19. Jahrhundert mit Dräh-
ten, Batterien und primitiven Mikrophonen experimentierten, um ihrem Traum einer
» fernmündlichen Übertragung von Gedanken « Gestalt zu verleihen, dafür verantwort-
lich, dass die heute gegebene dauernde Erreichbarkeit über das Handy auch negative
gesellschaftliche Implikationen besitzt ? Sicherlich waren sie damals der Meinung, der
Menschheit etwas Gutes zu bringen.
Kann man Marconi, der als jugendlicher Forscher im Garten seiner Eltern mit einem
Hertzschen Dipol experimentierte, um elektromagnetische Wellen zur drahtlosen Nach-
richtenübertragung zu nutzen, verantwortlich machen, dass seine Erfindung nur wenige
Jahre später Krieghandlungen des 1. Weltkrieg stark beeinflusste ?
Hätte derjenige, der sich in Berlin-Reinickendorf an Raketenversuchen beteiligte,
die kaum über ein besseres Feuerwerk hinausgingen, von Anfang an voraussehen müs-
sen, dass diese Experimente letztlich in einem Waffenarsenal mit einer Zerstörungskraft
von bis dahin unbekannten Ausmaßes münden würden und somit Verantwortung für
diese Entwicklung trägt. Oder hat Wernher von Braun erst später Schuld auf sich gela-
den, als er seine Mitverantwortung an dem Gebrauch seiner Raketen leugnete. Darauf
weist der amerikanische Kabaretist Tom Lehrer hin: » Once the rockets are up, who cares
where they come down ? That’s not my department, says Wernher von Braun. « [24]
Wir gelangen zu dem alten Konflikt des Messers, welches Segen oder Fluch sein kann.
Muss man aus dem Misslingen einer eindeutigen Antwort auf das Messerproblem fol-
gern, dass den Ergebnissen des technischen Handelns ebenso wie der ursprünglichen
Natur keine Bewertung im Sinne von » Gut « oder » Böse « zuzuordnen ist ?
Versuche, diese Fragen zu beantworten, sind kontrovers diskutiert worden. Ein ra-
dikaler Ansatz stammt von Hans Jonas, der im Rahmen der Begründung seines » Prin-
zips Verantwortung « im Anschluss an Kant einen neuen kategorischen Imperativ prägte
([23], S. 36): » Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden «. Eine ähnliche Aussage stammt von
dem MIT-Informatiker und Gesellschaftskritiker Joseph Weizenbaum, wenn er betont,
» dass jeder einzelne für die ganze Welt verantwortlich ist « ([18], S. 348).
Fraglos steht das ingenieurmäßige Handeln häufig am Anfang eines technischen
Produkts, da es von den Ingenieuren gewissermaßen aus der Taufe gehoben wird. Aber
können Ingenieure die technische Entwicklung voraussehen oder gar seine spätere Nut-
zung ? Nur dann könnten Sie für alles Zukünftige, was sich aus ihrer Erfindung entwi-
ckelt, verantwortlich gemacht werden. Bekanntlich gab es immer wieder Visionäre, die
Derartiges versuchten – zu aller erst wäre Leonhardo da Vinci zu nennen. Aber auch
an die reichhaltige, technisch geprägte Science Fiction Literatur ist zu denken, wobei
einem Namen wie Jules Verne, Isaac Asimov, E. A. van Vogt, oder Arthur C. Clarke
einfallen. Übrigens begann der zuerst genannte Jules Verne, was wenig bekannt ist, als
Technikskeptiker und ist es wohl Zeitlebens zumindest teilweise geblieben, wie sein erst
vor einigen Jahr bekannt gewordenes Frühwerk von 1863 [17] » Paris im 20. Jahrhundert «
zeigt. Sehr interessante Hinweise auf die » Welt in 100 Jahren « aus der Sicht des Jahres
80 Wolfgang Mathis

1910 findet man auch in dem Werk von Arthur Bremer [2]. Der ehemalige Rektor der
ETH Zürich und Elektrophysiker Franz Tank hat in einem 1962 erschienen Essay » Some
Thoughts on the State of the Technical Science in 2012 A. D. « [13] versucht, unsere heutige
Technik des Jahres 2012 vorauszusehen. Um die Schwierigkeiten seiner Überlegungen
zu illustrieren, ging er von den Fortschritten aus, welche die Physik in den Jahren von
1862 bis 1912 gemacht hatte, und lag mit seinen vorausschauenden Ansichten gar nicht
so falsch. Dennoch stellte er einige prinzipielle Fragen. So betonte er, dass nur das Feld
der Logik exakt prognostizierbar sei und fährt dann fort » Ist es möglich, den Zustand der
Physik oder einfach nur der Elektronik im Jahre 2012 auf der Basis unseres heutigen Wis-
sens mit Hilfe der Logik, d. h. des Denkens vorauszusagen ? « Er meint » Ja, da die Logik ein
sehr zuverlässiger Helfer ist und nein, da in der Zwischenzeit grundlegend neue Naturge-
setze entdeckt werden könnten, die für einen grundlegenden Wandel in der Zukunft sorgen
könnten «. Das Neue an unserer modernen Zeit sieht Tank in einem intellektuellen As-
pekt, wenn er betont: » Es wurde erkannt, dass durch Experimente grundlegende Natur-
gesetze gefunden werden können «. » Das gibt der Technik eine solide Basis «. Trotz seiner
nachdenklichen Haltung ist er dann wieder ganz Physiker und Ingenieur, wenn er fol-
gert » Nichts hat die Kraft, diese Entwicklung auf ihrem Weg zu stoppen, bis eines Tages das
ferne Ziel, welches uns unbekannt ist, erreicht sein wird. «
Resümierend zeigen die bisherigen Ausführungen, dass es nicht einfach ist, Technik
in ihrer allgemeinen Form zu definieren, noch lässt sich aufgrund einfacher Überlegun-
gen die Frage nach einem Zusammenhang von Verantwortung und ingenieurmäßigem
Handeln aufklären. Um in dieser essentiellen Frage tatsächlich einen Schritt weiter-
zukommen, sollte man mit Paul Hoyningen-Huene, Professor an der hiesigen Leibniz
Universität Hannover, zunächst einmal einige Grundfragen diskutieren, wozu seine Ar-
beit » Zur Verantwortung des Ingenieurs « [20] eine Reihe von Anregungen gibt. Da wäre
als allererstes zu fragen, was unter » Verantwortung « überhaupt gemeint ist. Er stellt klar,
dass berufliche Verantwortung von der gesellschaftlichen Verantwortung zu unterschei-
den sei.
Die berufliche Verantwortung betrifft die Ingenieurpraxis und daher lassen sich Ver-
antwortlichkeiten einfacher benennen, wenn fehlerhafte Arbeit geleistet wurde. Dazu
gibt es schlagkräftige Methoden des Qualitätsmanagements. Bei Fehlern lassen sich i. a.
klare Verantwortliche benennen und die Fälle lassen sich juristisch aufarbeiten. Viele
erinnern sich an das Challenger-Unglück von 1986, wo eine fehlerhafte Dichtung den
Tod der Besetzung nach sich zog. Bekanntlich hatten Ingenieure diese Schwierigkeiten
erkannt und noch am Vorabend vor einem Start gewarnt, aber die Leitung der Mission
hatte sich durchgesetzt und damit offensichtlich Verantwortung auf sich geladen.
Dennoch gibt es Schwierigkeiten bei sehr großen Katastrophen; beispielhaft genannt
sei die Katastrophe von Tschernobyl, Ölkatastrophe im Golf von Mexiko oder kürzlich
die Reaktorkatastrophe von Fukushima, bei denen sich auch politische Interessen über-
lagerten. Aufgrund der gewaltigen Auswirkungen von technischen Defekten in solchen
Anlagen stellt sich natürlich auch die weitergehende Frage nach der gesellschaftlichen
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 81

Verantwortung der Ingenieure. Die meisten Ingenieurverbände haben darauf schon vor
längerer Zeit mit einer Ethikdiskussion reagiert und einen Ethik-Kodex formuliert; bei-
spielhaft seien der Kodex des Verband deutscher Ingenieure (VDI) und der amerika-
nischen Elektroingenieurvereinigung Institute of Electrical and Electronics Engineers
(IEEE) genannt.
So kommt Hoyningen-Huene letztlich zu einem für manche vielleicht unbefriedi-
gendem Ergebnis: » Aber es bedeutet, dass Ingenieure in Situationen geraten können, in
denen Konflikte zwischen egoistischem, Techniker-, Arbeitgeber-, Gruppen-Auftraggeber-
und öffentlichem Interesse auftreten können. Für die Lösung solcher Konflikte dürfte es
keine Patentrezepte geben, und die Ingenieurvereinigungen werden bei der Weiterentwick-
lung ihrer Ethikkodizes diese Schwierigkeiten im Auge behalten müssen. « [20]. Nur sel-
ten erfährt die Öffentlichkeit etwas von diesen Konflikten der technisch Handelnden
wie im Falle von Norbert Wiener [19], bedeutender amerikanischer Mathematiker und
Begründer der Kybernetik [14], der im Jahre 1947 in Beantwortung der Ausführungen
eines Ingenieurs der Flugzeugfirma Boeing, der in einem Raketenprogramm tätig war,
in der Zeitschrift Atlantic Monthly Magazine [21] beschwor » keine weiteren Arbeiten zu
publizieren, die in den Händen verantwortungsloser Militärs Schaden verursachen kön-
nen « (» not to publish any future work (…) which may do damage in the hands of irre-
sponsible militarists «). Die Hintergründe seiner Reaktion schilderte Wiener in seiner
Autobiographie.
Vielleicht müssen einfach auch die Ingenieure wie alle anderen Staatsbürger einer
Zivilgesellschaft Fragen bezüglich ihrer Arbeit, die von gesellschaftlichem Belang sind,
studieren, reflektieren und einen eigenen Standpunkt beziehen. Dazu gehört auch, dass
Ingenieurinnen und Ingenieure über die Entwicklungsgeschichte der Technik und die
zugehörigen sozioökonomischen Bezüge fundierte Kenntnisse besitzen.
Der Besitz solcher Kenntnisse allein ist jedoch keineswegs ausreichend. Untersucht
man nämlich die Entwicklungsprozesse beim Entstehen neuer Technik in der Retro-
spektive, so zeigt sich, dass neue Erfindungen bei den Erfindern naturgemäß von einer
großen Euphorie begleitet werden und der Blick vom Standpunkt des großen Ganzen
als Kritik an dem Gegenstand der Erfindung empfunden wird. Historische Beispiele
zeigen, dass diejenigen, die den Fortschritt mit ihrer Erfindung voran bringen wollen,
selbst noch innere Hemmnisse zu überwinden haben und deshalb die Euphorie des
Augenblicks als weiteren Ansporn benötigen. Schließlich würden sich sozioökonomi-
sche Ansprüche so auswirken, dass sich die technische Aufgabe wesentlich verkompli-
ziert und daher den Kerngedanken der Erfindung stört.
Anhand der Erfindung des Automobils mit Verbrennungsmotor durch Carl Benz
und andere lässt sich diese Problematik gut verdeutlichen. So hatte Benz jahrelang er-
hebliche Schwierigkeiten, eine Erlaubnis zur Vorführung seines im Jahre 1886 patentier-
ten Automobils zu erhalten. Das Interesse an seinem Fahrzeug war noch auf der Welt-
ausstellung 1889 in Paris eher gering. Somit war es für ihn wohl kaum erkennbar, dass
nur einhundert Jahre später die Abgase von Automobilen, die er und wie alle weiteren
82 Wolfgang Mathis

Erfinder auf diesem Gebiet den Schloten der Fabriken gleich einfach in die Umwelt be-
förderten, zu einem sehr ernsten Problem für die ganze Menschheit führen würde. Die
heutige Mobilität mit Millionen von Automobilen war damals kaum vorstellbar und da-
her wäre eine Debatte über die Abgase von Verbrennungsmotoren solcher Fahrzeug im
Vergleich zu anderen Schwierigkeiten der Automobiltechnik von damals ziemlich bizarr
gewesen. Allerdings hätte diese Problematik spätestens vor Einführung der Massenpro-
duktion von Automobilen durch Henry Ford neu überdacht werden müssen, denn es
war ja in den 1920er Jahren sein erklärtes Ziel, Millionen von Auto zu herzustellen und
zu verkaufen. Die Fragen, ob zur Lösung des Abgasproblems die technischen Möglich-
keiten bestanden hätten und in wie weit die Gewinnoptimierung eine entsprechende
Diskussion verhindert hat, können jedoch hier nicht weitergeführt werden. Eine gesell-
schaftliche Debatte über die Wechselbeziehung von gesellschaftlichen und ökonomi-
schen Bezügen wäre allerdings sinnvoll gewesen und hätte vielleicht manche erst heute
erkennbaren Folgen der individuellen Mobilität vermindern können. Ähnliches gilt für
andere Großtechnologien, die globale Auswirkungen auf Leben haben.
Dabei können Debatten über Fragen der Verantwortung und Ethik von Ingenieu-
ren ohne Zweifel bei der Suche nach einem Standpunkt wertvolle Hilfestellungen ge-
ben – ganz im Sinne von Martin Lendi, Professor für Rechtswissenschaften an der ETH
Zürich, wenn er in verschiedenen Vorträgen darauf hinweist [22]: » Ethik stiftet Unruhe
hin zum tieferen Nachdenken über die Folgen unseres Tuns, und sie hält wider das Unzu-
längliche zum Dennoch an «.

Literatur
[1] F. Bacon: Neues Organon (Herausg. und Einleitung: W. Krohn). Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft, Darmstadt 1990
[2] A. Bremer: Die Welt in 100 Jahren. Georg Olms Verlag, Hildesheim – Zürich – New York
2010 (mit einem Essay von G. Ruppelt). Nachdruck der Ausgabe Berlin 1910
[3] F. Dessauer: und Streit um Technik. Frankfurt/M. 1956
[4] A. Huxley: Schöne neue Welt. (Erstauflage des Originals » Brave New World «, 1932). Fischer
Bücherei, Frankfurt/M. 1953 (1970)
[5] H. Jonas: Technik, Medizin und Ethik – Praxis des Prinzips Verantwortung. Suhrkamp,
Frankfurt/M. 1985
[6] H. Lenk, G. Ropohl (Hrsg.): Technik und Ethik. Stuttgart 1987
[7] H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004
(ursprünglich 1964, 1994)
[8] M. Maring (Hrsg.): Verantwortung in Technik und Ökonomie. Universitätsverlag 2009
[9] F. Rapp: Analytische Technikphilosophie. Verlag Karl Alber, Freiburg – München 1978
[10] G. Ropohl: Ethik und Technikbewertung. Frankfurt/M. 1996
Die » schöne neue Welt « und die Verantwortung der Ingenieure 83

[11] A. Spitaler, A. Schieb (Hrsg.): Wissen und Gewissen in der Technik. Verlag Styria, Graz –
Wien – Köln 1964
[12] H. Stork: Einführung in die Philosophie der Technik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 1977 (Aufl. von 1991)
[13] F. Tank: Some Thoughts on the State of the Technical Science in 2012 A. D.
Proceedings of the IRE, Vol. 50, 1962, S. 622 – 623
[14] M. Triclot: Norbert Wiener’s politics and the history of cybernetics. The Global and the
Local: The History of Science and the Cultural Integration of Europe. Proceedings of the 2nd
ICESHS (Cracow, Poland, September 6 – 9, 2006)/Ed. by M. Kokowski.
[15] Zum Selbstverständnis des Ingenieurs und den Folgerungen für eine verantwortbare Pra-
xis. VDE/VDI Arbeitskreis Gesellschaft und Technik, Stuttgart 1997
[16] Ch. Hubig, J. Reidel (Herausg.): Ethische Ingenieurverantwortung – Handlungsspielräume
und Perspektiven der Kodifizierung. Technik, Gesellschaft, Natur: Band 5, Edition Sigma, 2000
[17] J. Verne: Paris im 20. Jahrhundert. Fischer-Taschenbücher, Frankfurt/M. 2000 (geschrie-
ben 1863)
[18] J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt/M.
1977
[19] N. Wiener: Mathematik – Mein Leben (deutsche Ausgabe des 1956 erschienenen Originals).
Fischer Bücherei, Frankfurt/M. 1965
[20] K.-F. Wessel, B. Thiele (Hrsg.): Risiko in Wissenschafts- und Technikentwicklung und die
Verantwortung des Ingenieurs und Wissenschaftlers. Berlin: DVW, 1991, P. Hoyningen-Huene:
Zur Verantwortung des Ingenieurs, S. 79 – 93.
[21] N. Wiener: A scientist rebels. The Atlantic Monthly, Jan. 1947, Vol. 179, S. 46
[22] M. Lendi: Grundorientierungen für die Raumplanung/Raumordnung – eine Vorlesung.
Eine Gastvorlesung, gehalten in Wien an der Universität für Bodenkultur, am 24. November
2003 (http://e-collection.library.ethz.ch/eserv/eth:26888/eth-26888-01.pdf)
[23] H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisa-
tion, Frankfurt M. 1984
[24] P. W. Singer: A world of killer apps. Nature, Vol. 477, 2011, S. 399 – 401
Treuhänderisches Handeln
in der Berufspraxis von Ingenieuren

Gerhard Wegner
Sozialwissenschaftliches Institut der EKD

Der im Titel enthaltene Vorschlag, die Berufsverantwortung von Ingenieuren als ein
treuhänderisches Handeln, das heißt als ein Handeln aus anvertrauter Macht zu begrei-
fen, soll im Folgenden in zehn Thesen entfaltet werden. Der Ausgangspunkt für die-
sen Gedanken wird in einem spezifischen Verständnis menschlichen Handelns gesehen,
das dieses nicht – oder auf jeden Fall nicht nur – als aus sich selbst heraus legitimiert
und allein vor sich selbst und eines anderen als rechenschaftspflichtig versteht, sondern
es stets vor dem Hintergrund einer dritten Bezugsgröße begreift. Von dieser dritten
Instanz her wird dieses Handeln als ein beauftragtes, anvertrautes, – in gewisser Hin-
sicht auch: pflichtgemäßes – Handeln begriffen und insofern seine spezifische Verant-
wortungsdimension rekonstruiert. Die Verantwortung dieses Handelns realisiert sich
herkömmlich im Ingenieurgeschehen, aber auch im sonstigen alltagsweltlichen Hand-
lungsverständnis, vor allem als Betonung von Haftung. Besonders im Blick auf das Inge-
nieurhandeln muss es sich jedoch auch als Sorge, das heißt als Bemühen um die Gestal-
tung der Zukunft verstehen.
Indem die Berufsverantwortung von Ingenieuren auf diese Weise als Handeln aus
anvertrauter Macht begriffen wird, wird insbesondere die Angewiesenheit dieses Han-
delns auf übergreifende Zusammenhänge, in die dieses Handeln eingebettet ist und vor
denen es sich reflektiert, deutlich. Die Berufsethik des Ingenieurhandelns kann in die-
ser Hinsicht nicht nur als die Reflexion auf bereits vorhandene Verantwortungsaspekte
und moralische Implikationen verstanden werden, sondern muss immer auch als eine
ethische Heuristik in den Blick geraten: Versteht man es als treuhänderisches Handeln
werden stets neue Verantwortungskontexte entdeckt. Der Kreis der Verantwortung, in
die Ingenieure mit ihrem Handeln einbezogen sind, erweitert sich auf diese Weise be-
ständig. Ethik ist so nicht etwa eine Bremse für das Ingenieurhandeln, sondern sie stellt
geradezu ein wichtiges Moment seines Antriebes dar: Die Technikentwicklung erfolgt
nicht etwa als im Nachhinein gebremst durch ethische Reflexion, sondern als hervorge-

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
86 Gerhard Wegner

bracht durch ebendiese, da sie sich im Blick auf die Zukunft als Sorge um eine lebens-
werte Welt begreift.
Treuhänderisches Handeln in diesem Sinne reflektiert sich insbesondere, indem es
sich seiner Wertebindung, das heißt seiner » Ergriffenheit « von Vorstellungen eines gu-
ten Lebens bewusst wird.

1. These: Verantwortung als Normengehorsam

Blickt man auf die alttägliche Berufspraxis von Ingenieuren, so wird man mit ihrem
eigenen Selbstverständnis zunächst einmal feststellen können, dass sich die Verantwor-
tung von Ingenieuren alltäglich vor allem dadurch realisiert, dass legitimen Erwartun-
gen und vorgegebenen Normen entsprochen wird. Zu diesen legitimen Erwartungen
und vorgegebenen Normen zählen gesetzliche Vorgaben, vereinbarte Normen, profes-
sionelle Standards, Vorgaben von Unternehmen und anderen Auftraggebern, gegebe-
nenfalls auch weitergehende Standards wie Menschenrechte und anderes.
Diese Art der Verantwortung kann als Verantwortung erster Ordnung begriffen wer-
den. Sie ist für eine verantwortliche Berufspraxis schlichtweg unaufgebbar und es ist
von entscheidender Bedeutung, dass in allem technischen Handeln eine Reflexion auf
die entsprechenden Normen erfolgt. Ohne einen solchen Normengehorsam geht es in
der Technikentwicklung auf gar keinen Fall und die entsprechenden Normen müssen
im Diskurs auch dauernd weiterentwickelt werden. Bereits die Verantwortung erster
Ordnung ist somit als ein höchst kreativer Prozess zu begreifen, der falsch verstanden
wäre, wenn er nur als Einschränkung von technischen Möglichkeiten begriffen wird.
Technikentwicklung ist auch auf dieser Ebene nicht frei von gesellschaftlichen Vorga-
ben, sondern folgt in dieser Hinsicht auch stets gesellschaftlichen Fahrtentwicklungen
aller Art.

2. These: Fallstricke des Normengehorsams

Betrachtet man nun näher die Mechanismen des Normengehorsams, so wird nun aber
auch ehr schnell deutlich, dass mit der Orientierung an vorgegebenen Normen auch
spezifische Fallstricke einhergehen. Denn je klarer diese Normen formuliert sind, desto
größer sind die mit ihrer Anwendung stets einhergehenden Gefahren. Dazu zählt zu-
nächst einmal das, was man als » Abhakmentalität « bezeichnen kann. Fernab von jeder
kreativen Anwendung von Normen geht es hier nur darum, in einer gleichsam bürokra-
tischen Weise vorhandene klar definierte Normen in den eigenen technischen Projek-
ten abzuhaken. Die Gefahr dabei, den Blick für das Ganze zu verlieren, liegt deutlich auf
der Hand. Damit einher gehen dann weitere Gefahren, wie z. B. die Entwicklung eines
Tunnelblicks, mit dem nur noch die unmittelbaren Randbedingungen des eigenen tech-
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 87

nischen Projektes in den Blick geraten, aber der große Zusammenhang, in dem sich
das Ganze bewegt, völlig aus dem Blick gerät. Ebenso können Probleme einer reinen
Funktionärsethik auftreten. Auch der Verlust von letztendlicher Identifikation bis hin
zu Formen von Ironie und Zynismus drohen. Gestaltung, Phantasie und Entwurfsstre-
ben kommen bei dieser Art des Normengehorsams leicht abhanden. Insofern kann ein
reiner Normengehorsam zu einer Blockierung der Kreativität führen.
Das Ganze ist mithin ein gewissermaßen paradoxes Geschehen, denn Verantwor-
tung für das eigene technische Projekt kann natürlich in der Regel nur so übernom-
men werden, dass man sich an bestehenden Normen orientiert, weil nur auf diese Weise
überhaupt Haftungsfragen in den Blick kommen. Was allerdings sehr viel weniger in
den Blick gerät, ist das, was im Weiteren als Verantwortung unter dem Aspekt der Sorge
im Blick auf die Gestaltung der Zukunft angesprochen werden soll.

3. These: Notwendige Alternativenproduktion

Aus den Schwächen des reinen Normengehorsams folgt berufsethisch die Bringschuld
des Ingenieurs » in Bezug auf einen Reichtum der Alternativenproduktion « (Hanns-
Peter Ekardt). Den Gefahren des reinen Normengehorsams kann nur dann begegnet
werden, wenn die Ingenieursverantwortung in der Weise wahrgenommen wird, dass
stets ein höchstmöglicher Reichtum an Alternativen mitgedacht oder sogar auch mit
produziert wird. Der Begriff » alternativlos « ist auch im Ingenieuralltag ein Unwort. Es
gibt nie die eine eindeutige Lösung, die alle anderen Alternativen von vornherein aus
dem Feld schlagen würde. Deswegen müssen stets Alternativen zu jedem Projekt ent-
wickelt und in einer möglichst herrschaftsfreien Diskussion einer Entscheidung zuge-
führt werden. Das Ingenieurdenken darf insofern erst recht nicht auf Normengehorsam
reduziert werden; die Alternativenproduktion wird vielmehr durch Phantasie, Genia-
lität, auch durch Mut und durch den » großen Wurf « entschieden. Dazu muss es Frei-
räume und Diskussionsmöglichkeiten geben.
Weiter gedacht bedeutet dies, » dass es keine sachlich eindeutige Obergrenze im Be-
arbeitungsaufwand gibt « (Ekardt). Auch wenn diese Aussage sehr apodiktisch und ge-
radezu kantianisch fordernd klingt, so lässt sie sich schwerlich bestreiten. Obergrenzen
im Bearbeitungsaufwand werden aus pragmatischen Gründen zu ziehen sein – so auch
aus der Notwendigkeit, irgendwann überhaupt einmal zu entscheiden, aber sie entste-
hen nicht aus der Sache selbst. Damit ist ein sehr hoher Anspruch an das Ingenieur-
handeln formuliert. Im Grunde genommen ist dies ein Anspruch, der durchaus dem
kantianischen kategorischen Imperativ entspricht. Ein Abbruch der Alternativenpro-
duktion könnte infolgedessen erst dann erfolgen, wenn wirklich alle denkbaren Folgen
für alle denkbar Beteiligten eines technischen Projektes erreicht sind. In der Realität
wird man diesen Zustand freilich nie erreichen, aber als Horizont der eigenen Verant-
wortung bleibt er im Raum.
88 Gerhard Wegner

Im Übrigen folgt die Notwendigkeit einer großen Alternativproduktion auch schon


aus der » sachlogischen Zirkularität « zwischen Aufgabenstellung und Aufgabenerledi-
gung bzw. zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber. Diese Situation ist schon im all-
täglichen Auftragshandeln von Ingenieuren nachvollziehbar. Der Auftraggeber weiß in
der Regel nicht, welche technische Lösung die für ihn am besten geeignetste ist und
kann dies auch nicht wissen. Insofern muss der auftragnehmende Ingenieur dem Auf-
traggeber eine ganze Reihe von Alternativen vorlegen, und auch in der dann folgen-
den Entscheidung existiert ein großer Beratungsbedarf. Umgekehrt bedeutet dies, dass
das Verhältnis zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber im technischen Bereich ganz
ähnlich wie in anderen professionellen Bereichen im ärztlichen oder juristischen Be-
reich nicht ohne ein hohes Maß an Vertrauen in die Professionalität und Verantwortung
von Ingenieuren erfolgen kann.

4. These: Verantwortung fürs Unterlassen – Haftung und Sorge

Hinter den angestellten Überlegungen steckt eine spezifische Vorstellung von Verant-
wortung, die sich nicht nur auf das getane Tun (= Haftung), sondern ebenso auf das
nicht getane Tun, das Unterlassen (=Sorge) richtet. Ethischen Überlegungen ist es na-
türlich immer darum zu tun, dass jemand die Folgen für das eigene Handeln auch tra-
gen kann und insofern für dieses Handeln haftet. Sehr viel spannender und auch sehr
viel kreativer wird es jedoch mit der Frage danach, ob nicht auch das nicht getane Eigen-
handeln, das Unterlassen, Folgen für den Einzelnen hat. Die Reflektion auf das Un-
terlassen lässt sich konstruktiv als Sorge bezeichnen, als Sorge um die Gestaltung des
Lebens in der Zukunft, die durch das eigene Tun und Unterlassen beeinflusst wird. In-
sofern ist die Verantwortung des Ingenieurs nicht nur auf das gerichtet, was er selbst
leistet, sondern auch auf das, was er nicht leistet und was durch das eigene technische
Projekt möglicherweise sogar überdeckt wird. Die Alternativen, die an dieser Stelle auf-
leuchten gehen also weit über das eigene Projekt hinaus und können auch die Fragen
aufnehmen, die durch die eigene technische Entwicklung gerade ausgeschlossen wer-
den. Es kann sein, dass die Entscheidungen in dieser Hinsicht nicht unmittelbar im Be-
rufsfeld des eigenen Ingenieurs angesiedelt werden, sondern an andere übergreifende
Stellen delegiert sind. Die Notwendigkeit, an dieser Stelle Rückfragen zu stellen und Al-
ternativen einzuklagen, bleibt aber beim Ingenieur.
Faktisch ist es sogar so, dass der Sorge größere Bedeutung als dem Haftungsaspekt
zukommt, weil stets der Nichtschädigung von Menschen und Umwelt der Vorrang vor
einer Entschädigung eingeräumt werden wird. Aus dem Haftungsaspekt resultiert die
Notwendigkeit von Entschädigung im Fall der Schädigung durch technische Projekte.
Jeder Beteiligte würde aber in jedem Fall eine Nichtschädigung einer Entschädigung
vorziehen. Genau damit ist aber dem Aspekt der Sorge der Vorrang eingeräumt. Sor-
gend und dann im zweiten Schritt haftend in die Welt einzugreifen, wird somit zum
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 89

Kern von technischer Verantwortung. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch techni-
sche Verantwortung mit einem Blick in die Zukunft verbunden werden muss. Die Frage
» Wie wollen wir in Zukunft leben ? « steht auch im Hintergrund jeder technischen Ent-
wicklung. Technik hat nie nur mit Technik zu tun, sondern mit ihrer eigenen Einbet-
tung in den gesamten Lebens- und Wirklichkeitsprozess.

5. These: Die Sorge als Wert

Es lohnt sich nun an dieser Stelle, die Idee von Verantwortung als Sorge weiter zu ent-
falten, da hier das Problem der Wertorientierung und Wertbindung von technischem
Handeln besonders deutlich wird. Folgt man dem Wirtschaftsethiker Christian Neu-
häuser, so impliziert die Idee der Verantwortung als Sorge eine umfassende solidarische
Grundannahme. Indem ich mein Handeln in zukünftige Lebenskonzepte und Wirk-
lichkeitsvorstellungen einbette, akzeptiere ich für mich meine eigene solidarische Ein-
bindung in diese zu realisierende und auf mich zukommende Zukunft. Genauso wird
treuhänderisches Handeln als Auftrag einer dritten Instanz – in diesem Fall noch recht
nüchtern als die Zukunft beschrieben – konkretisiert. Auch der Haftungsaspekt bindet
mein Handeln an solidarische Beziehung zu anderen, aber er begrenzt diese solidari-
sche Beziehung gleichsam durch die immer wieder prinzipielle Möglichkeit des Reali-
sierens meiner Haftung. Indem ich aber mich selbst als sorgend um die Zukunft dieser
Welt begreife, wird meine Verantwortung sehr viel weiter ausgedehnt.
Sorge zu übernehmen, wird so zum Wert des Handelns von Ingenieuren. Unter Wert
verstehen wir in diesem Fall eine Art von elementarer Grundgestimmtheit, von einem
» Ergriffensein « (Hans Joas), dem man sich nicht entziehen kann. Werte sind das, was
Menschen elementar anleitet und von dem sie sich selbst auch bestimmt fühlen. Das
Besondere daran ist, dass Menschen sich zwar durch Werte gebunden, ohne sich jedoch
dadurch zu etwas gezwungen zu fühlen, sondern im Gegenteil dieses Ergriffenseins ih-
rer inneren Welt geradezu als Befreiung zu einem wirklichen Handeln und zur eigenen
Orientierung verstehen. Nur durch die Bindung an Werte in diesem Sinne kann ich frei
in der Welt handeln, weil ich Verantwortung für andere und für die Welt übernehmen
kann. Das, was ich im technischen Handeln tue, kann damit etwas Neues in die Welt
bringen, das diese Welt bereichert, ohne sie zu bedrohen oder gar zu zerstören.

6. These: Freiheit

Zusammengefasst lässt sich nun sagen, dass das Handeln von Ingenieuren im Blick auf
die durch die Sorge angetriebene Notwendigkeit der Alternativenproduktion als ein
Handeln in Freiheit verstanden und auch entsprechend institutionalisiert werden sollte.
Die Sorge um die Zukunft des Lebens auf diesem Globus befreit das technische Handeln
90 Gerhard Wegner

dazu, sich selbst im Hinblick auf die Zukunft zu reflektieren und nach den jeweils best-
möglichen Alternativen zu suchen. Diese Freiheit muss auch im konkreten Berufsalltag
realisierbar sein. Zwang und fehlende Information sind schon seit Aristoteles Gründe,
die von Verantwortung in dieser Hinsicht befreien und die bei einem verantwortlichen
Ingenieurshandeln nicht vorkommen dürfen.
Die Anreizstrukturen des Ingenieurhandelns müssen Konflikte in dieser Hinsicht
möglichst minimieren. Dazu zählen an erster Stelle Konflikte zwischen Ökonomie und
Ethik. Völlig aus der Welt schaffen lassen sich diese Konflikte natürlich nicht. Aber das
Bestreben danach, die notwendige technische Alternativenproduktion möglichst weit
zu entfalten, bevor ökonomische Entscheidungen fallen, sollte breiter anerkannt wer-
den. Damit geht auch einher, dass die Unabhängigkeit von Ingenieuren in der Technik-
produktion, die erst ein freies Handeln möglich macht, entscheidend ist. Dabei geht es
natürlich um das Recht zur Verweigerung bestimmter technischer Entwicklungen, aber
dieses Recht, so wichtig es ist, scheint nicht von primärer Bedeutung zu sein. Von pri-
märer Bedeutung ist die Möglichkeit zur Entwicklung von technischen Alternativen im
konkreten Fall und ihre möglichst weitgehende Ausarbeitung. Freiheit und Verantwor-
tung von Ingenieuren realisiert sich darin.

7. These: Kategoriale und relativierende Urteilsbildung

Die bisher angestellten Überlegungen müssen nun weiter differenziert werden, vor al-
lem im Blick darauf, dass man natürlich berechtigterweise Bedenken gegen die Absolut-
heit der Forderung nach Alternativenproduktion und in diesem Sinne nach Freiheit ha-
ben kann. Deswegen muss nun auch gesagt werden, dass Verantwortung als Sorge sich
stets zwischen kategorialen, apodiktischen Urteilen und relativierender Chancen- und
Risikoabwägung konkretisiert. Das eine geht nicht ohne das andere: Man muss wissen,
was man grundsätzlich ablehnt (apodiktisches Urteilen), um überhaupt entscheiden zu
können, was getan werden kann (relativierende Abwägung). Das eine ohne das andere
ist schon rein logisch nicht vorstellbar, denn ohne Grenzen der relativierenden Abwä-
gung wird man überhaupt keine Abwägung hinbekommen. Freiheit der Chancen- und
Risikoabwägung erwächst deswegen auch an dieser Stelle erst aus der Bindung an be-
stimmte kategoriale grundsätzliche Werte und Urteile.
Als Beispiel einer gelungenen Verständigung zischen kategorialen und relativieren-
den Urteilsbildungen sei das Votum der » Ethikkommission Sichere Energieversorgung «
zur Energiewende in Deutschland zitiert. Dort heißt es, nachdem alle denkbaren kate-
gorialen und relativierenden Urteile diskutiert worden sind: » Der Ausstieg ist nötig und
wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zu-
kunft auszuschließen. Er ist möglich, weil es risikoärmere Alternativen gibt. « Hier wird
folglich beides in eine gute Beziehung miteinander gebracht. Die kategoriale Aussage,
dass der Ausstieg nötig ist, wird mit der abwägenden Aussage, dass er möglich ist, in
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 91

ein sinnvolles Verhältnis gesetzt. Eins geht in der Regel nicht ohne das andere. Insofern
geht es in entsprechenden ethischen Diskursen immer darum, beide in sich sinnvollen
Haltungen und Urteilsweisen mit einer gewissen Toleranz und Demut aufeinander zu
beziehen.

8. These: Ethische Unternehmenskulturen

Um nun einen möglichst hoffnungsvollen Blick in die Zukunft zu werfen, sei an dieser
Stelle auch darauf hingewiesen, dass der Bedarf an in die Zukunft gerichtetem Sorge-
handeln angesichts der ökologischen Bedrohungsszenarien insbesondere in technischen
Bereichen weiter wachsen wird. Technisches Handeln, dass lediglich von Tunnelblicken
und begrenzten Alternativen geprägt wird, wird in Zukunft immer weniger nachgefragt
werden bzw. in reine relativ langweilige Spezialbereiche abgedrängt werden. Jene Unter-
nehmen aber, die in der hier vorgestellten Weise ethische Unternehmenskulturen pfle-
gen, werden in der Zukunft erfolgreich sein, da sie im Wettbewerb den anderen weit
voraus sein können. Ethische Reflexion erweist sich auch in dieser Hinsicht als ein Wett-
bewerbsvorteil, der sich vielleicht nicht in kurzfristigen Erfolgen, aber in einer langfris-
tig nachhaltigen Aufstellung des Unternehmens zeigen wird.
Dabei sind diejenigen Unternehmen, die sich als Wertegemeinschaften oder zumin-
dest als wertorientierte Verhandlungsräume aufstellen, von Vorteil. Solche Unterneh-
men bieten in sich Freiräume für verantwortungsethische Diskurse und Möglichkeiten
über Zielsetzungen des Unternehmens und die eigenen Produktentwicklungen in eine
Diskussion zu kommen. Unternehmen, in denen solche Möglichkeiten beschränkt wer-
den, mangeln der Kreativität, die es braucht, um sich wirklich sorgend in die Zukunft
bewegen zu können. Die Frage an entsprechende technische Unternehmen in Zu-
kunft ist folglich, welchen Beitrag man zu einem gemeinsamen Leben in der Schöpfung
leisten will und was dazu durch das eignen Unternehmen technisch entwickelt werden
soll. Oder um Sabine Langer zu zitieren: » Was will durch uns in die Welt gebracht wer-
den ? « Diese Fragestellung formuliert noch viel präziser die Orientierung an einer Wer-
torientierung, von der sich der Ingenieur und das ganze Unternehmen selbstbestimmt
und getragen zugleich wissen.

9. These: Treuhänderisches Handeln als Selbsttranszendierung

Fasst man nun das bisher Gesagte zusammen, so kann davon gesprochen werden, dass
sich ein technisches Handeln als treuhänderisches Handeln in seinem eigenen Han-
deln im Blick auf letzte Werte und dritte Ebenen selbst transzendiert, das heißt selbst
im Blick auf seine eigene Bindung übersteigt. Treuhänderisches Handeln begreift sich
als Handeln im Auftrag und vor dem Forum einer dritten Instanz, wie immer sie im
92 Gerhard Wegner

Einzelnen geartet ist. Es transzendiert sich – und die Ebene des Verhältnisses von Auf-
tragnehmer und Auftraggeber – auf diese Weise. Im Raum und in der Wahrnehmung
stehen deswegen nie nur der Ingenieur und der ihn Beauftragende, sondern stets auch
diese dritte Instanz, die ihr Licht auf das konkrete technische Tun wirft. Erzeugt wird
auf diese Weise eine Distanz zum konkreten Tun, auch zum Verhältnis von Auftragneh-
mer und Auftraggeber als solchen, die heilsame Freiheit und damit Kreativität mit er-
zeugen kann.
Natürlich ist die Frage, wie sich diese dritte Instanz genauer fassen lässt. Die Ant-
wort hierauf muss offen bleiben, da für die genaue Benennung dieser dritten Instanz
natürlich verschiedene Kandidaten infrage kommen. So kann auf der einen Seite die
Natur oder Schöpfung oder auch die Zukunft in dieser Hinsicht als eine wichtige kor-
rigierende Instanz benannt werden, die sich vielleicht im Gewissen noch näher kon-
kretisiert. Es kann auch das moralische Gesetz in mir und in dieser Hinsicht noch viel
näher das Gewissen sein. Es können ultimative Werte sein, von denen ich mich ergrif-
fen fühle, und es kann in dieser Hinsicht auch das sein, was mit der Kategorie Gott be-
zeichnet wird.
Allen diesen Referenzen ist eine gewisse Unspezifität zu eigen, das heißt, es geht
bei diesen Referenzen niemals um eine klar definierbare normative Instanz, die sich
im Sinne eines Normengehorsams abhaken ließe. Selbst für die berühmten Zehn Ge-
bote trifft dies in keiner Weise zu. Gerade in dieser Unspezifität liegt aber die Stärke
dieser Größen, weil sie einen Raum der Reflexion und damit der Freiheit eröffnen, der
im Normengehorsam eben gerade nicht gegeben ist und zu den benannten Schwächen
führt. Gefordert sind mithin der beständige Diskurs und die beständige Verständigung
über das notwendige Handeln, was aus dieser Triangulation des eigenen Handelns er-
folgt. Weil jedoch diese Größen nicht abhakbar sind und deswegen bisweilen vielleicht
sogar trivial erscheinen, werden sie in meiner Erfahrung von Ingenieuren leider bestän-
dig unterbewertet. Wenn man sich allerdings klarmacht, wie sehr diese Größen mit der
eigenen Persönlichkeitsstruktur zu tun haben, wird ihre Bedeutung besonders deut-
lich. Damit sie gepflegt werden, braucht es allerdings eine Symbol- und Sprachwelt, die
über das hinausgeht, was meist im unmittelbaren Ingenieurshandeln direkt verwertbar
ist. Ingenieure brauchen den lebendigen Dialog Geisteswissenschaftlern, Philosophen,
Theologen und Künstlern.

10. These: Verantwortete Freiheit zur Kreativität

Als ein Ausblick sei nun noch darauf hingewiesen, dass technisches Handeln heute vie-
les in die Welt setzt, was es so vorher noch gar nicht gab. Wie kaum ein anderes Han-
deln ist technisches Handeln heute immens innovativ. In dieser Hinsicht ist technisches
Handeln nicht nur auf Werte bezogen, sondern auch wertegenerierend. Auch ein tech-
nisches Handeln, das aus der Sorge um das Leben auf dieser Welt resultiert, verändert
Treuhänderisches Handeln in der Berufspraxis von Ingenieuren 93

dieses Leben in der Welt entscheidend und greift deswegen auch beständig in Werte-
strukturen ein. Die vielen Technikphantasien und Technikvisionen weisen darauf hin,
wie stark dies der Fall ist. Ein Leben auf dieser Welt ohne Technik ist nicht mehr zu den-
ken. Auf diese Weise sind technische Lösungen, Automaten und Maschinen längst mehr
als nur von Menschen zu beherrschende Instrumenten, sondern selbst zu Partnern des
Lebens geworden.
Weil dies so ist, muss die Freiheit zu diesem Tun weiter wachsen, da von einer nach-
haltigen Technikentwicklung die Zukunft entscheidend abhängt. Gefordert ist eine
Wahrnehmung von Freiheit in Verantwortung.

