3 - O-Ring Praxis
3 - O-Ring Praxis
3 - O-Ring Praxis
de
Autoren:
Prof. Dr.-Ing. Heinz K. Müller
Dr. Bernard S. Nau
Eine besondere Herausforderung an den Ingenieur ist eine sichere Abdichtung von Maschinen und
Anlagen. Wenn es um den unerwünschten Austritt von Flüssigkeiten oder Gasen aus Maschinen,
Aggregaten und Anlagen geht, wird die häufig unterschätzte Kunst des Abdichtens zum zentralen
Thema.
www.fachwissen-dichtungstechnik.de befasst sich auf allen Ebenen mit dem Vermeiden oder mit der
kontrollierten Eindämmung von Leckage. In 24 Fachkapiteln werden die physikalischen Grundlagen
und die vielfältigen Techniken des Abdichtens in klarer Sprache und mit prägnanten Bildern be-
schrieben. fachwissen-dichtungstechnik liefert damit die notwendigen Informationen zu Gestaltung,
Auswahl, Entwicklung und Betrieb von Dichtungen und Dichtsystemen.
DICHTOMATIK GmbH
Albert-Schweitzer-Ring 1 • 22045 Hamburg
Tel:+49(0)40-66989-0 • Fax:+49(0)40-66989-101
[email protected] • www.dichtomatik.de
ISGATEC GmbH
Am Exerzierplatz1A • 68167Mannheim
Tel:+49(0)621-7176888-0 • Fax:+49(0)621-7176888-8
[email protected] • www.isgatec.com
www.fachwissen-dichtungstechnik.de ist urheberrechtlich geschützt und darf ausschließlich für den persönlichen Gebrauch kopiert und verwendet werden. Seite 1
Jede anderweitige Nutzung bedarf der schriftlichen Genehmigung durch Dr. Heinz Konrad Müller, München (weitere Infos im Impressum der Website). Stand 08.16
www.fachwissen-dichtungstechnik.de
3.1 EINLEITUNG
Der bislang schwerste Unfall in der Geschichte der Raumfahrt, die Challenger-Katastrophe
des Jahres 1986, wurde durch eine fehlerhaft konstruierte „statische“ O-Ring-Dichtstelle ver-
ursacht. Hier wurde dem Konstrukteur besonders eindringlich vor Augen geführt, wie Bautei-
le, die scheinbar relativ zueinander ruhen, sich unter Druck plötzlich so stark verlagern kön-
nen, daß eine als unproblematisch geltende Dichtung spontan versagt.
Elastomerdichtungen werden in sehr großer Stückzahl zur Abdichtung ruhender oder langsam
bewegter Maschinenteile verwendet. Am bekanntesten ist der O-Ring. In dynamischen Dicht-
systemen werden O-Ringe hauptsächlich als Nebenabdichtung verwendet. Gerade bei diesen
scheinbar einfachen und problemlosen Elementen muß der Konstrukteur eine Reihe von we-
sentlichen Konstruktionsregeln beachten. Zunächst ist es notwendig, den physikalischen Dicht-
mechanismus dieser Elemente zu kennen.
T
Vorpressung: σy = p
v
Bild 1
Beim Einbau einer
Elastomer-Dichtung
y entsteht die initiale
Vorpressung
σ =p Fluiddruck p = 0
y b
p
v
y
Bild 2
Unter der Einwirkung des
x
abzudichtenden Drucks p
vergrößert sich die Dicht-
abzudichtender Fluiddruck p = σ x pressung von pv auf pb
Der Dichtmechanismus wird nun am Beispiel eines Dichtrings mit quadratischem Querschnitt
(R-Ring) erläutert, Bild 1. Der Dichtringquerschnitt wird beim Einbau von seiner ursprüngli-
chen Höhe d um das Maß ∆d auf die Höhe T zusammengepreßt. Die Kontaktflächen berühren
sich danach mit der Pressung pv („Vorpressung“).
Wirkt im Betrieb auf den Dichtring zusätzlich der Fluiddruck p, wächst die Dichtpressung auf
den Wert pb an, Bild 2. Wenn nun durch äußere Einflüsse - die später beispielhaft erläutert
werden - sich die Gegendichtfläche auch nur kurzzeitig vom Dichtring weg bewegt, dann
dringt das abzudichtende Fluid in den Dichtspalt ein. Der Fluiddruck p könnte jetzt im Prinzip
den Dichtspalt offen halten, wäre die dagegen wirkende Dichtpressung nicht größer als p.
Eine sichere Dichtwirkung setzt also voraus, daß die Dichtpressung pb bei jedem beliebigen
Fluiddruck p automatisch immer größer ist als dieser Fluiddruck p.