Literatur
Veronika Drews: Das Gute im Geschäft. Wie Unternehmen Ethik treiben. Berlin 2010
Heinz Duddeck (Hrsg): Technik im Wertekonflikt. Ladenburger Diskurs. Opladen 2001
Hanns-Peter Ekardt: Wozu Ingenieurverantwortung ? Zur Alltäglichkeit professioneller Selbst-
kontrolle im Bauwesen. MS Berlin 15. 4. 1997
Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung: Deutschlands Energiewende – Ein Gemein-
schaftswerk für die Zukunft. Berlin 30. Mai 2011
Hans Joas: Die Entstehung der Werte. Frankfurt a. M. 1999
Christian Neuhäuser: Unternehmen als moralische Akteure. Berlin 2011
Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Ethik in der Praxis. Wege zur Realisierung einer Technikethik.
Hannover 1998
Risikogesellschaft und die German Angst

Peter Nickl
Leibniz Universität Hannover/Universität Regensburg

Die Verantwortung, über die zu sprechen ist, und die natürlich nicht nur eine » Ver-
antwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren « ist, befindet sich ja schon auf dem
besten Wege, wenn nicht auf der einen Seite Naturwissenschaftler und Ingenieure, auf
der anderen Geistes- und Sozialwissenschaftler sozusagen in den Gattern ihrer Fächer
und unter den Scheuklappen der dort betriebenen Spezialdiskurse bleiben. Mit ande-
ren Worten: unser Miteinanderreden (und Aufeinanderhören) ist ein Schritt, der bereits
vieles impliziert. Denn es kann ja nicht so sein, dass die Ingenieure nach den Philoso-
phen rufen, um sich Verantwortung erklären zu lassen, sondern es ist eine gemeinsame
Suche, bei der sich die Ingenieure ein wenig auf philosophisches Terrain wagen (und da-
mit nicht an ihrer von Fremdeinflüssen abgeschirmten Ingenieurs-Kompetenz festhal-
ten), und bei der sich die Philosophen ein wenig aufs Ingenieur-Terrain begeben (wobei
auch sie ein Stück ihrer von Fremdeinflüssen freigehaltenen Philosophen-Kompetenz
aufgeben).
Wenn es einen wirklichen Dialog gibt, dann werden am Ende beide Partner vonein-
ander gelernt haben, und es wird zu einer Entgrenzung vormals streng geschiedener Fä-
cher kommen. Ich möchte diesen Punkt später noch einmal aufgreifen.

1 Risikogesellschaft

Der Begriff » Risikogesellschaft « wurde von dem Münchner Soziologen Ulrich Beck
1986 geprägt. Sein Buch war schon fertig, da ereignete sich das Unglück von Tscherno-
byl, und bestätigte dramatisch die Triftigkeit der von Beck vorgenommenen Analyse:
ein neues Zeitalter war angebrochen, ein Zeitalter, für das noch der Name fehlte. Ich
zitiere:

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
96 Peter Nickl

» Thema dieses Buches ist die unscheinbare Vorsilbe › post ‹. Sie ist das Schlüsselwort
unserer Zeit. «1 Gemeint ist: die gesellschaftliche Produktion von Reichtum in der Indus-
triegesellschaft kann nicht einfachhin als Fortschritt betrachtet werden. Sie wird immer
sichtbarer begleitet und überschattet, in Frage gestellt durch die gesellschaftliche » Pro-
duktion von Risiken «.2 Während die Reichtumsverteilung bestimmte Grenzen kann-
te – hier Reiche, dort Arme –, geht die Risikoverteilung über sämtliche Grenzen hinweg.
Beck bringt es auf die Formel: » Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch. « Und er
fährt fort: » Mit der Ausdehnung von Modernisierungsrisiken – mit der Gefährdung der
Natur, der Gesundheit, der Ernährung etc. – relativieren sich die sozialen Unterschiede
und Grenzen. «3 Aber nicht nur die vom gemeinsamen Risiko bedrohte Weltbevölke-
rung (konsequenterweise hat Beck später den Begriff » Weltrisikogesellschaft «4 geprägt)
rückt zusammen, sondern auch die Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen Diszi-
plinen, ja sogar die seit Hume zum Standardrepertoire aller Intellektuellen avancierte
Einteilung der Sätze in solche, die vom » Sein « und solche, die vom » Sollen « handeln –
also die Unterscheidung von » deskriptiv « und » normativ « ist in der Risikogesellschaft
nicht mehr zu halten. Denn: ob ein Risiko besteht, ist nicht einfach eine Tatsache, son-
dern zugleich auch eine Bewertung. Beck schreibt: » Risikofeststellungen sind eine noch
unerkannte, unentwickelte Symbiose von Natur- und Geisteswissenschaft, von Alltags-
und Expertenrationalität, von Interesse und Tatsache. Sie sind gleichzeitig weder nur
das eine noch nur das andere. Sie sind beides, und zwar in neuer Form. «5 Und es kommt
noch provokanter: » in Risikodefinitionen wird das Rationalitätsmonopol der Wissen-
schaften gebrochen. «6 Man muss, wie Beck sagt, » einen Wertstandpunkt bezogen haben,
um überhaupt sinnvoll über Risiken reden zu können. «7
Die Risikogesellschaft lässt sich auf die Formel bringen: » Ich habe Angst ! «8 Auch
diesen Satz kann man nicht in deskriptive und normative Anteile zerlegen: er umfasst
beides, denn es gibt objektiv etwas in der Welt (z. B. die AKWs, den Tatbestand, dass
hochradioaktive Abfälle mit einem Jahrtausende wirksamen Zerstörungspotential si-
cher entsorgt werden müssen) – also: es gibt etwas, das Angst macht; Angst ist aber ein
subjektiver Zustand, und nicht alle reagieren auf das gleiche mit Angst.

1 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 12.
2 A. a. O., S. 25.
3 A. a. O., S. 48.
4 Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik, Wien 1997 (= Wiener
Vorlesungen im Rathaus, Bd. 52).
5 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 37 f. – In » Weltrisikogesellschaft « (s. FN 4, S. 32) heißt es: die » Theorie der
Weltrisikogesellschaft « nimmt » Abschied vom Dualismus von Gesellschaft und Natur «. Oder, wie Beck
am Beispiel von » Brent Spar « deutlich macht: » Es gibt in Risikodiskursen keine Expertenlösungen, weil
Experten immer nur Sachinformationen zur Verfügung stellen können, aber niemals werten können,
welche dieser Lösungen kulturell akzeptabel sind. « Ebd., S. 53 f.
6 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 38.
7 A. a. O., S. 38 f.
8 A. a. O., S. 66.
Risikogesellschaft und die German Angst 97

2 German Angst

Erlauben Sie mir hier eine kleine Abschweifung. Es hat ja, gerade nach dem Ausstieg der
amtierenden Regierung aus der Nutzung der Kernkraft, besonders im Ausland einiges
Kopfschütteln gegeben: warum haben die Deutschen soviel Angst vor der Atomkraft ?
Sollen sie froh sein, dass sie, anders als die Menschen in Japan, Kalifornien oder Italien,
nicht in einem Erdbebengebiet leben. Engländer und Franzosen setzen seelenruhig wei-
terhin auf die Kernkraft, von den Ländern des ehemaligen Ostblocks ganz zu schweigen.
Die » German Angst « scheint etwas ganz und gar Irrationales zu sein.9
Ich möchte zurückfragen: ist die Innovationskraft deutscher Umwelttechnik – sei es
in der Photovoltaik, in der Nutzung der Windenergie, oder in der (neulich sogar vom
bayrischen Ministerpräsidenten Seehofer favorisierten) Dezentralisierung der Strom-
erzeugung durch Biogas bzw. durch kleine Blockheizkraftwerke, die durch intelligente
Steuerung bedarfsgerecht ins Netz integriert werden können (Stichwort: Schwarm-
strom) – also: steht die Vorreiterrolle deutscher Ingenieursleistung im Öko-Sektor unter
ähnlichem Irrationalitätsverdacht wie die » German Angst « ? Ich glaube nicht, bin aber
überzeugt, dass beides miteinander zu tun hat.
Deutschland ist nun einmal das Katastrophenland des 20. Jahrhunderts, und wenn
Beck die Risikogesellschaft als » katastrophale Gesellschaft «10 bezeichnet, so scheint mir
die Assoziation naheliegend: » German Angst « ist keine aus der katastrophalen Ge-
schichte des 20. Jahrhunderts erwachsene irrationale Phobie, sondern eine teuer erwor-
bene Sensibilität, die dem ökologischen Imperativ der Risikogesellschaft durchaus an-
gemessen ist.

3 Untrennbarkeit von Natur und Gesellschaft

Zurück zum Thema. Es ist geradezu prophetisch, wenn Beck kurz vor Tschernobyl und
25 Jahre vor Fukushima schreibt: » Die technischen Wissenschaften stehen immer deut-
licher vor einer historischen Zäsur: Entweder sie arbeiten und denken weiter in den aus-
getretenen Pfaden des 19. Jahrhunderts. […] Oder aber sie stellen sich den Herausforde-
rungen einer echten, präventiven Risikobewältigung. «11
Diese Aufgabe fällt aber nicht nur den Ingenieuren zu. In einzigartiger Zuspitzung
reißt Beck noch eine weitere Grenze ein: die zwischen Natur und Gesellschaft (wo-
mit die bisherige Aufgabenteilung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften hinfäl-
lig wird):12

9 Vgl. hierzu den ausgezeichneten Artikel von Ulrich Beck im Feuilleton der FAZ vom 14. Juni 2011 » Der
Irrtum der Raupe « (im Internet abrufbar).
10 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 31; vgl. ebd., S. 105.
11 A. a. O., S. 94 f.
12 A. a. O., S. 108. Hervorh. im Orig.
98 Peter Nickl

» Am Ende des 20. Jahrhunderts gilt: Natur ist Gesellschaft, Gesellschaft ist (auch)
› Natur ‹. Wer heute noch von Natur als Nichtgesellschaft spricht, redet in den Kategorien
eines Jahrhunderts, die unsere Wirklichkeit nicht mehr greifen. « Warum ? Weil gerade
die unübersehbaren Nebenwirkungen der industriellen Zivilisation klargemacht haben:
» Natur kann nicht mehr ohne Gesellschaft, Gesellschaft kann nicht mehr ohne Natur be-
griffen werden. «13

4 Nach Fukushima

Aber nach Fukushima und dem deutschen Ausstieg aus der Kernenergie – ist da die
Rede von der Risikogesellschaft noch aktuell ? Können wir nicht sagen, die Soziologie
hat uns vor einem Vierteljahrhundert einen damals brauchbaren und nötigen Kampfbe-
griff geliefert, der aber vom Gang der Ereignisse überholt wurde ?
Sicher: einiges hat sich geändert. Aber das Risiko eines GAUs ist ja durch den deut-
schen Sonderweg – der immerhin da und dort Nachahmer findet14 – nur gemindert,
nicht ausgeschaltet. Und die Atomenergie ist nicht die einzige grenzüberschreitende Ge-
fahrenquelle: weder ist der Klimawandel (mit dem Szenarium abschmelzender Polkap-
pen und riesiger Überschwemmungen, die auch Norddeutschland betreffen könnten)
gebannt, noch eine Antwort auf das Knappwerden von Ressourcen – nicht zuletzt von
Trinkwasser – gefunden.
Was sollen also » die Ingenieurinnen und Ingenieure « tun ? Ich denke, die hier skiz-
zenhaft vorgestellten Gedanken zur Risikogesellschaft weiten den Blick in eine Rich-
tung, die sich bereits zu Beginn dieser Überlegungen andeutete: die Verantwortung, um
die es geht, ist keine nach Berufsgruppen aufteilbare. Im Gegenteil: nur durch das Über-
winden der Lager – hier Geistes-, dort Naturwissenschaftler – und der Fächerscheu-
klappen kommt die Verantwortung erst zum Bewusstsein. Oder wie Beck es sagte:15 » der
hochdifferenzierten Arbeitsteilung entspricht eine allgemeine Komplizenschaft und die-
ser eine allgemeine Verantwortungslosigkeit. Jeder ist Ursache und Wirkung und damit
Nichtursache. « Mit anderen Worten: die » hochdifferenzierte Arbeitsteilung « verhindert
die Zuweisung von Verantwortung, denn an allem ist » das System « schuld. Beck nennt
das » die zivilisatorische Sklavenmoral, in der gesellschaftlich und persönlich so gehan-
delt wird, als stünde man unter einem Naturschicksal, dem › Fallgesetz ‹ des Systems. «16
Bekanntlich hat Hans Jonas in seinem Buch » Das Prinzip Verantwortung « als » Ur-
gegenstand der Verantwortung … auf das Allervertrauteste « gezeigt, » das Neugeborene,
dessen bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich

13 A. a. O., S. 107. Hervorh. im Orig.


14 Am 13. und 14. 09. 2012 berichtete die FAZ über den Beschluss der japanischen Regierung, aus der
Atomenergie auszusteigen.
15 A. a. O., S. 43. Hervorh. im Orig.
16 Ebd.
Risikogesellschaft und die German Angst 99

seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt. «17 Ja, wenn wir, wo es um die Risiken geht,
so » hinsehen « und » wissen « könnten ! Beck hebt ja gerade die » Unsichtbarkeit von zivi-
lisatorischen Gefährdungslagen «18 als deren besonderes Merkmal hervor. Aber im Bei-
spiel von Hans Jonas wird deutlich: Verantwortung ist die Verantwortung aller, nicht
der Ingenieure oder sonst einer bestimmten Gruppe von Experten; und entscheidend,
um diese Verantwortung in den Blick zu bekommen – sie wahrzunehmen – ist die » So-
lidarität der lebenden Dinge « (ein Ausdruck von Ulrich Beck19). Diese Solidarität wird
häufig mit den Mitteln marktwirtschaftlicher Kosten-Nutzenrechnung ad absurdum ge-
führt. Da bauen Gemeinden kostspielige Straßenüberquerungen für Kröten und Sala-
mander, und es lässt sich beziffern, dass für eines dieser Tiere, die man sowieso kaum zu
Gesicht bekommt, dann im Durchschnitt 10 000 € ausgegeben werden. Könnte man das
Geld nicht sinnvoller anlegen ? Nun, über Beispiele kann man streiten, aber mir scheint,
die Frage ist nicht, wie viel eine Kröte oder ein Salamander wert ist: natürlich können
wir auf eine einzelne Kröte verzichten, genauso wie auf einen einzelnen Delphin oder
Schweinswal. Aber wenn sich zeigt, dass durch zivilisatorische Eingriffe bestimmte Ar-
ten vom Aussterben bedroht sind, dann geht das auch uns etwas an – dann geht nämlich
ein vitaler Teil unserer Welt, pathetischer gesagt: unserer selbst verloren. –
In letzter Zeit wird viel darüber spekuliert, was die Energiewende kosten wird. Wo-
möglich wird sie viel teurer als geplant. (Wobei daran zu erinnern ist, dass hier immer-
hin der Wind, die Sonne und das Wasser kostenfrei zur Verfügung stehen, was man von
Uran, Kohle, Öl und Gas nicht behaupten kann.) Man zeigt sich besorgt, ob die Bevölke-
rung die Überziehung der Landschaft mit Windrädern mitmachen will ? (Vor zehn oder
fünfzehn Jahren hat man sich gefragt, ob es angehe, die Dächer, womöglich sogar von
Kirchen, mit blauen Photovoltaik-Anlagen zu bestücken.)
Ich sehe die Windräder gern. Denn unwillkürlich denke ich dabei: dafür brauchen
wir weniger Atomstrom, weniger Kohle, weniger Öl. Keine Endlagerprobleme, kein Res-
sourcenverbrauch (außer natürlich für die Stahlteile, um die Windräder zu fertigen),
keine größere Risikoquelle.
Worauf ich hinaus will: die Rede von Verantwortung und Solidarität darf nicht auf
die Predigt von saurem Verzicht und das Abfordern besonderer moralischer Leistungen
hinauslaufen, es muss auch etwas Freude bei der Botschaft mitschwingen.
Alvin Weinberg, der Vater des heutigen Leichtwasserreaktors, hat seinerzeit von
einem faustischen Pakt20 und von einer nuklearen Priesterschaft gesprochen – ich
glaube kaum, dass man als Ingenieur ein solches Selbstbild braucht.

17 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1984, S. 234 f.


18 Risikogesellschaft, a. a. O., S. 36.
19 A. a. O., S. 98 f.
20 Alvin M. Weinberg: » Social Institutions and Nuclear Energy «, in: Science, Bd. 177, No. 4043 (1972),
S. 27 – 34, hier S. 33: » We nuclear people have made a Faustian bargain with society. On the one hand,
we offer … an inexhaustible source of energy. … But the price that we demand of society for this magi-
cal energy source is both a vigilance and a longevity of our social institutions that we are quite unac-
100 Peter Nickl

Meine Vision wäre die von Ingenieuren, die Hand in Hand mit Soziologen und Phi-
losophen sich von der Chance einer risikoärmeren Gesellschaft, von einer sanften, fast
möchte ich sagen » natürlichen « Technik inspirieren lassen. Selbst wenn der letzte Reak-
tor abgeschaltet, der letzte Ottomotor auf die Brennstoffzelle oder handhabbare Batte-
rien umgestellt ist, werden wir noch nicht das Paradies auf Erden verwirklicht haben:
dann wird es immer noch Menschen geben, die mit sauberer Energie schmutzige Ge-
schäfte machen, von der ganz normalen Kriminalität oder den Problemen des Älterwer-
dens in einer Leistungsgesellschaft, in der es tendenziell immer mehr Singles und immer
weniger Familien gibt, gar nicht zu reden. Aber wer seine Sensibilität, seine Solidarität,
seine Kreativität in dieser Richtung entfaltet, wird, selbst wenn die Früchte seiner Ar-
beit erst künftigen Generationen zukommen, durch das Bewusstsein belohnt, das Rich-
tige getan zu haben.

5 Schluss

» Das Richtige « – wer weiß schon, was das ist ? Nach den Ausführungen über die Risiko-
gesellschaft kann das nur in fächerübergreifenden Begegnungen (wie ich einmal, statt
der antiseptischen » Diskurse « sagen möchte) herausgefunden werden. Und so möchte
ich anregen, ob es nicht in der Ausbildung künftiger Ingenieurinnen und Ingenieure
von Vorteil sein könnte, ein wenig » Studium generale « unterzubringen, wie es früher
bei Medizinern und Juristen üblich war und neuerdings in einigen Studiengängen, wie
an der Leuphana Universität in Lüneburg oder in Freiburg mit Erfolg praktiziert wird.
Der Ingenieur der Zukunft wird kein Nur-Ingenieur sein, er sollte über die Grenzen
seines Faches hinausschauen und sich nicht einfach zum Lieferanten degradieren las-
sen für technisches Know-how, dessen Rahmenbedingungen er nicht kennt und dessen
Zwecke er nicht nachvollziehen kann. Und es sollte nicht an Geisteswissenschaftlern
fehlen, die – nicht besserwisserisch und von oben herab, sondern ehrlich bemüht um
die Lösung der Probleme, die nicht nur uns, sondern auch die künftigen Generationen
betreffen – ihre Kompetenz, ganzheitlich zu denken, von diesen Problemen herausfor-
dern lassen. Vielleicht entstehen so ganz neue Berufsbilder, für die wir noch gar nicht
die passenden Namen haben. Aber was liegt schon an Namen, wenn es eine gemein-
same Sache gibt, die unser Engagement braucht ?
Ein letzter Gedanke. Erinnern wir uns an den Hinweis von Hans Jonas auf das Kind
als » Urgegenstand der Verantwortung «. Ingenieure werden ihre Kinder nicht weniger
lieben als andere, ebenso an einer lebenswerten Zukunft für ihre Kinder interessiert
sein wie andere. Kann man tagsüber die Berufsscheuklappen aufsetzen und abends und
am Wochenende mit der Familie ’raus in die Natur fahren ? Man kann, aber der Preis ist

customed to. « Auf S. 34 vergleicht Weinberg die Situation der zivilen Nutzung der Kernenergie mit
derjenigen der nuklearen Rüstung, wofür eine » militärische Priesterschaft « in der Verantwortung stehe.
Risikogesellschaft und die German Angst 101

hoch. Jetzt, wo die nachhaltigen Technologien in einer bisher nicht für möglich gehal-
tenen Weise zum Zuge kommen, sind die Ingenieure aufgerufen, sich nicht als Erfül-
lungsgehilfen riskanter Energien zu betätigen, sondern als Mitgestalter einer nachhal-
tigen Zukunft.
» Das hat mein Opa gebaut «, könnte 2050 stolz ein Kind sagen, das seinen Freunden
einen Windpark oder ein Solarkraftwerk zeigt. Was das Kind sagen könnte, dessen Opa
ein AKW gebaut hat, darüber schweigt der Chronist.
Teil II
Technische Chancen und Risiken
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen

Peter Schaumann
Institut für Stahlbau, Leibniz Universität Hannover

Zu Beginn meines Vortrages möchte ich mich zunächst bei meinem Kollegen Hieber
bedanken. Nicht nur dafür, dass er diese Veranstaltung organisiert hat. Nein, ihm habe
ich es zu verdanken, dass ich mich über einen Zeitraum von einigen Monaten mit die-
sem Thema auseinandergesetzt habe.

Zum Titel

Dass in dem Titel das Wort » Verantwortung « vorkommt, mag bei dem Titel dieses Sym-
posiums niemanden verwundern. Den Zuhörern ist es auch nicht verborgen geblieben,
dass hier Vertreter aus den typischen Ingenieurdisziplinen zu Ihnen sprechen. Ich habe
Bauingenieurwesen studiert und bin konsequenterweise heute als Professor an der Fa-
kultät für Bauingenieurwesen und Geodäsie tätig. Warum habe ich gleichwohl im Titel
die Bezeichnung » ziviles Ingenieurwesen « anstelle von Bauingenieurwesen verwendet ?
Dafür gibt es für mich mehrere Gründe.
Das erste, ganz vordergründige Argument ist die Tatsache, dass im angelsächsischen
Sprachraum die entsprechende Bezeichnung » Civil Engineer « lautet. In Großbritannien
nennt sich folgerichtig die im Jahre 1818 gegründete, traditionsreiche Berufsvereinigung
» Institution of Civil Engineers «, deren erster Vorsitzender der berühmte Brückenbau-
ingenieur Thomas Telford war. Auch unsere österreichischen Nachbarn verwenden den
Begriff Zivilingenieur.
Der zweite Grund ist der, dass ich ins Bewusstsein bringen wollte, dass der Begriff
» ziviles Ingenieurwesen « die Abgrenzung zum militärischen Bereich zum Ausdruck
bringt. Der Begriff Ingenieur, der bereits seit dem frühen Mittelalter Verwendung fand,
leitet sich von dem lateinischen Wort ingenium (produktiver Geist, Verstand, geistrei-
cher Mensch) ab. Diesen Titel erhielten im 12ten und 13ten Jahrhundert Menschen, die

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
106 Peter Schaumann

sich auf den Bau und die Bedienung von Kriegsgerät verstanden. Sie konnten also nicht
nur Festungen bauen, sondern auch die Attacken bei der Belagerung anordnen. Diese
Bedeutung behielt das Wort Ingenieur viele Jahrhunderte. Erst im 18ten Jahrhundert
wurde in Europa der Begriff Zivilingenieur geprägt, um zivile Belange zu integrieren
und sich von der Kriegsbaukunst abzugrenzen.
Der dritte und mir wichtigste Grund für die Begriffswahl » ziviles Ingenieurwesen «
liegt darin, dass mir der Begriff » Bauingenieur « für das Tätigkeitsfeld und damit den
Verantwortungsbereich der hier tätigen Ingenieure zu eingeschränkt ist. Darauf möchte
in dem nächsten Teil meines Vortrages etwas genauer eingehen.

Verantwortung – wofür ?

Zunächst möchte ich den Begriff » Verantwortung « so erläutern, wie ich ihn hier ver-
standen wissen will. Dabei möchte ich nicht verhehlen, dass mir als einen eher in ma-
thematisch-naturwissenschaftlich Dimensionen denkenden Menschen, der Zugang
nicht alltäglich ist.
» Sich verantworten «, sich also als Angeklagter vor Gericht rechtfertigen, wie es wohl
der Wortherkunft entspricht, kommt sicherlich auch bei Bauingenieuren vor, ist aber
nicht in erster Linie gemeint. Ich möchte » sich verantworten « als » Rechenschaft able-
gen über das Handeln in einem bestimmten Bereich und die Konsequenzen des Han-
delns tragen « verstanden wissen. Die Ingenieure, über die ich hier spreche, übernehmen
aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz bestimmte Aufgaben und stehen – insbesondere
bei Fehlern – für die Folgen ein. Ein meines Erachtens wichtiger Punkt ist dabei, dass
zu der Verantwortung auch immer die Freiheit der Entscheidung bei der Aufgabener-
füllung gehört.
Verantwortung muss einem Verantwortungsbereich zugeordnet werden. Niemand
kann für alles und jeden verantwortlich sein. Wie lässt sich nun der » bestimmte Be-
reich « beschreiben, in dem zivile Ingenieure ihre Aufgaben erfüllen ?
Bei dem Begriff » Bauingenieurwesen « haben Laien schnell ein Gebäude oder ein In-
genieurbauwerk zum Beispiel eine Brücke vor Augen. Die Tätigkeit des Bauingenieurs
wird dabei häufig mit der Entstehung also dem eigentlichen Bau verbunden. Dabei wird
vor dem geistigen Auge schablonenhaft eine Person mit Schutzhelm und Gummistiefeln
assoziiert. Da dieses Klischee zu kurz greift, habe ich mich zu der alternativen Bezeich-
nung » ziviles Ingenieurwesen « entschieden.
Der Verantwortungsbereich umfasst vielmehr

• die Konzeption und die Planung,


• den Bau und den Betrieb,
• die Organisation und
• den Erhalt
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen 107

Bild 1 Beispiele für Tätigkeitsbereiche von Bauingenieuren: Stadien, Offshore-Windenergie, Stau-


dämme, Brücken und Hafenanlagen

von Gebäuden und Infrastrukturen. Mit Infrastrukturen sind dabei nicht nur Ingenieur-
bauwerke wie Türme, Brücken oder Windenergieanlagen gemeint, sondern dazu gehö-
ren auch Straßen-, Wasserstraßen- und Schienennetze, die Wasser- und Abwasserwirt-
schaft, der Küstenschutz und vieles mehr (s. Bild 1).
Innerhalb dieser Verantwortungsbereiche geht es bei der Ingenieurtätigkeit häufig
darum, technische Anforderungen zu erfüllen. Dazu gehört in allererster Linie die Si-
cherheit, zum Beispiel die Standsicherheit von Gebäuden. Sie gehört zweifelsfrei zu den
Basisanforderungen an Bauwerke. In der Verordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bau-
produkten werden darüberhinaus weitere Basisanforderungen definiert: Brandschutz,
Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz, Nutzungssicherheit, Lärmschutz, Energieein-
sparung und Wärmeschutz und die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen.
Diese Basisanforderungen sind bei normaler Instandhaltung über einen wirtschaftlich
angemessenen Zeitraum zu erfüllen.

Verantwortung für Nachhaltigkeit

Damit komme ich auf einen besonderen Aspekt des Verantwortungsbereiches ziviler In-
genieure: Die Lebensdauer der von ihnen geschaffenen Bauwerke und Infrastrukturen.
Wie sich leicht an Beispielen wie den Pyramiden von Gizeh oder dem Pont du Gard in
108 Peter Schaumann

Bild 2 Tätigkeitsfelder von Bauingenieuren

Frankreich verdeutlichen lässt, geht die Lebensdauer der Produkte, die die Ingenieure
kreieren, oft deutlich über die Dauer des eigenen Lebens hinaus. Bauwerke werden so
zu Kulturgütern, die ihre Existenz unabhängig von dem ursprünglichen Zweck (Grab-
stätte, Wasserleitung) macht. Das Bewusstsein, dass die Arbeitsergebnisse von zivilen
Ingenieuren das Gesicht unseres Planeten für lange Zeiträume verändern, legt in be-
sonderem Maße die Forderung nach Nachhaltigkeit der Bauwerke nahe. Daher ist es
konsequent, dass die » Nachhaltige Entwicklung « seit Beginn dieses Jahrhunderts ver-
stärkt in dem Verantwortungsbereich der zivilen Ingenieure Einzug hält, wie sie 1987
erstmals von der Brundtland-Kommission definiert wurde: » Dauerhafte Entwicklung
ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass
künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. « [1]

Verantwortung im Schadensfall

Traditionell sind Lösungen von Bauingenieuren der Sicherheit und der Wirtschaftlich-
keit verpflichtet. Weil Sicherheit Geld kostet, ist hier ein Zielkonflikt vorprogrammiert.
Dieser Konflikt wurde den Menschen früh bewusst. Um hier die Prioritäten klar festzu-
legen, wurden daher genauso früh gesetzliche Regelungen geschaffen. Überliefert sind
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen 109

die Gesetze des Babylonischen Königs Hammurabi (1728 – 1686 v. Chr.) [2]. Hier ein
Auszug: » Wenn ein Baumeister ein Haus baut für einen Mann und macht seine Kon-
struktion nicht stark, so dass es einstürzt und verursacht den Tod des Bauherrn: dieser
Baumeister soll getötet werden. « Nicht mehr nach alttestamentarischen Prinzip » Auge
um Auge, Zahn um Zahn « finden sich heute gesetzliche Regeln zum Thema Standsi-
cherheit im Bauordnungsrecht und im Strafrecht; § 319 StGB » Baugefährdung « Absatz 1:

Wer bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues oder des Abbruchs eines Bau-
werks gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik verstößt und dadurch Leib oder
Leben eines anderen Menschen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.

Hier wird häufig auf die Einhaltung der sogenannten allgemein anerkannten Regeln
der Technik verwiesen. Letztere sind selbstverständlich nicht statisch, sondern in einer
Zeit permanenter technischer Neuerungen einem kontinuierlichen Änderungsprozess
unterworfen. Daraus entsteht für verantwortungsvoll handelnde Ingenieure eine fort-
währende Verpflichtung, sich im Rahmen beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen über
neue Entwicklungen der technischen Regeln zu informieren.
Welche besondere Bedeutung der Frage der Standsicherheit zukommt, machen uns
aktuelle Schadensfälle deutlich. Am 2. Januar 2006 stürzte das Dach der Eislaufhalle in
Bad Reichenhall ein (s. Bild 3). Dabei starben 15 Menschen und 34 weitere wurden zum
Teil schwer verletzt. Aufgrund der vergleichsweise großen Schneemassen, die zum Zeit-
punkt des Einsturzes auf dem Dach lagen, wurde in der Öffentlichkeit zunächst eine
Überlastung des Daches vermutet.

Bild 3 Rettungskräfte am 3. Januar 2006 in der eingestürzten Eissporthalle in Bad Reichenhall.


(AP Photo/Diether Endlicher)
110 Peter Schaumann

Die sofort eingeschaltete Staatsanwaltschaft beauftragte zwei Gutachter mit der Un-
tersuchung der Schadensursache. Nach heutiger Kenntnis kann die Verwendung eines
ungeeigneten Leims in den Holzbindern des Daches, welcher bei Feuchtigkeit seine Kle-
bewirkung verliert, als wesentliche Ursache identifiziert werden. Gegen acht Personen
wurden konkrete Ermittlungen aufgenommen. Im Prozess gegen drei Angeklagte wurde
der Vorwurf der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung erhoben.
Der Prozess endete zunächst mit der Verurteilung des Konstrukteurs des Daches, der
wegen Verletzung der Sorgfaltspflichten der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden
wurde, und zwei Freisprüchen. Da sowohl Verteidigung wie Staatsanwaltschaft Revision
einlegten, stehen die endgültigen Urteile noch aus.

Konfliktsituationen

In meinen bisherigen Ausführungen habe ich den zivilen Ingenieur in der Wahrung
seiner Verantwortung für den Aufgabenbereich beschrieben, der ihm aufgrund seiner
fachlichen Kompetenz zugewiesen wird. Diese Rolle ist jedoch nur eine von mehreren
Rollen, in denen zivile Ingenieure Verantwortung tragen. In der Gesellschaft ergeben
sich darüberhinaus zahlreiche weitere Beziehungen, in denen verantwortliches Handeln
gefordert werden muss. Diese Beziehungen bringen das Individuum häufig in Konflikt-
situationen, die ein Abwägen nach ethischen Grundsätzen erfordern.
Hoyningen-Huene [2] führt dazu aus: » Die neue Ingenieurrolle, die nun auch die
Interessen der Allgemeinheit aufnimmt, beinhaltet damit aber einen möglichen Kon-
flikt zwischen bis zu sechs Polen (Lenk 1987, S. 196 beschreibt den Konflikt als einen
» Dreierrollenkonflikt «): Erstens den spezifisch egoistischen Interessen eines Individu-
ums (Geld, Ansehen, Macht, Karriere etc.); zweitens den technischen Anforderungen
an die Ingenieurarbeit (Sorgfalt, Genauigkeit, Normenkonformität etc.); drittens bei
angestellten Ingenieuren der Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber (Effizienz der Ar-
beit, Geschäftsgeheimnis etc.); viertens der Fairness gegenüber anderen Ingenieuren
innerhalb der gleichen Firma oder außerhalb ihrer (Wettbewerbsbestimmungen, Ho-
norierung etc.); fünftens der Loyalität gegenüber dem Auftraggeber (dessen Geschäfts-
geheimnis, Erfüllung des Auftrags etc.); sechstens der inhaltlichen Orientierung der In-
genieurarbeit am Gemeinwohl. Natürlich liegen diese sechs Pole weder notwendig noch
dauernd im Konflikt; aber es ist doch zu sehen, dass in der Ingenieurrolle damit eine er-
hebliche Spannung angelegt ist. «
An dieser Stelle seien stellvertretend drei aktuelle Beispiele für Bauprojekte genannt,
anhand derer die Konfliktpotentiale sofort erkennbar sind:

• Stuttgart 21
Das nunmehr in Bau befindliche Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Erneuerung
des Eisenbahnknotens Stuttgart mit dem Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhof ist
Verantwortung im zivilen Ingenieurwesen 111

Gemeinwohl

Loyalität zum Loyalität zum


Arbeitgeber Auftraggeber

Ingenieur

Technische Fairness zu
Anforderungen Kollegen

Individuelle
Interessen

nach Lenk (1987)

zum Synonym des Widerstandes der Bevölkerung gegen politisch entschiedene


große Infrastrukurprojekte. Befürworter betonen umfangreiche Möglichkeiten der
Stadtentwicklung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten durch das
neue Verkehrskonzept wie Fahrzeitverkürzungen und mehr Reiseverkehr. Gegner
halten das Projekt für betriebsschädlich, nicht bahnkundenfreundlich, umweltbe-
lastend und überteuert. Sie bemängeln Eingriffe in Umwelt, Denkmäler und priva-
tes Eigentum.
• Femarnbelt-Querung
Der Bau einer festen Querung des Fehmarnbelts zwischen Dänemark und Deutsch-
land ist ein europäisches Verkehrsprojekt. Es sieht eine 19 Kilometer lange Que-
rung durch die Ostsee und einen Ausbau der Schienen- und Straßenhinterlandan-
bindungen in Deutschland und Dänemark vor. Die aktuellen Planungen sehen eine
Absenktunnellösung vor. Hauptgründe dafür sind erwartete geringere Kosten und
Umweltauswirkungen. Interessenkonflikte entstehen heute insbesondere über die
Trassenführung auf dem deutschen Festland. Denn über die letztgültige Variante sol-
len Aspekte wie Lärm, Landschaftsverbrauch und Tourismusrelevanz entscheiden.
• Netzausbau
Die geplante Energiewende in Deutschland erfordert den Ausbau der elektrischen
Übertragungsnetze, um Windenergie aus dem Norden in die großen Verbrauchs-
zentren im Westen und Süden zu leiten. Dazu sind etwa 3800km neue Leitungen mit
einem Investitionsvolumen von ca. 20 Milliarden Euro erforderlich. Viele Bürgerini-
112 Peter Schaumann

tiativen, Kommunen und Verbände haben Vorbehalte gegen die Pläne der Netzbe-
treiber und fordern z. B. die Anpassung an dezentrale Energieversorgungssysteme
und Erdverkabelung.

Viele aktuelle Großbauprojekte zeigen, dass es eben nicht nur um die Lösung techni-
scher Herausforderungen geht. Skepsis und Proteste von Bürgern stehen solchen Pro-
jekten entgegen. Ich meine, dass auf die zivilen Ingenieuren von heute eine bisher
vielleicht ungewohnte Aufgabe zukommt: Es ist die Teilhabe an dem zwingend erforder-
lichen Kommunikationsprozess mit dem Ziel, über Kommunikation Partizipation und
Transparenz für die Bürger zu schaffen. Diese Kommunikation muss fachlich untermau-
ert sein, damit sie das Vertrauen der Bürger verdient. Die Politik kann dies ohne ent-
sprechende Fachkompetenz nicht allein leisten. Zivile Ingenieure sollten sich in diesem
Kontext ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Als Hochschullehrer erwächst
daraus in zunehmendem Maße auch für mich die Aufgabe, Studierende für diese Ver-
mittlungsaufgaben vorzubereiten, in dem Kommunikation und Präsentation noch stär-
ker als bisher als Softskills in das Studium integriert werden.
Ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes und damit verantwortungsbewusstes Handeln
muss auch vermittelt werden können.

Literatur
[1] Brundlandt-Report, www.un-documents.net/wced-ocf.htm eine deutsche Ausgabe findet
sich bei Hauff, V. (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundlandt-Bericht der Weltkom-
mission für Umwelt und Entwicklung, Eggenkamp:Greven 1987
[2] Viel, H.-D.: Der Codex Hammurapi. Keilschrift-Edition mit Übersetzung. Dührkohp & Ra-
dicke. Göttingen 2002.
[3] Hoyningen-Huene, P.: Zur Verantwortung von Ingenieuren. Vortrag auf der Absolventen-
feier der Fakultät Bauingenieurwesen und Geodäsie der Leibniz Universität Hannover am 9. Ja-
nuar 2010
[4] H. Lenk, G. Ropohl (Hg.), Technik und Ethik. Stuttgart 1987.
Entscheidungsspielräume im Alltag
des Maschinenbau-Ingenieurs

Jörg Seume
Turbomaschinen und Fluid-Dynamik, Leibniz Universität Hannover

Motivation

Am Beispiel des Maschinenbaus soll im Folgenden darauf eingegangen werden, welche


Anforderungen an die Ethik des Ingenieurs gestellt werden. Im Maschinenbau werden
Ingenieure und Anwender der Technik mit besonders hohen Energiedichten und damit
Gefährdungspotenzialen konfrontiert. Daraus ergeben sich besonders hohe Anforde-
rungen an das Verantwortungsbewusstsein des Ingenieurs.
Dem gegenüber steht die Handlungsmöglichkeit der Maschinenbauingenieure, ge-
sellschaftliche Entwicklungen positiv zu prägen und zu beeinflussen: sowohl in der Pro-
duktion als auch in der Entwicklung sind sie maßgeblich daran beteiligt, das Einkom-
men der Erwerbsbevölkerung zu sichern und sicherzustellen, dass Arbeitnehmern die
gesellschaftliche Anerkennung für ihre Erwerbstätigkeit zuteil wird, die in unserer Ge-
sellschaft für das Wohlbefinden der Menschen im Erwerbsalter so nötig ist.
Produkte und Prozesse, die vom Maschinenbau-Ingenieur geprägt und gestaltet wer-
den, fallen im technischen Alltag häufig dadurch auf, dass sie Lärm und Schadstoffe
verursachen. Diesen negativen Einflüssen technischen Handelns stehen die von der Ge-
sellschaft gewünschten positiven Ergebnisse gegenüber: Maschinenbauingenieure tra-
gen wesentlich dazu bei, die Gesellschaft mit Energie zu versorgen, ihre Mobilität zu si-
chern, den Transport von Konsumgütern und Investitionsgütern zu bewältigen. Gerade
letztere tragen maßgeblich zum Wohlstand unserer Gesellschaft in Deutschland bei. Im
privaten Bereich leisten Maschinenbauingenieure Beiträge dazu, dass die Gesundheit
der Menschen erhalten bleibt oder wieder hergestellt wird, indem biomedizintechni-
sche Apparate, Prothesen und Diagnosemethoden die Ärzte in ihrer täglichen Arbeit
unterstützen.
Das enorme Risikopotenzial technischer Anlagen sei hier an einem Beispiel aus der
Kraftwerkstechnik veranschaulicht (Abb. 1). An 31. Dezember 1987 barst eine Nieder-

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_11, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
114 Jörg Seume

Abbildung 1 Turbinenwelle [1]

druckturbinenwelle eines Dampfturbosatzes in einem Kraftwerk bei Irsching in Bayern


(Abb. 3). Der Unfall ereignete sich unmittelbar nach dem Erreichen der Betriebsdreh-
zahl und kurz vor dem Synchronisieren (d. h. dem Anpassen der Phasenlage des Gene-
rators an die Phase des Netzes), also bei keiner besonders hohen Beanspruchung. Die
zum damaligen Zeitpunkt 15 Jahre alte Maschine hatte ca. 60 000 Betriebsstunden bei
838 An- und Abfahrten bewältigt, stand also nicht am Ende der technischen Lebenser-
wartung [1]. Beim Bersten der Welle entstanden 35 Bruchstücke, von denen acht Stücke
mit Massen zwischen 600 und 3 000 kg Dach (Abb. 2) oder Wände der Maschinenhalle
durchschlugen [2]. Ein Stahlteil mit 1300 kg Masse wurde 1,3 km weit geschleudert [2].
Menschen kamen bei diesem Unfall nicht zu Schaden. Eine bruchmechanische Analyse
ergab, dass der Schaden auf eine Konzentration von Werkstofffehlern zurückzuführen
ist, die mit den Messmethoden der 1970er Jahre noch nicht möglich waren, heute aber
mit modernen Ultraschall-Messverfahren jederzeit erfasst werden könnten.
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs 115

Abbildung 2 Beschädigtes Maschinenhaus [1]

Abbildung 3 Geborstene Turbinenwelle [1]


116 Jörg Seume

Das geschilderte Beispiel zeigt, dass Ingenieure eine hohe Verantwortung haben,
weil sie daran beteiligt sind, Produkte und Prozesse zu schaffen und zu betreiben, deren
hohe Energiedichte im Schadensfall zerstörerisch wirken kann. Die resultierenden Ri-
siken muss jeder der beteiligten Ingenieure im Rahmen seiner Aufgabe begrenzen: bei
der Herstellung, der Qualitätskontrolle und beim Einsatz des Bauteils muss die Sicher-
heit gewährleistet werden, auch wenn die beteiligten Unternehmen aus wirtschaftlichen
Gründen anstreben, den Aufwand zu minimieren.

Ethische Konflikte

Die ethischen Konflikte im Arbeitsalltag des Ingenieurs ergeben sich daraus, dass die
Bewertungskriterien seiner Arbeit durch den Kunden und den Arbeitgeber sich im
Kern ihrer wirtschaftlichen Rolle entsprechend auf Minimierung der benötigten Zeit,
Minimierung der Kosten und Sicherstellung der notwendigen Qualität beschränken.
Dem gegenüber bewertet die Gesellschaft das Handeln des Ingenieurs weitgehend nach
Kriterien der Sicherheit:

• Sicherheit des Produkts und der Arbeitsprozesse


• Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen
• Sicherung der Gesundheit der Mitarbeiter, der Nutzer der Technik und im Normal-
fall unbeteiligter Mitmenschen
• Sicherung der Nachhaltigkeit

Ingenieure sind also mit einem Interessenkonflikt konfrontiert zwischen den Interessen
der unmittelbaren Partner ihrer Erwerbstätigkeit (Kunden, Arbeitgeber) und den Inter-
essen der Gesellschaft.
Unternehmen und Politik haben auf diesen Interessenkonflikt reagiert, indem sie Si-
cherheit, Gesundheit und Kosten miteinander gekoppelt haben, indem sie negative Aus-
wirkungen technischen Handelns mithilfe der Gesetzgebung und Ansätzen der Öko-
nomisierung pönalisieren. Beispiele hierfür sind die Selbstkontrolle der Industrie in
Sachen Arbeitssicherheit durch Berufsgenossenschaften und die finanzielle Belastung
durch Emittenten von CO2 .

Lösungsansätze

In vielen Fällen lässt sich so durch geschickte Gesetzgebung und geschickte Schaffung
von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erreichen, dass zum Beispiel die ökonomi-
schen Interessen des Arbeitgebers mit dem ethisch gebotenen Verhalten seines Un-
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs 117

ternehmens zur Deckung gebracht werden, z. B. mit Hilfe des Handels mit CO2-Zer-
tifikaten. Häufig sind die Zielsetzungen des Unternehmens und der Gesellschaft auch
deckungsgleich wie bei der Senkung der Lohnstückkosten durch Steigerung der Pro-
duktivität, die sowohl zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens
als auch zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort beitragen.
In vielen Fällen aber kann der Gesetzgeber die Probleme, die sich im Einzelfall aus
den oben geschilderten Interessenkonflikten ergeben, weder vorhersehen noch sie auf-
lösen. Ingenieure müssen häufig schnelle Entscheidungen und Entscheidungen bei sehr
komplexen Anforderungen treffen. Daher ist es zusätzlich zu den o. g. legislativen Maß-
nahmen notwendig, das Bewusstsein der Ingenieure so zu schärfen, dass sie in der kon-
kreten Situation des Berufsalltags den an sie gestellten ethischen Anforderungen gerecht
werden können:

• Bewusstsein des eigenen Einflusses


• Bewusstsein der ethischen Erwartungen
• Bewusstsein der eigenen Entscheidungsspielräume

Nur Ingenieure, die sich ihrer Einflussmöglichkeiten, die an sie gestellten Erwartungen
zu erfüllen und ihrer Entscheidungsspielräume bewusst sind, werden in der Lage sein,
in den komplexen Situationen ihres vielfältigen Arbeitsalltags gute Entscheidungen zu
treffen.

Integration in die Lehre

Die Grundlage für die skizzierten drei Elemente ethischen Bewusstseins sollte bereits
im Studium gelegt werden.

1) Bewusstsein des eigenen Einflusses:


Bereits bei der Rekrutierung von Studenten können und sollen Hochschulen darauf
hinweisen, wie stark der Einfluss der Ingenieure auf die Befriedigung gesellschaft-
licher Bedürfnisse ist und wie hoch die Verantwortung der Ingenieure ist, in ihrem
Beruf Risiken und negative Folgen technischen Handelns für die Gesellschaft zu mi-
nimieren. Am verständlichsten kann dieser Einfluss in Fachvorlesungen dargestellt
werden, indem mithilfe anekdotischer Beispiele etwa aus der eigenen Berufspraxis
auf Gestaltungsmöglichkeiten an Produkten oder in Arbeitsprozessen hingewiesen
wird. Darüber hinaus können andere Berufspraktiker zusätzliche anekdotische Hin-
weise auf den Einfluss geben, den Ingenieure nach Abschluss ihres Studiums im Be-
ruf haben werden. Organisationen wie der VDI oder die Ingenieurkammern kön-
nen dazu beitragen, Berufspraktiker so in die Ingenieurausbildung zu integrieren. Es
118 Jörg Seume

wäre nachfolgend einen Versuch wert, solche anekdotischen Beiträge zum Studium
zu systematisieren, so dass das Bewusstsein des eigenen Einflusses künftig allen In-
genieuren mitgegeben werden kann.
2) Bewusstsein der ethischen Erwartungen an Ingenieure:
Angehende Ingenieure sollten bereits während ihres Studiums mit den ethischen Er-
wartungen der Gesellschaft an ihr Handeln konfrontiert werden. Um die Studieren-
den dabei nicht zu überfordern und um ihnen die positiven Gestaltungsmöglichkei-
ten ihres Handelns zu verdeutlichen (siehe 1), erscheint es sinnvoll, die Synergien
technischen Handelns zu betonen. Beispiel: Der gegenwärtig am Markt der Flug-
zeugantriebe eingeführte » Geared Turbofan « ist ein Ergebnis intensiver Zusam-
menarbeit eines deutschen und eines amerikanischen Unternehmens, durch das der
Kerosinverbrauch künftiger Flugzeuge gesenkt wird. Hierdurch gelingt es den betei-
ligten Ingenieuren sowohl die Nachhaltigkeit des Lufttransports zu verbessern, als
auch Arbeitsplätze in Deutschland und USA zu sichern, als auch Beiträge zum Um-
weltschutz zu leisten, als auch zur Minderung des Lärms in der Nähe der Flughäfen
beizutragen, als auch die Urlaubsfreuden vieler Menschen zu sichern.
Es sollte aber im Ingenieurstudium auch nicht versäumt werden, juristische Mindest-
erwartungen zu verdeutlichen, die sich aus der Produkthaftung und der strafrecht-
lichen Verantwortung ergeben. In diesem Falle bietet sich eine explizite Einbindung
juristischer Aspekte in Vorlesungen zur Produktgestaltung an.
3) Bewusstsein der eigenen Entscheidungsspielräume
Ingenieure sind sich häufig nicht der vielen Handlungsalternativen bewusst, die ih-
nen in ihrer beruflichen Praxis zur Verfügung stehen. Folglich stellt sich ihnen zu-
weilen die Notwendigkeit als problematisch dar, verschiedene ethische Anforderun-
gen miteinander zu vereinbaren. Für solche Menschen ist es befreiend, bereits im
Studium ein Bewusstsein für ihre eigenen Entscheidungsspielräume kennen gelernt
zu haben. Wegen der komplexen Anforderungen an die Entscheidungen der Inge-
nieure, lässt sich dieses Bewusstsein wahrscheinlich am besten mithilfe von Fallstu-
dien entwickeln. Vorbereitend können Hinweise in Fachvorlesungen und anekdoti-
sche Beispiele aus der eigenen Berufspraxis helfen.
Dies setzt eine Bewusstseinsbildung bei den Professoren voraus. Daher sollte das
Thema Ingenieurethik und insbesondere das Bewusstsein eigener Entscheidungs-
spielräume an die Professoren herangetragen werden. Zusätzlich sollten Fallstudien
zur Festigung des Bewusstseins der eigenen Entscheidungsspielräume bei den Stu-
dierenden in den Curricula integriert werden.

Die skizzierten drei Vorschläge zur methodischen Integration der Ethik der Ingenieure
in der Lehre müssen von den Lehrenden der Ingenieurwissenschaften umgesetzt wer-
den. Standesorganisationen wie die Ingenieurkammer oder der VDI können mit Hilfe
der oben skizzierten Ansätze wesentlich dazu beitragen, dass das ethische Bewusstsein
der Ingenieure in den kommenden Jahren weiter entwickelt und gefestigt wird.
Entscheidungsspielräume im Alltag des Maschinenbau-Ingenieurs 119

Quellenangaben
[1] Berger, Christina: Werkstoffe, die unsere Welt verändern. acatech Journalistenworkshop
2009 am 29./30.04.2009
[2] Klemm, Marco: Betrieb und Instandhaltung von Energieanlagen – Verfügbarkeit und Le-
bensdauer. TU Dresden, Institut für Energietechnik, Folie 38/42.
Grenzwertüberschreitungen:
Todsünde oder kalkulierbares Risiko ?

Heyno Garbe
Institut für Grundlagen der Elektrotechnik und Messtechnik,
Leibniz Universität Hannover

Einleitung

Jedem Menschen ist bewusst, dass er ständig den unterschiedlichsten Gefahren ausge-
setzt ist. Diese Gefahren können in

• wahrnehmbare und
• nicht wahrnehmbare

Gefahren unterschieden werden. Zum Beispiel kann Feuer signalisieren, dass hier eine
Bedrohung von Leib und Leben vorliegt. Somit ist die Gefährdung klar zu erkennen. Im
Gegensatz dazu ist diese Bedrohung bei elektromagnetischen Feldern oder bei radioak-
tiver Strahlung nicht mit den fünf menschlichen Sinnen zu erfassen. Gerade in diesem
Fall wird nach einer Quantisierung der unsichtbaren Gefahr gefragt. Dies erfolgt durch
Grenzwerte, die somit indirekt eine mögliche Gefahr beschreiben.
Deshalb befasse ich mich mit der Frage: warum benötigt man eigentlich Grenz-
werte ? Hier soll nicht nur der Gefährdungsaspekt beleuchtet werden, sondern Grenz-
werte nehmen eine besondere Bedeutung zur Regelung des gesellschaftlichen Zusam-
menlebens ein.
Es schließt sich die Frage an: Wie findet man Grenzwerte ? Die grundsätzlichen Me-
thoden sollen dabei diskutiert werden. Man vergegenwärtige sich, dass neue Technolo-
gien durchaus Risiken beinhalten können, die zurzeit noch nicht bekannt sind. Am Bei-
spiel der Personenschutzgrenzwerte soll diese Problematik diskutiert werden.
Schon die Auswahl der Methode zur Gewinnung von Grenzwerten ist nicht unum-
stritten. Deshalb ist es durchaus verständlich, wenn die Sinnhaftigkeit der Einhaltung
der Grenzwerte in Frage gestellt wird. Dies soll vertieft an verschiedenen Konfliktfällen
diskutiert werden. Zum Beispiel:

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_12, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
122 Heyno Garbe

• Handelt der gesetzestreue Bürger vernünftig, obwohl (vielleicht vermeintlich) auf-


grund eigenen Wissens keine Bedrohung vorliegt ?
• Handelt der Ingenieur vernünftig, der die Auslieferung einer Maschine nicht freigibt
und damit einen wirtschaftlichen Verlust der Firma in Kauf nimmt, nur weil ein
Grenzwert bei der Abnahmemessung überschritten wurde ?
• Ist der Ingenieur ein Pedant, der einen Raketenstart untersagt, weil er festgestellt hat,
dass Dichtungen unter einer Grenztemperatur brüchig und damit nicht mehr dicht
sein könnten ?

Diese Konflikte sind beliebig erweiterbar. Jede Person in verantwortlicher Funktion hat
diesen Druck sicher schon verspürt und nach Auswegen gefragt.
Auswege und Lösungsmöglichkeiten sollen deshalb im folgenden Kapitel diskutiert
werden. Die Antwort wird zunächst sehr pessimistisch sein, dennoch soll aber der Ver-
such unternommen werden, über die » Verantwortung des Einzelnen « eine Lösung die-
ses ethischen Problems zu erreichen.

Warum benötigt man eigentlich Grenzwerte ?

Je enger die Menschen einer Gesellschaft im sozialen Kontakt zueinander stehen, desto
mehr muss ein verbindliches Rahmensystem von Normen und Werten geschaffen wer-
den. Die gemeinsame Waschmaschine in einem Mehrfamilienhaus darf eben nur eine
bestimmte Stundenzahl pro Partei und Woche genutzt werden. Jede Gemeinschafts-
form, sei es die Familie oder die internationale Staatengemeinschaft, benötigt solche
Normen- und Werterahmen. Es erscheint indes sofort verständlich, dass bei zunehmen-
der Größe der Gemeinschaft die Findung gemeinsamer Werte schwieriger wird, und
dass Werte einem ständigen Diskurs unterliegen.
Anders sollte es aussehen, wenn nicht nur das Zusammenleben geregelt werden soll,
sondern der Schutz von Personen zur Diskussion steht. Betrachtet man hierzu die aktu-
elle Diskussion im Bereich Umweltschutz über die verschiedenen Emissionsgrenzwerte,
so drängt sich manchmal der Gedanke auf, der Handel mit Eimissionszertifikaten eine
Art » Ablasshandel « der Neuzeit darstellt. Früher war es die Seele, für die gelten sollte:
» Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt. «
Andererseits schafft man aber mit diesem Zertifikatshandel einen sanfteren Über-
gang zum emissionsreduzierten Zielzustand.
Die Notwendigkeit, diesen Zielzustand zu definieren, bleibt bestehen.
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? 123

Wie ermittelt man Personenschutzgrenzwerte ?

Am Beispiel der Personenschutzgrenzwerte sollen in diesem Kapitel die zwei unter-


schiedlichen Vorgehensweisen in der internationalen Normung und Standardisierung
vorgestellt werden.
Man unterscheidet

• die wirkungsbasierte Methode und


• die ALARA1-Methode.

Die wirkungsbasierten Methode beobachtet eine Wirkung des elektromagnetischen


Feldes. Dies kann zum Beispiel die lokale Erwärmung des Körpers sein. Wird die
Stärke2 des Feldes erhöht, so erhöht sich auch die Temperatur der Erwärmung. Es wird
nun der Frage nachgegangen, bei welcher Amplitude der Störgröße eine unzulässige
Störung, in diesem Fall eine unzulässige Erwärmung, auftritt. Der Wert dieser Ampli-
tude wird anschließend mit einem Sicherheitsfaktor reduziert und als Grenzwert fest-
geschrieben.
Experimentell hat man bei 50 Hz Erregungsschwellen beim Menschen bestimmt.
Die Untersuchungen fanden an normalen Erwachsenen statt. Es konnte zum Beispiel
die Ruhestromdichte des Gehirns mit 0,1 μA/cm²3 bestimmt werden. Folglich hat man
die Frage gestellt, welche Stromdichte influenziert oder induziert ein externes elektri-
sches oder magnetisches Feld. Diese Umrechnungsfaktoren ergaben sich zu 2,5 nA/cm²/
(kV/m)4 bzw. 0,25 nA/cm²/(μT)5.
Um mit einem von außen einwirkenden Feld dieselbe Stromdichte wie die Ruhe-
stromdichte von mit 100 nA/cm² im Gehirn hervorzurufen, ist ein äußeres elektrisches
Feld von 40 kV/m oder ein magnetisches Feld von 400 μT notwendig. Man beachte
bei diesen Überlegungen, dass noch nicht von Schädigungen gesprochen wurde, son-
dern nur von der Erzeugung von Effekten, die in derselben Größenordnung liegen wie
die natürlichen Abläufe der körpereigenen Vorgänge. Die Schädigungen treten erst bei
Stromdichten auf, die weit über diesen Werten liegen. In der untenstehenden Tabelle
sind beispielhaft Werte für die Stromdichte zur Gefährdung und für das Herzkammer-
flimmern angegeben. Der Wert für das elektrische Feld, welches eine Gefährdung aus-
lösen könnte, erhöht sich demnach um den 1000. Das heißt, erst ein elektrisches Feld

1 ALARA = As Low As Reasonably Achievable


2 Stärke des Feldes = Amplitude des Feldes
3 μA/cm² = Stromstärke pro Fläche = Stromdichte
4 nA/cm²/(kV/m) Von einem elektrischen Feld (Einheit: kV/m ) erzeugte Stromdichte im Gehirn (Ein-
heit: nA/cm²)
5 nA/cm²/(μT) Von einem magnetischen Feld (Einheit: μT) erzeugte Stromdichte im Gehirn (Einheit:
nA/cm²)
124 Heyno Garbe

Erregungsschwellen (50 Hz)

Ruhestromdichte Gehirn ≈ 0,1 μA/cm2


Reizwirkung > 10 μA/cm2 Schwellen
Gefährdung > 100 μA/cm2
Herzkammerflimmern > 500 μA/cm2

2,5 nA/cm2/(kV/m)
Influenzierte Stromdichte 0,25 nA/cm2/μT
Induzierte Stromdichte 100 nA/cm2 Gehirn
Ruhestromdichte E = 40 kV/m
Äquivalente Felder B = 0,4 mT

130 nA/cm2/(kV/m)
Influenzierte Stromdichte 0,25 nA/cm2/μT
Induzierte Stromdichte 0,5 mA/cm2 Herz
Flimmerschwelle E = 4 MV/m
Äquivalente Felder B=2T

aus: etz Band 110 (1989) Heft 6/7

von mehr als 40 000 kV/m bzw. 400 mT beim magnetischen Feld wäre als gefährlich
anzusehen.
Eine häufig geäußerte Kritik an dieser Vorgehensweise ist, dass man als Untersu-
chungsobjekt einen erwachsenen Menschen betrachtet. Bei besonders großen oder klei-
nen Menschen oder bei Kindern sind die Verhältnisse sicher anders. Diese Unsicherheit
versuchte man aber durch vergrößerte Sicherheitsfaktoren zu berücksichtigen.
Weltweit hat man sich bei der WHO6 bei der Ermittlung von Grenzwerten auf dieses
wirkungsbasierte Prinzip geeinigt.
Das ALRA-Prinzip hingegen verfolgt eine andere Vorgehensweise. Hier wird davon
ausgegangen, dass die aktuelle Umwelt keinen schädlichen Einfluss auf den Menschen
hat. Erst das Hinzufügen eines neuen » Senders « könnte Gefahren bewirken. Folglich ist
das aktuelle elektromagnetische Klima gut und eine Erhöhung schlecht. Die schwedi-
sche Prüfstelle MPR7 hat Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach
diesem Prinzip die Grenzwerte für elektrische und magnetische Feldaussendungen von
Röhrenbildschirmen festgelegt. Besonders für magnetische Felder im tieffrequenten Be-
reich hatte man mit der damaligen Messtechnik erhebliche Empfindlichkeitsprobleme.
Deshalb nahm man als Grenzwert die damalige Messgrenze der aktuellen Messtechnik

6 WHO = World Health Organization


7 MPR = Statens Mätoch Provräd (schwed.), staatliche Prüfstelle für Messgeräte.
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? 125

an. Frei nach dem Vohenstrauß-Motto, wenn ich es nicht sehen kann, dann ist es auch
nicht da.
Für das Frequenzband 5 Hz bis 2 kHz wurde ein Wert von 250 nT festgelegt. Die da-
malige Nachweisgrenze lag bei 30 nT. Man berücksichtige, dass z. B. das Erdmagnetfeld
(Gleichfeld) in Hannover einen Wert von 47 μT hat und damit um den Faktor 188 grö-
ßer ist.
Die Kritik an diesem ALARA-Prinzip entzündet sich deshalb an der fehlenden argu-
mentativen Kausalität bei der Gewinnung der Grenzwerte. Dessen Motivation ist eher
emotional basiert. Diskussionen über das Einhalten der ALARA-Grenzwerte können
daher kaum rational geführt werden.

Wer zwingt uns, die Grenzwerte einzuhalten ?

Nachdem die Grenzwerte entweder nach der wirkungsbasierten Methode oder nach
dem ALARA-Prinzip ermittelt worden sind, muss gewährleistet werden, dass diese auch
eingehalten werden. Drei verschiedene Strukturen haben sich im Laufe der Geschichte
hierfür herausgebildet.

1) Gesellschaftliche Vereinbarung
2) Staatliche, juristische Reglementierung
3) Religiöse Reglementierung

Diese drei Systeme sind fundamental hinsichtlich

1) der Autorität der regelnden Institution,


2) der Verbindlichkeit und
3) der Konsequenzen im Falle des Nichtbefolgens

zu unterscheiden.
Die Autorität der regelnden Institution ist im ersten Fall der gesellschaftlichen Ver-
einbarung eher als gering zu betrachten. Zwar kennt man Gruppenzwang, jedoch ver-
fügt in einer Demokratie jede handelnde Person über zivile Grundrechte – und ist damit
auch ein Teil des » Gesetzgebers «. Gesellschaftlicher Konsens über Grenzwerte würde
voraussetzen, dass die Ziele der beteiligten Personen bezüglich dieses Themenbereichs
identisch sind.
Bei staatlichen Institutionen wird die » Gesetzgebungskompetenz « auf eine kleine
Gruppe von Menschen übertragen. Die Bereitschaft, diesen Anweisungen aus Einsicht
zu folgen, ist eher als klein zu bezeichnen, da die Gründe des Handelns der staatlichen
Institutionen nur wenigen Personen transparent ist. Im Falle eines Konfliktes wird des-
halb die Kompetenz der Institution angezweifelt, weil man meint, es selber besser zu
126 Heyno Garbe

wissen. Man folgt den Vorgaben des Staates, weil man durch das staatlich Gewaltmono-
pol sonst gezwungen werden kann.
Im Fall der religiösen Autorität ist dies, jedenfalls für strenggläubige Fundamenta-
listen, per Definition nicht möglich. Die göttliche Autorität darf axiomatisch nicht an-
gezweifelt werden.
Damit ist im dritten Fall eine absolute Verbindlichkeit gegeben, deren infrage stellen
schon einen Frevel darstellt. Dies ist natürlich beim gesellschaftlichen Konsens über-
haupt nicht der Fall. Jeder kann die Gruppe ohne große Konsequenzen verlassen. Hin-
gegen lebt bei der staatlichen Reglementierung die Verbindlichkeit von den möglichen
Zwangsmaßnahmen, die einer staatlichen Institution zur Verfügung stehen.
Wir berühren jetzt den letzten Punkt, die Konsequenzen des Nichtbefolgens. Wie ge-
rade gesagt, sind die beim gesellschaftlichen Konsens sehr vage und eher im psycholo-
gischen Bereich anzusiedeln. » Man tut so etwas nicht ! « Bei der Verletzung von Regeln
in staatlichen Systemen können hingegen die Strafen sehr drakonisch und unmittelbar
sein. Das religiöse System spielt mit der Ungewissheit einer möglichen Sanktion; die Be-
strafung (oder auch Belobigung) wird auf das Jenseits verlagert (zur Setzung von Axio-
men und zur Vermeidung jeder Diskussion über die Sinnhaftigkeit einer Regel wird dies
schon seit Jahrtausenden praktiziert).

… und ist das Befolgen wirklich sinnvoll ?

Kommen wir jetzt aber zurück zu der eigentlichen Fragestellung dieses Vortrages. Na-
türlich bewegen wir uns bei der Frage nach der Befolgung von Grenzwerten in einem
staatlichen, von Menschen geschaffenen Reglementierungssystem.
Was sollen wir tun, wenn das Befolgen der Grenzwerte offensichtlich unsinnig ist ?
Warum soll man nachts auf der Autobahn bei völlig freier Strecke die Geschwindigkeits-
beschränkung einhalten ? Ich glaube, dass jeder schon einmal solch eine Situation er-
lebt hat.
Auch hier haben wir zwei Aspekte zu betrachten:

• Einerseits müssen existierende Vorschriften und Gesetze befolgt werden.


• Andererseits sagen das eigene Wissen und die eigene Vernunft, dass ein Befolgen
nicht immer sinnvoll ist.

Jederzeit sind Situationen zu konstruieren, in denen die Handlungen nach der eige-
nen Vernunft und dem eigenen Wissen zu unterstützen wären. Andererseits setzt dieses
Handeln genau die eigene Kompetenz voraus. Bloß, wer entscheidet, ob im konkreten
Fall diese Kompetenz vorliegt ?
Betrachten wir hierzu noch einmal die eingangs dargestellten Konflikte:
Grenzwertüberschreitungen: Todsünde oder kalkulierbares Risiko ? 127

Wer ist in dem folgenden Fall zu schützen ?

• Der Ingenieur, der eine Grenzwertüberschreitung toleriert, weil er weiß, dass noch
nie bei diesem Wert ein Problem aufgetreten ist.
• Der Ingenieur, der eine Maschine nicht frei gibt, da ein Grenzwert bei der Abnahme-
messung überschritten wurde.

oder noch etwas konkreter:

• Handelt der Ingenieur vernünftig, der die Auslieferung einer Maschine nicht freigibt
und damit einen wirtschaftlichen Verlust der Firma in Kauf nimmt, nur weil ein
Grenzwert bei der Abnahmemessung überschritten wurde ?
• Ist der Ingenieur ein Pedant, der einen Raketenstart untersagt, weil er festgestellt hat,
dass Dichtungen unter einer Grenztemperatur brüchig und damit nicht mehr dicht
sein könnten ?

In beiden Fällen begibt sich der Ingenieur in ein ethisches Dilemma. Jedes Handeln
wird entweder als kleinkariert bei der Nicht-Freigabe oder als unverantwortlich im Fall
der Freigabe mit katastrophaler Konsequenz gesehen. Wir können nur eins erkennen,
dass es eine pauschale und damit objektiv richtige Antwort nicht gibt.

Die Skizzierung eines möglichen Auswegs

Wir befinden uns nunmehr in einer sehr negativen, deprimierenden Situation. Mög-
licherweise können Handlungen zu Katastrophen führen. Vielleicht aber hilft der Kate-
gorische Imperativ von Kant hier weiter:

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein all-
gemeines Gesetz werde.

Die Lösung unseres Dilemmas könnte somit zweistufig sein.


Einerseits muss gefordert werden, dass schon die Grenzwerte vernünftig bestimmt
werden. Dieses setzt fachlich kompetente und verantwortungsbewusste Menschen (In-
genieure und Wissenschaftler) voraus. Andererseits müssen diese handelnden Personen
so ausgebildet werden, dass ihre fachliche Kompetenz die Beurteilung der Sinnhaftig-
keit der Grenzwerte erlaubt. Die Fokussierung auf einen einzigen Aspekt ist nicht ziel-
führend, wenn z. B. nur das vom Mobilfunk erzeugte elektromagnetische Feld betrach-
tet wird und nicht auch das im benachbarten Frequenzbereich durch Fernsehsender
vorhandene Feld.
128 Heyno Garbe

Schließlich müssen Grenzwerte wieder zur Diskussion stehen, wenn diese sich als
unzweckmäßig erwiesen haben. Dabei sind die entscheidenden Kriterien die Sicherheit
des Menschen und das Erhalten der ökologischen Grundlagen des Lebens. Änderungen
von Normen und Grenzwerten aus rein wirtschaftlichen Überlegungen ist unethisch !

Fazit

Nur gut ausgebildete und verantwortungsbewusst handelnde Ingenieure und Wissen-


schaftler können sinnvolle Grenzwerte und Regeln schaffen. Dabei haben der Schutz
und die Sicherheit der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen oberste Priorität. Verant-
wortliches Handeln setzt bei den fachlichen Experten voraus,

• dass basierend auf einer soliden fachlichen Basis Wechselbeziehungen zwischen den
Bereichen erkannt und analysiert werden können
• und die Bereitschaft, Problemfelder des eigenen Handelns zu benennen und ehrlich
zu analysieren.

Nur über Offenheit und Vertrauen kann gesellschaftlicher Konsens über Grenzwerte er-
zeugt. Ohne Grenzwerte und Regeln ist soziales Miteinander nicht möglich. Selbst Ro-
binson brauchte Regeln, als Freitag erschien.
Chancen und Risiken bei der Entwicklung
elektrotechnischer Systeme: Magnet-
schwebetechnik als exemplarischer Fall

Jürgen Meins
Institut für elektrische Maschinen, Antriebe und Bahnen, TU Braunschweig

Grundlagen der Magnetschwebetechnik

Die erste Idee einer Magnetschwebebahn entwickelte Dipl.-Ing. Hermann Kemper


(1892 – 1977). Seine Patentschrift aus dem Jahre 1934 beschreibt seine Erfindung, wel-
che die Aufgabe löst, » Körper mit Hilfe elektromagnetischer Kräfte entgegen der Erd-
schwerkraft in der Schwebe zu halten «. Sie sollte dazu dienen, so die Patentschrift wei-
ter, ein » neuartiges Verkehrsmittel, die Schwebebahn « zu bauen, als » Schienenbahn für
Menschen- und Güterbeförderung, bei der die räderlosen Fahrzeuge eisernen Schienen
entlang schwebend geführt werden «. Damit sind die physikalischen Grundlagen formu-
liert. Die technischen Voraussetzungen für den experimentellen Nachweis waren vor-
handen, für die praktische Anwendung fehlten sie damals jedoch noch.
In den 1970er Jahren war der Fernverkehr, neben dem Automobil, durch Eisen-
bahnzüge des Rad-Schiene-Systems und durch Flugzeuge geprägt. Die realisierbare Ge-
schwindigkeit der Züge betrug etwa 200 km/h, die der Passagierflugzeuge 800 km/h.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Suche nach einem bodengebundenen Ver-
kehrssystem, dessen Geschwindigkeitsbereich zwischen diesen beiden Verkehrsmitteln
liegt. Dafür boten sich zum einen im Bereich des Rad-Schiene-Systems der Hochge-
schwindigkeitszug ICE (Intercity-Express) an, für den damals auf Basis der Rad-Schiene
Technik eine Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h erreichbar schien, und zum ande-
ren unterschiedliche räderlose Magntschwebesysteme. Im Rahmen eines Systemverglei-
ches wurde 1977 die kombinierte Trag- und Antriebstechnik des Transrapid, als zukünf-
tiges Hochgeschwindigkeitsverkehrssystem mit Geschwindigkeiten bis zu 400 km/h
ausgewählt.
Gedanklich fassten Ingenieure auch das Luftkissenfahrzeug ins Auge. Diese Alterna-
tive verfolgten sie jedoch wegen hoher Geräuschentwicklung und hoher erforderlicher
Leistung für die Schwebefunktion nicht weiter. So erschien es in den 1970er Jahren für

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_13, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
130 Jürgen Meins

Abbildung 1

den angestrebten Geschwindigkeitsbereich zwischen Eisenbahn und Flugzeug sinnvoll,


wegen der günstigen und entwicklungsfähigen technischen Voraussetzungen, die Ma-
gnetschwebetechnik weiter zu verfolgen.
Bei der Magnetschwebetechnik standen die Ingenieure vor einigen grundlegenden
Herausforderungen. Das Rad-Schiene-System des konventionellen Zuges musste beim
elektromagnetischen Schweben durch entsprechende Funktionen ersetzt werden. Beim
Rad-Schiene-System kommen dem Rad drei Funktionen zu. Das Rad trägt das Fahr-
zeug, dient dem Führen auf der Schiene und dem Antrieb. Dieselben Funktionen des
Tragens, des Führens und des Antreibens müssen für den Transrapid magnetisch reali-
siert werden (Abb.1). Dem Tragen dient der Tragmagnet unterhalb des Stators. Er sorgt
dafür, dass der Zug scheinbar über der Reaktionsschiene schwebt, physikalisch jedoch
über die magnetischen Zugkräfte an der Reaktionsschiene hängt. Der Stator besteht aus
einem ferromagnetischen Blechpaket und eingelegter Wicklung welche als Wanderfeld-
wicklung für die Vortriebskräfte sorgt und damit zu einer Bewegung des Zuges mit ho-
her Geschwindigkeit führt. Ein fahrzeugseitiger Führmagnet dient zusammen mit der
fahrwegseitigen Führschiene dem Führen des Zuges. (Abb. 2).
Da die Stabilisierung des Luftspaltes zwischen Magnet und Schiene durch Kraftän-
derung erfolgt, ist es erforderlich den Magnetstrom mit Hilfe der Leistungselektronik
ständig an die sich wechselnden Anforderungen anzupassen. Dabei geht es um regel-
bare Ströme in einer Größenordnung von 50 Ampere bei Spannungen von 400 – 600
Volt. Diese praktische Umsetzung war zur Zeit des Kemper-Patents noch nicht, sondern
zunehmend seit den 1970er Jahren mit der Entwicklung der modernen Halbleiter und
deren Anwendung in der Leistungselektronik erfüllbar.
Das Institut für Elektrische Maschinen, Antriebe und Bahnen (IMAB) der TU
Braunschweig war von Anfang an in die Entwicklung der Magnetschwebetechnik ein-
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme 131

Abbildung 2

gebunden. Seitens der Industrie wurden ebenfalls Untersuchungen zur Magnetschwe-


betechnik mit unterschiedlichen Ansätze (Abb. 3)1 verfolgt. Das Ziel sich gemeinsam
auf die Entwicklung eines zukünftigen Magnetschwebesystems zu konzentrieren fürte
1977 zu einer Systementscheidung, aus welcher der Typ TANSRAPID hervorging, des-
sen technische Funktionsweise bereits geschildert wurde (Abb. 4).

Abbildung 3

1 EDS= elektrodynamisches Schweben. EMS=elektromagnetisches Schweben.


132 Jürgen Meins

Abbildung 4

Sicherheit

Für Bau und Betrieb der Magnetschwebebahn ist das Eisenbahn Bundesamt (EBA)
verantwortlich. Dieses schaltet Gutachter ein (z. B. Technische Überwachungsvereine
(TÜV), Fachleute, Experten), welche auf Basis ihres Fachwissens die entwickelte Tech-
nik einer systematischen Sicherheitsprüfung unterziehen. Aufgrund der zu Anfang
der 1970er Jahre vollständig neuartigen Fragestellungen in Bezug auf die Sicherheits-
nachweise für Magnetschwebe Verkehrsysteme ergab sich ein sehr enger Kontakt und
Entwicklern. Im Hinblick auf die geplante Anwendung der Magnetschwebetechnik in
einem Verkehrssystem ruhte eine erhebliche Verantwortung bei den beteiligten Inge-
nieuren.
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme 133

Die Ingenieure, die für die Entwicklung der Grundlagen des Transrapid zuständig
waren, hatten sich zunächst auf die Funktion des Systems konzentriert. Die Gutach-
ter untersuchten dagegen Fragen zum Gefährdungspotenzial, welches daraus resultieren
kann, dass konzeptionelle Entwicklungsfehler vorliegen, Ausfälle von Komponenten
oder aber Störungen im Betriebsablauf auftreten. Aus dem Dialog zwischen Entwick-
lern, an dem Bau beteiligten Firmen, dem Betreiber der Magnetbahnversuchsanlage
und Gutachtern entstanden technische Ausführungen welche die sicherheitstechni-
schen Anforderungen erfüllten. Die Erprobung und Führung der praktischen nach-
weise erfolgte auf der Transrapid Versuchsanlage im Emsland (TVE).
Eine Frage betraf, um ein erstes Beispiel zu nennen, den Störfall, dass das Trag-Ma-
gnetfeld ausfällt. Für diese Situation fanden die Ingenieure die Lösung von Kufen, die,
unten am Fahrzeug angebracht, ein Aufsetzen auf die Gleitleiste des Fahrweges ermög-
lichen. Eine andere Frage setzte sich mit dem Fall auseinander, dass das Magnetfeld
unkontrolliert zu groß wird. Für diese Situation wurde ein redundantes System zum
Abschalten des Magnetstromes entwickelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Systeme
zugleich ausfallen, und ein Abschalten des Magnetfeldes somit nicht möglich ist, ergab
einen hinreichend geringen Wert.
Eine weitere wichtige Frage zur Sicherheit des Betriebes bezog sich auf die Kon-
struktion der › Weichen ‹, und damit auf die Sicherheit des Betriebssystems. Wenn ein
Transrapid von einem › Gleis ‹ auf ein anderes wechseln muss, ist eine Weiche erforder-
lich. Durch eine › Biegeweiche ‹ kann der Fahrweg gebogen und der Transrapid auf das
andere Gleis geleitet werden. Dabei tritt die Frage der Fahrwegsicherung auf. Dass die
Weiche tatsächlich Anschluss an das gewünschte Gleis hat, muss selbstverständlich ge-
währleistet, aber auch gesichert werden. Gemäß den Forderungen der Gutachter musste
ein Konzept der Weichensicherung erarbeitet werden. Das gelang durch die Konstruk-
tion eines Verriegelungs-Mechanismus, für den ein spezieller ausfallsicherer Sensor ent-
wickelt wurde.
Auch die Frage des Sicherheitsbereichs längs des Fahrweges musste erarbeitet wer-
den. Beim Rad-Schiene-Systems gibt es Block-Abschnitte. Die Freigabe zum Durch-
fahren eines Blockabschnittes den der Zug zu durchfahren hat, erfolgt durch ein be-
treffendes sicheres Signal bzw. ein sicheres automatisches Überwachungssystem. Beim
Transrapid wird ein Sicherheitsbereich entsprechend der Länge des Bremsweges, fort-
während aktualisiert und dem entsprechenden Fahrzeug mitgeteilt. Kommt es zu einer
Verletzung dieses Sicherheitsbereiches, oder aber zu einem Ausfall der Übertragung
wird eine Bremsung des Fahrzeuges eingeleitet.
Aber auch die sicherheitstechnische Überprüfung von Schraubverbindungen wurde
bearbeitet. Die Stator-Pakete, die am Betonträger geschraubt sind, bestehen aus etwa
1 m langen Abschnitten. Das sicherheitsrelevante Versagen einer Schraubverbindung
wurde durch redundante Befestigung, sowie ein kontinuierliches dynamisches Überwa-
chungssystem hinreichend unwahrscheinlich gemacht.
134 Jürgen Meins

Aus der Kommunikation der Ingenieure, die den Transrapid entwickelten, mit den
Gutachtern ergab sich ein Sicherheitskonzept, das alle die Sicherheit betreffenden not-
wendigen Aspekte einschließt. Dabei wurden standardisierte Verfahren zum Nachweis
der Sicherheit eingesetzt. So beispielsweise » Ausfall-Analysen «, die ermitteln, was in
der vorhandenen Technik mit welcher Wahrscheinlichkeit ausfallen kann und welches
die Folgen eines Ausfalles sind. Wenn in diesem Sinne das Ausfallverhalten eines tech-
nisches Bauteiles betrachtet wurde, ging es für die Entwicklungsingenieure der beteilig-
ten Unternehmen darum, Berechnungen und Experimente durchzuführen sowie Nach-
weise zu erbringen, um seitens der Gutachter die nachgewiesene Sicherheit bestätigt zu
bekommen. Dabei musste notwendigerweise der Sachverstand der einen Seite mit dem
der anderen zusammenarbeiten. Auf beiden Seiten spielten die jeweiligen Erfahrungen
eine wesentliche Rolle: auf der Seite der Gutachter die Erfahrungen mit Sicherheits-
prüfungen, und auf der Seite der Entwicklungsingenieure die Erfahrungen und Kennt-
nisse des technischen Systems. Der Weg, die Kompetenzen beider Seiten zusammenzu-
bringen und Sicherheitskonzepte zu entwickeln, beruht auf Verantwortungsbewusstsein
in mehrfacher Hinsicht. Im Zusammenhang der technischen Fragen, die ingenieurwis-
senschaftlich beantwortet werden können, müssen ökonomische, soziale und psycholo-
gische Erwägungen einbezogen werden. In diesen vieldimensionalen Aspekten ist die
Verantwortung der beteiligten Ingenieure verankert.
Die Struktur der Verantwortungen und Zuständigkeiten für den Magnetbahnbetrieb
bildet ein komplexes Geflecht (Abb. 5). Ingenieurinnen und Ingenieure arbeiten im All-
gemeinen in Kooperationen. Deshalb kommt es auf eine kritische Prüfung dessen an,

Abbildung 5

Eisenbahn Bundesamt (EBA)


• zuständig für Bau und Betrieb Relevanz f. Sicherheit, Genehmigung:
• schaltet Gutachter ein - Magnetbahnregelwerk
• erstellt Magnetbahnregelwerk - Hersteller, Betreiber
• Genehmigung f. kommerzielle Anwendung - Betriebsvorschrift, Betriebsleiter

Gutachter DB-AG (MVP) Ns. Verkehrs- u. Hersteller


• Fachleute, TÜV etc. • Betreiber Mag.-Bahn Wirtschaftsministerium • Bau Magnetbahn
• werden zertifiziert • arbeiten EBA zu • zuständig für Versuchsanlage • arbeiten EBA zu
• arbeiten EBA zu • genehmigt Betriebsvorschrift u.
Betriebsleiter f. Versuchsanlg.

Auftrag zur Genehmigung,


Betriebsdurchführung Betriebsvorschrift,
Betriebsleiter

IABG (Betreiber Transrapid Versuchsanlage Emsland)


Hohes Verantwortungspotential (Dienstvorschriften entstehen
sukzessive parallel zum Betrieb)
Chancen und Risiken bei der Entwicklung elektrotechnischer Systeme 135

Abbildung 6

Tätigkeits- Genehmigung,
Forschung Entwicklung Fertigung Vertrieb Gutachten
bereich Zulassung

Verant- Idee Kosten Kosten Service Sorgfalt Gesetze


wortungs- Konzept Wirtschaftl.-keit Qualität Beratung Vorschriften Regelwerke
bereiche Prinzip Sicherheit Termin Lieferzeit Umsicht Vorschriften
Funktion Wartung Ablauf Produktwahl
Kompatibilität
Materialien
Entsorgung

Personalführung, Abläufe, Regelungen

was die Einzelnen in stärkeren oder schwächeren Maßen auslösen. Die Verantwortungs-
bereiche lassen sich auflisten (Abb. 6). Die Einzelnen tragen Verantwortung in ihrem
Tätigkeitsfeld. Sie sind aber auch aufgerufen, rechtzeitig auf all jene Mängel hinzuwei-
sen, die sie auch außerhalb davon erkennen können.

Transrapid

Der Transrapid erreichte im Jahre 1991 seine Einsatzreife. In Deutschland kam er nur in
einer Versuchsstrecke im Emsland zum Einsatz.
Die Versuchsstrecke im Emsland wurde ab 1979 – zunächst mit der Nordschleife –
erbaut und nahm 1984 den Betrieb auf. 1987 wurde die Strecke mit der Südschleife auf
insgesamt 31,5 km Fahrweglänge erweitert. Ziel war es, die Transrapid Technik auch im
Geschwindigkeitsbereich oberhalb 400 km/h zu erproben. Die maximal erreichte Ge-
schwindigkeit auf der Versuchsanlage im Emsland betrug 454 km/h und war durch die
Kurvenradien in Nord- und Südschleife und die damit begrenzten Geschwindigkeiten
festgelegt.
In Shanghai wurde ein Transrapid-Verkehrssystem für die Verkehrsanbindung des
Flughafens gebaut (Abb. 7). Es nahm im Januar 2004 den Betrieb auf. Das Prototyp-
fahrzeug besteht aus 3 Sektionen mit einer Gesamtlänge von 79,7m, einer Fahrzeug-
136 Jürgen Meins

Abbildung 7

masse von 188,5 to und erreichte eine Maximalgeschwindigkeit von 550 km/h. Der
Einsatz der TRANSRAPID Magnetschwebetechnik in Shanghai verläuft bis heute pro-
blemlos.
Risiko und Verantwortung im Kontext
modellbasierter Analyse und Prognose
von Ingenieursystemen

Manfred Krafczyk
Institut für rechnergestützte Modellierung
im Bauingenieurwesen, TU Braunschweig

Der nachfolgende Beitrag setzt sich mit einigen Aspekten der Verantwortung von Inge-
nieuren auseinander, die primär (aber sicher nicht ausschließlich) für den Bereich der
universitären Ingenieurausbildung relevant sind, offensichtlich keinen Anspruch auf
Vollständigkeit erheben und durch die subjektive Sichtweise des Autors in seinem Tä-
tigkeitsgebiet als Hochschullehrer in den Bereichen Modellierung und Simulation kom-
plexer Transportprobleme sowie als tätiger Ingenieur im Bereich interdisziplinärer Pro-
blemstellungen gefärbt sind.
Vereinfachend gesagt, beschreibt der Begriff der Verantwortung die Zuweisung einer
Pflicht von Akteuren gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe aufgrund
eines normativen Anspruchs, der durch eine Instanz eingefordert werden kann und vor
dieser zu rechtfertigen ist. Die Handlungsfolgen können für den Handelnden zu Konse-
quenzen wie Belohnung, Bestrafung oder Ersatzleistungen führen [1, 2, 3]. Im Kontext
von Ingenieuraufgaben tritt der Fall der Verantwortung typischerweise dann ein, wenn
das im weiteren Sinn beauftragte Produkt nicht fristgerecht fertiggestellt wurde, we-
sentliche Aspekte seiner Funktion nicht hinreichend erfüllt oder aus seiner Funktionali-
tät heraus unvorhergesehene (meist negative) Seiteneffekte entstehen, die mit geltenden
Normen und Recht aus Sicht einer spezifischen Gruppe oder gesellschaftlichen Institu-
tion nicht zu vereinbaren sind.
Im Gegensatz zu eher erkenntnisorientierten Arbeiten in den Naturwissenschaf-
ten ist bei Ingenieuraufgaben nicht nur die Lösung einer mehr oder weniger komple-
xen Problemstellung selbst gefordert, sondern deren Erarbeitung unter der Einhaltung
materieller, zeitlicher und organisatorischer Randbedingungen im Sinne einer Opti-
mierung. Darüber hinaus sollte die Ingenieurzunft zumindest die technisch objekti-
vierbaren Grundlagen für eine weitergehende Abschätzung wirtschaftlicher und ge-
sellschaftlicher Auswirkungen ihres Wirkens durch andere Disziplinen zur Verfügung
stellen, da heutige und zukünftige technische Systeme und Anlagen auf großer Skala

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
138 Manfred Krafczyk

mehr und mehr das Wohlbefinden einer Gesellschaft im Alltag nachhaltig und umfas-
send prägen. In Folge dessen hat sich die Technikfolgenabschätzung [4] zu einer we-
sentlichen Disziplin entwickelt, in deren Kontext die Prognose von (im allgemeinen
Fall gekoppelten) Risiken und deren Bewertung als wesentliche Elemente etabliert
wurden.
Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltveränderun-
gen (WBGU) definiert Risiko als das Produkt von Eintrittshäufigkeit bzw. Eintrittswahr-
scheinlichkeit und Ereignisschwere bzw. Schadensausmaß. Es zeigt sich jedoch, dass
schon der der Risikobewertung vorausgehende Prozess der Risikoermittlung in der
praktischen Umsetzung eine Vielzahl von Problemen mit sich bringt, die nach Auffas-
sung des Autors in der universitären Ingenieurausbildung heute oftmals weder formal
noch in der nötigen Tiefe hinreichend vermittelt werden.
Auch fehlt oft ein grundlegendes Verständnis für die korrekte Interpretation grund-
legender statistischer Sachverhalte. Dies lässt sich z. B. am Begriff der Eintrittshäufigkeit
festmachen, welche die Häufigkeit angibt, mit der ein Ereignis innerhalb eines bestimm-
ten Zeitintervalls eintritt. So bedeutet z. B. eine Eintrittshäufigkeit von 0,01 Ereignissen
pro Jahr, dass im statistischen Mittel ein Schadensereignis einmal in 100 Jahren beob-
achtet worden ist. Solche Einschätzungen sind jedoch genuin abhängig von der entspre-
chenden Verfügbarkeit relevanter statistischer Daten und nur dann halbwegs verlässlich,
wenn eine genügend große Zahl von Beobachtungen vorliegt. Der Schluss, ein Ereignis
mit der beobachteten Eintrittshäufigkeit würde auch in Zukunft » nur alle 100 Jahre «
auftreten, ist daher ein nicht nur in der Bevölkerung weitverbreitetes Missverständnis,
welches auch bei der professionellen Risikoanalyse und -bewertung zu vielfältigen Feh-
lern geführt hat. Treten solche vergleichsweise leicht zu identifizierenden Fehler bei der
Risikoanalyse ein, sind weiterführende Probleme bei der anschließenden Risikobewer-
tung oft deutlich schwieriger zu identifizieren und zu beheben. Hier stellt sich zum Bei-
spiel die Frage, wie man Risiken vergleichend bewertet, die aus dem Produkt einer sehr
geringen Eintrittswahrscheinlichkeit und einer extremen Gefährdung (z. B. Kernkraft-
werk-GAU) einerseits und aus einer relativ hohen kumulierten Eintrittswahrscheinlich-
keit und einer statistisch unauffälligen Gefährdung (jährlich auftretende Sturm- oder
Flutschäden oder Wintergrippe) erwachsen. In beiden Fällen könnte man objektiv zu
der Auffassung kommen, den jeweiligen volkswirtschaftlichen Schaden über einen län-
geren Zeitraum als vergleichbar zu betrachten, allerdings wäre unter psychologischen
Gesichtspunkten eine entsprechend symmetrische Investition von Abwehrmaßnahmen
kaum gesellschaftlich konsensfähig.
Unabhängig von dieser Problematik liegt ein weiterer Umstand für die Minimierung
von Risiken in der Tatsache begründet, dass immer mehr Ingenieursysteme durch eine
Vielzahl von Multiplizitäten gekennzeichnet sind, was eine substantieller Erschwerung
ihrer Prognose bzgl. ihrer zukünftigen Funktionalität, Robustheit und Nebenwirkungen
(also der assoziierten Risiken) mit sich bringt. Diese Multiplizitäten sind beispielsweise
charakterisiert durch Begriffe wie:
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 139

• multi-physics (Das System wird beschrieben durch eine Vielzahl gekoppelter Teil-
prozesse mit unterschiedlichen Modellrepräsentationen wie z. B. Struktur, Strömung,
Strahlung, Materialien, Prozesse, …)
• multi-scale (vom Nanometer zur Skala des globalen Ökosystems, von der Millise-
kunde zum Millennium)
• multi-discipline (Mechanik, Mathematik, Physik, Informatik, Chemie, Wirtschaft,
Rechtskunde, Ökologie, …)
• multi-language (bei international kooperierenden Arbeitsgruppen)
• multi-modal (deterministisch, stochastisch, regelbasiert → Gesetze, Normen, …)
• Optimierung mit mehrdimensionalen Zielfunktionen aus unterschiedlichen Diszipli-
nen (z. B. architektonische Form vs. Funktionsfähigkeit und Ressourcenoptimierung)

Offensichtlich setzt der zukünftig sichere Umgang junger IngenieurInnen eine sehr
breite und auch durchaus theoretische Auseinandersetzung mit vielfältigen Themen
über die eigenen Kerndisziplinen der jeweiligen Ausbildungsgänge voraus, da ansons-
ten eine qualifizierte Verantwortungsübernahme für zukünftige Ingenieurlösungen
nicht durch entsprechende Fachkompetenz unterlegt werden kann. Dies stellt jedoch
insbesondere an eine zeitlich gestraffte Ausbildung im Kontext eines Bachelor-Master-
studiums große Herausforderungen, da gleichzeitig der Anteil der erfahrungsorientier-
ten Ausbildungsinhalte nicht übermäßig leiden darf.
Grundsätzlich besteht in der Ingenieurausbildung eine relativ große Spannung zwi-
schen der Vermittlung heuristischer, regelbasierter Korrelationen, die sich in einfa-
chen algebraischen Beziehungen zwischen Systemgrößen und entsprechenden Normen
niederschlagen und der Einführung in komplexe und multimodale Modellierungsan-
sätze, die eine erhebliche theoretische Modellierungskompetenz erfordern. Insbeson-
dere führt dies zu der Herausforderung, bei der Systembeschreibung im Sinne einer
Ressourcenoptimierung möglichst flexibel zwischen einfachen und schnell evaluier-
baren Modellen und solchen komplexerer Art zu wechseln, um eine hinreichend ver-
lässliche Systemanalyse bzw. -prognose mit möglichst geringem Aufwand zu realisieren
(A. Einstein: » Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfa-
cher «). Leider ist die Befolgung dieser Maxime in der Praxis oft nicht zu erkennen. Als
Beispiel hierzu diene der weit verbreitete Umgang mit Simulationssoftware zur Analyse
und Prognose des physikalischen Verhaltens von verschiedensten Systemen, die den
Bereichen der Struktur- und Strömungsmechanik zuzuordnen sind. Diese Systeme (in
welche bei den Marktführern oft hunderte Mannjahre an hochspezifischem Arbeitsauf-
wand und Know-How der unterschiedlichsten Disziplinen eingeflossen sind) möchten
dem Benutzer (also typischerweise dem Berechnungsingenieur) eine möglichst einfach
zu bedienende Programmumgebung zur Verfügung stellen, innerhalb derer das Verhal-
ten eines geplanten oder bestehenden komplexen (strömungs-)mechanischen Systems
berechnet werden soll. Dazu bedarf es modellintern einer konsistenten Verknüpfung
von unterschiedlichsten Modellebenen, von denen jede einzelne a priori fehlerbehaftet
140 Manfred Krafczyk

ist. Dies beginnt bei den Details der mathematisch-physikalischen Formulierung (typi-
scherweise als Satz nichtlinearer partieller Differentialgleichungen), geht über die Wahl
geeigneter Randbedingungen (wo beginnt bzw endet mein System und wie ist sein Zu-
stand an den angenommenen Grenzen charakterisiert ?) zur Wahl geeigneter Materia-
lien mit entsprechenden Eigenschaften aus entsprechenden Datenbanken bis zur geeig-
neten (fast niemals automatischen) Diskretisierung in Form eines Berechnungsnetzes
oder -gitters und der anschließenden Aktivierung geeigneter Gleichungslöser mit un-
terschiedlichen Konvergenzeigenschaften. Als Ergebnis all dieser vom Benutzer festzu-
setzenden Eigenschaften des virtuellen Systems erfolgt nach mehr oder weniger lang-
wieriger Berechnung die Erzeugung eines im Prinzip beliebig großen Datensatzes, den
es mit Hilfe geeigneter Visualisierungstechniken (wieder als Teil der Software verfüg-
bar) in Bezug auf die ursprünglich verfolgten Fragestellungen zu interpretieren gilt. Da
prinzipiell auf jeder der vorangegangenen Modellierungsebene zwangsläufig mehr oder
minder große Fehler gemacht werden, liegt es nahe, das der kompetente Benutzer einer
solchen Simulationssoftware in der Lage sein sollte, die wesentlichen Fehlerquellen sei-
ner Berechnung zumindest qualitativ einzuordnen und so letztlich eine belastbare Aus-
sage über die Genauigkeit seiner Analyse respektive Prognose zu treffen. Für nicht-
lineare Systeme ist eine solche Bewertung einer Simulationsrechnung allerdings oftmals
sehr schwierig, weswegen hochwertigere Problemlösungen tendenziell auch Sensitivi-
tätsstudien zu bestimmten Modellaspekten beinhalten sollten. In der Praxis bürgert sich
aber immer mehr eine Haltung ein, die aus Unkenntnis der (zugegebenermaßen sehr
komplexen) inneren Abläufe bei Simulationsrechnungen die Qualität der erzeugten Be-
rechnungsdaten nicht hinreichend hinterfragt, so dass die Berechnungsergebnisse die
Qualität eines Orakelspruches erlangen, das nicht hinreichend hinterfragt wird. Die aus
einer mangelhaften Auseinandersetzung mit den mathematischen, physikalischen und
informationstechnischen Grundlagen des eigenen Handwerkszeugs resultierende Un-
sicherheit führt dann zu einer Nutzung der Werkzeuge als black-box-Instrumentarium
mit nicht selten schwerwiegenden Folgen für die Funktionalität des realen Zielsystems.
In einem solchen Fall kann natürlich von verantwortlichem Handeln des Berechnungs-
ingenieurs nicht mehr die Rede sein, auch wenn dieser sich der Problematik nicht be-
wusst sein mag und kein Vorsatz vorliegt. Dieser Problematik ist nur mit einer vertief-
ten Ausbildung in den entsprechenden Grundlagenfächern in Verknüpfung mit dem
Studium realistischer Fallbeispiele zu begegnen und motiviert außerdem die enge Ver-
knüpfung von ingenieurpraktischen und grundlagenbezogenen Ausbildungs- und For-
schungsinhalten.
Der gewachsene Anspruch an die Ingenieurausbildung lässt sich exemplarisch auch
dokumentieren an einem Auszug der curricularen Ziele der American Society of Civil
Engineers. Demnach sollen zukünftig vermittelt werden:

1) Die Fähigkeit zur sicheren Anwendung von mathematischem sowie natur- bzw. in-
genieurwissenschaftlichem Wissen auf dem Niveau des Standes der Technik,
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 141

2) die Fähigkeit, Experimente zu entwerfen und durchzuführen sowie deren Ergebnisse


sinnvoll zu analysieren und zu interpretieren,
3) erfolgreich in multifunktionalen Arbeitsgruppen zu agieren,
4) die Fähigkeit, Ingenieurprobleme zu identifizieren, korrekt zu formulieren und zu
lösen, sowie
5) die Kompetenz, effizient zu kommunizieren.

Der/die zukünftige IngenieurIn soll dies in der Funktion eines Integrators und einer
Führungspersönlichkeit durch Beherrschung der folgenden Disziplinen demonstrieren:
sicherer Umgang mit mathematischen Gleichungen (Differential- und algebraischen
Gleichungen), Statistik, Physik, Biologie, Chemie, Ökologie, Geologie, Ökonomie, Me-
chanik, Materialwissenschaften, Systemtheorie, Nanotechnologie und der angewandten
Informatik.
Diese erweiterten Qualifikationsansprüche sind nicht zuletzt durch einen wahr-
nehmbaren Wandel bei der Komplexität vieler heutiger Ingenieuraufgaben erwachsen,
die sich vereinfacht und stichpunktartig in Tabelle 1 angedeutet werden.
Im Bereich der universitären Forschung entstehen gerade im Bereich der Dokto-
randenausbildung immer öfter strukturierte Programme, bei denen Beteiligte aus meh-
reren Disziplinen (z. B. Mathematik, Informatik und einer Ingenieurwissenschaft) ge-
meinsam an einem Zielsystem forschen. Aus einem solchen Ansatz heraus lernen alle
Beteiligten etwas über die Prioritäten und den Stand der Technik der jeweils anderen
Disziplinen und werden solchermaßen in die Lage versetzt, aus dem daraus resultie-
renden methodischen Vorsprung einen echten Mehrwert für die belastbare (und damit
auch verantwortungsvolle) Analyse und Prognose von Ingenieursystemen zu generie-
ren. Ein analoger Mehrwert wird generiert, wenn entsprechende Teams aus experimen-
tell und theoretisch orientierten Partnern an einer gemeinsamen Problemstellung arbei-
ten. Allerdings muss in beiden Fällen auch klar antizipiert werden, dass der angestrebte
Mehrwert bei gemischten Teams auch eine gehörige Mehrleistung im Sinne einer inten-

Tabelle 1 Gegenüberstellung einiger generischer Aspekte bei der Lösung von Ingenieur-
problemen gestern und heute

Ingenieurprobleme gestern Ingenieurprobleme heute

• lokalisiert in Raum, Zeit & Kontext • zunehmend raumübergreifende Großprojekte


• Bearbeitung individuell oder in kleinen Teams • große, interdisziplinäre Teams
• monodisziplinär • inter- und transdisziplinär
• technisch orientiert • wissenschaftlich, technisch, wirtschaftlich orientiert
• örtlicher Kontext • globaler Kontext (Internationalisierung)
• schwach formalisiert • stark formalisiert & kodifiziert (Normen, Vertrags-
• stark idealisiert komplexität, komplexe Organisationsstrukturen,
Rechtsunsicherheiten € Haftung)
• hoch detailliert
142 Manfred Krafczyk

siveren und aufwändigeren Kommunikationsleistung erfordert, die sich aber bei guter
Projektsteuerung im Allgemeinen bezahlt macht.
Da die heute in der Entwicklung und im Betrieb befindlichen technischen Systeme
fraglos immer komplexer werden, ist es auch mit einer beliebig verbesserten Grundaus-
bildung im Rahmen eines Studiums nicht getan, insbesondere da durch die gestrafften
zeitlichen Randbedingungen des Bachelor-Master-Systems weniger Zeit für eine sys-
temorientierte Ausbildung bleibt. Letztlich kann die/der IngenieurIn nur durch eine die
gesamte Berufstätigkeitsspanne umfassende Weiterbildung der Zunahme der Komple-
xität der anvisierten Zielsysteme begegnen.
Die Übernahme von Verantwortung im Sinne einer Absicherung bzw. Gewähr-
leistung für Ingenieurleistungen stellt heute also zunehmend höhere Anforderungen
an alle beteiligten Akteure als jemals zuvor. Die nachhaltige Motivation junger Inge-
nierInnen, sich auf einen solchen (schwer formalisierbaren) Prozess einzulassen, muss
daher zumindest implizit Bestandteil eines jeden hochwertigen universitären Curricu-
lums sein.
Über den Bereich der konkreten Systemanalyse und -prognose hinaus wäre im Sinne
einer umfassenderen Übernahme von Verantwortung die Vorhersage von Seiteneffek-
ten umgesetzter Ingenieursysteme auf das System Mensch/Umwelt wünschenswert.
Beispiele für solche schwer zu prognostizierenden Systeme finden sich im Kontext der
Langzeitfolgenanalyse der Nutzung von Kernenergie, der übermäßigen anthropogenen
Nutzung natürlicher Ressourcen oder der zunehmenden Urbanisierung von Ökosyste-
men unterschiedlichster Art. Bedauerlicherweise wird die Dynamik solcher Prozesse
durch das sog. Collingridge-Dilemma (auch » Steuerungs- oder Kontrolldilemma «)
[6, 7] signifikant beeinträchtigt:
Die Versuche der Technikfolgenabschätzung zur Gestaltung der Technikentwick-
lung beizutragen, stehen dabei vor dem Problem, dass einerseits langfristige Auswir-
kungen nicht leicht vorhergesehen werden können, solange eine Technologie noch nicht
ausreichend entwickelt und weit verbreitet ist und andererseits Kontrolle bzw. alterna-
tive Gestaltung deutlich schwieriger umzusetzen sind, wenn diese Technologie schon
umfassend etabliert ist. Anders ausgedrückt: Die Aussichten auf sicheres Folgenwissen
sind proportional zum Entwicklungsstand einer Technologie (d. h. je besser die Pro-
duktionsbedingungen, Nutzungskontexte und Entsorgungsverfahren bekannt sind). Al-
lerdings besteht dann keine Möglichkeit mehr, die Technik oder die Technikfolgen ge-
staltend zu beeinflussen, da deren Entwicklung bereits so weit fortgeschritten ist, dass
aus ökonomischen Gründen eine signifikante Modifikation oder Neuorientierung kaum
noch oder nicht mehr möglich ist.
Hier öffnet sich ein beträchtliches Spannungsfeld, inwieweit der Ingenieur als Teil
seiner erweiterten Verantwortungsübernahme für seine technischen Entwicklungen
auch an der Diskussion gesellschaftlicher Implikationen dieser Schöpfungen quali-
fiziert partizipieren soll und kann. Im weiteren Sinne könnte dies eine explizite Aus-
prägung der von dem Philosophen Søren Kierkegaard geäußerten Auffassung sein [8]:
Risiko und Verantwortung im Kontext modellbasierter Analyse und Prognose 143

» Der Mensch ist der, der durch Wahl für das, was er als das Zufällige ausschließt, eine
wesentliche Verantwortung übernimmt im Hinblick darauf, dass er es ausgeschlos-
sen hat. «

Literatur
1. http://de.wikipedia.org/wiki/Verantwortung
2. Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, Beck, München 1986, 263, oder Oswald Schwemmer in
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Vierbändige Enzyklopädie, hrsg. Jürgen
Mittelstraß, vierbändige Ausgabe, Metzler, Stuttgart 1980 – 1996, Band 4, 499 – 501
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München 1975, Kapitel II. Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen
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Teil III
Lehre und Studium
Innovationsschübe und die Verantwortung
der Lehrenden in den Ingenieurwissenschaften

Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen


Institut für Konstruktionstechnik, TU Braunschweig

Abstract

Die Lehre an der Hochschule misst sich heute insbesondere in den MINT-Fächern (Ma-
thematik – Informatik – Naturwissenschaft – Technik) vornehmlich an der Bildung
einer möglichst hohen fachlichen Kompetenz der Studierenden. Die Hochschullehre
bereitet die Studierenden darauf vor, auf neue Herausforderungen durch die Erweite-
rung und Weiterentwicklung bekannter Grundlagen zu reagieren. Allerdings zeigt sich,
dass notwendige Innovationsschübe erst durch die Beachtung völlig neuer Ideen und
Visionen tatsächlich möglich werden. Dies ist insbesondere in den Ingenieurwissen-
schaften relevant, da Ingenieure einen großen Anteil an der Entwicklung von Ideen zur
Gestaltung unseres zukünftigen Lebens haben.
Wir leben in einer spannenden, herausfordernden Zeit. Schlagwörter wie Krise, Zer-
fall, Katastrophe sind allgegenwärtig. Die Welt ist stärker denn je zusammengerückt,
bedenkt man wie vor allem die virtuelle und wirtschaftliche Vernetzung voranschreitet.
Es werden auf der einen Seite globale Zusammenhänge erkannt und gelebt. Auf der an-
deren Seite sind die persönlichen Kontakte und die gelebten Gemeinschaften nicht im
gleichen Maße entwickelt. In vielen von uns reift eine Ahnung, dass die alten Strukturen
nicht mehr tragen, etwas Neues entwickelt und Innovationen befördert werden müssen.
Voraussetzung für Innovation ist die Öffnung für kreative Prozesse und der Kontakt
des Einzelnen zu seinen Möglichkeiten. Die individuelle Entwicklung – mit Blick auf
die Kreativität und das persönliche Potential – ist notwendig. Daher stellt sich die Frage,
welche Verantwortung den Lehrenden in den Ingenieurwissenschaften heute zukommt,
welche Veränderungen wir zulassen und befördern können.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_15, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
148 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

1 Der Ingenieur und seine Modelle

Ingenieure verstehen sich in der Regel als die geistigen Väter technischer Systeme, mit
deren Hilfe naturwissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen der Menschen angewen-
det werden. In weiten Teilen unserer Gesellschaft ist das Ingenieurbild eines scharfen
Denkers und Tüftlers verankert. Entsprechend diesem Bild ist der Ingenieur in der Lage,
auf jede Herausforderung eine technische Antwort zu liefern.
Was Ingenieure in unbestrittenem Maß besonders auszeichnet ist das Vermögen, die
Realität in Ingenieurmodelle zu übersetzen. Dieser Prozess versetzt sie in die Lage, Lö-
sungen für sehr komplexe Aufgabenstellungen zu finden.

1.1 Ingenieurmodelle

Ingenieurmodelle zeichnen sich dadurch aus, dass die Realität nicht exakt abgebildet
wird, sondern dass durch Reduktion die wesentlichen Einflüsse übersetzt werden [7].
Nach Heinz Duddeck ist ein Modell dann besonders gut, wenn das jeweils Richtige be-
halten und das jeweils Richtige weggelassen wird.
Die Weiterentwicklung von Ingenieurmodellen kann nach Duddeck durch zwei An-
triebe erfolgen:

1) Als Teil des Entwicklungsstroms durch Anwendung von Kenntnissen, Sachverstand


und Fleiß
2) Mit Blick auf den Entwicklungsstrom durch Einspeisen von Ideen mit Visionen,
Phantasie und Intuition

Während der erste Antrieb ermöglicht, dass bekannte Grundlagen weiterentwickelt wer-
den, so kann durch den Zweiten die zukünftige Entwicklung in heute noch nicht er-
kennbare Richtungen gelenkt werden. Letzteres führt zu völlig neuen Ideen, Entwick-
lungen und Innovationsschüben.

1.2 Denkmodelle

Das alltägliche Denken des Ingenieurs in Modellen hinterlässt Spuren. Ingenieure su-
chen in vielen Fällen auf Herausforderungen jedweder Art eine technische Antwort –
selbst wenn objektiv gesehen eine emotionale Reaktion oder ein kommunikativer Aus-
tausch angemessen gewesen wäre. Eine gewisse Gefahr liegt dabei in der Tatsache
begründet, dass das Denken und Handeln in Modellen durch die Akteure oft unbe-
wusst erfolgt. Duddeck warf dazu schon 1984 die Frage auf, ob Ingenieure mit Modellen
schon so selbstverständlich umgehen, dass es ihnen gar nicht bewusst wird. Er fragt in
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 149

einem in [7] abgedruckten Beitrag weiter » Machen wir davon [von den Modellen] gar
im Sinne von › naiv ‹, d. h. nicht darüber reflektierend, Gebrauch ? «
An den Hochschulen und Universitäten setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis
durch, dass eine rein technisch-wissenschaftlich orientierte Ausbildung nicht ausrei-
chend ist. Die Sozialkompetenz der Studierenden muss ebenfalls geschult werden. Es
wurden und werden in derzeitige Lehrpläne Veranstaltungen aufgenommen, die die
überfachliche Kompetenz befördern. Dabei handelt es sich beispielsweise um Kurse zu
Rhetorik und Vortragstechniken, Fremdsprachen oder zu juristischen Aspekten.
Das Denken in Modellen ist in weiten Bereichen unseres täglichen Lebens fest ver-
ankert. Die Auswirkung des Denkens in Modellen auf weitere Lebensbereiche ist nicht
überraschend, wenn man die jüngeren Erkenntnisse der Gehirnforschung berücksich-
tigt: » Das Gehirn wird so, wie und wofür man es mit Freude und Begeisterung nutzt «,
bringt es der Neurowissenschaftler und Hirnforscher Gerald Hüther der Universität
Göttingen auf den Punkt (s. z. B. [14], [13]).
Hüther leitet aus seinen Forschungsergebnissen ab, dass eine völlig neue Lehr- und
Lernkultur entstehen muss, die die Potentialentfaltung des Individuums in das Zentrum
einer individualisierten Gemeinschaft stellt (siehe Abschnitt 3.2). Das Selbstverständnis
des Einzelnen und der bewusste Umgang mit seinen Fähigkeiten ist eine Schlüsselqua-
lifikation für gesellschaftliche Entwicklung zu mehr Freiheit im Denken und Wirken.

1.3 Beschränkung durch Modelle ?

Weite Bereiche unseres täglichen Lebens sind geprägt durch Modelle und Vorstellun-
gen, die sich durch jahrelange Erfahrungen entwickelt und verfestigt haben. Wir ha-
ben gesellschaftliche Konventionen und eine starke Übereinkunft, welche Ansichten
bzw. Vorgänge richtig und möglich und welche falsch und unmöglich sind. Die Kon-
sequenz daraus ist eine Einengung unserer Möglichkeiten und die fehlende Akzeptanz,
dass auch Unbekanntes oder fremd erscheinendes Wissen möglich ist und sein kann.
In besonderem Maße gilt dies für die Ingenieurwissenschaften. Die heutige techni-
sche Entwicklung basiert zu einem überwiegenden Teil auf dem Weltbild, das Newton
durch seine Mechanik bereits im 17. Jahrhundert (1665) begründete. Newtons Idee zur
Beschreibung der Gravitation und die Beobachtungen des Offensichtlichen, wie die Be-
wegungen der Sterne, haben das heutige mechanistische Weltbild entstehen lassen. Das
mechanische Modell hat sich für unzählige Aufgabenstellungen bewährt und die Basis
für den heutigen technischen Entwicklungsstand geschaffen.
Die Ausrichtung des damaligen Denkens und der entsprechenden Forschung mit
den dazu passenden Fragestellungen bedeuteten eine Weichenstellung zu unserer heuti-
gen erlebten Realität. Einige gesellschaftliche Konsequenzen sind die Abtrennung (vom
Lebendigen) und der Dualismus mit einer Individualisierung und einem starken Den-
ken in den Kategorien Richtig und Falsch.
150 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

Damit stellt sich die Frage, ob den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft
mit einem rund 350 Jahre alten Modell adäquat begegnet werden kann.

• Bewirken die fest in uns verankerten etablierten Modelle, dass wir nicht wirklich
offen für Innovationen sein können ?
• Welche Wahrnehmungen neben der visuellen Beobachtung und dem physikalischen
Messgerät lassen wir zu ?

2 Wirklichkeit und Potentialität

Die Quantenphysik gibt uns Hinweise, dass die Möglichkeiten der Gestaltung unserer
Realität zum Einen offen sind und zum Anderen von der Fragestellung selbst abhän-
gen. Die Fragestellung bzw. Messung legt die Realität in dem Moment der Messung fest.
Diese Erkenntnis der Quantenphysik geht insbesondere auf das Gedankenmodell von
Schrödingers Katze [18] zurück. Dabei werden die Zustände » Katze tot – Katze leben-
dig « erst in dem Moment der Messung (Öffnen der Kiste und hinein schauen) festgelegt.
Während die Katze mit der tödlichen Apparatur1 gemeinsam in der verschlossen Kiste
verbleibt, existiert sie in einem uns unbekannten Zustand. Wir können der Katze einen
potentiellen Zustand (zwischen tot – lebendig) zuschreiben, der in unserem Weltbild
als unmöglich erscheint, jedoch bei Nahtoderfahrungen als real erlebt und beschrie-
ben wird [10].
Das von Bohr [2] eingeführte Komplementaritätsprinzip trägt der Tatsache Rech-
nung, dass beispielsweise ein Elektron als Welle oder als Teilchen beschrieben wird –
je nach der Art der Messung. So dass sie » als komplementäre aber einander ausschlie-
ßende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen « sind (Bohr 1928:
245). Gemeinsam bilden das Welle- und das Teilchenmodel eine vollständige Beschrei-
bung, zwischen den beiden besteht jedoch ein logischer Widerspruch. Carl Friedrich
von Weizäcker (1941/42: 492) [21] merkt an » Beide Modelle bilden eine vollständige Dis-
junktion. Folgt daraus, dass sich eine physikalische Realität an einem bestimmten Ort be-
findet, dass sie sich nicht zugleich an einem anderen Ort befinden kann, so nennen wir sie
ein Teilchen, folgt dies nicht, nennen wir sie ein Feld (und dies ist es ja, was wir mit dem
ungenauen Terminus › Welle ‹ meinen) «. Das Komplementaritätsprinzip stellt einen un-
lösbaren Widerspruch dar, der dem rationalen Geist der Ingenieure gar nicht gefällt.
Die Bildung von Modellvorstellungen in Gesellschaft und in Wissenschaft resultie-
ren weiterhin vornehmlich aus der visuellen Betrachtung unserer Realität und der Inter-

1 Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man
gegen den Zugriff der Katze sichern muss) in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzi-
ge Menge radiokativer Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen
zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt
über ein Relais, ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert.
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 151

pretation von Ereignissen, Messergebnissen bzw. empirischen Daten, letztlich der Be-
obachtung des Offensichtlichen. Weite Bereiche der Wissenschaft beschäftigen sich auch
heute noch fast ausschließlich mit der Erforschung der Materie (sichtbar), obwohl in
der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion längst ganz selbstverständlich und aner-
kanntermaßen über dunkle Materie und Energie gesprochen wird [5], Erscheinungen
die nicht offensichtlich sind und deren Bedeutung für unsere Existenz noch völlig un-
klar erscheinen.

2.1 Wandel der Weltsicht

Die Frage, welche Möglichkeiten sich für den Ingenieur ergeben, wenn aktuelle physi-
kalische Theorien zur Beschreibung unserer Welt verwendet werden, und welche Aus-
wirkungen dies auf das gesellschaftlich verankerte Weltbild hätte, hat 2010 die Ring-
vorlesung Neue Weltsicht – Neue Weitsicht | Physik und Ingenieure heute an der TU
Braunschweig thematisiert [3].
Der Physiker Thomas Görnitz führte hier in seinem Vortrag mit dem Titel » Wa-
rum auch Nichtphysiker das Wesentliche der Quantentheorie kennen sollten « folgende
Punkte an, die die Quantenphysik charakterisieren:

• Quantenphysik ist eine Physik der Beziehungen


• Das Wirken von Möglichkeiten wird beschrieben
• Die Offenheit der Zukunft wird deutlich
• Für den Menschen ergibt sich eine Freiheit und damit Verantwortung

Siehe Veröffentlichungen von Thomas & Brigitte Görnitz [11], [12], [3].
Hans-Peter Dürr, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in Mün-
chen und Schüler Werner Heisenbergs, leitet in seinem Beitrag im Rahmen der Ring-
vorlesung [3] aus der Quantenphysik Schlussfolgerungen ab:

• Wir müssen lernen, auf neue Weise zu denken


• Die Zukunft ist offen
• Die Wirklichkeit entspringt einer Potentialität
• Das Wahrscheinlichere passiert wahrscheinlicher

Im Vergleich zur Newtonschen Weltsicht ergibt sich ein völlig anderer Blick auf die Rea-
lität. Dürr spricht hierbei von einem Paradigmenwechsel, der sich vollziehen muss. Ein
Wechsel von einem materialistischen Weltbild hin zu einer Weltsicht, die jeden Moment
als Bifurkationspunkt unendlich vieler Möglichkeiten erfasst. Als Folge dieser neuen
Weltsicht gibt es keine manifeste Realität mit zwanghaft konsequenten Abläufen son-
dern Felder von Potentialität [9][3]. In einem seinem Buch » Das Lebende lebendiger
152 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

werden lassen: Wie uns neues Denken aus der Krise führt « [8] zeigt Hans-Peter Dürr
auf, wie die Enge unseres materialistischen Weltbilds überwunden werden kann, so dass
Leben in besserem Einklang mit der Natur möglich wird. Er beschreibt Wege, wie mit
neuem Denken und beherztem Tun die Krisen unserer Zeit bewältigt sowie das eigene
Leben und das aller anderen lebendiger gemacht werden können.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Nutzen der etablierten Ingenieur-
modelle und der klassischen Mechanik nicht in Frage zu stellen ist. Es ist (aber) uner-
lässlich, für die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Modelle zu sensibilisieren
und sich diese bewusst zu machen. Deutlich wird, dass weder die klassische noch die
Quantenmechanik zu einer vollkommenen Vereinheitlichung der Physik führt – eine
allumfassende Weltformel existiert bis heute nicht. Dies bemerkt der Astrophysiker
Stephen Hawking in seinem Buch Die kürzeste Geschichte der Zeit [19]. Hawking führt
weiterhin aus: » Bislang waren die meisten Wissenschaftler zu sehr mit der Entwicklung
neuer Theorien beschäftigt, in denen sie zu beschreiben versuchten, was das Universum
ist, um die Frage nach dem › Warum ‹ zu stellen. «. Aus seiner Sicht ist es an der Zeit, Wis-
senschaft und Philosophie in Einklang bringen.

2.2 Materie-Geist-Frage

Es ist bemerkenswert, dass bei vielen Physikern, Mathematikern oder Wissenschaftlern


im Allgemeinen, wenn Sie sich sehr intensiv und mit großer Tiefe in ein Problem ein-
gearbeitet haben, häufig eine Fragestellung auftaucht, die sich letztendlich als ein Mate-
rie-Geist-Problem beschreiben lässt. Der Quantenphysiker Heisenberg bemerkt hierzu
sehr treffend:

» Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch – Auf dem Grund
des Bechers wartet Gott «
Werner Heisenberg

Als Beispiel sei hier Max Planck genannt, der das Materie-Geist-Problem für sich wie
folgt beschreibt [1]:

» Es gibt keine Materie an sich ! Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche
die Atomteilchen in Schwingungen bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Atoms
zusammenhält. Da es aber im ganzen Weltall weder eine intelligente noch eine ewige Kraft
gibt […] –, so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten Geist annehmen. Dieser Geist ist
der Ursprung aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre
und Wirkliche, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre. Da es aber Geist an
sich nicht geben kann und jeder Geist einem Wesen angehört, so müssen wir zwingend Geist-
wesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, sondern geschaf-
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 153

fen worden sein müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu
nennen, wie ihn alle alten Kulturvölker der Erde genannt haben: Gott. Damit kommt der Phy-
siker, der sich mit der Materie zu befassen hat, vom Reiche des Stoffes in das Reich des Geistes.
Und damit ist unsere Aufgabe zu Ende, wir müssen unser Forschen weitergeben in die Hände
der Philosophie. «
Max Planck

In jüngster Zeit haben die Physiker Michael König und Jochen Häuser unabhängig von-
einander die Theorie von Burkhart Heim [20] aufgegriffen. Dieser hatte angestrebt, Ein-
steins Ansätze in eine einheitliche Feldtheorie zu überführen. König gelingt auf dieser
Basis eine mathematisch und physikalisch schlüssige Herleitung einer Instanz, die er
mit dem Göttlichen in Verbindung bringt [16]. Häuser nutzt Heims alternative Sicht-
weise auf beispielsweise die Gravitation und gelangt so zu innovativen Antriebssyste-
men für die Raumfahrt [5] [6]. Diese Beispiele zeigen, dass die Offenheit des Einzelnen
es möglich macht, dass wirklich Neues in die Welt kommt.
Hierzu sei abschließend bemerkt, dass die Beobachtung an sich eine Potentialität
in die Realität überführt. Thilo Hinterberger – Hirnforscher vom Lehrstuhl für Ange-
wandte Bewusstseinswissenschaften der Unviersität Regensburg – führt dazu in [4] aus,
dass es eine interne Repräsentation der Außenwelt gibt und dass erst durch das gegen-
seitige Spiegeln ein soziales Gefüge entsteht. Die bewusste Beobachtung führe zu einer
Trennung, Kohärenz stabilisiere dabei das System.

3 Innovation durch Offenheit

Der Antrieb für die Entwicklung von neuen Technologien geht einher mit einem neuem
Verständnis und mit der Bildung von neuen Modellen. Damit die zukünftigen Ingenieu-
re auf die Herausforderungen unserer Zeit vorbereitet sind, muss die Hochschullehre sie
in die Lage versetzten, die notwendigen Entwicklungsimpulse leisten zu können.
Bisher bereitet die Hochschullehre die zukünftigen Ingenieure fast ausschließlich auf
die Ausweitung und Weiterentwicklung bekannter Grundlagen vor. Innovationschübe
und -sprünge [7] können nur entstehen, wenn völlig neue Ideen und Visionen in den
Entwicklungsstrom eingespeist werden. Woher kommen die Impulse, wie werden völlig
neue Ideen geschöpft ?
Es ist offensichtlich, dass wir mit den Modellen der Vergangenheit die Herausfor-
derungen unserer Zeit nicht adäquat bearbeiten können. Oder wie es schon Albert
Einstein formulierte: » Die signifikanten Probleme, die sich uns stellen, können nicht mit
dem gleichen Grad des Denkens gelöst werden, den wir hatten als wir sie kreiert haben. «
Daher müssen zukünftige Gestalter in der Lage sein, offen für völlig Neues zu werden.
Dazu wird insbesondere eine Offenheit benötigt, bewährte Ansätze und Modelle hin-
sichtlich ihrer Anwendbarkeit für neue Herausforderungen in Frage zu stellen.
154 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

Etwas wirklich Neues zu entdecken wird möglich, wenn die Frage nach der Gültig-
keit der bestehenden Modelle gestellt wird. Eine offene Fragestellung in diesem Zusam-
menhang ist:

• Was ist noch möglich ?


• Wie kann das Phänomen (noch) dargestellt werden ?

Hierbei geht es nicht darum, die bewährten Modelle selbst in Frage zu stellen, sondern
es geht darum, weitere Möglichkeiten (Potential) zuzulassen.

3.1 Öffnen für das Neue

Die Kreativität und Neuschöpfung wird u. a. von Eckart Altenmueller als Arzt und
Musikwissenschaftler anhand der Improvisation beim Musizieren untersucht. Er stellt
fest, dass Planung und Kontrolle, die nachweislich in der vorderen Gehirnregion (Prä-
frontaler Cortex) ablaufen, hinderlich beim Improvisieren eines Musikers sind. Er sagt
recht anschaulich » Wir müssen die Wachen vor den Stadttoren abziehen «, um kreativ
sein zu können. Und meint damit, dass Entspannung und Meditation oder auch Trance
den Kontrollapparat im vorderen Hirnbereich deaktivieren und damit Kreativität zu-
lassen [4].
Die Öffnung für etwas Neues und Unbekanntes fällt uns häufig schwer. Es bedeu-
tet ja das Bekannte und Vertraute loszulassen, womit eine Unsicherheit einhergeht. Wir
fühlen uns sicher, wenn:

• wir darauf vertrauen können, dass uns keine Gefahr droht.


• wir wissen, was passieren wird.
• wir die Kontrolle haben.

Diese Sicherheit ist wichtig in unserem alltäglichen Leben. Es bedeutet ein Wagnis, ein
Abenteuer, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen. Wie können wir

• uns für etwas Neues und Unbekanntes öffnen ?


• unseren Möglichkeitsraum wahrnehmen und erweitern ?
• die unendliche Potentialität für uns zugänglich machen ?

Um sich den Antworten auf diese Fragen zu nähern, möchten wir gerne den sogenann-
ten U-Prozess heranziehen, den C. Otto Scharmer – ein deutscher Soziologe und Wirt-
schaftswissenschaftler, der am MIT tätig ist – in seinem Buch Theorie U – Von der Zu-
kunft her führen [17] erläutert.
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 155

Abbildung 1 U-Prozess: Wie kommt etwas Neues in Welt ? Nach C. Otto Scharmer [17]

1) Seeing: Die Perspektive der eigenen Wahrnehmung ändern.


2) Sensing: Die Wahrnehmung erweitern und die Situation erspüren.
3) Presencing: Öffnung und Anbindung.
4) Crystallizing: Annehmen, dass etwas Neues Platz haben kann.
5) Prototyping: Ausprobieren, dass etwas Neues funktionieren kann.

Er hat sich der Frage gewidmet: Wie kann es gelingen, sich gemeinsam an einer krea-
tiven Zukunftsgestaltung zu beteiligen und einzubringen ? Er entwickelt die U-Theorie
und eine Methode, mit der wir lernen, mit Herausforderungen umzugehen, auf die es
bisher keine Antworten aus der Erfahrung heraus gibt. Er beschreibt mit dem U-Pro-
zess eine Strategie, die sich von dem üblichen Vorgehen unterscheidet, bei dem man
zunächst (ingenieurmäßig) das Problem analysiert, Lösungsstrategien plant und dann
umsetzt. Es geht ihm darum, dass es gelingt, Zukunftspotentiale zu erspüren. Scharmer
hat die Theorie auf Basis von Interviews mit herausragenden und visionären Persönlich-
keiten entwickelt.
Anzumerken ist dabei, dass er diese Theorie als Technik zur Zukunftsgestaltung all-
gemein formuliert, diese aber insbesondere in den Kontext von Führung stellt. Hier stel-
156 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

len wir die Theorie in Zusammenhang mit der Frage, wie Innovationen gelingen kön-
nen und wie Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gefunden werden, da
hierzu nicht nur technische Probleme sondern auch der gesellschaftliche und soziale
Kontext gehören. Wir benötigen eine Kultur und ein kollektives Selbstverständnis, das
es ermöglicht, die Sicherheit zu haben, sich auf die Erfahrung von etwas Neuem ein-
zustellen.
Bei dem U-Prozess ist der erste Schritt, die aktuelle Situation umfassend wahrzuneh-
men – zunächst aus der üblichen Perspektive. Danach ist die Perspektive der eigenen
Wahrnehmung zu erweitern.
Diese Phase wird als Phase des Hinsehens (Seeing) bezeichnet. Wesentlich sind in
dieser Phase eine Perspektiverweiterung und -wechsel. Gelingt uns dies nicht, werden
wir auf die Situation in gewohnter Form reagieren. Wir werden unsere gewohnten Mus-
ter und Handlungsstrategien anwenden. Muster und Handlungsstrategien, die aus unse-
ren Erfahrungen und Prägungen in der Vergangenheit entstanden sind.
Im U-Prozess geht es darum, die Vergangenheit loszulassen. Der erste Schritt ist es,
sich selbst, die eigene Umgebung, die momentane Situation wahrzunehmen und zu er-
leben. Man bringt sich selbst in Bewegung, erweitert seine Perspektive der Wahrneh-
mung und verabschiedet sich vom üblichen und gewohnten Downloading [15].
In der nächsten Phase, die Scharmer Sensing nennt, ist es hilfreich still, zu werden.
In dieser Phase geht es darum, die Wahrnehmung zu erweitern und die Situation zu er-
spüren. Dieser Prozess ist durchaus auch körperlich zu erleben. Etwas zu spüren hat mit
Körperempfindungen zu tun. Wir neigen dazu, unserem Verstand die Führung zu über-
lassen. Können wir eine Stille (im Kopf) ertragen und uns einlassen auf ein vermutlich
Neues und Unbekanntes (Körper)empfinden und ganz genau hinhören ?
Scharmer nennt den Punkt des völligen Öffnens Presencing – ein Punkt der An-
wesenheit (Presence) und des Spürens (sensing). Ein Punkt, an dem Geist, Herz und
Willen geöffnet sind für das Neue, für den Möglichkeitsraum. Von diesem Punkt aus
kann völlig Neues in die Welt gebracht werden, indem man zunächst zulässt, dass etwas
Neues passieren kann und annimmt, dass etwas Neues Platz haben möchte (Christalli-
zing). In der letzten Entstehungsphase – dem Prototyping – wird das Neue ausprobiert,
bevor gehandelt und gestaltet wird (Performing).

3.2 Zukünftige Lehre

Die Lehre – besonders an den Hochschulen – soll die Lernenden in die Lage versetzen,
die Zukunft zu gestalten und die Lebensgrundlage für den Menschen zu erhalten und
nach Möglichkeit zu verbessern. Wir leben mit Konventionen im Denken und Handeln,
die als Grundlage für das Funktionieren unserer Gesellschaft notwendig sind. Die Auf-
gabe und Mission der Lehrenden muss sein, die Kreativität und das Vertrauen des ein-
zelnen in sich Selbst zu fördern, zu stärken und anzuerkennen. Dies ist die Grundlage
Innovationsschübe und die Verantwortung der Lehrenden 157

für eine Öffnung des Einzelnen zu seinem Potential und dem Einbringen in den Prozess
der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung der Zukunft.
Der in Kapitel 3.1 beschriebene und von C. O. Scharmer entwickelte U-Prozess (Ab-
bildung 1) identifiziert sieben Kernkompetenzen und -methoden, die es ermöglichen,
selbstbewusste und selbstbestimmte Handlungen und Denkweisen zu erlangen und ver-
antwortungsvoll anzuwenden [15]. Diese sind:

1) Raum geben
2) Innehalten
3) Erspüren
4) Verbinden
5) Annehmen
6) Ausprobieren
7) Vom Ganzen her verantwortungsvoll handeln

Wie kann es den Hochschullehrern nun gelingen, derartige Kernfähigkeiten bei den Stu-
dieren den zu befördern ? Wie können Randbedingungen an der Hochschule und in der
Gesellschaft geschaffen werden, die den persönlichen Kontakt mit einer im Entstehen
begriffenen Zukunftsmöglichkeit erlauben ?
Aus Sicht der Autoren geht dies über eine reine Vermittlung von Fachwissen hinaus.
Wir müssen die Studierenden inspirieren und ermutigen, ihr eigenes Potenzial und da-
mit auch die genannten Kernfähigkeiten zu entwickeln. Dafür ist es essentiell notwen-
dig, dass sich bei den Lehrenden eine Öffnung für das Unbekannte vollzieht. Der Mut,
sich vom Denken und den Mustern der Vergangenheit und der Konventionen zu lösen,
muss wachsen. Wir haben die Verantwortung, die Gemeinschaft zu entwickeln und per-
sönliche Übervorteilungen zu vermindern. Das verstärkte kollektive Bewusstsein der
Verbundenheit mit Allem und allen Handlungen wird durch die globale Vernetzung im-
mer deutlicher und nachvollziehbarer.
Abschließend sei bemerkt, dass an dieser Stelle bewusst offen gelassen werden muss,
wie Lehr- und Lernkultur insgesamt und die Lehr- und Lerninhalte im Besonderen in
den Ingenieurwissenschaften zukünftig aussehen werden. Eine Öffnung für das Unbe-
kannte ermöglicht in diesem Zusammenhang eine große Chance, die Inhalte und die
Gestaltung für die jeweilige Gruppe (Ingenieure, Mediziner, Lehrberufe, . . . ) passend
zu gestalten. Die Autoren möchten die Leser einladen, sich für ihr eigenes Potential zu
öffnen, zu erleben und anzuerkennen.

» A human being is a part of the whole, called by us › Universe, ‹ a part limited in time and space.
He experiences himself, his thoughts, and feelings as something separated from the rest, a kind of
optical delusion of his consciousness. This delusion is a kind of prison for us, restricting us to our
personal desires and to affection for a few persons nearest to us. Our task must be to free oursel-
ves from this prison by widening our circle of compassion to embrace all living creatures and the
158 Sabine Christine Langer & Jens-Uwe Böhrnsen

whole of nature in its beauty. Nobody is able to achieve this completely, but the striving for such
achievement is in itself a part of the liberation and a foundation for inner security. «
Albert Einstein

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dia, 2006. DVD.
[21] Carl Friedrich von Weizäcker. Zur Deutung der Quantenmechanik. Zeitschrift für Physik,
118: 489 – 509, 1941.
Verantwortung in der Lehre
Zwei Fallbeispiele

Bernd Meinerzhagen
Institut für Elektronische Bauelemente und Schaltungen, TU Braunschweig

Abstract

Anhand von zwei Fallbeispielen wird versucht zu verdeutlichen, wie sich das Thema
Verantwortung in der Lehre konkret manifestiert. Beim ersten Beispiel geht es um die
Gratwanderung der Lehrenden bei der Vermittlung von fundamental wichtigen, aber
nicht einfach zu erfassenden, Lehrinhalten und beim zweiten Beispiel um den Umgang
mit Studierenden aus fremden Kulturen.

1 Fallbeispiel 1

1.1 Einleitung

Die Lehre an den deutschen Universitäten steht insbesondere bei den Studiengängen,
die traditionell als schwierig empfunden werden, zunehmend in der Kritik. Bei den-
jenigen Studiengängen, bei denen zusätzlich ein Mangel an Absolventen beklagt wird,
wie zum Beispiel in vielen Ingenieurwissenschaften, bezieht sich diese Kritik insbeson-
dere auf die dort oft als hoch empfundenen Abbrecherquoten. Dabei wird zumeist völ-
lig übersehen, dass es gerade in den als schwierig empfundenen Fächern meist keinerlei
Zulassungsbeschränkung gibt, wodurch die erste neutrale Beurteilung der Eignung der
Studierenden für das von ihnen gewählte Fach durch die Universität erst durch die re-
gulären Prüfungen nach den ersten Grundlagenvorlesungen erfolgt. Dadurch ersetzen
diese ersten Prüfungen in den Grundlagenfächern die an vielen ausländischen Univer-
sitäten üblichen Eingangsprüfungen, die dort zur besseren Orientierung der Lehrenden
und der Studierenden und zur Vermeidung hoher Abbrecherquoten vor dem Studium
durchgeführt werden.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
162 Bernd Meinerzhagen

Die Lehrenden in den Grundlagenvorlesungen konfrontieren die Studierenden also


typischerweise erstmals mit den theoretischen Grundlagen des von ihnen gewählten Fa-
ches. Diese Sonderrolle begründet die typische Gratwanderung zwischen Abstraktion
und Anschaulichkeit, mathematisch strenger Begründung und vorsichtigem Herantas-
ten an die Theorie, der sich die Lehrenden in diesen Fächern immer schon zu stellen
hatten. Dabei liegt es in der Natur des jeweiligen Faches begründet, dass es Grundlagen
gibt, die als schwerer und andere, die als leichter empfunden werden. Dies führt natur-
gemäß dazu, dass Vorlesungen mit als schwer empfundenen Inhalten bei den Studie-
renden weniger beliebt sind. Dies zeigt sich auch bei den heute üblichen Vorlesungseva-
luationen, bei denen Vorlesungen mit ausgeprägt theoretisch mathematischen Inhalten
typischerweise schlechter bewertet werden als solche, bei denen diese Inhalte weniger
im Vordergrund stehen. Da solche Evaluationen bei der heute üblichen W-Besoldung
einen signifikanten Einfluss auf das Gehalt eines Hochschullehrers haben können, gibt
es für die Lehrenden neben dem verständlichen Wunsch, möglichst beliebt zu sein und
möglichst gute Evaluationsergebnisse zu erzielen, auch noch einen handfesten ökonomi-
schen Grund, den Schwierigkeitsgrad der Vorlesungen möglichst niedrig zu halten. Da
aber die sachgerechte abstrakte mathematische Formulierung der theoretischen Grund-
lagen sehr oft dazu führt, dass eine Vorlesung als schwierig empfunden wird, ist es eine
beliebte Methode, eine Vorlesung dadurch » leichter « erscheinen zu lassen, indem auf
eine abstrakte mathematische Formulierung und Begründung weitgehend verzichtet
und stattdessen die Theorie stärker anhand mathematisch anspruchsloserer Beispiele
verdeutlicht wird. Dies führt aber bei wichtigen Grundlagen, die nur über eine sachge-
rechte abstrakte mathematische Formulierung der Theorie vermittelbar sind, dazu, dass
diese Grundlagen nicht oder nur unzureichend vermittelt werden. Dies soll nun anhand
eines fundamental wichtigen Begriffs aus der Netzwerktheorie verdeutlicht werden.

1.2 Die Ordnung eines linearen, zeitinvarianten Netzwerks

Die Netzwerktheorie ist eines der zentralen Theoriegebiete der Elektrotechnik, das
von keinem anderen Studiengang gelehrt wird. Innerhalb der Netzwerktheorie ist die
Theorie der linearen, zeitinvarianten Netzwerke das wichtigste Teilgebiet. Das Verhalten
von linearen und zeitinvarianten Netzwerken wird durch endlich viele komplexe Zah-
len, die auch oft als natürliche Frequenzen bezeichnet werden, bestimmt. Insbesondere
hängen wichtige Eigenschaften linearer und zeitinvarianter Netzwerke wie die asymp-
totische Stabilität und die Existenz eines periodisch eingeschwungenen Zustandes bei
periodischer Anregung ausschließlich von den Eigenschaften der natürlichen Frequen-
zen ab. Die Anzahl der verschiedenen natürlichen Frequenzen eines linearen und zeit-
invarianten Netzwerks ist immer nach oben durch die Ordnung des Netzwerks begrenzt
und fast immer auch durch diese Ordnung gegeben. Daher ist es von sehr hohem Inter-
esse, die Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes zu kennen.
Verantwortung in der Lehre 163

Auf der Basis der mathematischen Grundlagen, die bei ingenieurwissenschaftlichen


Studiengängen immer Teil der Grundlagenausbildung sind, kann man den Begriff der
Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes ohne Probleme streng definie-
ren. Diese Ordnung n ist gleich der minimalen Dimension, die ein Zustandsraummo-
dell haben muss, um das Netzwerkverhalten vollständig zu beschreiben. Zentraler Be-
standteil jedes dieser Zustandsraummodelle mit minimaler Dimension ist ein System
von n gekoppelten, gewöhnlichen, linearen und zeitinvarianten Differentialgleichun-
gen erster Ordnung für n sogenannte Zustandsfunktionen. Alle diese Zustandsraum-
modelle haben das gleiche, normierte charakteristische Polynom. Der Grad dieses Poly-
noms ist ebenfalls gleich n und seine Wurzeln sind die natürlichen Frequenzen.
Wo liegt also das Problem ? Das Problem liegt darin begründet, dass es keinen einfa-
chen, allgemein gültigen Zusammenhang zwischen den elementaren Beschreibungsglei-
chungen eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkmodells wie den Kirchhoffschen
Gleichungen und den Zweiggleichungen der Widerstände, Kapazitäten, Induktivitäten
etc. und den Zustandsraummodellen, deren Dimension die Ordnung n definiert, gibt.
Um diesen Zusammenhang klar darzustellen, ist ein gewisses Mindestmaß an abstrakter,
mathematischer Theorie, die als schwierig empfunden wird, unvermeidbar. Man kann
diese notwendige Theorievermittlung vermeiden, wenn auf die klare Darstellung des
oben beschriebenen Zusammenhanges sowie auf eine saubere Definition des Begriffs
der Ordnung n und auf die Entwicklung und Begründung von Rechenregeln zur zah-
lenmäßigen Bestimmung von n verzichtet wird. Wie mit dem Begriff der Ordnung in
typischen Grundlagenlehrbüchern und Grundlagenvorlesungen umgegangen wird, soll
nun anhand von zwei Lehrbeispielen verdeutlicht werden.

1.2.1 Lehrbeispiel 1

In einem vielfach verwendeten, bekannten, deutschsprachigen Lehrbuch findet man fol-


gende Ausführungen:

Aufstellen der Differentialgleichungen


Ein gegebenes Netzwerk mit Energiespeichern (Induktivitäten und Kapazitäten) kann mit
Hilfe der Kirchhoff ’schen Maschen- und Knotenregel durch ein gekoppeltes System von al-
gebraischen Gleichungen und Differentialgleichungen beschrieben werden. Die Anzahl n der
unabhängigen Energiespeicher in dem Netzwerk liefert n Differentialgleichungen erster Ord-
nung. Beispiele für nicht unabhängige Energiespeicher sind in Reihe liegende oder parallel
geschaltete Komponenten gleichen Typs, die durch eine resultierende Kapazität bzw. Induk-
tivität ersetzt werden können.

Mit n ist in diesem Beispiel offensichtlich die Ordnung des Netzwerkes gemeint. Diese
wird mit » unabhängigen « Energiespeichern in Verbindung gebracht, wobei der Begriff
der Unabhängigkeit nur anhand von einfachen Beispielen erklärt wird. Aber selbst diese
164 Bernd Meinerzhagen

einfachen Beispiele werden nicht sachgemäß behandelt, da aus der Netzwerktheorie


zweifelsfrei folgt, dass die Reihenschaltung von Kapazitäten und die Parallelschaltung
von Induktivitäten für sich alleine genommen keinerlei Einfluß auf den Zusammenhang
zwischen der Anzahl der Energiespeicher und der Ordnung eines Netzwerkes hat. Als
Fazit kann man also festhalten, dass bei diesem ersten Lehrbeispiel weitgehend offen ge-
lassen wird, was unter unabhängigen Energiespeichern genau zu verstehen ist.

1.2.2 Lehrbeispiel 2

In den Kursmaterialien zu einem englischsprachigen Kurs mit dem Titel » Circuit


Theory I «, der von einer bekannten, internationalen Universität aus dem Mittelmeer-
raum angeboten wird, findet man zum Kapitel über » Second Order Circuits « folgende
Ausführungen:

Order of the dif- The number of


ferential equation independent*
Order of a circuit = (DE) required = energy storage
to describe the elements
circuit (C’s and L’s)

* C’s and L’s are independent if they can not be combined with other C’s and L’s (in series
or parallel, for example)

Auch hier wird die Ordnung des Netzwerks wieder auf die unabhängigen Energiespei-
cher im Netzwerk zurückgeführt und die Erklärung des Begriffs der Unabhängigkeit ist
vergleichbar inkorrekt und unvollständig wie im Lehrbeispiel 1. Wiederum wird wie-
der weitgehend offen gelassen, was unter unabhängigen Energiespeichern genau zu ver-
stehen ist.

1.3 Auswirkungen auf das Wissen der Studierenden über die Ordnung
eines Netzwerkes

Wie sich die in den beiden Lehrbeispielen aufgezeigten Defizite auf die Fähigkeiten der
Studierenden auswirken, wichtige elementare Netzwerke zu beurteilen, soll nun anhand
des Netzwerkes aus Abbildung 1 demonstriert werden.
Das Netzwerk zwischen den beiden gestrichelten Linien in Abbildung 1 beschreibt
das auf dieser Welt zweifellos meistverwendete elektrische Bauelement, den MOS-Tran-
sistor in dem technisch besonders wichtigen sogenannten Kleinsignalbereich. Angeregt
Verantwortung in der Lehre 165

Abbildung 1 Kleinsignalmodell eines MOS-Transistors mit Spannungsquellenanregung

u gd (t)

Cgd

vi (t) Cg u g (t) gm u g (t) r0 u d (t) Cd vo (t)

wird das Netzwerk durch zwei ideale Spannungsquellen. Als Energiespeicher enthält
das Netzwerk drei Kapazitäten, die weder in Reihe, noch parallel geschaltet sind. Für
Studierende, die analog zu den Lehrbeispielen 1 und 2 ausgebildet wurden, liegt es also
nahe anzunehmen, dass dieses elementare Netzwerk die Ordnung 3 und somit wahr-
scheinlich 3 verschiedene natürliche Frequenzen hat. Diese Einschätzung, die nur auf-
grund der oben erwähnten Lehrdefizite naheliegt, ist aber völlig falsch. Studierende, de-
nen der Begriff der Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes vollständig
mit allen notwendigen mathematischen Begriffsbildungen vermittelt wurde, erkennen
leicht, dass aus den elementaren Gleichungen des Netzwerkes folgende drei algebraische
Gleichungen folgen:

1 −1 1 ug(t) 0
1 0 0 ∙ ud(t) = vi(t)
0 1 0 ugd(t) v0(t)

Bei diesen drei Gleichungen handelt es sich um drei sogenannte zustandsreduzierende


algebraische Gleichungen. Denn auf der linken Seite stehen als Zeitfunktionen nur so-
genannte differenzierbare Variablen, also Spannungen oder Ströme des Netzwerkes, die
in irgendeiner der Zweiggleichungen differenziert werden, wie dies zum Beispiel bei
den Zweiggleichungen der Kapazitäten und Transkapazitäten für eine Zweigspannung
und bei den Zweiggleichungen der Induktivitäten und Transinduktivitäten für einen
Zweigstrom geschieht. Ferner stehen auf der rechten Seite als Zeitfunktionen nur vorge-
gebene Funktionen wie Urspannungen und Urströme sowie möglicherweise deren Ab-
leitungen. Da die Matrix auf der linken Seite, wie leicht zu erkennen ist, den Rang 3 hat,
gibt es also mindestens 3 unabhängige zustandsreduzierende Gleichungen, die aus den
elementaren Gleichungen des Netzwerkes aus Abbildung 1 folgen. Aus der Netzwerk-
theorie folgt ferner für die Ordnung eines linearen und zeitinvarianten Netzwerkes der
allgemein gültige Zusammenhang:

0 ≤ n = nA − n R
166 Bernd Meinerzhagen

Dabei ist nA die maximale Anzahl der differenzierbaren Variablen und nR die maximale
Anzahl von unabhängigen zustandsreduzierenden Gleichungen eines Netzwerkes. Stu-
dierende, denen diese Zusammenhänge und Begriffe geläufig sind, können also für das
Netzwerk aus Abbildung 1 sofort folgern:

0 ≤ n = nA − nR ≤ 3 − 3 = 0 → n = 0

Für vollständig und sachgerecht ausgebildete Studierende erschließt sich somit ohne
komplizierte Rechnung, dass das wichtige elementare Netzwerk aus Abbildung 1 die
Ordnung 0 hat und es somit keine natürlichen Frequenzen für dieses Netzwerk gibt. Da-
her ist das Netzwerk asymptotisch stabil und jede Spannungs- und Stromfunktion des
Netzwerkes ist bei streng periodischer Anregung sofort ohne Einschwingzeit streng pe-
riodisch.

1.4 Fazit für Fallbeispiel 1

Netzwerktheorie wird heute an den Universitäten zumeist so gelehrt, dass die Studie-
renden selbst bei elementar wichtigen, einfachen linearen und zeitinvarianten Netzwer-
ken die Ordnung nicht immer problemlos bestimmen können. Versetzt man die Studie-
renden aber durch eine fundiertere Vermittlung der Netzwerktheorie in die Lage, die
Ordnung solcher Netzwerke stets auf einfache Art und Weise bestimmen zu können,
so wird die Vorlesung durch die zusätzlich notwendigen mathematischen Begriffe und
Begründungen von den Studierenden als schwerer empfunden. In Hinblick auf die not-
wendige fundierte Grundlagenausbildung unserer Studierenden haben die Lehrenden
in den Grundlagenvorlesungen in diesem Spannungsfeld eine besondere Verantwor-
tung und sollten dem wachsenden Druck widerstehen, ihre Vorlesungen durch ein Ab-
senken des Niveaus und den Verzicht auf eine sachgerechte mathematische Vermittlung
der Inhalte auf bequeme Art und Weise leichter verständlich zu machen. Aber auch die
Fakultätsleitungen und Universitätspräsidien sollten sich ihrer Verantwortung bewußt
sein und die Beurteilung von Vorlesungsevaluationen niemals ohne genaue Kenntnis
der Vorlesungsinhalte vornehmen.

2 Fallbeispiel 2

Ausländische Studierenden können sich nach bestandener Sprachprüfung in viele


deutschsprachige Studiengänge ohne weitere Zulassungsbeschränkung oder Eignungs-
prüfung einschreiben. Dies ist für ausländische Studierende attraktiv, denn die Ausbil-
dung an deutschen Universitäten ist international angesehen, die Studiengebühren sind
vergleichsweise sehr gering und auch die Lebenshaltungskosten sind in vielen kleineren
Verantwortung in der Lehre 167

deutschen Universitätsstädten angenehm niedrig. Ferner sehen viele Universitäten, die


mit der Auslastung bestimmter Studiengänge Probleme haben, die Anwerbung von aus-
ländischen Studierenden als eine einfache Möglichkeit an, die Auslastungssituation zu
verbessern.
Was auf den ersten Blick wie eine Win-Win-Situation für die ausländischen Studien-
bewerber und die deutschen Universitäten mit Auslastungsproblemen aussieht, ist aber
bei näherem Hinsehen mit sehr großen Gefahren für beide Seiten verbunden. Dies soll
nun anhand eines abschreckenden Beispiels näher erläutert werden:
Im Wintersemester 2002/2003 kamen etwa 30 Erstsemester in den deutschsprachi-
gen Studiengängen Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen-Elektrotechnik an
der TU Braunschweig aus China. Davon haben inzwischen 28 % nach 18 Semestern den
angestrebten Diplomabschluss erreicht. Über den Status der restlichen 72 % kann keine
generelle Aussage gemacht werden. Es ist jedoch klar, dass der überwiegende Anteil
davon inzwischen sein Studium an der TU Braunschweig beendet hat, oder an diesem
nicht mehr aktiv teilnimmt. Was ist der Grund für diesen im Vergleich zu den deut-
schen Studenten sehr viel geringeren Studienerfolg ?
In einem längeren Gespräch gab eine Studentin aus der Umgebung von Shanghai,
die ihr Studium im Studiengang Wirtschaftingenieurwesen-Elektrotechnik aufgrund zu
vieler nicht bestandener Prüfungen endgültig beenden musste, folgende Informationen:
Sie war mit Hilfe einer privaten Agentur in Shanghai an die TU Braunschweig ver-
mittelt worden. Ein zentrales Kriterium für diese Auswahl der Agentur war offensicht-
lich, dass man in China den Eindruck hatte, dass in Braunschweig die Sprachprüfung
in Deutsch zum Nachweis der notwendigen Sprachqualifikation für einen deutschspra-
chigen Studiengang zum damaligen Zeitpunkt als vergleichsweise leicht angesehen wer-
den konnte. Weitere wichtige Kriterien waren der international gute Ruf der Universität,
das Vorhandensein von Studiengängen ohne Zulassungsbeschränkung, insbesondere in
den Natur- und Ingenieurwissenschaften, und die vergleichsweise niedrigen Lebenshal-
tungskosten und Semesterbeiträge in Braunschweig.
Das Wunschstudium der Studentin war Wirtschaftswissenschaften und diese Wahl
entsprach auch ihren Neigungen und ihrer Vorbildung. Rein wirtschaftswissenschaft-
liche Studiengänge waren zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland typischerweise zu-
lassungsbeschränkt und für die Zulassung zu diesen Studiengängen hätte die Studentin
weit mehr als nur den Nachweis der Sprachprüfung benötigt. Andererseits war der Stu-
diengang Wirtschaftsingenieurwesen-Elektrotechnik an der TU Braunschweig damals
nicht zulassungsbeschränkt und ist es auch heute noch nicht. Ob es nun die Überre-
dungskunst der Agentur oder die Blauäugigkeit der Studentin war, läßt sich heute nicht
mehr rekonstruieren, jedenfalls hat sie sich für den letzteren Studiengang eingeschrie-
ben, ohne sich allerdings darüber im klaren zu sein, wie sie mir bestätigt hat, dass der
Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen-Elektrotechnik an der TU Braunschweig alle
von den Studierenden typischerweise als schwierig angesehenen Grundlagenfächer der
Elektrotechnik umfaßt.
168 Bernd Meinerzhagen

Aus diesen Ausführungen geht schon deutlich hervor, dass die Studentin vor Auf-
nahme des Studiums nicht kompetent und unabhängig von den finanziellen Interessen
der Vermittlungsagentur beraten wurde. Typischerweise haben viele ausländische Stu-
dierende mit einem ähnlichen Hintergrund aber auch keinerlei Interesse an einer unab-
hängigen Beratung durch einen Vertreter der aufnehmenden Universität und erschei-
nen zu Beratungsgesprächen auch nur, wenn man sie dazu zwingt. Der Grund dafür
liegt nahe und ist offensichtlich die Angst, dass die mangelnde Sprachkompetenz bei der
Beratung auffallen und somit die Zulassung gefährden könnte. Bei der Studentin aus der
Nähe von Shanghai wäre diese Angst jedenfalls berechtigt gewesen, denn sowohl ihre
mangelnde Sprachkompetenz, von der ich mich in mehreren schwierigen, längeren Ge-
sprächen und mündlichen Prüfungen überzeugen konnte, als auch ihr fehlendes Talent
für ein ingenieurwissenschaftliches Studium, haben letztendlich dazu geführt, dass sie
trotz intensivem Bemühen, das angefangene Studium aufgrund zu vieler nicht bestan-
dener Prüfungen nicht erfolgreich beendet hat. Dies ist für außereuropäische Studie-
rende besonders hart, da diese in der Regel, wie auch im vorliegenden Fall, aufgrund der
deutschen Visavorschriften, keine Chance auf eine Fortsetzung in einem alternativen
Studiengang erhalten, sondern das Land nahezu umgehend verlassen müssen.
Was sind die Folgen der zu einfachen Zulassung der Studentin in den Studien-
gang Wirtschaftsingenieurwesen-Elektrotechnik ohne sachgerechte Überprüfung ih-
rer Sprachkompetenz und ihrer Vorbildung ? Die Studentin hat durch ihr Scheitern im
Ausland » ihr Gesicht verloren «, was in China ein sehr schwerwiegender Makel ist. Die
Eltern der Studentin, die ihr Studium finanzierten, haben für chinesische Verhältnisse
ein Vermögen verloren und der durchaus hohe, öffentlich finanzierte Aufwand der TU
Braunschweig hat zu keiner erfolgreichen Absolventin geführt und ist daher ebenfalls
verloren. Nur die Agentur in China, die hohe Vermittlungsgebühren berechnet hat, ist
wahrscheinlich zufrieden.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Fall kein Einzelfall war, sondern dass die
schlechte Erfolgsquote der chinesischen Studierenden des Jahrgangs 2002/2003 in vie-
len Fällen ähnliche Ursachen hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass die Zulassung von Stu-
dierenden aus fremden Kulturen eine besondere Sorgfalt erfordert und die Lehrenden
hier auch eine besondere Verantwortung haben, da das Scheitern dieser Studierenden
für diese sehr oft erheblich schwerwiegendere Konsequenzen hat, als dies bei deutschen
oder europäischen Studierenden der Fall ist. Studierende aus fremden Kulturkreisen
verursachen und benötigen typischerweise auch deutlich mehr Betreuung als deutsche
Studierende und eignen sich auf gar keinen Fall, um Auslastungsprobleme kurzfristig
auf einfache Art und Weise zu lösen.
Zur Ehrenrettung meiner Universität möchte ich abschließend noch erwähnen, dass
wir aus diesen Erfahrungen gelernt haben und die Zulassung außereuropäischer Studie-
render heute mit sehr viel mehr Sorgfalt gehandhabt wird, so dass ich seit Jahren keine
ähnlich gelagerten Fälle mehr feststellen konnte.
Sensibilisierung für die Dimensionen
der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre

Heike Horeschi
Private Fachhochschule für Wirtschaft und Technik,
Studienbereich Ingenieurwesen » Dr. Jürgen Ulderup «, Diepholz

Zahlreiche aktuelle Beispiele belegen, dass die Verantwortung von Ingenieuren für ihre
Arbeit zunehmend mehr in das Blickfeld der Gesellschaft rückt. Prozesse gegen Inge-
nieure gehen durch die Medien. Beispielhaft seien hier der Prozess um den Einsturz der
Eissporthalle in Bad Reichenhall und das Zugunglück von Eschede aufgeführt. Zahl-
reiche Rückrufaktionen verschiedener Automobilbauer, Rückrufe technischer Geräte
wie Haartrockner und verschiedenster Werkzeuge künden davon, dass auch Ingenieure
nicht perfekt und fehlerfrei arbeiten. Und dann kommt immer die Frage, wer hat Schuld
und wer übernimmt die Verantwortung ?
In der beruflichen Praxis ist der Ingenieur immer wieder gefordert sein Handeln
und das anderer zu prüfen. Ein Beispiel hierfür ist die Auslegung eines Chassis (Maschi-
nenträger) einer Windkraftanlage durch ein ausländisches Ingenieurbüro betreffs der
Betriebsfestigkeit. Dabei müssen vor allem die Schweißnähte sorgfältig ausgelegt wer-
den, da diese hinsichtlich der Betriebsfestigkeit immer einen Schwachpunkt darstellen.
Die Berechnung erfolgte mit der Finiten Elemente Methode.
Es handelte sich hierbei um eine dünnwandige Struktur (Abbildung 1), welche mit
viel zu großen Volumenelementen vernetzt wurde (Abbildung 2). Die Festigkeitsanalyse
des Ingenieurbüros wurde durch eine französische Zertifizierungsgesellschaft geprüft
und zertifiziert. Die Maschinenträger gingen so in Serie und wurde in Windkraftanla-
gen verbaut.
Ein neuer Geschäftsführer des Windkraftanlagenherstellers war von Struktur und
Haltbarkeit des Maschinenträgers nicht überzeugt und ließ die Festigkeit durch ein
zweites Ingenieurbüro prüfen. Die Nachrechnung ergab eine völlig unzureichende Be-
triebsfestigkeit für die Schweißnähte. Sämtliche Anlagen wurden sofort vom Netz ge-
nommen. Eine Überprüfung vor Ort ergab, dass tatsächlich die kritischen Schweiß-
nähte rissbehaftet waren. Folglich mussten die Chassis ausgetauscht werden, was das
Unternehmen finanziell nicht verkraftete. Neben dem Erwerbsausfall für die Betreiber

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_17, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
170 Heike Horeschi

Abbildung 1 Beispielhafte Darstellung Abbildung 2 Beispielhafte Darstellung


des Chassis der Vernetzung

der Windkraftanlagen gingen in der Folge Arbeitsplätze verloren. Das ausländische In-
genieurbüro hatte das verwendete Berechnungswerkzeug ohne qualifiziertes Fachwis-
sen eingesetzt und so falsche Ergebnisse erhalten. Grundsätzlich sollten dünnwandige
Strukturen mit Schalenelementen vernetzt werden. Bei Einsatz von Volumenelementen
ist auf ein ausreichend feines Netz, mindestens 2 – 3 Elemente über der Wanddicke bei
geeignetem Seitenverhältnis der Elementkanten, und auf die Verwendung höherer An-
satzfunktionen zu achten. Dies ist im vorliegenden Fall eindeutig nicht geschehen. Es
wurde lediglich ein Volumenelement über der Dicke von 8 – 20 mm verwendet bei sons-
tigen Elementkantenlängen von über 500 mm. Dies widerspricht den Grundregeln der
FEM-Anwendung [Kl]. Trotzdem konnte weder das Ingenieurbüro noch die Zertifizie-
rungsgesellschaft für den Schaden haftbar gemacht werden.
Selbstverständlich sollte jeder von klein auf lernen, für sein Handeln Verantwortung
zu übernehmen. Jedoch zieht sich das Lernen von Verantwortung und verantwortliches
Handeln durch das gesamte Leben eines jeden Menschen. Dies gehört zum lebenslan-
gen Lernen, zumal es sehr verschiedene Arten von Verantwortung gibt, wie z. B. ökono-
mische, politische, ökologisch, soziale und moralische Verantwortung. Weiterhin gehö-
ren Haftungsverantwortung und Selbstverantwortung dazu.
Ingenieurverantwortung berührt und beinhaltet viele dieser Aspekte. Angehende In-
genieure und Ingenieurinnen müssen zu verantwortungsbewusstem Handeln befähigt
werden. Hier ist es die Aufgabe der Hochschulen und insbesondere der Hochschulleh-
rer das Thema zu vermitteln und adäquat die verschiedensten Aspekte verantwortlichen
Handelns in den passenden Lehrveranstaltungen aufzugreifen. An den Hochschulen
sollen nicht nur Fachwissen und Methodenkompetenzen vermittelt werden, sondern
auch Sozialkompetenzen, und dazu gehört unabdingbar das Übernehmen von Verant-
wortung für sich und andere. Dies betrifft u. a. verantwortliches Handeln gegenüber den
Mitmenschen, gegenüber der Gesellschaft, gegenüber der Umwelt.
Wie dies in der Praxis erfolgen kann, soll an einigen Beispielen exemplarisch darge-
stellt werden.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 171

(1.) Die juristische Seite der Ingenieurverantwortung wird im Modul Recht beleuchtet.
Hier wird z. B. die Frage geklärt, was Produkthaftung bedeutet. Der Sachverhalt wird zu-
nächst theoretisch erläutert und an praktischen Beispielen vertieft.
» Mit dem Begriff Produkthaftung bezeichnet man umgangssprachlich die gesetz-
liche Haftung des Herstellers für Schäden, die durch sein fehlerhaftes Produkt hervor-
gerufen wurden. « [Kr] Ist durch ein fehlerhaftes Produkt ein körperlicher oder sach-
licher Schaden entstanden, so kann der Geschädigte seine Ansprüche entweder nach
dem § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches oder nach dem Produkthaftungsgesetz gel-
tend machen. Beiden liegt eine unterschiedliche Haftungsstruktur zugrunde.
Die strafrechtliche Verantwortung erstreckt sich nicht » nur auf Vorstände, Ge-
schäftsführer oder leitende Angestellte, auch die » normalen « Mitarbeiter eines Unter-
nehmens können strafrechtlich verfolgt werden « [Kr].
Bei nachgewiesener Fahrlässigkeit und Nichtbeachtung technischer Standards kann
also jeder Mitarbeiter eines Unternehmens für sein Handeln zur Verantwortung gezo-
gen werden. Ein bekanntes Beispiel ist das Zugunglück von Eschede 1998, bei dem we-
gen eines verschlissenen Radreifens 101 Menschen ums Leben kamen [VDI]. Angeklagt
wurden drei Ingenieure, die maßgeblich an der Entwicklung der Radreifen beteiligt wa-
ren. Während des acht Monate dauernden Prozesses wurden an insgesamt 52 Verhand-
lungstagen 93 Zeugen gehört. Die Frage, ob die Angeklagten die Bruchgefahr der Rad-
reifen hätten erkennen müssen, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Das Verfahren
wurde gegen die Zahlung von jeweils 10 000 € eingestellt.
Ein weiteres Beispiel ist der Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall im Januar
2006, bei dem 15 Menschen, darunter 12 Kinder, getötet wurden. Ursache war nicht die
Schneelast, sondern » Fehler bei der statischen Berechnung und der Konstruktion so-
wie später bei der Instandhaltung des Gebäudes « [SO]. Es wurde gegen vier Personen
Anklage erhoben, u.a gegen » den für die Erstellung der Halle maßgeblichen Bauleiter,
der bei dem für die Dachkonstruktion zuständigen Unternehmen als Konstrukteur tätig
war « [ZIS]. Dieser wurde zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

(2.) Auf die Beachtung technischer Standards wird im Modul Konstruktion viel Wert ge-
legt. Die Anwendung und Kenntnis von DIN Normen, die den aktuellen Wissens- und
Entwicklungsstandard widerspiegeln, wird erklärt und geübt. Ein Konstrukteur ist ver-
pflichtet, den Stand der Technik zu kennen und einzusetzen. Weiterhin geben Richtli-
nien, wie z. B. die VDI-Richtlinien, richtungsweisende Arbeitsunterlagen und fundierte
Entscheidungshilfen. Normen und Richtlinien bilden den Maßstab für einwandfreies
technisches Vorgehen, sie spiegeln sozusagen den » State of the Art « wieder.
Eine Konstruktion muss nicht nur normgerecht gestaltet werden und die geforderte
Funktion erfüllen. Es sind Aspekte wie Ergonomie, also die menschengerechte Gestal-
tung des Systems Mensch-Produkt-Umwelt [Co] und Recyclinggerechtigkeit vor dem
Hintergrund des verantwortungsvollen Materialeinsatzes [Pa] zu beachten. Die Studie-
172 Heike Horeschi

renden lernen, dass Umweltschutz und Nachhaltigkeit mindestens genauso wichtig sind,
wie Wirtschaftlichkeit und Funktionalität.

(3.) Im Modul Finite Elemente Methoden (FEM) werden die Studierenden hinsichtlich
des sorgfältigen und verantwortlichen Umganges mit Berechnungssoftware sensibili-
siert. Der Einsatz von derart komplexen Programmen, wie es FEM-Programme sind,
erfordert solide Ingenieurkenntnisse und ein hohes Maß an Verantwortungsbewusst-
sein. Die zunehmend benutzerfreundlichen Oberflächen verleiten zu der Annahme, das
ist ganz einfach und von (fast) jedem beherrschbar. Und in der Tat ist es mit vielen Pro-
grammen recht einfach möglich » bunte Bilder « zu produzieren, die bei nicht fachge-
rechter Anwendung des Programmes eben auch nicht mehr als das sind.
An einem ganz einfachen Beispiel – einem Biegebalken (Abbildung 3)– wird in der
Lehrveranstaltung demonstriert, wie schnell es passieren kann, das man völlig falsche
Ergebnisse erzielt, die bei flüchtiger Betrachtung auch noch plausibel erscheinen kön-
nen [Mü]. Der Balken ist an der linken Seite eingespannt und wird rechts mit einer ein-
zelnen Kraft belastet.
Da eine Abmessung deutlich größer ist als die beiden anderen und die Belastung
quer zur Längsrichtung wirkt, kann hier mit der Balkentheorie gerechnet werden. Das
Linienmodell wird mit Balkenelementen vernetzt.
Bei ungeeigneter Elementwahl und/oder ungeeigneten Einstellungen für die Vernet-
zung erhält man Ergebnisse, wie sie in Abbildung 4 dargestellt sind. Vorgenannte Fehler
passieren Nutzern ohne vertiefte Kenntnisse des Programmes und der dahinter stecken-
den Theorie sehr leicht.
Die symmetrische Spannungsverteilung über dem Balkenquerschnitt und das Auf-
treten von Zugspannungen an der Oberseite und Druckspannungen an der Unterseite
in der Höhe von ± 60 mm N 2 scheinen plausibel. Trotzdem sind die Ergebnisse völlig falsch.
Die tatsächlich auftretenden Spannungen und Verformungen kann jeder Student spä-
testens im zweiten Semester analytisch berechnen. Demnach treten die maximalen
Spannungen in Höhe von ± 120 mm N 2 an der Einspannung auf.
Ursache für die extrem abweichenden Ergebnisse der numerischen Berechnung sind
der Einsatz eines Elementes mit linearem Verschiebungsansatz und der Verwendung
von nur einem Element für die gesamte Balkenlänge. Dies ist natürlich ein Extrem-
fall, welcher bei den meisten Programmen auch unter Verwendung der Standardein-
stellungen nicht auftreten wird. Aber er führt bei den Studierenden zunächst zu einem
» Huch «-Effekt. Wieso kann das Programm denn so falsch rechnen ?
Verwendet man bei gleicher Vernetzung ein Element mit quadratischem Verschie-
bungsansatz, erhält man korrekte Ergebnisse, wie in Abbildung 5 dargestellt.
Die Erläuterung der theoretischen Hintergründe führt zum » Ahh «-Effekt. Es folgen
weitere Analysen des Biegebalkens mit mehr Elementen, welche bei linearem Verschie-
bungsansatz zu besseren, aber nicht exakten Ergebnissen führen.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 173

Abbildung 3 Biegebalken-Modell

Abbildung 4 Biegebalken – Normalspannungen in Balkenlängsrichtung bei ungeeigneten


Vernetzungseinstellungen
174 Heike Horeschi

Abbildung 5 Biegebalken – Normalspannungen in Balkenlängsrichtung bei Verwendung eines


Elementes mit quadratischem Verschiebungsansatz

Die Studierenden sollen begreifen, dass Diskretisierungsuntersuchungen (feinere Vernet-


zung in Bereichen hoher Spannungen) und eine Plausibilitätsprüfung unbedingt erfor-
derlich sind.

(4.) Ein weiterer Aspekt sind die FEM-Module in gängigen CAD-Programmen, wie bei-
spielsweise SimulationXpress von Solid Works. Hier erfolgt eine Verknüpfung der Mo-
dule Konstruktion und FEM. Die Analyse des Biegebalkens gestaltet sich sehr einfach.
Das Modell wird im CAD Programm als einfaches Volumen modelliert. Die Vernetzung
der Struktur ist zu keiner Zeit sichtbar, Diskretisierungsuntersuchungen somit nicht
möglich. Die berechneten Spannungen (Abbildung 6) sind zu hoch.
Immerhin weist das Programm im Kleingedruckten darauf hin, dass » Meist … ein
umfassenderes Analyseprodukt für genauere und vollständigere realitätsgetreue Simu-
lationen vor der endgültigen Annahme der Konstruktion nötig « [SW] ist.
Das Tool ist durchaus nützlich und sinnvoll, um konstruktionsbegleitend festzu-
stellen, wo Spannungsmaxima auftreten und wie sich die Struktur verformt, aber eine
schlussendliche Aussage zu den absolut auftretenden Spannungen und Verformungen
kann damit nicht getroffen werden.
Sensibilisierung für die Dimensionen der Ingenieur-Verantwortung in der Lehre 175

Abbildung 6 Biegebalken – v. Mises Spannungen, berechnet mit SimulationXpress

(5.) Das Hauptstudium in den Studiengängen Maschinenbau, Wirtschaftsingenieurwe-


sen, Elektrotechnik und Mechatronik der Privaten Fachhochschule für Wirtschaft und
Technik Vechta/Diepholz/Oldenburg ist als Projektstudium konzipiert, d. h., es erfolgt
ein » Studieren in Projekten «. Die Aufgabenstellung der Projekte erfolgt in Anlehnung
an bestehende Produkte, wie Maschinen, technische Anlagen oder Geräte, die als ver-
besserungswürdig erkannt werden. Dies schließt auch völlige Neuentwicklungen nicht
aus. Die Projektaufgaben werden in kleinen Gruppen bearbeitet. Diese Gruppen setzen
sich interdisziplinär aus vier bis sieben Studierenden der oben genannten Studiengänge
zusammen. Ergebnis dieser Projekte sind unter anderem ein Vermarktungskonzept und
ein Prototyp. Die Ergebnisse werden in einer abschließenden Projektpräsentation der
Öffentlichkeit (es nehmen Vertreter der Unternehmen, die Hochschulöffentlichkeit so-
wie Familie und Freunde der Studierenden teil) vorgestellt. In diesen Projekten wen-
den die Studierenden bereits gelerntes Fachwissen an, setzen erarbeitete Methoden
problemorientiert ein und lernen Verhaltensqualifikationen mit einzelpersönlicher Be-
tonung, z. B. Kritikfähigkeit, Kontaktfreudigkeit und Verantwortungsbewusstsein und
Verhaltensqualifikationen mit zwischenmenschlicher Betonung, z. B. Teamfähigkeit,
Kooperationsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit. Sie tragen für Ihr Projekt Termin-
verantwortung, da bestimmte Leistungen (Hausarbeiten, Referate, Prototyp) zu vorge-
176 Heike Horeschi

gebenen Zeitpunkten vorliegen müssen, Finanzverantwortung (Kosten für den Prototy-


pen) und Personalverantwortung.

Fazit: Das Verantwortungsbewusstsein von Ingenieurinnen und Ingenieuren kann stu-


dienbegleitend in den verschiedensten Studienmodulen geweckt und geschult werden.
Die Studierenden werden angehalten ihre Arbeit kritisch zu hinterfragen und zu reflek-
tieren. Sie lernen, ihre Ingenieurtätigkeit im Kontext zu Mensch, Natur und Gesellschaft
zu begreifen und Verantwortung zu übernehmen.

Literaturverzeichnis
[Kl]: Bernd Klein, FEM, , Friedr. Vieweg & Sohn, Wiesbaden 2003
[Kr]: Volker Krey, Arun Kapoor, Praxisleitfaden Produktsicherheitsrecht, 2009, Carl Hanser
Verlag München Wien
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[SO]: , Baumängel führten zum Hallen-Einsturz, 20. 07. 2006, Spiegel Online
[ZIS]: Stephan Stübinger, Zurechnungsprobleme beim Zusammenwirken mehrerer fahrlässiger
Taten, , Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 7/2011, 602 – 615
[Co]: Klaus-Jörg Conrad, Taschenbuch der Konstruktionstechnik, 2004, Fachbuchverlag Leip-
zig im Carl Hanser Verlag
[Pa]: Gerhard Pahl u. a., Konstruktionslehre, 2003, Springer-Verlag Berlin Heidelberg
[Mü]: Günter Müller, Clemens Groth, FEM für Praktiker – Band 1: Grundlagen, 2002, expert
verlag, Renningen
[SW]: , SolidWorks Lehredition
Teil IV
Sorgfalt und Sicherheit
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit
als Basis für eine moderne Fehlerkultur

Bernd Schulz-Forberg
VDI-Ausschuss Technische Sicherheit

Der Text gliedert sich in vier Hauptpunkte, nämlich die VDI Denkschrift » Qualitäts-
merkmal Technische Sicherheit «, den VDI Leitfaden » Technische Sicherheit « als Ent-
wurf mit dem Stand Januar 2012, der Fehlerkultur und letztlich einer Botschaft.

I Die VDI Denkschrift » Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit «

Die Denkschrift gliedert sich in sieben Kapitel:

1) Einleitung
2) Bedarf für ein sicherheitsmethodisches Vorgehenskonzept
3) Erzeugen von Sicherheit
4) Grenzen der Sicherheit
5) Überprüfbarkeit der Sicherheit
6) Gesellschaftliche Betrachtungen
7) Empfehlungen.

In der Einleitung der Denkschrift wird unter anderem darauf hingewiesen, dass Unfälle
Ingenieure stets aufs Neue in die Pflicht nehmen, die Wirksamkeit sicherheitstechni-
scher Maßnahmen zu hinterfragen. Reichen also das sicherheitstechnische Fachwissen,
die Vorgehensweise, die technischen Regelwerke sowie die gesetzlichen Regelungen aus ?
Wird der Sicherheit moderner technischer Systeme heute nicht mehr die Bedeutung wie
früher zugemessen ? Wird der Wirtschaftlichkeit gar Vorrang vor der Sicherheit einge-
räumt ? Finden die einschlägigen technischen Regelwerke nicht mehr die hinreichende
Beachtung ? Wird sich vielleicht sogar über Gesetze und Rechtsverordnungen hinwegge-
setzt ? Mangelt es an der Überwachung durch Behörden und aufsichtsführende Institu-

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_18, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
180 Bernd Schulz-Forberg

tionen ? Reicht das derzeit praktizierte Qualitätsmanagement möglicherweise nicht aus,


um sicherheitskritische Qualitätsmängel und potenzielle Versagensursachen rechtzeitig
aufzudecken und abstellen zu können ? Was wäre letztlich zu tun ?
Aus methodischer und inhaltlicher Sicht müssen die Fragen immer wieder gestellt
werden.
Beim Erzeugen von Sicherheit ist zunächst festzuhalten, dass in allen Technikfeldern
der erreichte Stand an technischer Sicherheit außerordentlich hoch ist. Optimierung
aber ist stets weiterhin möglich und geboten. So gibt es für technologische Innovations-
vorhaben keinen anerkannten Stand der Sicherheitstechnik, was durch Normierung der
Vorgehensweise ausgeglichen werden kann. Auch wird das Generieren von technischer
Sicherheit immer noch nicht überall durchgängig als interdisziplinäre Aufgabe verstan-
den, die alle Technikfelder umfasst. Technische Sicherheit wird in vielen Technikfeldern
auch noch immer als konträr zur Wirtschaftlichkeit pauschal missverstanden. Sicher-
heitskommunikation zur Verbesserung von Verständnis und Anwendung sowie Ak-
zeptanz ist heute zwingender als früher von nöten, da die Komplexität stark zugenom-
men hat.
Was tut der VDI ? Er sorgt für das interdisziplinäre Zusammenwirken aller betrof-
fenen Disziplinen und Technikfelder, er organisiert die technikübergreifende Harmo-
nisierung durch Offenlegung des verdeckten Gemeinsamen. Er sorgt für die Rückfüh-
rung und Anwendung der gefundenen technikübergreifenden Allgemeinnormen und
löst den scheinbaren Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Wirtschaftlichkeit auf. Dabei
betrachtet der VDI-Ausschuss Technische Sicherheit stets den gesamten Lebenszyklus
eines Produktes oder Systems.
Der Lebenszyklus gliedert sich in drei Prozesse, nämlich den Planungs-, den Reali-
sierungs- und den Betriebsprozess (Abb. 1). Dabei ist der Planungsprozess in die Pha-
sen Konzeption und Definition zu unterteilen, der Realisierungsprozess in die Phasen
Entwicklung und Konstruktion sowie Herstellung und der Betriebsprozess ist zu unter-
teilen in die Phasen Betrieb und Nutzung sowie Rückbau, Entsorgung und Recycling.
Wie es in hierarchischen Systemen immer möglich ist, wird auch hier im ersten Pro-
zess die wesentliche Grundlage für das Gestalten eines Produktes oder Systems gelegt.
Bezogen auf die Sicherheit wird also in den ersten Phasen Konzeption und Definition
sowie Entwicklung & Konstruktion die größtmögliche Wirkung erzielt.
Sämtliche Produkte, Anlagen und Systeme, insbesondere natürlich die komplexeren,
werden ausnahmslos aus technischen und menschlichen Komponenten bestehen. Die
Grundvoraussetzungen für derartige Systeme erfordern Entwicklungs- und Entwurfs-
prozesse, bei denen zum frühestem möglichen Zeitpunkt die Optimierung von Mensch-
Maschine-Nahtstellen als gemeinsame Optimierung sowohl der Technik- als auch der
Humankomponenten einsetzt. Ereignisanalysen zeigen immer wieder, dass mensch-
lichem Handeln bei der Vermeidung von Unfällen und der Minderung von Unfallfolgen
eine große Bedeutung zukommt. Die als » human factors « definierten Faktoren haben
Einfluss auf die Interaktion von Menschen in technischen Systemen. Organisatorische
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 181

Abbildung 1 Lebenszyklus technischer Produkte und Systeme


182 Bernd Schulz-Forberg

Faktoren, Arbeitsteilung, vorgängige Managemententscheidungen und sogar interorga-


nisationale Beziehungen sind hier von größter Relevanz.

II Der VDI-Leitfaden » Technische Sicherheit «


(Entwurf; Stand Januar 2012)

Der Leitfaden ist noch im Entstehungsprozess und demzufolge erstens nicht als fertige
Unterlage vorzustellen und zweitens noch beeinflussbar. Der Ausschuss » Technische Si-
cherheit « des VDI sieht eine allgemeine Einleitung auf der Basis der Denkschrift vor
und arbeitet zurzeit an der Gestaltung der alle Technikbereiche umfassenden Vorge-
hensweise zur Generierung und zum Erhalt von technischer Sicherheit. Dazu wird in
die großen Rubriken der deterministischen und probabilistischen Maßnahmen unter-
teilt, wobei bei den probabilistischen Maßnahmen auf das Zuverlässigkeits-Handbuch
des VDI Bezug genommen wird.
Für die ersten drei Phasen des Lebenszyklus eines Produkts oder Systems liegt die
Ausarbeitung in Form eines Ablaufplans und dazu gehöriger Beschreibung umfang-
reichster Art schon vor.
In dem Flussdiagramm startet das System mit der Ermittlung der Versagensfor-
men: Nach der Auswahl der zu betrachtenden Baueinheit des Gesamtsystems wird eine
Verhaltensanalyse für die Funktionselemente der betrachteten Baueinheit unter Be-
rücksichtigung der ursächlichen Versagensformen durchgeführt, und zwar zufallsbe-
dingt, umgebungsbedingt und nutzungsbedingt. Danach erfolgen die Klassifizierung
der Versagensauswirkungen der betrachteten Funktionselemente sowie die Auswahl
der Versagensformen der betrachteten Baueinheit, die allein (Einfach-Versagen) oder
in Verbindung mit für sich allein nicht sicherheitskritischen Versagensformen ande-
rer Baueinheiten (Mehrfach-Versagen) zu einem sicherheitskritischen Versagen des Ge-
samtsystems führen.
Danach wird entschieden, ob im System ein sicherheitskritisches Versagen allein
durch ein Versagen der betrachteten Funktionselemente, also eines Einfach-Versagens,
verursacht werden kann. Ist das Einfach-Versagen begründbar durch unverlierbare na-
turgegebene Eigenschaften der betrachteten Baueinheit auszuschliessen, kann zunächst
mit den deterministischen Maßnahmen gegen dieses Einfach-Versagen die Betrachtung
fortgesetzt werden.
Kann dieses Einfach-Versagen begründbar durch unverlierbare, technisch bedingte
Eigenschaften der betrachteten Baueinheit ausgeschlossen werden, so gilt dieselbe
Schlussfolgerung.
Nur wenn diese beiden Fälle nicht mit » Ja « beantwortet werden können, muss die-
ses Einfachversagen weiter differenziert werden. Kann nämlich dieses Einfach-Versagen,
begründbar durch unverlierbare, technisch bedingte Eigenschaften der Baueinheit, die
der betrachteten Baueinheit übergeordnet ist, ausgeschlossen werden ?
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 183

Beantwortet sich diese Frage mit » Ja «, dann ist eine sicherheitsgerechte Auslegung
fortführbar, allerdings im semi-probabilistischen Bereich. Lautet die Antwort » Nein «,
ist ein Neuentwurf notwendig.
Kann ferner dieses Einfach-Versagen, begründbar durch unverlierbare, technisch
bedingte Eigenschaften einer oder mehrere Baueinheiten, die der betrachteten Bauein-
heit hierarchisch nicht zugeordnet sind, ausgeschlossen werden ? Beantwortet sich diese
Frage mit » Ja «, dann ist eine sicherheitsgerechte Auslegung fortführbar, allerdings im
probabilistischen Bereich. Lautet die Antwort » Nein «, ist ein Neuentwurf notwendig.
Ohne auf eingängige Beispiele zurückzugreifen, kann im Rahmen dieses Beitrages
der Ablaufplan nicht weiter im Detail erläutert werden.
Man erkennt aber, dass es sich bei dem Leitfaden-Teil für die ersten drei Phasen um
eine umfassende Darstellung technikfeldübergreifender Art handelt.
Mit der Bearbeitung der Realisierungs- und der Betriebsphase werden die Arbeiten
komplettiert. Der VDI-Leitfaden » Technische Sicherheit « ist zu gegebener Zeit für De-
tails heranzuziehen.

III Moderne Fehlerkultur

Zunächst ist festzuhalten, dass in Deutschland überwiegend eine Kultur der Schuld-
zuweisung vorherrscht, wodurch vielfach die eigentlichen Ursachen eines Ereignisses/
Unfalls mindestens überdeckt werden können. In Neu-Deutsch nennt man dies blame
culture.
Für die Untersuchung von Vorfällen ist es entscheidend, ob sich ein Produkt oder ein
System den allgemeinen anerkannten Regeln der Technik, dem Stand der Technik oder
dem Stand von Wissenschaft und Technik zuordnen lässt.
Handelt es sich bei dem Produkt oder dem System um ein handelsübliches und ge-
bräuchliches, so müssen die Fehler nur innerhalb des fest umrissenen Systems gesucht
werden und für die zukünftigen Vorhaben ausgeschlossen werden. Handelt es sich aber
um ein Gebiet der technologischen Fortentwicklungen, so sind zwar die Rechtsgrund-
lagen weiter zuzuordnen, auch die Aufsicht für den betreffenden Anwendungsfall ist
festgelegt, aber es ist der Stand der Technik zu berücksichtigen. Und hier befindet man
sich in einem nicht durchgehend kodifizierten Bereich, der Auslegungen unterschied-
licher Art zulässt. In diesem Zusammenhang ist auf die VDI-Denkschrift hinzuweisen,
die die Normierung des Weges zur Erreichung des Standes der Technik beschreibt. Da-
mit ergibt sich für die Gerichte eine entscheidende Verbesserung hinsichtlich der An-
forderungen an und der Bewertung von Sachverständigengutachten.
Kommt man in den Bereich der technologischen Innovationsvorhaben, so sind die
vorhandenen Rechtsgrundlagen nicht mehr zwingend anwendbar. Dann werden so ge-
nannte Verlegenheitslösungen, wie beispielsweise das Gesetz über den Bau und Betrieb
von Versuchsanlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr, zur
184 Bernd Schulz-Forberg

Abbildung 2 Zusammenhang von allgemein anerkannten Regeln der Technik mit dem Stand der
Technik und dem Stand von Wissenschaft und Technik

Hilfe genommen. Ferner muss für diese Fälle auch die Aufsicht definiert werden und
natürlich wird mindestens der Stand der Technik heranzuziehen sein, wenn nicht sogar
auf den Stand von Wissenschaft und Technik zurückgegriffen werden muss.
Verlegenheitslösungen unzureichender Art aber ergeben sich aus Zeit- und Geld-
mangel auf der Basis nicht wahrgenommener Verantwortung. Im Falle des Kölner Ar-
chivs ist beispielsweise die Aufsicht der ausführenden Firma übertragen worden. Eine
fast unglaubliche Verantwortungslosigkeit, sofern die Meldung in der Presse wirklich
zutreffend ist.
Auch beim Einsturz der Halle in Bad Reichenhall sind bezüglich der Aufsicht, der
Sachverständigengutachten und darüber hinaus schon bei dem Konzept und der Defi-
nition Ungereimtheiten zu erkennen, die letztlich noch der Klärung harren.
In Abb. 2 findet sich eine Darstellung des Zusammenhanges vom Stand der Technik,
dem Stand von Wissenschaft und Technik sowie zu den allgemein anerkannten Regeln
der Technik. Näheres dazu findet sich auch in der VDI-Denkschrift.
Aus diesen Betrachtungen heraus wird deutlich, dass es sich bei der Ereignisauswer-
tung keinesfalls nur um Unfälle oder auch Beinahe-Unfälle handelt, sondern dass der
gesamte Lebenszyklus eines Produktes oder Systems betrachtet werden muss. So endet
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 185

ja der Planungsprozess mit der Freigabe, die aber nur erteilt wird, wenn alle Planungs-
schritte erfolgversprechend ausgeführt wurden. Auch in diesem Bereich gibt es Fehlent-
scheidungen, die systematisch zu untersuchen wären. Allerdings fallen Ereignisse im
Planungsprozess nicht in die öffentliche Betrachtung, sie bleiben vielmehr firmenintern.
Ähnliches vollzieht sich im Realisierungsprozess, der mit einer Abnahme endet. Viel-
fach wird dieser Realisierungsprozess nicht in einem einzigen Durchlauf abgewickelt
werden können, sondern es werden auch hier Iterationsschritte nötig, weil Fehler in der
Ausführung vor der Inbetriebnahme auffällig geworden sind. Und nur die Unfälle und
Störungen im Betriebsprozess erreichen auch in vielen Fällen die Öffentlichkeit.
Die zu betrachtenden unerwünschten technischen Systemzustände können sich also
auf verschiedenen Eskalationsstufen realisieren. Sie können sowohl durch Bedienungs-
fehler als auch auf vorgelagerten Entscheidungsstufen durch Management-, Wartungs-
und Konstruktionsfehler sowie durch praxisuntaugliches Design hervorgerufen werden.
Letztendlich sind auch die Desaster der letzten Zeit, wie die Kernreaktor-Katastrophe in
Fukushima oder der massive Ölunfall der » Deepwater-Horizon «-Plattform im Mexika-
nischen Golf hier ursächlich einzuordnen.
Die Ereignisse, die zu einer Störung im Betrieb führen, sind die Ereignisse der drit-
ten Art. Sie sind häufig öffentlichkeitswirksam, in jedem Fall auch über den Betrieb bzw.
die unmittelbare Situation hinaus beobachtbar. Sie wirken unmittelbar zurück auf den
Betriebsprozess.
Ereignisse der zweiten Art sind jene, die in der Abnahme des Produktes, des Systems
auftreten. Sie wirken unmittelbar zurück in die Herstellung und in die Entwicklung/
Konstruktion.
Ereignisse der ersten Art sind jene, die im Rahmen der Freigabe erkennbar werden.
Sie wirken unmittelbar zurück auf den Planungsprozess. Die Abb. 3 zeigt die Iterations-
schleifen im Lebenszyklus von Technischen Produkten bzw. Systemen.
Nun haben sich in jedem Fachgebiet Besonderheiten herausgebildet, so dass be-
reichsübergreifende Betrachtungen erschwert werden. Diese grundsätzliche Feststel-
lung gilt auch für den Bereich der Ereignisauswertung, also der so genannten Lessons
Learned. Gerade hier aber könnte aus den Ereignissen nicht nur im jeweiligen System
gelernt werden, sondern vor allem auch fachgebietsübergreifend. Allerdings hat die Zahl
der Fachgebiete laufend zugenommen und zu einer in entsprechenden Rechtsbereichen
gefassten Isolierung geführt. Um den maximalen Nutzen aus den Ereignissen ziehen
zu können, müssen die Begriffe und die Bewertungsprozesse unbedingt vergleichbar
sein, die Dokumentation und die Veröffentlichung müssen zum Vorteil der Volkswirt-
schaft nach einvernehmlichen Regeln gestaltet werden. In jedem Fall muss das so ge-
nannte Beinahe-Ereignis integraler Bestandteil der Erfassung und Auswertung sein, da
hier ein enorm großes Lernpotenzial vorliegt und aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht
ungenutzt bleiben darf. Emil Ninov berichtete in 2002, dass auf einen Unfall mit schwe-
rer Verletzung 10 Unfälle mit leichter Verletzung und 30 Unfälle mit Sachschaden sowie
600 Beinah-Unfälle ohne Schäden kommen.
186 Bernd Schulz-Forberg

Abbildung 3 Iterationsschleifen im Lebenszyklus Technischer Produkte/Systeme

Planungsprozess

nein
Freigabe

Ja
nein

Ja Änderung
Realisierungsprozess Realisierungs-
prozess

Abnahme
nein

Ja
nein

Ja Änderung
Betriebsprozess Betriebsprozess

Störung
Ja

nein
Alles
Alles im im grünen
grünen
Bereich
Bereich
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 187

Abbildung 4 Kopplung von innerem und äußerem Regelkreis

Der äußere Regelkreis – Stand der (Sicherheits)Technik

Stand der Technik Erfahrungsrückfluss

System
Komponente
Lebenszyklen
Baugruppe
Fahrzeug/Anlage
Entwurf
Qualitätssicherung
Systemgrenzen
Fertigung
Regelwerksentwicklung Umgebung/Nutzung
Inbetriebnahme
Durch den Markt
Betrieb
Durch den Hersteller
Störung/Unfall
Konformitätsbewertung
Entsorgung
Zulassung / Genehm.
Überwachung
Ereignisauswertung

Es gilt also, den Prozess der Generierung von Sicherheit als einen Regelkreis anzusehen
und sämtliche Ereignisse in diesen Kreis einzubeziehen. Dazu ist es notwendig, die fol-
genden Punkte stärker zu beachten und voranzutreiben:

1) Erkenntnisse aus Ereignissen aus allen relevanten Technikfeldern gemeinsam nutzen


2) Kooperationen proaktiv eingehen und fördern
3) Ressort-und Ländergrenzen überwinden
4) Ereignisauswertung und Nutzung der Erkenntnisse internationalisieren
5) Fehlerkultur verbessern und in Lernkultur überführen
6) Informationsfluss stärker institutionalisieren
7) Unabhängigkeit der Ereignisauswertung gewährleisten
8) Untersuchungen im Einzelfall ermöglichen

So bildet die VDI-Denkschrift einerseits die Grundlage für den zur Zeit abzuleitenden
Leitfaden zur Generierung von Sicherheit in allen Technikfeldern, wie andererseits die
engeren Regelkreise sichtbar gemacht werden müssen, um sie in einen äußeren Regel-
kreis zum Nutzen der Volkswirtschaft und in vielen Fällen auch der jeweiligen Betriebs-
wirtschaft einzufügen, s. Abb. 4.
188 Bernd Schulz-Forberg

IV Botschaft

Angesichts der Folgen technischer Stör- und Unfälle für Mensch, Betrieb und Volks-
wirtschaft ist eine verbesserte Prävention und ein intensiveres Lernen aus Ereignissen
geboten. Wie oben beschrieben, kann von einer umfangreicheren und strukturierteren
Datenlage wesentlich profitiert werden, indem besondere Betriebsereignisse – auch un-
terhalb der derzeitigen gesetzlichen Berichtsschwelle – erfasst, untersucht und doku-
mentiert werden. Hier gilt es, unter Einbeziehung von nicht-meldepflichtigen Ereignis-
sen und Beinahe-Unfällen Lehren für die Praxis technischen Handelns zu ziehen, also
organisationales Lernen ermöglichen.
Auf Einzelanlagen bezogen könnten entsprechende Erkenntnisfortschritte auf den
verschiedenen Ebenen – eingesetzte Stoffe, Prozesse und Komponenten – zu laufen-
den Verbesserungen der Anlagensicherheit führen.1 Mehr noch: die Bereitstellung und
Pflege einschlägiger Berichts- und Analysedatenbanken könnten diese Lernprozesse
in noch größerer Breite unterstützen, wenn ihre anlagenübergreifende Zugänglichkeit
gegeben wäre und wenn die ihnen zugrundeliegenden Kategoriensysteme einheitlich
gestaltet wären. Entsprechend strukturierte Informationsangebote würden dann nicht
nur betriebs- oder branchenweit von Interesse sein, sondern auch sicherheitsbezogene
Analogieschlüsse auf ganz andere Anlagen erlauben. Diese Möglichkeit der Verallge-
meinerung würde umfassende Sicherheitskonzepte und fortschrittliche Regelsetzungen
unterstützen, die letztendlich national und zunehmend europäisch, eventuell auch in-
ternational Anerkennung und Anwendung finden könnten.
Darüber hinaus würde eine Institutionalisierung der systematischen Ereignisanalyse
auch zu einer Neuausrichtung von Fehlerkultur hin zu einer Lernkultur beitragen, die
die negativen Anreize der bisherigen » Schuldkultur « vermeidet. So krankt das hier der-
zeit angewandte Schuldprinzip daran, dass Fehler im Betrieb oft nicht gemeldet werden,
da ihre Meldung Sanktionen nach sich ziehen kann. Anreizsysteme sind zu überden-
ken, um mehr Transparenz und Effektivität in die Organisation technischer Sicherheit
einzuführen. Erste Gedanken hierzu könnten hin zu einer begrenzten Anonymisierung
von Ereignisdaten evtl. in Verbindung mit einer Abschwächung des Verursacherprin-
zips – nicht der erstmalige Fehler, sondern nur seine Wiederholung ist stark zu ahn-
den – weisen.
Gerade vor der augenblicklichen Entwicklung der Strukturen im zusammenwach-
senden Europa und auch weltweit ist es zwingend notwendig, die Gewährleistungsver-
antwortung des Staates mit der Durchführungsverantwortung der Akteure immer wie-
der neu auszubalancieren.
Eine zwingende Voraussetzung für diese Balance ist eine Datenlage, die aufgrund
übersichtlicher und transparenter Vorgaben zur Verfügung gestellt wird. Mit geeigne-

1 Vergl. OECD Workshop on Lessons Learned from Chemical Accidents and Incidents; http://www.oecd.
org/env/accidents
Qualitätsmerkmal Technische Sicherheit als Basis für eine moderne Fehlerkultur 189

ten Methoden, die entsprechend normiert sind, können dann verlässliche Erkenntnisse
über die Güte der technischen Systeme abgeleitet werden.
Sicherlich ist es besser, zukünftig von einer Lernkultur zu sprechen anstatt von einer
Fehlerkultur. Die Technik muss sich dazu deutlicher in die Diskussionen zu Technolo-
gie und Gesellschaft einbringen und darf das Feld nicht länger primär den Juristen und
Volkswirten überlassen. Der VDI, die Leopoldina, die Ingenieurkammern, die acatech
und viele anderen stakeholder der Technik wie die Technischen Universitäten und die
einschlägigen Wissenschaftsorganisationen müssen sich einer Struktur bewusst werden,
aus der heraus sie die gesellschaftlichen Erfordernisse maßgeblicher mitgestalten kön-
nen. Beispielsweise hat die Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissen-
schaftlich-technischer Entwicklungen eine Projektskizze » Fehlerkultur und technische
Sicherheit « erarbeitet (September 2011) , was der Unterstützung hinsichtlich Inhalt und
Förderung bedarf.
Der VDI schlägt im Übrigen in seiner Denkschrift vor, die Idee eines Technikra-
tes weiter zu verfolgen, eine Konzeption zu erarbeiten und letztlich die Etablierung zu
ermöglichen. Und auf dem Weg dorthin müssen die Diskurse breit unterstützt wer-
den. Zahlreiche einzelne Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der
Robert Bosch und der Heinrich Böll Stiftung oder auch seitens einiger Behörden (z. B.
der angekündigte Technikdialog der Bundesnetzagentur im Frühjahr 2012) sind ver-
stärkt wahrnehmbar. Erlaubt sei in diesem Zusammenhang auch ein Hinweis in eige-
ner Sache: In Berlin hat sich derzeit das FORUM Technologie & Gesellschaft etabliert,
auf dessen Veranstaltungen Technik sowohl als integraler Bestandteil unseres Lebens-
alltages, aber eben auch als wichtiger Innovationstreiber verstanden und entsprechend
diskutiert wird (www.forum46.eu). Hier kommen Vertreter und Multiplikatoren aus al-
len gesellschaftlichen Bereichen zusammen, um in einer aufgeschlossenen Atmosphäre
nachhaltige Lösungsansätze zu entwickeln. Jeder ist herzlich eingeladen, diese Heraus-
forderungen mit branchenübergreifendem Verständnis und persönlichem Engagement
anzunehmen. Letztlich wird es darauf ankommen, Risiken und Chancen der Technik
nicht einseitig und ideologisch zu bewerten, sondern gemeinsam ein am Menschen
orientiertes Technikverständnis weiter zu entwickeln.
Kooperation von Mensch und
Maschine in der Luftfahrt

Peter Hecker
Institut für Flugführung, TU Braunschweig

Individuelle Mobilität ist elementares Grundbedürfnis heutiger und zukünftiger Gesell-


schaften. Entwicklung von Mobilität erfolgt allerdings im Spannungsfeld gesellschaft-
licher Bedürfnisse, ökonomischer Randbedingungen und ökologischer Notwen-
digkeiten. Mobilität soll kostengünstig, sicher und umweltfreundlich sein. Alle drei
Dimensionen gleichermaßen zu berücksichtigen ist schwierig, weil sie sich teilweise wi-
dersprechen. Doch das Ziel muss darin bestehen, ihre Schnittmenge zu vergrößern. Je
besser dies gelingt, umso größer ist die Nachhaltigkeit des Transportsystems (Abb. 1).
Zu diesen primären Qualitätsparametern kommen noch weitere Anforderungen, die
sekundären Qualitätsparameter. Dazu zählen beispielsweise Pünktlichkeit und Passa-
gierkomfort. Doch sie besitzen im Verglich zu den primären Dimensionen, die Nach-
haltigkeit gewährleisten können, eine nachrangige Priorität.

Abbildung 1

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_19, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
192 Peter Hecker

Abbildung 2 Unfallstatistik (Quelle: Boeing 2013)

Accident Rates and Onboard Fatalities by Year


Worldwide Commercial Jet Fleet – 1959 Through 2012
50 1500

All accident rate


Fatal accident rate
Hull loss accident rate
Onboard fatalities
40 1200

30 900
Annual
accident Annual
rate onboard
(per million fatalities
departures)
20 600

10 300

0 0
60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 10 12

Über allem muss indes die Sicherheit im Flugverkehr stehen. Diese Dimension, die auch
für die Akzeptanz des Flugzeugs als Transportmittel zentral ist, soll im Folgenden ad-
ressiert werden. Eine langjährige Statistik über Unfallzahlen in der kommerziellen Luft-
fahrt ist Diagramm (Abb. 2) gegeben. Dort zeigt die durchgezogene Linie die Raten der
Unfälle mit Verlust an Menschenleben pro einer Million Starts. Nach einer hohen An-
zahl in den frühen 1960er Jahren sank sie, dank der immer weiter entwickelten Piloten-
Assistenz-Systeme, immer weiter ab. Diese technischen Systeme unterstützen den Pilo-
ten in allen wesentlichen Aufgaben von der Situationserfassung und -interpretation, der
Planung und Planimplementierung bis hin zur Flugüberwachung. Gleichzeitig lassen
sie sein Aufgabenfeld kontinuierlich komplexer werden.

Probleme

Als Folge » konventioneller « Automation, bei der technologiegetrieben Einzelfunktio-


nen losgelöst vom operationellen Kontext automatisiert werden, können sicherheitsre-
levante Zwischenfälle auftreten. Dies kann an einem exemplarischen Fall, dem Absturz
Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt 193

Abbildung 3 Absturz LH 2904 bei Warschau am 14. 09. 1993 (Quelle: www.baaa-acro.com/Photos
d‹accidents 1993.htm)

der LH 2904 bei Warschau (Polen) am 14. 09. 1993 (Abb. 3), illustriert werden. Hierbei
handelte sich um einen planmäßigen Flug von Frankfurt nach Warschau/Okecie. Die
Bahn 11, die eine Länge von 2800 m besitzt, wurde für die Landung freigegeben. Bei
einsetzendem Regen warnte die Anflugkontrolle warnte den anfliegenden Verkehr vor
Wind Shear, plötzlich verändernden Windrichtungen. Wie das Handbuch vorsieht, er-
höhte der Pilot (PF, Pilot Flying) daraufhin die Anflug- und die Landegeschwindigkeit.
Das Flugzeug setzte auf regennasser Bahn auf. Aufgrund von drehenden Windrichtun-
gen sowie weiterer, im folgenden betrachteter Gründe, wurde nach dem Aufsetzen die
Flugzeuggeschwindigkeit zu langsam abgebaut, so dass als Folge Runway Overshoot auf-
trat, d. h. das Flugzeug rutschte über die Landebahn hinaus.
Die Ursachen des Unfalls liegen in den Problemen konventioneller Automation. Wa-
rum das so ist, lässt sich an der Funktionsweise des automatisierten Bremssystems erläu-
tern. Die Beschreibung ist hierbei in Teilen vereinfacht, um klarer auf die sich ergeben-
den und grundlegenden Herausforderungen in der Automatisierung von Flugsystemen
hinzuweisen.
Setzt ein Flugzeug auf der Landebahn auf, aktiviert sich das Bremssystem mit auto-
matisierter Bremshilfe, d. h. Ground Spoiler und Engine Reverser werden aktiviert. Die
Ground Spoiler (Bremsklappen an den Flügeln) klappen hoch, um die Geschwindig-
keit zu verlangsamen (Abb. 4a). Demselben Zweck dient der Engine Reverser, der die
Antriebsysteme auf Schubumkehr schaltet (Abb. 4b). Ground Spoiler und Engine Re-
verser kann der Pilot automatisiert betreiben, indem er die Stärke des Bremsvorgangs
am Auto-Brake Panel einstellt (in Abb. 4c rot umrandet). Das Bremssystem funktioniert
dann, wenn die automatisierter Bremshilfe eingeschaltet ist, wie folgt: Die Ground Spoi-
ler fahren aus, wenn beide Hauptfahrwerke eingefedert sind (weil sie auf dem Boden
aufsetzen), oder wenn die Radgeschwindigkeit der Fahrwerke eine vorgegebene Marke
überschreitet (weil das Flugzeug Bodenkontakt bekommen hat). Die Engine Reverser
werden aktiviert, wenn beide Hauptfahrwerke eingefedert sind.
194 Peter Hecker

Abbildung 4a Spoiler (Bild: L. Shyamal) Abbildung 4b Reverser (Bild: A. Pingstone)

Abbildung 4c Auto-Brake Panel (Bild: K. Bayram)


Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt 195

Wind Shear trug wesentlich zum Unfall beim Landevorgang des Fluges am 14. 09. 1993
bei. Das Flugzeug sollte eigentlich an der » Schwelle « der Landebahn aufsetzen. Der
erste Bodenkontakt des rechten Fahrwerks kam sehr spät, da der Pilot wegen Rücken-
wind die Geschwindigkeit erhöhen musste. Im problemlosen Normalverlauf hätten zu-
erst die beiden Hauptfahrwerke aufgesetzt, und dann das Bugfahrwerk, und nach dem
Einfedern aller Fahrwerke hätte die Bremsautomatik eingesetzt. Doch im vorliegenden
Fall geschah das – wegen des drehenden Windes – nicht. Zuerst federte das rechte Fahr-
werk ein, anschließend das Bugfahrwerk, und dann erst das linke Fahrwerk. Nun erst
(1.525 m nach der Schwelle) kam die Freigabe von Ground Spoiler und Umkehrschub
durch die Schaltlogik der automatischen Bremshilfe. Die Bremsautomatik setzte also zu
spät ein. Die verbleibenden 1.275 m Landebahn reichten unter den gegeben Witterungs-
bedingungen nicht zum Abbremsen. Deshalb verständigten sich Pilot (PF) und Kopi-
lot (PNF) kurz vor Ende der Landebahn, das Seitenruder nach rechts herumzureißen.
Trotzdem war die Kollision mit dem Erdwall, der sich 90m hinter Bahnende befindet,
nicht mehr zu vermeiden.
Rückblickend kann hierbei festgestellt werden, dass u. a. Defizite im Zusammenwir-
ken von Mensch (Pilot) und Maschine (automatisiertes Bremssystem) in der gegebenen
Situation zu einer katastrophalen Situation geführt haben.

Herausforderungen

Das Lufttransportsystem wächst kontinuierlich um zwei bis drei Prozent pro Jahr. Wirt-
schaftswachstum, Globalisierung und rasche Entwicklung der Schwellenländer tragen
dazu bei. Mit dem Wachstum des Luftverkehrsaufkommens steigen auch die Anforde-
rungen an die Piloten. Sie müssen mit dichterem Verkehr in komplexeren Szenarien zu-
rechtkommen.
Das Lufttransportsystem ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Einbindung
menschlicher Bediener in die Führungsprozesse. Der Pilot trägt die Verantwortung für
sicheren Flug von Gate zu Gate, der Fluglotse für die sichere Koordination der Luftver-
kehrsströme.
Als Folge der drohenden Überforderung von Piloten findet zunehmend konventio-
nelle Automatisierung im Cockpit statt. Das Wort » konventionell « sagt in diesem Kon-
text, dass die Automatisierung einzelner Funktionen technologiegetrieben erfolgt, dass
der Stand der Technik also vorgibt, was Technik übernehmen kann. Der Pilot, der die
Gesamtverantwortung trägt, kann Einzelfunktionen an Automaten delegieren. Aber
problematisch ist dabei die steigende Zahl von unabhängigen Automatismen. Die Cock-
pittechnologie (Super Constellation) des Jahres 1951 war noch überschaubar, aber auch
sie ist durchaus beeindruckend (Abb. 5). In den folgenden Jahren weisen Komplexität
und Quantität der Systeme zur Mensch-Maschine-Kooperation (Anzeige- und Bedien-
systeme) allerdings eine stark steigende Tendenz auf. Bei der Concorde des Jahres 1969
196 Peter Hecker

Abbildung 5 Cockpittechnologie 1951 (Quelle: Super Constellation Flyers Association (SFCA))

Abbildung 6 Cockpittechnologie 1969 (Quellen: Cockpit: Matt Midgley, http://soarlikethebirds.


com/tag/concorde/ – Concorde: http://www.museumofflight.org/concorde)
Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt 197

Abbildung 7 Faktor Mensch in der Luftfahrt

Crew Assistenzsystem
Sensoren
Kommunikation

Erfassung von
Situationselementen

Situations-
interpretation

Plangenerierung Plangenerierung
& Bewertung & Bewertung

Planungs-
entscheidung

Planungs- Planungs-
ausführung ausführung

ist die Zahl der Geräte im Cockpit immens gewachsen (Abb. 6). Die nachfolgenden
Flugzeugausrüstungen mit sog. » Glas-Cockpits « (unter Verwendung von Computer-
Bildschirmen), wie z. B. in der Airbus A-320 Familie führen diese Tendenz fort.
Der Pilot kann Aufgaben an Geräte delegieren. Er hat eine zunehmende Zahl von
Apparaturen im Cockpit, trägt aber Verantwortung dafür, welche er eingeschaltet hat.
Seine Verantwortung für Sicherheit umfasst die operationelle Anwendbarkeit und die
kontextbezogene Sicherheit. Er muss entscheiden, ob die vorhandenen technischen Ge-
räte für eine gegebene Situation angemessen sind. Prinzipiell jedoch stellt die durchgän-
gige Kenntnis des jeweiligen Delegationsrahmens eine große Herausforderung dar, weil
die Automatisierung einen sehr hohen Komplexitätsgrad erreicht hat.
Grundsätzlich nimmt der Pilot seine Flugführungsaufgabe im Rahmen eines sog.
» Recognize-Act-Cycles « war. Dabei erfasst er eine gegebene Situation und interpretiert
sie unter Einbeziehung von Vorwissen. Darauf aufbauend entwirft er, bezogen auf seine
Aufgabe (Flug von A nach B), einen Plan und entscheidet ggf. zwischen alternativen
Planvarianten und -parametern. Für bestimmte Situationen kann er sich der Hilfe von
automatisierten Systemen bedienen, und z. B. den Autopiloten einschalten. Ein schema-
tischer Ablauf der Handlungsstränge in einer konventionellen Arbeitsteilung zwischen
Mensch (Crew im Cockpit) und Automaten (von Ingenieuren als Assistenzsystem ent-
worfen und implementiert), lässt sich im Diagramm der Abb. 7 darstellen.
198 Peter Hecker

Abbildung 8 Dilemma bei der Entwicklung komplexer teil-automatisierter Systeme

Pilot: Ingenieur:
++ fliegerische/betriebliche ++ technisch/wissenschaftliche Aus-
Ausbildung bildung
O wissenschaftlicher Hinter- O operationeller Hintergrund
grund
• denkt Szenarien vor
• Führung des Luftfahrzeugs • entwirft Automatismen/Systeme
anhand v. Systemen
• Anwendung prozeduralen übernimmt (Teil-)Verantwortung
Wissens

trägt Gesamtverantwortung

Abbildung 9 joint teams


Kooperation von Mensch und Maschine in der Luftfahrt 199

Wie eingangs angedeutet, ergibt sich nun mit zunehmender Komplexität von Flug-
systemen ein Dilemma. Auf der einen Seite befindet sich der Pilot mit seiner fliegeri-
schen Ausbildung. Er trägt die volle Verantwortung für die sichere Durchführung eines
Fluges. Dabei führt er das Flugzeug anhand von Systemen, die Ingenieure entwickel-
ten. Er wendet sein Wissen prozedural an. Er ist trainiert, Handlungsanleitungen zu
befolgen, und er hat dies habitualisiert. Auf der anderen Seite befindet sich der Inge-
nieur. Er ist technisch gut ausgebildet, besitzt aber in der Regel nur ein begrenztes ope-
rationelles Grundlagenwissen. Sofern er die Avionik gestaltet, indem er beispielsweise
ein automatisiertes System entwickelt, das dem Piloten dienen soll, übernimmt er im
ideellen Sinne einen Teil der Verantwortung für den sicheren Flug (Abb. 8). Der Ent-
wickler denkt für den Piloten Szenarien » vor «, er übernimmt Verantwortung, um in
Situationen von Überlast die Belastung durch Automatisierung auf ein erträgliches Maß
zu reduzieren. Der Pilot nutzt die komplexen Systeme des Cockpits im Allgemeinen mit
begrenzter Detailkenntnis der technischen Interna in den Flugsystemen und deren Ein-
setzbarkeit in einem gegebenen situativen Kontext.
Das Dilemma tut sich also durch die Kluft zwischen den beiden beteiligten Zu-
gangsweisen auf, nämlich dem Piloten mit fliegerischer Ausbildung auf der einen und
dem Ingenieur als technischem Experten auf der anderen Seite. Es zu bewältigen, erfor-
dert neue Prozesse der Systementwicklung, deren Kern » Joint Teams « bilden können
(Abb. 9). Dabei geht es im Prinzip darum, dass Ingenieure die erforderlichen Systeme
gemeinsam mit den Anwendern entwickeln. Vorteilhaft ist dabei die Beteiligung » tech-
nischer Piloten «, also von Piloten, die über eine fundierte Basis technischer Kenntnisse
verfügen. In solchen Joint Teams ist die Verantwortung nicht mehr auf den Piloten und
den Ingenieur aufgeteilt, sondern liegt bei diesen Teams.

Change Management

Dieses neuartige Management der Technikentwicklung führt zu Veränderungen im Zu-


sammenwirken von Mensch und Maschine. Ein begleitender Effekt der Joint Teams ist
die Steigerung der Akzeptanz seitens des Anwenders. Dies ist insbesondere deshalb von
großer Bedeutung, da in der Vergangenheit des Öfteren die Einführung neuer Automa-
tisierungsansätze durch Anwender nur zögerlich aufgegriffen worden ist. Auch deshalb
ist hilfreich, Änderungsprozesse gemeinsam mit Nutzern im Sinne eines » Change Ma-
nagement Prozesses « sorgfältig zu planen.
Joint Teams können in geeigneter Weise ganzheitliche Automatisierungsansätze ent-
wickeln (Abb. 10). Wesentlich dafür ist, funktionale Fähigkeiten bei Mensch und Ma-
schine parallel anzulegen. Das kann zu einer situationsabhängig veränderlichen, gewis-
sermaßen partnerschaftlichen Funktionsverteilung führen. Die Rollenverteilung von
Mensch und Maschine ist nicht mehr starr. Der Pilot bewertet den Flug. Die automati-
sierten Systeme, die den Piloten unterstützen (Crew Assistant), sind in der Lage, Situa-
200 Peter Hecker

Abbildung 10 ganzheitliche Automatisierungsansätze

Crew Assistenzsystem
Sensoren
Kommunikation

Erfassung von Erfassung von


Situationselementen Situationselementen

Situations- Situations-
interpretation interpretation

Plangenerierung Plangenerierung
& Bewertung & Bewertung

Planungs-
entscheidung

Planungs- Planungs-
ausführung ausführung

tionen zu erfassen und zu bewerten, und sie können sogar Pläne generieren und bewer-
ten. Durch solche Parallelfähigkeiten von Mensch und Maschine wird der Pilot entlastet,
wobei die Planungsentscheidung nach wie vor in seiner Verantwortung liegt.
Mit solchen Entwicklungen arbeiten Ingenieure gemeinsam mit den Beteiligten aus
der Crew daran, den Begriff der Verantwortung im Flugverkehr neu zu definieren. Die
Sicherheit des zivilen Luftfahrtsystems, die bereits seit den 1960er Jahren beträchtliche
Fortschritte erreichte, wird auf eine höhere Stufe gehoben.
Was bei der Planung und Herstellung
einer Eisenbahntrasse relevant sein kann

Hans-Hermann Prüser
Abteilung Bauwesen, Jade Hochschule/Oldenburg

Vorbemerkungen

Die Anlagen der Infrastruktur sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland von her-
ausragender Bedeutung. Sie vernetzen Wohn- und Arbeitsstätten; sie sind die Plattform
für den Austausch von Gütern, Energie, Halbfertigprodukten und Komponenten zur Si-
cherstellung einer konkurrenzfähigen Produktion und sie sind Grundlage zur Befriedi-
gung der Freizeitbedürfnisse der Bevölkerung.
Die Notwendigkeit zum Erhalt, Aus- und Umbau der Infrastruktur ist grundsätzlich
unstrittig. Die Akzeptanz, ist insbesondere bei Neubauten innerhalb der betroffenen Be-
völkerung oft nur schwer erreichbar, da die Umgebung nachhaltig verändert wird. Die
Verkehrsträger Straße, Schiene, Wasser oder Luft haben deshalb ihre Neubauplanungen
im Rahmen umfangreicher Planfeststellungsverfahren einer Genehmigung zuzuführen.
Im Ergebnis wird eine Lösung angestrebt, die Einflussfaktoren Ökonomie, Ökologie so-
wie die Lebens(=Wohn)qualität im Sinne einer gesellschaftlichen Gesamtbetrachtung
optimiert.
Die planenden Ingenieuren/innen nehmen in diesem Zusammenhang ausgespro-
chen verantwortungsvolle Aufgaben wahr. Sie arbeiten sachkundig, unabhängig, inter-
disziplinär und zielorientiert. Nachfolgend sollen am Beispiel einer Trassenplanung im
Eisenbahnbau ausgewählte Problemfelder aufgezeigt werden, in denen die Übernahme
von Verantwortung erforderlich ist.

1 Die Übernahme von Verantwortung als individuelle Leistung

Allgemein zählen der statische Nachweis und die Herstellung eines Tragwerkes auf der
Baustelle zu zentralen Aufgaben eines Bauingenieurs. So richtig diese Aussage auch dem

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_20, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
202 Hans-Hermann Prüser

Tabelle 1 Prinzipielle Nachweisführung gemäß Euro-Code

SEd ≤ SRd

Nachweisgröße S aus den Bemessungseinwirkungen ≤ Nachweisgröße S aus den Bemessungswiderstand


des Systems gegenüber Versagen

Biegebeanspruchung [kNm] ≤ Biegetragfähigkeit [kNm]

zu erwartende Verformung [m] ≤ zulässige Verformung [m]

zu erwartende Rissbreite im Beton [mm] ≤ zulässige Rissbreite im Beton [mm]

z. B. Zahlenwert SEd = 4.82 ≤ 5.02 = SRd € Der Nachweis ist erfüllt !

Ort, Datum, Ingenieurunterschrift

Grunde nach ist, sie wird umso bedenklicher, je strikter hier nach Abgrenzung von Ver-
antwortlichkeiten gesucht wird.
Die Tabelle 1 zeigt die prinzipielle Vorgehensweise bei der Nachweisführung nach
dem Euro-Code. Danach wird ein simulierter Bemessungswert für eine Beanspruchung,
eine Verformung, etc. dem Bemessungswert der Tragfähigkeit oder zulässigen Parame-
tern des System- oder Bauteilverhaltens gegenübergestellt.
Die Übernahme von Verantwortung als individuelle Leistung erfolgt formal durch
die vom Ingenieur/in geleistete Unterschrift. Sie dokumentiert deutlich mehr als z. B.
die isolierte Aussage » 4.82 < 5.02 «, sie erklärt die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Be-
rechnung im technischen, im wirtschaftlichen und im juristischen Sinne. Der/die Un-
terzeichnende ist sich über die Wechselwirkungen, die zwischen Bauwerk und Umge-
bung bestehen, bewusst und versichert insbesondere auch, dass

• alle notwendigen, das Tragwerk beanspruchenden Einwirkungen mit ihren richtigen


Intensitäten und Kombinationen berücksichtigt sind und dass damit die Tragfähig-
keit und die Gebrauchstauglichkeit während der Nutzungsdauer sichergestellt sind,
• nur Baustoffe mit definierten Mindestmaterialkennwerten zu verwenden sind und
dass diese unter Baustellenbedingungen auch nachvollziehbar herzustellen sind,
• die verwendeten Rechen- und Nachweisverfahren das reale Verhalten des Bauwerkes
hinreichend genau erfassen und dass diese dem Stand der Technik entsprechen,
• die eingesetzten EDV-Programmsysteme zielführend sind und dass ihre Handha-
bung sicher beherrscht wird,
• die dargestellten Ergebnisse qualitativ wie quantitativ richtig sind und in Stichpro-
ben unabhängig verifiziert sind.
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 203

2 Die Übernahme von Verantwortung als Ergebnis


einer integrierten Gesamtleistung

Im Jahre 1985 wurde die Errichtung einer ICE-Neubaustrecke in den Bedarfsplan für
Bundesschienenwege aufgenommen. Nach 17 Jahren, von denen nur die letzten 6 Jahre
für den eigentlichen Bau notwendig waren, wurde 2002 diese Strecke in Betrieb genom-
men. Die Reisezeit zwischen den Hauptbahnhöfen Köln und Frankfurt verkürzt sich
von 133 auf 76 Minuten. Die Gesamtmaßnahme beinhaltet entlang der ca. 180 km langen
Eisenbahntrasse zahlreiche Tunnel- und Ingenieurbauwerke, den Umbau/die Entwick-
lung der begleitenden Infrastruktur (Erd- und Straßenbau, Leitungsverlegungen) sowie
zahlreiche Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Sicherstellung einer angemessenen
Umweltverträglichkeit.
In der Abbildung 1 sind 2 Folien wiedergegeben, die den Zeitbedarf und die unter-
suchten Varianten der Linienführungen darstellen. Letztlich zur Ausführung gekom-
men ist eine Linienführung mit den folgenden Haltepunkten:

Köln Hbf – Anbindung Flughafen Köln/Bonn – Siegburg – Montabaur – Limburg –


Flughafen/Frankfurt – Frankfurt Hbf und einem Abzweig zu den Landeshauptstäd-
ten Wiesbaden und Mainz

Das Ergebnis stellt eine Lösung dar, in der die Anforderungen an den Fahrkomfort, Um-
weltschutzaspekte sowie die Kosten für Investition und Betrieb gemeinsam optimiert
worden sind. Im Ergebnis werden als wesentliche Parameter für den Entwurf definiert:

• Die Strecke ausschließlich für den Personenverkehr unter Einhaltung von Mindest-
radien und maximalen Steigungen für eine Entwurfsgeschwindigkeit von 300km/h
ausgelegt.

Abbildung 1 Zeitbedarf und Inhalte einer integrierten Gesamtplanung


204 Hans-Hermann Prüser

Abbildung 2 Landschaftsverbrauch und Bündelung der Verkehrsträger Schiene und Straße

• Die Trasse wird, dort wo es möglich ist, in enger Bündelung zur bestehenden Bun-
desautobahn A3 verlegt; die übrigen Bereiche werden durch einen hohen Anteil an
Tunnelstrecken landschaftlich schonend behandelt.
• Die erwartete Auslastung der Strecke wird durch die Anbindung von zwei interna-
tionalen Flughäfen und der Landeshauptstädte Wiesbaden und Mainz verbessert.
• Die sich im Hochgeschwindigkeitsbetrieb ergebenden hohen Wartungskosten eines
Schotterbettes werden durch den Einsatz eines durchgehenden Betonkörpers zur
Auflagerung des Schienen/Schwellensystems (Feste Fahrbahn) minimiert.

Wie sich die Optimierung verschiedener Einflussgrößen lokal darstellen kann ist in
den Bildern der Abbildung 2 zu erkennen. Das Fällen und Roden zusammenhängender
Waldflächen und die enormen Bewegungen von Erdmassen lassen sich nur unter Be-
rücksichtigung der Gesamtmaßnahme verantwortlich vertreten. Das linke Bild der Ab-
bildung 2 zeigt im Vordergrund allerdings auch sehr deutlich den Einfluss einer land-
schaftsschonenden Trassenplanung. Der Betonkörper zeigt den Anfang eines Tunnels
an. Seine Anlegung hat keinerlei fahrdynamische Erfordernisse sondern sie ergibt sich
rein aus ökologischen Gesichtspunkten. Hier wird ein wertvolles Landschaftsschutzge-
biet mit einer sehr wertvollen Flora und Fauna unterquert.

3 Die Übernahme von Verantwortung als Notwendigkeit


zur Entscheidungsfindung

Für den Fortschritt und die Realisierung eines Projektes ist es erforderlich, Entschei-
dungen vorzubereiten, verbindlich abzustimmen und umzusetzen. Dabei gilt es bei den
Betroffenen eine Akzeptanz der Maßnahme insgesamt zu erreichen und dann die ver-
schiedenen Randbedingungen so neutral wie möglich abzuwägen.
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 205

Es wird nicht immer gelingen können, Problemlösungen zu finden, die allseits ein
positives Echo finden. Es ist dann im Sinne der Verantwortung für die Gesamtmaß-
nahme die beste Lösung durchzusetzen.

3.1 Die Genehmigungsplanung für eine bauzeitliche Absenkung


des Grundwassers

Als Beispiel soll hier eine Teilleistung im Zuge der Errichtung einer Eisenbahnbrücke
gemäß Abbildung 3 behandelt werden. Ohne auf Details im Einzelnen eingehen zu wol-
len: Es ist erforderlich, dass in der Mitte der Brücke in unmittelbarer Nähe zu einem
Bachlauf ein Brückenpfeiler zu errichten ist. Die Baugrundverhältnisse erlauben die
Flachgründung auf einen Einzelfundament. Die Sohle des Pfeilerfundamentes liegt un-
terhalb des Grundwasserspiegels, dessen Höhenlage mit dem Gewässerwasserstand
kommuniziert. Ohne bauliche Maßnahmen würde sich bei der Herstellung des Pfeilers
die auszuhebende Baugrube mit Wasser füllen und der Bachlauf würde durch die Bau-
grube führen.
Abhilfe schafft die Ausbildung eines wasserdichten Spundwandkastens, der den
Gründungsbereich des Brückenpfeilers vollständig umschließt. Das Grundwasser kann
dann nicht mehr von der Seite in die Baugrube einfließen, sondern nur noch von unten.
Wegen der angetroffenen Bodenverhältnisse (Wasserdurchlässigkeit) sind diese Wasser-
mengen zwar beachtlich; sie sind aber durch Pumpeneinsatz technisch problemlos be-
herrschbar. Der Bachlauf kann in jedem Fall in seiner natürlichen Lage verbleiben.
Rechts in der Abbildung 3 ist die sich ergebende Situation während der ca. 6 Monate
langen Bauzeit dargestellt. Das von unten in die Baugrube einströmende Grundwasser
wird, bevor es die Baugrubensohle erreicht, noch im gewachsenen Boden abgepumpt
und beseitigt. Dadurch wird die Baugrube trocken gehalten. Um den Spundwandkas-

Abbildung 3 Genehmigung einer Grundwasserentnahme für die Herstellung


eines Brückenpfeilers
206 Hans-Hermann Prüser

ten herum wird jetzt der Grundwasserstand großflächig abgesenkt. Nachdem das Fun-
dament und der aufgehende Pfeiler hergestellt sind, wird die Baugrube geräumt, die
Spundwände werden gezogen und der Grundwasserstand erreicht wieder seine ur-
sprüngliche Lage.
Die Baustelle befindet sich in einem ausgewiesenen Landschaftsschutzgebiet und es
ist für die notwendige Grundwasserabsenkung eine Genehmigungsplanung durch den
Bauherrn aufzustellen. Dabei sind Abstimmungen zwischen dem ausführenden Bau-
betrieb und den Belangen des Landschaftsschutzgebietes erforderlich, um eine trag-
fähige Lösung des Eingriffes » Bauzeitliche Grundwasserabsenkung « zu erarbeiten.
Im vorliegenden Fall waren im Wesentlichen drei unabhängige naturschutzrechtliche
Fachdienste zu beteiligen. Sie werden nachfolgend Fische-Freund, Gräser-Freund und
Vogel-Freund genannt, ohne dass diese vereinfachende Wortwahl herabwürdigend ge-
meint ist.
Der Baubetrieb suchte nach einer Möglichkeit, das während der Bauzeit geförderte
Grundwasser aus dem Baustellenbereich herauszubekommen. Der Ablauf der Abstim-
mungen erfolgte in mehreren aufeinander folgenden Schritten:

• Variante 1: Das geförderte Grundwasser wird in den Bachlauf eingeleitet. Diese Maß-
nahme ist mit dem Fische-Freund abzustimmen. Es sind dabei die Menge und die
Beschaffenheit des geförderten Grundwassers anzugeben.
Die Genehmigung wurde versagt, weil durch die Einleitung des O2-freien Grund-
wassers die Sauerstoffkonzentration im Bachlauf insgesamt abnimmt und damit die
Überlebensmöglichkeiten der Fische stark einschränken kann. Das gilt insbesondere
für die Sommermonate, wenn der Wasserstand und der Sauerstoffgehalt im Bach
ohnehin gering sind.
• Variante 2: Das geförderte Grundwasser wird in einem hohen Bogen – freifallend –
in den Bachlauf gegeben. Beim Einfallen des Grundwassers in den Bachlauf wird
in ausreichendem Umfang Sauerstoff im Wasser gelöst und es besteht keine Gefahr
mehr für die Fische.
Die Genehmigung für diese Variante wird jedoch von dem Gräser-Freund versagt,
denn die in der Nähe des Brückenpfeilers wachsenden Gräser werden durch die
Grundwasserabsenkung während der 6-monatigen Bauzeit nicht mehr mit genü-
gend Bodenfeuchtigkeit versorgt und werden folglich Schaden nehmen. Das gilt be-
sonders in den niederschlagsarmen Sommermonaten.
• Variante 3: Das geförderte Grundwasser wird nicht mehr in den Bachlauf eingeleitet,
sondern permanent im näheren und weiteren Umfeld der Baustelle mit Hilfe geeig-
neter Anlagen verregnet. Damit bleibt der Bachlauf unbeeinflusst und die Gräser
über der Grundwasserabsenkung erhalten ausreichend Feuchtigkeit.
Dies Variante muss aber von dem Vogel-Freund abgelehnt werden. Im Bereich der
geplanten Beregnung sind bodenbrütende Vogelarten festgestellt worden. Durch den
6 monatigen Dauerregen werden die Brut und die Aufzucht der Jungen verhindert.
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 207

Abbildung 4 … zur Unmöglichkeit die Bedenken aller Beteiligten auszuräumen

Zugegeben, der Sachverhalt ist etwas überzeichnet dargestellt – aber er charakterisiert


sehr deutlich die auftretenden Probleme. Es ist unmöglich, die Bedenken aller Betrof-
fenen gleichzeitig auszuräumen. Es der Verantwortung des planenden Ingenieurs eine
Lösung zu finden und umzusetzen, so dass – in diesem Fall – die Eisenbahnbrücke her-
gestellt und damit die termingerechte Fertigstellung des gesamten Schienenweges re-
alisiert werden können. Hier wurde die Grundwasserabsenkung nach Variante 2 (vgl.
Abbildung 4) ausgeführt. Vogel-Freund und Gräser-Freund konnten also nicht befrie-
digt werden. Diese Lösung konnte letztlich auch rechtlich abgesichert werden, da in den
Richtlinien des Landschaftsschutzgebietes eine extensive und zeitlich limitierte land-
wirtschaftliche Nutzung1 nicht ausgeschlossen war.

3.2 Mit welchem Wasserstand im Bachlauf ist zu rechnen ?

Für die Herstellung des Brückenpfeilers wird die Baugrube mit einem wasserdichten
Spundwandkasten umschlossen und, wie beschrieben, das Grundwasser während der
Bauzeit abgesenkt.
Es ist noch zu klären, auf welcher Höhenkote die Spundwand enden soll (vgl. Abbil-
dung 3, rechts). Die Antwort ist einfach: » Natürlich so hoch, dass ein Hochwasser des
Bachlaufes nicht zu einem Überschwemmen der Pfeilerbaugrube führt ! « Aber niemand
weiß, wie sich der maximale Wasserstand im Bachlauf während der Bauzeit einstellen
wird. Es liegt damit in der Verantwortung der beteiligten Ingenieure abzuwägen und

1 Zeitlich limitiert bedeutet, dass jemand der eine extensive landwirtschaftliche Nutzung (z. B. Gras mä-
hen) nicht dauerhaft betreiben darf. Das Land muss zwischendurch, wie früher in der Dreifelderwirt-
schaft, ein Jahr brach liegen bevor erneut geerntet wird. Mit diesem Passus wollte man die gewerbliche/
industrielle Landwirtschaft aus dem Landschaftsschutzgebiet hinausdrängen.
208 Hans-Hermann Prüser

unter Berücksichtigung von Kosten und Risiken die Höhe der Spundwandoberkante
festzulegen. Für den Eintrittsfall ist ein Szenarium für die Räumung der Baustelle abzu-
stimmen.
Im Betriebszustand entstehen an dieser Eisenbahnbrücke keine besonderen Ge-
fahren.

4 Die Übernahme von Verantwortung als Vorsorge


für Risiken und Unfallgefahren

Angesichts der Erfahrung, wonach alles, was schiefgehen kann, auch irgendwann ein-
mal schiefgehen wird (… frei nach Murphy), muss sich eine verantwortungsvolle Pla-
nung mit möglichen Risiken und Gefahren befassen, die sich im Umfeld eines Bauwer-
kes sowohl im Bauzustand als auch im Betriebszustand ergeben. Zur Veranschaulichung
wird die Baumaßnahme » Stützwand Elzer Berg « behandelt, die im Zuge der ICE Neu-
baustrecke Köln-Frankfurt errichtet wurde. Es handelt sich dabei um den Übergang der
Eisenbahntrasse zwischen einem Geländeeinschnitt und einen Tunnelabschnitt, der in
unmittelbarer Nähe zu einer Autobahn liegt.
Die Abbildung 5 zeigt, dass hier ein erhebliches Gefahrenpotenzial gegeben ist. Die
Steckenführungen von Schiene und Autobahn verlaufen annähernd parallel, aber auf
unterschiedlichen Höhenkoten. Die Autobahn muss deshalb im Endzustand dauerhaft
und im Bauzustand temporär durch eine Stützkonstruktion (» Elzer Berg «; vgl. Abbil-
dung 5) gesichert werden.

Abbildung 5 Lageplandarstellung der Autobahn A3 im Bereich der Stützwand-


konstruktion (Elzer Berg)
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 209

4.1 Risiken und Unfallgefahren aus dem Eisenbahnbetrieb

Die Abwehr von Risiken und Gefahren, die sich im laufenden Eisenbahnbetrieb erge-
ben, werden im Entwurf berücksichtigt und in den Planfeststellungsunterlagen rechts-
verbindlich festgelegt. Einzelheiten können aus der Abbildung 5 den Lageplänen ent-
nommen werden. Wesentlich dabei sind die folgenden Aspekte:

• An der Tunneleinfahrt wird ein Rettungsplatz eingerichtet. Er dient z. B. der Eva-


kuierung eines Zuges der innerhalb des Tunnels, der wegen nicht behebbarer tech-
nischer Probleme zum Stehen gekommen ist. Entsprechend ist er inklusive seiner
Zufahrt sowohl für den Einsatz von Wartungs- und Bergungsgeräten als auch für
einen Busersatzverkehr zu dimensionieren.
• Zwischen der Autobahn und der Eisenbahntrasse wird ein Abkommensschutzwall
errichtet (vgl. Abbildung 7 rechts). Er verhindert, dass abirrende Fahrzeuge in die
Gleisanlagen stürzen können. Gleichzeitig unterbindet er die Sichtbeziehung zwi-
schen dem Autofahrer und dem Zug, die insbesondere in der Nacht Gefahrensitua-
tionen hervorrufen kann.

Durch den Abkommensschutzwall ergibt sich für die Stützwand aus dem einwirkenden
Erddruck eine erheblich höhere Beanspruchung, verbunden mit einer deutlichen Kos-
tensteigerung der Konstruktion. Eine zweifelsohne sinnvolle Investition in die Unfall-
vorsorge und in die Verkehrssicherheit.

4.2 … während der Herstellung

Die Tiefe des Baugrubenverbaus wird durch einen lagenweisen Aushub erreicht. Die
wesentlichen Arbeitsschritte der Herstellung sind in der Abbildung 6 dargestellt. Im
Einzelnen:

1) Die Bohrträger (ein mit Laschen verbundenes U-Trägerpaar) werden senkrecht in


den Boden eingebracht. Die Böschung zu Autobahn hin wird für die Bauzeit mit
einer Magerbetonschicht dauerhaft stabilisiert. Anschließend wird die 1. Lage des
Aushubs hergestellt. Die notwendige Aushubtiefe ergibt sich aus der Position der
Rückverankerungen.
2) Der frisch abgegrabene, erdfeuchte Boden bleibt zwischen den Trägern senkrecht
stehen. Er wird mit einer mattenbewehrten Spritzbetonausfachung gesichert.
3) Nach Aushärtung der Spritzbetonausfachung werden an den U-Trägerpaaren ge-
neigte Horizontalbohrungen zur Aufnahme der Rückverankerungen gesetzt. In die
Bohrungen wird Stabstahl eingelegt und Beton zur Herstellung der Verpresskörper
eingebaut.
210 Hans-Hermann Prüser

Abbildung 6 Herstellung des Baugrubenverbaus zur Autobahn (wesentliche Arbeitsschritte)

beginnender Einbau der bewehrten Einbau der Rück- … rückverankert; … die Sohle
Aushub Spritzbetonausfachung verankerung jetzt die 2. Lage ist erreicht

4) Nach Aushärtung der Verpresskörper wird der Stabstahl gespannt. Anschließend


wird die 2. Lage des Aushubs hergestellt und der frisch abgegrabene Boden wird wie-
der mit Spritzbeton gesichert.
5) Die endgültige Baugrubentiefe wird schließlich nach mehrmaligem Wiederholen der
beschriebenen Arbeitsschritte erreicht.

In dem Lageplan der Abbildung 5 ist die Schnittführung 1-1 gekennzeichnet. In der Ab-
bildung 7 zeigen die dargestellten Querprofile die Einzelheiten der Stützkonstruktionen
im Bauzustand und im Endzustand. Der Höhenunterschied der Verkehrswege unterein-
ander beträgt an dieser Position nach Fertigstellung der Baumaßnahme ca. 14m.
Der Baugrubenaushub wird mit einem 6,50 m hohem temporären Verbau in Ver-
bindung mit einer Böschung gesichert (vgl. Abbildung 7). Der Verbau wird mit 3-lagi-
gen Verpresskörpern rückverankert. Nachdem die Stützwand (vgl. Abbildung 7; rechts)
fertig gestellt und hinterfüllt ist, nimmt sie den gesamten Erddruck auf. Der im Boden
verbleibende Verbau hat dann rechnerisch keine statische Funktion mehr. Der Verbau
muss folglich nur während der entsprechenden Bauzeit halten und nicht länger. Wäh-
rend dieser Zeit ist er die einzige wirksame Sicherung des ca. 17m hohen Geländesprun-
ges zwischen der Autobahn und der Baugrubensohle.
Die beschriebene, an sich verlässliche Verbaukonstruktion erweist sich hier jedoch
als problematisch, weil das angetroffene Grundwasser betonangreifend ist. Die rückver-
ankernde Wirkung der Verpesskörper wird also mit der Zeit nachlassen, bis der Verbau
in einer absehbaren Zeit zwangsläufig einstürzen muss ! Angesichts des damit verbun-
denen, enormen Gefahrenpotenzials sind vorbeugende Maßnahmen zu planen und auf
der Baustelle umzusetzen:
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 211

Abbildung 7 Stützkonstruktionen » Elzer Berg « im Bauzustand (links) und im Endzustand (rechts)

• Die Bauzeit der Stützwandkonstruktion ist möglichst kurz zu halten. In idealer Weise
soll die Herstellung von März bis Dezember erfolgen. Vor und zu Beginn dieser Zeit-
spanne sind auch die erforderlichen Baustraßen anzulegen.
• Bauzeitverzögerungen – z. B. witterungsbedingt – können grundsätzlich nicht aus-
geschlossen werden. Lieferengpässe, Streiks, der Konkurs eines Baubeteiligten, … es
sind viele Gründe denkbar, die dazu führen können, dass der rückverankerte tempo-
räre Baugrubenverbau deutlich länger als geplant die Autobahn sichern muss.
Es liegt deshalb in der Verantwortung des Ingenieurs dafür Sorge zu tragen, dass die
Standzeit des Verbaus ggf. ausgedehnt werden kann.
• Der aktuelle Grad der Schädigung der Betonverpresskörper durch das Grundwasser
ist während der Standzeit des Verbaus zu bestimmen. Das Nachlassen der Rückver-
ankerung ist an einer beginnenden Zunahme der horizontalen Verformung des Ver-
baukopfes in Richtung der Baugrube erkennbar. Entsprechend wird die Spundwand
mit einer entsprechenden Ausstattung zur Messung eventuell auftretender Verfor-
mungen ausgestattet. Regelmäßige Messkampagnen sind Bestandteil des Pflichten-
heftes der Bauüberwachung.
• Der zeitliche Verlauf der gemessenen Verformungen ist zu dokumentieren und zu
beurteilen. Treten keine Verformungen am Verbau auf, so sind die Baustelle in der
Baugrube und der Autobahnverkehr sicher.
• Ab welcher Größenordnung und in welchem Zeitraum werden Verformungen be-
denklich und was ist dann unbedingt zu tun ? Ein derartiges Notfallkonzept ist im
Vorfeld der Baumaßnahme vollständig durchzuplanen und mit den Beteiligten ab-
zusprechen. Die Maßnahmen reichen vom nachträglichen Einbau zusätzlicher Ver-
presskörper, über Teilverfüllungen der Baugrube bis zu den im schlimmsten Fall
einzuleitenden Verkehrsumlegungen auf der Autobahn.
212 Hans-Hermann Prüser

4.3 … aus der Dauerhaftigkeit der Konstruktion

Die Abbildung 7 zeigt sehr anschaulich die hohe Beanspruchung der Stahlbetonkon-
struktion » Stützwand Elzer Berg «, die sich im Endzustand aus dem Abkommensschutz-
wall und den Verkehrslasten auf der Autobahn ergibt, nachdem der im Boden verblei-
bende Verbau seine Tragfähigkeit verloren hat.
Die Stützwand muss dauerhaft standsicher sein und ihre Herstellung hat in einem
angemessenen Finanzrahmen zu erfolgen. Zum Schutz gegen das betonangreifende
Grundwasser müssen die erdberührten Flächen der Betonkonstruktion beschichtet
werden. Die Stützwand erhält außerdem am rückwärtigen Sporn eine Drainageleitung,
mit der das Grundwasser im unmittelbaren Bauwerksbereich abgesenkt wird. Das an-
fallende Grundwasser wird in der Streckenentwässerung der Eisenbahntrasse abge-
führt. Damit kann die Bemessung der Stützwand » nur « für Erddruck ohne drückendes
Grundwasser durchgeführt werden und die Kosten verringern sich. Zur Kontrolle des
Grundwasserstands am Bauwerk müssen Dauermesspegel vorgehalten und beobachtet
werden.
Für die Betriebs- oder Lebensdauer einer Verkehrsanlage werden üblicherweise
80 bis 100 Jahre angegeben. Das bedeutet, dass auch alle Planunterlagen entsprechend
lange zur Verfügung gestellt und ggf. nach Umbaumaßnahmen aktualisiert werden
müssen. Für den sicheren Betrieb der Konstruktion ist entsprechend geschultes Fach-
personal erforderlich. Diese Anforderung ist angesichts der technischen und gesell-
schaftlichen Entwicklungen eine Herausforderung, die keinesfalls trivial zu erfüllen ist.
Ein Blick in die Vergangenheit belegt dieses eindeutig: Vor nur 50 Jahren konnten sich
unsere Vorfahren nicht vorstellen, wie die Archivierung von Bestandsunterlagen heute
erfolgt.

Schlussbemerkungen

Die erläuterten Beispiele haben aufgezeigt, dass die Übernahme von Verantwortung für
Ingenieurleistungen ein komplexer Prozess ist. Welche Voraussetzungen muss ein/e In-
genieur/in also mitbringen, um diesen Anforderungen gerecht werden zu können ?
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die technische und gesellschaftliche Entwick-
lung voranschreitet. Auf einer Internetseite ist zu lesen: » Die Technik von heute kann der
Kunstfehler von morgen sein « ! 2 Damit ist die Verpflichtung zur Pflege und Weiterbil-
dung des technischen know-how’s eine Grundvoraussetzung für die Durchführung von
Ingenieurleistungen. Das individuelle Ingenieurwissen ist permanent zu aktualisieren;
dazu gehören Vorschriften, der Umgang mit EDV-Werkzeugen und die Verfolgung der
einschlägigen Literatur.

2 www.bauingenieur-Volker-Ring.de
Was bei der Planung und Herstellung einer Eisenbahntrasse relevant sein kann 213

Die Übernahme von Verantwortung hat immer auch damit zu tun, eine Baumaß-
nahme in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die Kommunikationsfähigkeit aller Betei-
ligten ist hier gefordert. Es sind die Belange unterschiedliche Fachdisziplinen zu be-
rücksichtigen. Es ist aus einem Expertenteam heraus – unter inhaltlicher Abwägung der
Prioritäten – eine Entscheidung zu treffen. Die » beste Lösung für ein Projekt « wird in
der Regel kaum alle, an sich berechtigten Einwendungen befriedigen können. Sie ist zu
erarbeiten, vorzustellen, zu verteidigen. Für sie ist zu werben und sie ist notfalls auch
gegen Widerstände durchzusetzen.
Es ist akzeptiert, dass sich der Bauherr für die Bereitstellung der Finanzierung, für
die Ausgestaltung der Verträge sowie für die Auftragsverhandlung und -erteilung ange-
messen Zeit nimmt. Andererseits wird für die Vorbereitung und Ausführung einer pla-
nerischen Arbeit hingegen oft viel zu wenig Zeit bereitgestellt. Der damit einhergehende
Zeitdruck gefährdet die erreichbare Qualität, denn erst nachdem alle Randbedingungen
abgefragt und geklärt sind, kann verlässlich geplant werden. Nach Erfahrungen Anderer,
die an vergleichbaren Objekten gemacht worden sind, ist zu recherchieren und sie sind
ggf. zu berücksichtigen. Man muss sich die erforderliche Zeit nehmen, um eine gute
Planung mit anschließender Herstellung zu realisieren. Der/die Ingenieurin benötigt
hier ein sehr stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein, um auch in den wirklich hektischen
Bearbeitungsphasen den notwendigen zeitlichen Rahmen einzufordern, ihn durchzu-
setzen und damit Fehler zu minimieren und Qualität zu optimieren.
Das verantwortungsvolle Umgehen mit einem Bauwerk endet weder mit der Fertig-
stellung der Planung noch mit seiner Herstellung. Bestandsunterlagen, in dem das Bau-
werk in seiner wirklichen Substanz abgebildet ist sind, zu erstellen. Diese Dokumente
müssen auch noch zukünftig sicher hinterlegt und lesbar sein. Sie sind Grundlage für
die Bauwerkserhaltung und für die Sicherstellung der Betriebsabläufe.
Verantwortung zu tragen ist also keine selbstverständliche Angelegenheit – aber viel-
leicht machen ja gerade die damit verbundenen Aufgaben den Reiz des Ingenieurberu-
fes aus !
Energiecontrolling:
Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik

Hanspeter Boos
Geschäftsführer Boos Klima und Kälte GmbH, Varel

Einführung

Unter Energiecontrolling versteht man die systematische Erfassung des Energiever-


brauchs mit dem Ziel, Energieverbräuche zu begrenzen oder zu reduzieren. Analog zum
finanziellen Controlling sollte damit auch eine Budgetierung des Energieverbrauchs
und ein laufender Soll-Ist-Vergleich einhergehen.
Energiecontrolling ist ein Teilbereich eines umfassenden Energiemanagements;
diese Aufgabe rückt heute für Großverbraucher mehr und mehr in den Fokus, da sie
durch Zertifizierung Ihres Unternehmens nach DIN ISO 50001 sich von den EEG-Ab-
gaben befreien lassen können.
Energiecontrolling kann aber auch dazu dienen, bei Sanierungen oder Umbauten
betriebstechnischer Anlagen (wie Heizung, Lüftung, Elektro) Einsparziele nicht nur zu
formulieren, sondern auch deren Einhaltung systematisch zu überwachen.

Ein frühes Beispiel: Wellenbad Baltrum 1986

Nach einer Sanierung der lüftungstechnischen Anlagen stellte der Betreiber des Wellen-
bades Baltrum einen starken Anstieg der Stromkosten fest. Unsere Firma wurde dar-
aufhin mit der Durchführung einer Ist-Analyse (08/86) beauftragt. Dazu haben wir mit
einem vorübergehend installierten digitalen Regelsystem zwei Wochen lang Betriebsab-
läufen protokolliert, Temperatur- und Feuchtewerte aufgezeichnet sowie den Stromver-
brauch sowie die Schalthäufigkeit und Einschaltdauer wichtiger Elektroverbraucher mit
Hilfe eines Thermodruckers aufgezeichnet. Die Auswertung der Daten führten zur Ent-
wicklung eines Sollkonzepts, das im Februar 1987 vor Ort umgesetzt wurde. Eine nun-
mehr fest installierte DDC-Regelungsanlage (DDC=Direct Digital Control) beseitigte

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_21, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
216 Hanspeter Boos

Abbildung 1

die festgestellten Schwachstellen. Sie regelte die Lüftung, schaltete die Kessel lastabhän-
gig und begrenzte (durch zeitweise Abschaltung der Klimakompressoren in den Lüf-
tungsgeräten sowie der Wellenanlage) das vom EVU verrechnete Elektro-Maximum.
Zur Einregulierung auf optimalen den Betriebszustand wurde die Anlage (über ein
von der Post gemietetes Modem mit 300 bd) fernaufgeschaltet. Einmal täglich wurden
nun die wichtigsten Betriebsdaten übermittelt und protokolliert (Abb. 1).
Wöchentlich haben wir dann den tatsächlichen Energieverbrauch dem zuvor ermit-
telten Wert gegenübergestellt und die Anlage schrittweise optimiert (Abb. 2).
In den folgenden Jahren konnte der Energieverbrauch des Schwimmbades um 23 %
gesenkt werden. Ich führe dieses Beispiel auf, um zu zeigen, dass ein systematisches
Energiecontrolling auch schon mit den technischen Mitteln der 80er Jahre möglich war.

Von der Drittfinanzierung zum Einsparcontracting

1988 empfahl die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ihren Mitgliedslän-


dern die » Beschleunigung von Einzelinvestitionen für eine rationellere Energienutzung
durch Drittfinanzierung «, um die damals beabsichtigte CO2-Reduzierung von 20 % bis
1995 zu erreichen. Der Firmenverbund OMNIUM TECHNIC erstellte für seine Mit-
gliedsfirmen den Mustervertrag » Betriebsoptimierung «. Auf dieser Basis haben wir
damals mit dem Berufsförderungszentrum der Handwerkskammer in Bremen und
der Firma Joh. Osmers, Bremen, das erste Projekt dieser Art gestartet. Für 90 000 DM
wurde eine DDC-Regelung eingebaut, deren Kosten sich 1993 bereits durch die erzielten
Einsparungen amortisiert haben.
Energiecontrolling: Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik 217

Abbildung 2

Bis dahin hatte unsere Firma – in ihrer Rolle als Anlagenbauer – lediglich betriebstech-
nische Anlagen nach detaillierten Vorgaben von Planungsbüros errichtet. In den auch
heute noch üblichen Ausschreibungsverfahren nach VOB war zwar der Auftrag an das
wirtschaftlichste Angebot zu vergeben, das wurde aber häufig mit dem billigsten Ange-
bot gleichgesetzt. Alternativvorschläge, die zwar von der Investition her teurer waren,
dafür aber zu geringeren Folgekosten führten, hatten keine Chance. Mit dem Drittfi-
nanzierungsmodell hatten wir die Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen. Wir übernah-
men erstmals die Verantwortung nicht nur für die einwandfreie Funktion, sondern auch
für die wirtschaftliche Betriebsweise der Anlage. Dafür setzten wir eigenes Kapital ein,
das wir nur zurückerhielten, wenn die im Angebot gemachten Vorhersagen hinsichtlich
der Energieeinsparung auch eintraten.
Beim St. Johannes-Stift in Varel wir im Jahr 1990 einen Betrag von 230 000 DM in die
marode Heizzentrale investiert. Ein neuer Brennwertkessel mit einer Leistung von 1 MW
und eine frei programmierbare DDC-Regelung wurden installiert. Die überdimensio-
nierten Zubringerpumpen für die einzelnen Gebäudeteile wurden auf eine reduzierte
Drehzahl umgestellt – heute erreicht man das über die in der Pumpe integrierte Rege-
lung. Der Gaszähler wurde automatisch abgelesen, der Verbrauch monatlich über ein
Kalkulationsblatt mit den gemessenen Außentemperaturen verglichen. Der witterungs-
bereinigte Verbrauch konnte während der Vertragslaufzeit um 23 % gesenkt werden.
Ein Folgeprojekt beim St. Willehad-Hospital in Wilhelmshaven (mit einer Investi-
tionssumme von 350 000 DM) verlief ähnlich erfolgreich. Die beiden Krankenhäuser
218 Hanspeter Boos

Abbildung 3

konnten auf diesem Wege ihre veralteten Anlagen sanieren, gleichzeitig wurde kostbare
Primärenergie eingespart und die Umwelt geschont.
Leider wurden die Empfehlungen der EG-Kommission nicht zügig von den Mit-
gliedsländern umgesetzt. In Deutschland haben einige Bundesländer diese Gedanken
aufgegriffen und z. B. Leitfäden für Einsparcontracting-Projekte herausgegeben. In vol-
ler Breite kam dieses nützliche Instrument jedenfalls nicht zum Einsatz.

Energiecontrolling heute

Ein konsequentes Energiecontrolling ist auch heute noch für viele Großverbraucher
– seien es Kommunen, Behörden oder Wirtschaftsunternehmen – ein Fremdwort. Es
wird häufig noch manuell durchgeführt. Der Hausmeister liest den Verbrauch monat-
lich am Zähler ab und übermittelt ihn an die Verwaltung, die ihn in eine Datenbank
einträgt. Einfache Ablesefehler werden nicht erkannt und beeinflussen die Auswertung.
Der Abgleich mit der Außentemperatur des Verbrauchszeitraums erfolgt später, ein Jah-
resbericht muss von Hand erstellt werden und liegt erst im April vor und dann weiß
man, wieviel kWh man wieder mehr verbraucht hat als im Vorjahr.
Verbrauchsspitzen werden so zu spät erkannt; ihre Ursachen können im Nachhinein
nicht mehr gefunden werden. Eine automatische Erfassung – kombiniert mit einem
Frühwarnsystem – würde es dagegen ermöglichen, sofort zu reagieren, die exakten Zei-
ten der Ausreißer zu erkennen und so die Energielecks zu stopfen.
Energiecontrolling: Erfolgskontrolle für die Anlagentechnik 219

Abbildung 4

Moderne Energiecontrolling-Systeme – wie z. B. das von ennovatis – zeichnen mit


einem kompakten Datenlogger vor Ort Temperaturen und Verbrauchswerte auf und
übermitteln mehrfach am Tag an einen zentralen Server, der die Daten nicht nur ab-
speichert, sondern sie auch gleich auswertet und die Verbrauchsdiagramme im Intra-
net oder im Internet visualisiert. So haben wir die Verbrauchsdaten unseres Betriebsge-
bäudes seit 2005 täglich aktualisiert im Internet veröffentlicht, unter der Adresse http://
www.boos-varel.de/energie/web/index.htm. Dort können Sie z. B. die Laufzeiten unse-
res Blockheizkraftwerkes (BHKW) erfahren oder die täglichen Erträge unserer Photo-
voltaik-Anlage ablesen. Über diese beiden Anlagen – ein Mini-Blockheizkraftwerk mit
konstanten 5,5 kW elektrischer Leistung und eine Photovoltaik-Anlage mit einer Spit-
zenleistung von 32,2 kWp – decken wir übrigens 94 % des jährlichen Strombedarfs in
unserem Firmengebäude ab.
Beim Stichwort » Energiewende « denkt man zunächst an den Ausbau der regenerati-
ven Energien. Genauso wichtig ist aber auch der verantwortungsbewusste Umfang mit
den immer knapper werdenden Ressourcen. Steigende Energiepreise sind eine notwen-
dige Folge der bisherigen Verschwendung. Sie machen Investitionen in eine bessere Ef-
fizienz oder Kontrolle wirtschaftlich und sollten als Chance gesehen werden, kostbare
Primärenergie sparsamer einzusetzen.
Denn über die regenerativen Energien lassen sich nur maximal 50 % unseres der-
zeitigen Energiebedarfs decken. Die restlichen 50 % müssen eingespart werden – durch
effizientere Technik und durch die Beeinflussung des Verbrauchsverhaltens. Dazu ist
Energiecontrolling ein wirksames Werkzeug !
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens
Messtechnische Aspekte beim Prüfen geometrischer
Toleranzen in der Fertigungsmesstechnik

Hero Weber
Institut für Mess- und Auswertetechnik, Jade Hochschule/Oldenburg

1 Einleitung

Die Fertigungsmesstechnik beschäftigt im Maschinenbau insbesondere mit dem Ver-


messen von Werkstücken wie beispielsweise Kolben, Nockenwellen, Einspritzdüsen
oder auch Aggregaten in Schiffsmaschinenräumen und Rumpfsektionen im Flugzeug-
bau. Drei wichtige Ziele verfolgt die Fertigungsmesstechnik dabei:

a) Fertigungsprozesse mit besonders hohen Stückzahlen an Werkstücken sollen so


überwacht werden, dass nach Möglichkeit keine Ausschussteile produziert werden.
Hierzu werden stichprobenartig Produktionsteile gemessen und Ergebnisse auf sta-
tistisch signifikante Trends untersucht, um in den Fertigungsprozess ggf. regelnd
eingreifen zu können (Prozessüberwachung).
b) Vor dem Start einer Fertigung kann es für Werkstücke, die nicht aus Regelgeometri-
en bestehen, sondern womöglich manuell modelliert wurden, erforderlich sein, de-
ren Oberflächenverlauf zu erfassen. Diese Messergebnisse werden in einem CAD-
System so aufbereitet, dass eine Datei mit Steuerdaten die CNC-Maschinen für den
Herstellprozess steuern kann (Informationsgewinnung).
c) Eigenschaften von Werkstücken wie z. B. Durchmesser, Abstände, Winkel oder auch
deren Härte werden in Konstruktionszeichnungen eingetragen und mit zulässigen
Toleranzen versehen. Die Toleranzhaltigkeit von Werkstücken zu prüfen, ist die zen-
trale Aufgabe der Fertigungsmesstechnik und soll im Folgenden näher betrachtet
werden (Funktionsprüfung).

Dieser Beitrag will nun zeigen, mit welch hohem Aufwand speziell beim Prüfen geome-
trischer Größen Ingenieurinnen und Ingenieure in der Lage sind, für einen unter Um-
ständen sehr weitreichenden Prüfentscheid Verantwortung zu übernehmen.

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_22, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
222 Hero Weber

2 Von der Konstruktion zur Prüfung

2.1 Konstruktion und Tolerierung

Die Gestalt eines Werkstücks wird in einer Konstruktionszeichnung in den meisten Fäl-
len durch Maße und Positionen von Regelgeometrien festgelegt (wie beispielsweise Ebe-
nen, Zylinder oder Kegel); wir sprechen hier von sogenannten Nennmaßen. In dem sich
anschließenden Fertigungsprozess ist unvermeidbar, dass das produzierte reale Werk-
stück von der vorgegebenen idealen Darstellung der Konstruktionszeichnung abweicht.
Für diese Abweichungen zulässige Grenzwerte (Toleranzen) so festzulegen, dass der vor-
gesehen Einsatz des Werkstücks dennoch sichergestellt ist (Werkstückfunktion), ist eine
in hohem Maße verantwortungsvolle Aufgabe der Konstruktion. Beispiel: Festlegung
einer zulässigen Rundheitsabweichung an den Lagerstellen einer Nockenwelle derart, dass
die Aufgabe » 150 000 km Laufleistung « sichergestellt ist. Diese Aufgabe der Konstruktion
mag im ersten Moment einfach erscheinen, ist jedoch im Wettstreit insbesondere der
Anforderungen » Funktion des Werkstücks « und » Kosten des Fertigungsprozesses « zu
sehen. Nur mit großer Erfahrung ist es möglich, Toleranzen nur so klein wie nötig vor-
zugeben. Gerne hört man » Leichthin vom Tausendstel redet der normende Jüngling, bis
er das Hunderstel schafft, ist er ein würdiger Greis. « Nennmaß und Toleranz bilden in ih-
rer Gesamtheit eine Spezifikation für die geometrischen Eigenschaften eines Werkstücks.

2.2 Prüfung

Beim Prüfen wird nun festgestellt, ob die tatsächlichen Maße, Abstände usw. eines ge-
fertigten Werkstücks nur innerhalb der vorgegebenen Toleranzen von den Nennma-
ßen abweichen. Am Ende des Prüfvorgangs steht also die verantwortungsvolle und ggf.
weitreichende Konsequenzen nach sich ziehende Entscheidung, ob das Werkstück ver-
wendet werden kann oder ob es als Ausschuss deklariert werden muss (Abb. 1).
Beim sogenannten subjektiven Prüfen verlassen wir uns auf unsere fünf Sinne. Bei-
spielsweise wird im Automobilbau auf diese Weise geprüft, wie sich die Innenausklei-
dung des Fahrzeuges anfühlt, mit welchem Klang die Fahrzeugtür zuschlägt oder wie
gleichmäßig die Metallic-Lackierung aussieht.
Wenn wir es mit einer hohen Anzahl an Prüfungen zu tun haben (Beispiel: Ein Werk
produziert mehrere Millionen Nockenwellen pro Jahr), ist eine Automatisierung des Prüf-
prozesses fast immer zwingend erforderlich. Wir fällen dann den Prüfentscheid » objek-
tiv « meistens auf Grundlage eines Messergebnisses.
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens 223

Abbildung 1 Zur Systematik des Prüfens

2.3 Messungen in der Fertigungsmesstechnik

Wir wollen uns auf das weit verbreitete Prüfen geometrischer Größen beschränken. Zu
diesem Zweck verwendet die Fertigungsmesstechnik besondere Geräte, die die Werk-
stückoberfläche punktweise in 2D- oder 3D-Koordinaten erfassen können (z. B. Koor-
dinaten-, Form-, Kontur- oder Rauheitsmessgeräte, Abb. 2). Moderne Messgeräte tasten
heute die Werkstückoberfläche in hoher Dichte mit Messpunkten ab; Punktabstände
kleiner 1 μm (also 0,001 mm) sind Stand der Technik. Die Messung der Punktkoordina-
ten kann dabei mit einer Auflösung von 1 nm (also 0,001 μm) und kleiner erfolgen. Eine
solch » nahezu vollständige « Erfassung der tatsächlichen Oberfläche, durch die auch
Gestaltabweichungen mit lokal kleiner Ausprägung detektiert werden können, bildet
die wesentliche Grundlage für den Prüfentscheid.

Abbildung 2 Messsituation eines


typischen Formmessgerätes. Die
Abtastung durch das Tastelement
erfolgt während der Rotation des
Werkstücks und der translatorischen
Bewegung entlang der Werkstück-
mantelfläche
224 Hero Weber

2.4 Messabweichungen und Bedeutung der Messunsicherheit

Die Entscheidung, ob ein Werkstück die vorgegebene Spezifikation erfüllt oder nicht er-
füllt, ist nun nicht so einfach, wie man denken könnte. Beispiel: Der Durchmesser einer
Bohrung ist mit einem Nennmaß von 100 mm und einer Toleranz von ±0, 1 mm spezifi-
ziert, so dass der tatsächliche Durchmesser zwischen 99,9 und 100,1 mm liegen darf. Ge-
messen wurde ein Wert von 100,085… mm. Durch direkten Vergleich von Nenn- und Ist-
Maß könnte man entscheiden, dass die Bohrung die Spezifikation erfüllt.
Allen Messungen ist nun immanent, dass sie immer mit Messabweichungen behaf-
tet sind. Diese Messabweichungen machen den ermittelten Wert unsicher, d. h. wir wis-
sen nicht, auf wie viele Dezimalstellen unser ermittelter Wert (hier Durchmesser) über-
haupt » genau « ist. Liegen die Messwerte an den Grenzen der Spezifikation, so kann ein
Werkstück als Ausschuss deklariert werden, obwohl es die Spezifikation erfüllt, und um-
gekehrt.
Jede Messgröße (z. B. Durchmesser) besitzt einen so genannten wahren Wert, der
sich messtechnisch – » leider « – niemals realisieren lässt. Abweichungen zwischen die-
sem wahren Wert und dem gemessenen Wert heißen Messabweichungen, die wir nach
ihrer Wirkungsweise in systematische und zufällige unterteilen. Systematische Mess-
abweichungen treten bei wiederholter Durchführung der Messung jedes Mal mit dem-
selben Betrag und demselben Vorzeichen auf. Durch Vergleichsmessungen zu Mess-
geräten mit übergeordneter Genauigkeit können diese festgestellt werden, so dass der
ermittelte Messwert korrigiert werden kann, ja sogar korrigiert werden muss.
Zufällige Messabweichungen, die mit unterschiedlichen Vorzeichen und Beträgen
auftreten, sind nicht korrigierbar, können aber in ihrer Ausdehnung statistisch abge-
sichert geschätzt werden. Diese und die verbleibenden unbekannten systematischen
Messabweichungen ergeben zusammen die Messunsicherheit, die zu jedem ermittelten
Messwert angegeben werden muss (Abb. 3).

Abbildung 3 Zur Wirkungsweise von Messabweichungen und


ihrer Bedeutung für die Messunsicherheit
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens 225

Abbildung 4 Zur Bedeutung der Messunsicherheit beim Prüfentscheid

Ein Prüfentscheid im Randbereich der Spezifikation ist also immer dann nicht mög-
lich, wenn der Messwert in die durch die Messunsicherheit aufgeweitete Spezifikations-
grenze fällt (Abb. 4). Beispiel: Beträgt im vormals genannten Beispiel die Messunsicher-
heit 0,03 mm, so können wir bei Messwerten, die in den Bereichen 99.87 … 99.93 mm und
100.07 … 100.13 mm liegen, keinen Prüfentscheid fällen.

3 Maßnahmen zum verantwortungsvollen Prüfentscheid

Für ein Messverfahren, das nun zu einer verantwortungsvollen Toleranzprüfung her-


angezogen werden soll, ist also das Verhältnis zwischen Toleranz und Messunsicher-
heit von entscheidender Bedeutung (Messgerätefähigkeit). Um insbesondere bei Serien-
fertigungen hoher Stückzahl die Fälle, in denen kein Prüfentscheid getroffen werden
kann, möglichst zu vermeiden, entscheidet die Prüfplanung sich häufig für ein Ver-
hältnis 30 Toleranz < 10
1 Messunsicherheit 1 . Beispiel: Bei einer Durchmessertoleranz von ± 0,001 mm
<
muss ein Messgerät gewählt werden, dass diese Messung mit einer Messunsicherheit von
0,000 1 bzw. 0,000 03 mm durchführt.
Diese hohen Anforderungen an den Messprozess können nur erreicht werden, wenn
systematische Messabweichungen soweit irgend möglich korrigiert und die Streuung
der zufälligen Messabweichungen so klein als möglich gehalten werden. Die Korrek-
tur von Messabweichungen findet heute häufig bereits in Echtzeit direkt in den Mess-
geräten statt (z. B. Korrektur von Kippbewegungen oder Temperatureinflüssen). Aber
auch durch geschickte Messstrategien können systematische Messabweichungen aus-
geschaltet werden. Beispiel (Abb. 5): Auf einer Formmessmaschine wurde der Zylinder-
mantel einer geschliffenen Welle entlang von Kreisschnitten punktweise erfasst. Die daraus
226 Hero Weber

Abbildung 5 Korrektur systematischer Geradheits-


abweichung zur Prüfung der Zylinderformabweichung
einer geschliffenen Welle
Von der schwierigen Aufgabe des Prüfens 227

Abbildung 6 Beispiel für 100 Wiederholungsmessungen an einem Kugelnormal mit einem Form-
messgerät. Die zufälligen Messabweichungen besitzen eine Standardabweichung von 0,002 μm =
2 nm; der systematische Anteil beträgt weniger als 0,036 μm.

ermittelte Formabweichung ist überlagert von der systematisch wirkenden Geradheitsab-


weichung der Messmaschine; durch eine geschickte Messstrategie kann diese systematische
Messabweichung ermittelt und als Korrektur angebracht werden. Ergebnis ist eine Zylin-
derformabweichung, wie diese für geschliffene Wellen typisch ist.
Zufällige Messabweichungen können z. B. durch angepasste Messgeschwindigkei-
ten oder schwingungsfreies Aufstellen reduziert werden. Um den Ablauf der Messung
weitgehend vom Bedienereinfluss zu entkoppeln, werden die häufig recht komplexen
Messabläufe an den Messmaschinen in einer Skript-Sprache programmiert, so dass sie
dann automatisiert und ggf. gekoppelt mit automatisierter Werkstückzuführung arbei-
ten (Automatisierung).
In recht ausgereiften Abnahmeprozeduren, die teilweise mehrmals täglich die Mess-
geräte in den Firmen durchlaufen müssen, wird sowohl der Anschluss an die Einheit
Meter als auch die Fähigkeit des Messgerätes nachgewiesen. Häufig werden hierzu an
einem zertifizierten Normal Wiederholungsmessungen durchgeführt.
228 Hero Weber

4 Zusammenfassung

Die Festlegung von Toleranzen in der Konstruktionszeichnung eines Werkstücks ist


eine Aufgabe mit hoher Verantwortung: Zu kleine (Angst-)Toleranzen treiben die Pro-
duktionskosten in die Höhe, zu große Toleranzen gefährden die dem Werkstück zuge-
dachte Funktion.
Das Prüfergebnis der Spezifikation am gefertigten Werkstück kann weitreichende
Konsequenzen haben: Funktionssicherheit des Werkstücks, Vermeidung von Rück-
rufaktionen, Stabilität des Arbeitsprozesses, Sicherheit von Arbeitsplätzen im Produk-
tionsbetrieb. Ein konkretes Beispiel: Eine Firma stellt im 3-Schicht-Betrieb 4 000 000 No-
ckenwellen pro Jahr her. Stichprobenartig werden die Spezifikationen geprüft. Sollte eine
Spezifikation aufgrund zu großer oder nicht korrigierter Messabweichungen » fälschlicher
Weise « als nicht erfüllt entschieden werden, so kann dies zu einem nicht erforderlichen
Fertigungsstopp führen: Angehörige einer Arbeitsschicht würden so lange nach Hause ge-
schickt, bis die Ursache gefunden ist.
Um dieser hohen Verantwortung gerecht zu werden, wird mit hohem Aufwand an
den Messmaschinen eine Messunsicherheit erreicht, die verglichen zur vorgegebenen
Toleranz ausreichend klein ist. Dieser Aufwand steht natürlich häufig im Widerstreit mit
wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

Literatur
Wolfgang Dutschke, Claus P. Keferstein: Fertigungsmesstechnik. 2005. Vieweg+Teubner Verlag.
Edgar Dietrich, Alfred Schulze, Stephan Conrad: Eignungsnachweis von Messsystemen. 2008.
Hanser Fachbuch.
Guide to the expression of uncertainty in measurement (GUM). Joint Committee for Guides in
Metrology 2008.
Schlusswort

Hans-Ullrich Kammeyer

Die fachlichen Beiträge der Ingenieurinnen und Ingenieure, die sich an den Veranstal-
tungen des Symposium zur Ingenieurverantwortung beteiligten, zeigten deutlich, dass
die Bandbreite von Fragestellungen und Problemen im Zusammenhang mit einer ver-
antwortungsvollen Ausübung des Ingenieurberufs einer intensiven ganzheitlichen Dis-
kussion bedarf.
Technik bestimmt unser Leben und hat Auswirkungen auf alle elementaren Lebens-
bereiche. Sie ist zunehmend relevanter für den Einzelnen und bestimmender für die Ge-
sellschaft. Mit spürbar deutlichen Auswirkungen auch auf die Strukturen menschlichen
Zusammenlebens wird die Dominanz von Technik vor allem in den Kommunikations-
und Nachrichtenbereichen erkennbar. Die Technik erweitert das Wirkungsfeld des Ein-
zelnen, stellt ihn immer mehr in den Mittelpunkt und verändert soziale Verflechtungen.
Mit dem Einfluss auf den Einzelnen sowie ihrer zunehmenden Relevanz für die Ge-
sellschaft wird die Wahrnehmung der Ambivalenz von Technik differenzierter und kri-
tischer. Der Einsatz von Technik mit ihren womöglich unerwünschten Auswirkungen,
Gefahren und Risiken für Mensch und Umwelt wirkt gesamtgesellschaftlich und be-
einflusst Sicherheit und Ordnung des Gemeinwesens. Ingenieurinnen und Ingenieure
entwickeln sich immer mehr zu Sachwaltern für die Umwelt in der technisierten Welt.
Diese Schlussfolgerungen lassen sich auch aus den Beiträgen der Philosophen und
Theologen ziehen, die sich dieses Themas aus Sicht der Gesellschaft und der wandeln-
den gesellschaftlich tätigen Akteure widmen.
Technische Entwicklungen haben in allen Jahrhunderten wichtige Resultate mit Ein-
wirkungen auf die Menschheit und den Kosmos hervorgebracht und das Leben des
Einzelnen wie sein Zusammenleben mit Anderen stetig verändert. Der Einfluss von
Technik hat sich im 20. und 21. Jahrhundert in einer nicht vorhersehbaren Weise mul-
tipliziert. Technische Innovationen prägen die heutige Gesellschaft so stark wie nie zu-
vor. Der Mensch setzt heute nicht nur Technik täglich ein, er ist auch immer mehr der

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1_23, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
230 Hans-Ullrich Kammeyer

Technik ausgesetzt. In der Berufstätigkeit werden Aufgaben beschleunigter erledigt, wo-


bei die Aufgabenfülle steigt. So müssen aus objektiver Hinsicht die jeweils komplexer
werdenden Wechselwirkungen, auch vereinzelt, nicht mehr nur von Menschen sondern
auch von weiteren Systemen kontrolliert werden.
Zu den Handlungsoptionen von Ingenieurinnen und Ingenieure gehört es, die Si-
cherheit von Anlagen, Geräten oder Systemen unter dem Gebot der Nachhaltigkeit an-
zustreben. Vor dem Hintergrund der Komplexität von Zukunftsaufgaben verstärken die
technischen Herausforderungen die Anforderungen an den Ingenieurberuf hinsichtlich
fachlicher Kompetenz und Beurteilungsfähigkeit. Gesellschaftlich kommt dem Berufs-
stand der Ingenieurinnen und Ingenieure dabei eine besonders verantwortliche Position
zu. Herausforderungen für diese und nachfolgende Generationen müssen das Gleichge-
wicht von Natur, Umwelt, Kosmos und Mensch berücksichtigen. Auch das Sicherheits-
bedürfnis der Menschen in Bezug auf Technik, die Bewertung und Abschätzung von
Gefahren und Risiken, ist als wichtige Bedingung der Ingenieurverantwortung in den
Handlungsrahmen mit einzubeziehen.
Die Gesellschaft setzt besonderes Vertrauen in das Wirken von Experten. Weil tech-
nische Entwicklungen komplexer werden, werden auch ihre Auswirkungen immer un-
durchschaubarer für Laien in Politik, Wirtschaft und Verwaltung sowie für den Bürger.
Diese Informations- und Wissensasymmetrie zwischen Experten und Laien nimmt zu
und macht die Divergenz des Systems deutlich. Technikanwendung setzt voraus, dass
in die jeweilige Kompetenz des Experten vertraut werden kann. Das Technikvertrauen
ist daran gekoppelt, wer als Experte gilt und welchen Handlungsrahmen wir diesen Ex-
pertinnen und Experten in der Ausübung ihrer verantwortungsvollen Tätigkeiten zu-
messen. Die Transparenz von Qualität und Qualifikation ist notwendig, um Vertrauen
der Gesellschaft nicht nur in technische Systeme, sondern in die technisch Handelnden
sicherzustellen. Die Gesellschaft braucht Vertrauen in Technik und ihre Experten. Ihre
fachliche Kompetenz ist der entscheidende Faktor. Dies setzt verbindliche Vorgaben in
Bezug auf Qualität und Qualifikation sowohl in der Berufsausbildung als auch in der
Berufsausübung voraus.
Die Hochschulausbildung ist Voraussetzung für die notwendig hohe fachliche Quali-
fikation. Die Qualitätsanforderungen werden allgemein in den Hochschulausbildungen
festgelegt und von den Hochschuleinrichtungen definiert. Im Rahmen einer hochwerti-
gen Ausbildung steht die fachliche Vermittlung von Kernkompetenzen im Vordergrund
und insbesondere Grundlagenwissenschaften müssen den entscheidenden Bestandteil
bilden. Diese Kompetenzen sollten sich in einer ganzheitlichen Betrachtung von Tech-
nik zunehmend auch an berufsständischen und ethischen Anforderungen orientieren.
Ingenieurethik und Ingenieurverantwortung sind gleichermaßen zugehörig zum Wis-
sensstand von Ingenieurinnen und Ingenieuren zu machen.
Neben den unabdingbaren Qualitätsvorgaben für die Hochschulausbildung besteht
zur Sicherung von Qualität und Kompetenz insbesondere in anspruchsvollen und si-
cherheitsrelevanten Tätigkeiten Regelungsbedarf für die Ausübung des Ingenieurbe-
Schlusswort 231

rufs. Dringend erforderlich ist daher, Regelungen in Bezug auf den Ingenieurberuf zu
stärken, die über den Schutz der Berufsbezeichnung › Ingenieur ‹ hinausgehen. Diese ist
zwar geregelt, jedoch nicht die Art und Weise der Berufsausübung. Darüber hinaus be-
darf es der Sicherstellung, dass Aufgaben, die von der Gesellschaft als besonders schüt-
zenswürdig angesehen und deren Erledigung zur präventiven Gefahrenabwehr dienen,
ausschließlich von dafür qualifizierten Ingenieurinnen und Ingenieuren durchgeführt
werden. Auf diesem Wege ist die einzelne tätige Person, die die Berufsbezeichnung › In-
genieur ‹ führt, in besondere Pflicht gestellt. Komplexe technische Leistungen in vor al-
lem sicherheitsrelevanten Bereichen, die Auswirkungen auf die Belange der Allgemein-
heit wie auch auf den Bürger haben, erfordern zusätzlich zu umfangreichen technischen
Kenntnissen spezifisches Beurteilungsvermögen, welche nur Personen besitzen, die die
Berufsbezeichnung › Ingenieur ‹ führen dürfen. Einen solchen Berufsrechtsvorbehalt ge-
bietet die Notwendigkeit der präventiven Gefahrenabwehr, welche dem Staat auf Grund
seiner Fürsorgeverpflichtung gegenüber dem Bürger obliegt.
Diese berufsrechtsvorbehaltene Qualitätssicherung verbunden mit der klaren Zu-
rechnung von Verantwortung dient dem Schutz der Gesellschaft aber auch der tätigen
Ingenieurinnen und Ingenieure. Ingenieurleistungen wirken in der Regel nicht nur ge-
genüber dem Auftraggeber, sondern insbesondere auch gegenüber der Öffentlichkeit
und der Gesellschaft. Infolge des jeder Ingenieurleistung innewohnenden Gefährdungs-
potenzials, der wachsenden Abhängigkeit von Technik und der zunehmenden Automa-
tisierung technischer Steuerungssysteme besteht ein großes Schutzbedürfnis der Allge-
meinheit. Unter Berücksichtigung dieses Schutzbedürfnisses ist Vertrauen nur möglich,
wenn im Bewusstsein des Bürgers verankert ist, dass im Bereich sicherheitsrelevanter
Ingenieuraufgaben hochkompetente Personen tätig werden. Nur so kann dem Gebot
des Schutzes der Allgemeinheit sowie der vorbeugenden Gefahrenabwehr Rechnung
getragen werden. Diese qualitätssichernden Bedingungen sind in Bereichen der Ener-
gietechnik ebenso wie in der Luft- und Schifffahrttechnik oder der Straßen- und Ver-
kehrstechnik unumgänglich und in gesetzliche Vorgaben des Sicherheits- und Ord-
nungsrechts oder des entsprechenden Baurechts einzubinden.
In diesem Zusammenhang erscheint es anachronistisch, wenn Ingenieurleistungen
im Allgemeinen auch von Nichtingenieuren erbracht werden können. Dies ist umso
paradoxer, da technische Aufgabenstellungen immer komplexer und anspruchsvoller
werden und Ingenieurleistungen in aller Regel Wirkungen nicht nur gegenüber dem je-
weiligen Auftraggeber oder Arbeitgeber, sondern auch gegenüber Öffentlichkeit und
Gesellschaft entfalten. Folgerichtig existiert ein System des Berufsrechtsvorbehaltes bei
einer großen Anzahl Freier Berufe. Dies trägt einer Allgemeinwohlverpflichtung Rech-
nung und soll die Abhängigkeit von rein ökonomischen Aspekten zu verringern helfen.
Es ist unverständlich, dass dieses System bei dem Großteil der Freien Berufe, jedoch
nicht bei der hochkomplexen für die Gesellschaft prägenden Ingenieurtätigkeit gesetz-
lich geregelt ist, obwohl der Ingenieur wie kein anderer Beruf Einfluss auf bedeutende
Rechtsgüter hat. Regelungen zur Qualitätssicherung durch Aus- und Fortbildung wie
232 Hans-Ullrich Kammeyer

auch die Differenzierung von Fachbezeichnungen für Ingenieurinnen und Ingenieuren


sind daher für einen verantwortlichen Staat unabdingbar. Die vergleichbaren Freien Be-
rufe haben ein System berufsständischer Selbstverwaltung entwickelt, das den Dienst-
leister nicht nur verpflichtet, sondern ihn auch gegenüber Abhängigkeiten insbesondere
von sicherheitsrelevanten ökonomischen Zwängen durch Auftraggeber oder Arbeitge-
ber schützt.
Der Ingenieur übt einen geistig-schöpferischen Kulturberuf mit langer Tradition aus,
der heutzutage von großer Daseins- und Zukunftsbedeutung ist. Der Schutz des All-
gemeinwohls wie des Individuums, der Schutz von Natur und Umwelt ebenso wie ein
sorgsamer Umgang mit unseren Ressourcen zeigen, wie wichtig Instrumentarien sind,
Gefahrenpotentiale oder -momente wirksam zu verhindern.
Der Austausch zu Bewertungen von technischen Phänomenen über die fachlichen
Grenzen hinaus, wie im Rahmen der Symposien zur Ingenieurverantwortung möglich
geworden, schafft auch Raum für den ethischen Diskurs, der Ingenieurinnen und In-
genieuren ermöglicht, sich ihrer bei der Ausübung der beruflichen Tätigkeiten gesell-
schaftlichen Verantwortung bewusst zu sein und sich eines Berufsethos zu verpflichten.
Autorinnen und Autoren

Böhrnsen, Jens-Uwe, Dr.-Ing., promovierte 2002 an der Fakultät für Bauwesen an der TU
Braunschweig und führt seit 1998 ein Büro für Bauplanung und Tragwerksplanung, ko-
ordiniert derzeit das Graduiertenkolleg des Sonderforschungsbereiches 880 (Hochauf-
trieb künftiger Verkehrsflugzeuge) an der TU Braunschweig.

Boos, Hanspeter, Dr.-Ing., Studium des Maschinenbaus an der RWTH Aachen, 1976Pro-
motion zum Dr.-Ing. am Forschungsinstitut für Rationalisierung, seit 1980 tätig zunächst
als Projektleiter, später Geschäftsführer in einem mittelständischen Familienbetrieb in
Varel. Spezialgebiete: Energiemanagement, Energieeffizienz durch Gebäudeautomation.

Garbe, Heyno, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik, Promotion 1986 zum Dr.-Ing.
an der Universität der Bundeswehr Hamburg, 1986 bis 1992 ABB Forschungszentrum
Schweiz, Dättwil, zuletzt als Geschäftsführer der ausgegründeten Firma EMC Baden,
seit 1992 Professor an der Leibniz Universität Hannover, Leiter des Fachgebiets Elektro-
magnetische Verträglichkeit und zurzeit geschäftsführender Leiter des Institutes für
Grundlagen der Elektrotechnik und Messtechnik. Fellow der Institution of Electrical
and Electronics Engineers (IEEE), USA.

Hecker, Peter, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig mit
dem Abschluss Dipl.-Ing. 1989, von 1989 bis 2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR e. V. in den Bereichen Funknaviga-
tion, Flugführung, Luftverkehrsführung, Pilotenunterstützung, von 2000 bis 2005 Ab-
teilungsleiter Pilotenassistenz am DLR e. V., Promotion an der TU Braunschweig im
Jahre 2002, seit 2005 Professor (Lehrstuhl: Flugführung) und geschäftsführender Leiter
des Instituts für Flugführung an der TU Braunschweig. Forschung und Lehre in den Ge-

L. Hieber, Hans-Ullrich Kammeyer (Hrsg.), Verantwortung von Ingenieurinnen und Ingenieuren,


DOI 10.1007/978-3-658-05530-1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
234 Autorinnen und Autoren

bieten der Ortung und Navigation, Mensch-Maschine Systeme, Flugmechanik, Flugre-


gelung, Flugführung und Luftverkehrsführung.

Heimsch, Rainer, Dipl.-Ing., seit 1982 Inhaber des Ingenieurbüros Rainer Heimsch in
Rastede, Mitglied im Verband Beratender Ingenieure (VBI), Verein Deutscher Inge-
nieure e. V. (VDI) und in der Arbeitsgemeinschaft ökologischer Forschungsinstitute e. V.
(AGÖF). Arbeitsgebiete: technische Gebäudeausrüstung, Bauphysik, Energiekonzepte,
Kirchenheizung. Mitautor Kirchliches Bauhandbuch der EKD, Mitarbeit in nationalen
und europäischen Normenausschüssen.

Hieber, Lutz, Prof. Dr. rer. pol. habil. Diplom-Physiker, Studium der Physik an der Rhei-
nischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, anschließend Studium der Soziologie
und der Politischen Wissenschaft und Promotion, 1981 Venia Legendi für das Fachge-
biet Soziologie, 1987 Professor, lehrt am Institut für Soziologie der Leibniz Universität
Hannover. Arbeitsgebiete: Techniksoziologie, Kultursoziologie und Mediensoziologie.

Horeschi, Heike, Prof. Dr.-Ing., Studium Maschinenbau, Fachrichtung Angewandte Me-


chanik an der TU Dresden, Promotion 1998 an der TU Bergakademie Freiberg, seit
2003 Professorin an der Privaten Fachhochschule für Wirtschaft und Technik Vechta/
Diepholz/Oldenburg, Studienbereichsleiterin Studienbereich Ingenieurwesen » Dr. Jür-
gen Ulderup « Diepholz, dort tätig in Lehre, Projektbearbeitung und angewandter For-
schung in den Bereichen Technische Mechanik, FEM, Betriebsfestigkeit.

Kammeyer, Hans-Ullrich, Dipl.-Ing., Beratender Ingenieur. Präsident der Ingenieurkam-


mer Niedersachsen (Hannover) seit 2004, Präsident der Bundesingenieurkammer (Ber-
lin) seit 2012.

Krafczyk, Manfred, Prof. Dr.-Ing. Diplom-Physiker, 1995 Promotion im Fachgebiet Nu-


merische Methoden der TU Dortmund, von 1997 bis 2001 Akad. Rat am Lehrstuhl Bau-
informatik der TU München, 2001 Habilitation an der TU München, seit 2001 geschäfts-
führender Leiter und Professor für Strömungssimulation und Bauinformatik am Institut
für rechnergestützte Modellierung im Bauingenieurwesen der TU Braunschweig.

Langer, Sabine Christine, Prof. Dr.-Ing., Studium des Bauingenieurwesens, Promotion im


Bereich Angewandte Mechanik. Seit 2003 Juniorprofessorin für Wellenausbreitung und
Bauakustik an der TU Braunschweig, 2005 bis 2008 Vertretung des vakanten Lehrstuhls
für Festkörpermechanik an der TU Clausthal, dann Kommissarische Leitung des Insti-
tuts für Angewandte Mechanik der TU Braunschweig, seit 2013 Professorin für Vibro-
akustik an der TU Braunschweig.
Autorinnen und Autoren 235

Mathis, Wolfgang, Prof. Dr.-Ing. habil., Studium der Physik und Mathematik an der TU
Braunschweig, Promotion zum Dr.-Ing. 1990 bis 1996 Professor an der Bergischen Uni-
versität Wuppertal und 1996 bis 2000 an der Otto-von-Guericke-Universität Magde-
burg, seit 2000 Professor für Theoretische Elektrotechnik an der Gottfried Wilhelm
Leibniz Universität Hannover. Fellow der Institution of Electrical and Electronics Engi-
neers (IEEE), USA. Korrespondierendes Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akade-
mie der Wissenschaften, Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften
(acatech).

Meinerzhagen, Bernd, Prof. Dr.-Ing. habil., Studium an der RWTH-Aachen (Dipl.-Ing.


Elektrotechnik und Diplom-Mathematiker), Promotion zum Dr.-Ing. 1985, Habilita-
tion 1995. Seit 2003 Professor für Elektronische Bauelemente und Schaltungstechnik der
TU Braunschweig, dort verantwortlich für die Grundlagenvorlesungen » Wechselströme
und Netzwerke « und » Schaltungstechnik «.

Meins, Jürgen, Prof. Dr.-Ing., Studium der Elektrotechnik an der TU Braunschweig mit
dem Abschluss Dipl.-Ing.im Jahre 1973, Promotion am Institut für Elektrische Maschi-
nen, Antriebe und Bahnen (IMAB) der TU Braunschweig im Jahre 1981, anschließend
Beschäftigung bei Thyssen Henschel, Kassel, von 1992 bis 1994 Professor an der Fach-
hochschule München, seit 1994 Professor an der TU Braunschweig (Institut für Elektri-
sche Maschinen, Antriebe und Bahnen).

Nickl, Peter, Dr. phil. habil., Studium der Philosophie in München und in Pavia. 1991 bis
1999 Wiss. Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, 2003 – 2010 Pro-
fessurverwalter am Philosophischen Seminar der Leibniz Universität Hannover, 2010
bis 2012 Professurvertretung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Pro-
jektleiter des » Festivals der Philosophie « an der Leibniz Universität Hannover und apl.
Prof. an der Universität Regensburg.

Noske, Harald, Dipl.-Ing., studierte Maschinenbau an der Universität Hannover mit der
Fachrichtung Verfahrenstechnik und Anlagenplanung, ab 1982 bei der Stadtwerke Han-
nover AG tätig, nach verschiedenen Aufgabenbereichen seit 2005 Vorstandsmitglied
(Technischer Direktor) der Stadtwerke Hannover AG (enercity). Mitglied in zahlrei-
chen energiewirtschaftlichen Gremien, so u. a. auch Kurator des Forums für Zukunfts-
energien e. V.

Prüser, Hans-Hermann, Prof. Dr.-Ing., Studium Bauingenieurwesen an der Leibniz Uni-


versität Hannover mit Abschluss Dipl.-Ing., Promotion 1991, Berufstätigkeit von 1992
bis 1999 bei HaasConsult Hannover und von 2000 bis 2002 bei QTB Projektsteuerung
Hannover, 2002 Berufung als Professor zunächst an die Fachhochschule Hannover und
236 Autorinnen und Autoren

später Versetzung an die Jade Hochschule in Oldenburg, Forschungsschwerpunkt: Buil-


ding Information Modelling (BIM).

Schaumann, Peter, Prof. Dr.-Ing., Studium des Bauingenieurwesens und Promotion an


der Ruhr-Universität Bochum. Nach Tätigkeiten in Industrie und Consulting im Jahre
1996 Berufung zum Professor und Leiter des Instituts für Stahlbau der Leibniz Universi-
tät Hannover. Tätig als Beratender Ingenieur, Gutachter und Sachverständiger im Bau-
wesen. Seit 2009 Geschäftsführer der SKI Ingenieurgesellschaft in Hannover. Seit 2010
im Nebenamt Standortleiter Hannover des Fraunhofer Instituts für Windenergie und
Energiesystemtechnik (IWES). Vorsitzender/Mitglied in zahlreichen nationalen und in-
ternationalen Verbands- und Normungsgremien auf den Gebieten Stahlbau, Windener-
gie und baulicher Brandschutz.

Schulz-Forberg, Bernd, Dr.-Ing., Studium des Maschinenbaus an der Technischen Uni-


versität Berlin mit Abschluss Dipl.-Ing. im Jahr 1966; Promotion an der Technischen
Universität München im Jahr 1984. Sicherheitswissenschaftliche Beratung und Beiträge
zum aktuellen Diskurs und den Zukunftsfragen im Spannungsfeld von Technologie und
Gesellschaft. Leitung des FORUM Technologie & Gesellschaft im FORUM46 – Interdis-
ziplinäres Forum für Europa e. V. – und stellvertretende Leitung des VDI-Ausschusses
» Technische Sicherheit « sowie stellvertretende Leitung des Arbeitskreises » Sicherheit «
im VDI, Bezirksverein Berlin-Brandenburg.

Seume, Jörg, Prof. Dr.-Ing., Studium an der Berufsakademie in Mannheim mit Ab-
schluss Dipl.-Ing. (BA), 1984 Master of Science der University of Wisconsin in Madison
und 1988 Ph. D. University of Minnesota in Minneapolis (USA). Ab 1989 Entwicklung
solar betriebener Stirling-Motoren bei der Firma Sunpower Inc. in Athens, Ohio (USA),
1991 Wechsel zu Siemens in Mülheim/Ruhr und 1993 nach Berlin, wo er Gasturbinen
entwickelte, testete und Managementtätigkeiten auch im Qualitätsmanagement und der
Produktion ausübte. Seit 2000 Professur für Strömungsmechanik und Strömungsma-
schinen an der Leibniz Universität Hannover, seit 2010 der Dekan der Fakultät Maschi-
nenbau.

Weber, Hero, Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Ing. Vermessungswesen (TU Berlin), Promotion zum
Dr.-Ing. im Bereich der Koordinatenmesstechnik (Helmut Schmidt Universität Ham-
burg), Entwicklungsingenieur einer Firma für Form-, Rauheits- und Konturmessgeräte,
seit Wintersemester 1996/97 Professur an der Jade Hochschule in Oldenburg.

Wegner, Gerhard, Dr. theol., Apl. Prof. für Praktische Theologie an der Universität Mar-
burg und Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in
Deutschland in Hannover.
Autorinnen und Autoren 237

Zimmerli, Walther Ch., Prof. Dr. phil. habil., studierte am Yale College und an den Uni-
versitäten Göttingen und Zürich Philosophie, Germanistik und Anglistik. Seit 1978 Pro-
fessuren für Philosophie an der TU Braunschweig, an den Universitäten Bamberg und
Erlangen sowie Marburg. Ab 1999 Präsident der privaten Universität Witten/Herdecke,
der AutoUni Wolfsburg und der BTU Cottbus. Seit 2013 ist er Associate Fellow des Col-
legium Helveticum der ETH und der Universität Zürich und Stiftungsprofessor an der
HU Berlin. Zu seinen weiteren Aufgaben zählen u. a. die Tätigkeit als Vorstandsmitglied
des DAAD, sowie die Mitgliedschaft am Institute for Corporate Culture Affairs (ICCA),
der Schweizerischen Akademie für Technikwissenschaften (SATW) und an der nationa-
len Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

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