Im Folgenden wird gezeigt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit diese automati-
sche Dichtwirkung zustande kommt. Dazu wird der Zusammenhang zwischen pb und p mit
Hilfe der Gleichungen des dreiachsigen Spannungs-Dehnungszustands berechnet. Da beim
vorliegenden Problem nur Druckspannungen σ und Stauchungen ε vorkommen, werden diese
y
Bild 3
z Elastomer-Dichtring
x (Abwicklung)
Zunächst wird der Einbauzustand ohne Fluiddruck betrachtet: σx = p = 0 (vgl.Bild 1). Das
Vorpreßmaß ∆d = d -T bewirkt die relative Stauchung εy = εo = ∆d/d
Aus (2) und (3) folgt:
E ⋅ ε o = pv - ν⋅ σz
0 = σz - ν⋅ pv
Damit ergibt sich
E ⋅ ε o = pv ⋅ ( 1 - ν 2 ) oder
pv = E⋅ εo
(4)
1 - ν2
Betrachtet man den Zustand bei Einwirkung des abzudichtenden Drucks p (Bild 2), so folgt
mit (2) und (3):
E ⋅ ε o = p b - ν⋅ ( σz + p ) (5)
0 = σz - ν⋅ ( p + p b )
σz = ν⋅ ( p + p b ) (6)
Aus (4, 5, 6) folgt:
p v ⋅ ( 1 - ν 2 ) = p b - ν⋅ [ ν⋅( p + p b ) + p ]
= p b ⋅ ( 1 - ν 2 ) - ν⋅ ( 1 + ν ) ⋅ p
Damit ergibt sich der gesuchte Zusammenhang:
ν⋅ (1+ ν )
pb = pv + ⋅ p = pv + ν ⋅ p (7)
1-ν 2 1-ν
Elastomere sind nahezu inkompressibel, das heißt, ihre Querdehnungszahl ist ν ≈ 0,5.
Mit Gl. (7) ergibt sich somit die einfache Beziehung
Die Pressung pb der Dichtung an ihren Kontaktflächen ist somit immer um den Betrag der
Vorpressung pv größer als der Fluiddruck p, das heißt, die Dichtwirkung paßt sich „automa-
tisch“ dem abzudichtenden Druck an.
p > p
max
O-Ring
Bild 4
Verlauf der Dichtpressung
eines O-Rings unter Einwirkung
des abzudichtenden Drucks p
Bei hohem Druck kann ein anderes Problem entstehen, wenn das Elastomer Gaseinschlüsse
aufweist. Diese sind leichter zusammendrückbar als „massiver“ Gummi. Schaumgummi ent-
faltet keine automatische Dichtwirkung. Bei hohem Druck ist es besonders wichtig, fehlerfrei
vulkanisierte Elastomere ohne Lufteinschlüsse zu verwenden. Auch eine betriebsbedingte Bla-
senbildung im Elastomer infolge „explosiver Dekompression“ kann zum Verlust der automa-
tischen Dichtwirkung führen. Sie entsteht, wenn bei Gasabdichtung unter hohem Druck Gas
in das Elastomer eindiffundiert. Bei plötzlicher Absenkung des Drucks expandiert das einge-
drungene Gas, überall bilden sich kleine Blasen, die Elastomerdichtung wird von innen her
aufgebläht und die Oberfläche platzt an vielen Stellen.
Das richtige Elastomer verwenden: In Kapitel 2 sind die wichtigsten Eigenschaften han-
delsüblicher Elastomere ausführlich behandelt. O-Ringe gibt es ab Lager in den Standard-
Elastomeren (NBR, EPDM, FKM, VMQ) für praktisch alle Abdichtdurchmesser D in ver-
schiedenen Schnurdicken d. Damit können bei sehr kleinem Dichtraumbedarf Fluide aller Art
Ausreichend vorpressen: Der O-Ring wird in eine Nut eingelegt und beim Zusammenbau
der abzudichtenden Maschinenteile axial oder radial in der Regel um 10% bis 20% der Schnur-
dicke d zusammengepreßt.
Anpassen durch Dehnen oder Stauchen: Die ab Lager verfügbaren O-Ringe sind im Durch-
messer D eng gestuft. Findet man für einen besonderen Anwendungsfall keinen passenden
Ring, weil beispielsweise auf einer Zylinderfläche Ø 37,7 mm abgedichtet werden soll, so
können O- Ringe ohne weiteres bis 6% gedehnt oder bis 3% gestaucht werden. Dabei verän-
dert sich allerdings der Schnurdurchmesser. Die entsprechende Änderung der Schnurdicke d
kann jedoch unter Berücksichtigung des gleichbleibenden Ringvolumens eingerechnet und
die Nuttiefe gegebenenfalls korrigiert werden.
Möglichst dicke O-Ringe verwenden: Wegen der Maßtoleranzen der Schnurdicke d und der
Nuttiefe T und wegen der Vorspannungsänderung durch Relaxation des Elastomers sind die
größeren Schnurdicken zu bevorzugen.
Deckeldichtungen vorzugsweise mit stirnseitigem O-Ring: Der O-Ring wird als Stirnflä-
chendichtung und als Umfangsdichtung eingesetzt, Bild 5. Bei radial vorgepreßten Deckelab-
dichtungen (Bild 5, oben) muß zur Demontage die (eventuell hohe) Haftreibung des O-Rings
überwunden werden (Gewinde für Abdrückschrauben vorsehen!). Zur Abschätzung der maxi-
malen Haftreibkraft FH von O-Ringen mit der Härte 70 Sh A gilt als Faustformel FH ≈ 1,5·D·d
Die Kraft F ergibt sich in Newton, wenn der Haftdurchmesser D in mm und der Schnurdurch-
messer des O-Rings in mm eingesetzt werden. Bei härteren O-Ringen ist die Haftkraft noch
wesentlich größer! Diese Demontageschwierigkeit kann durch stirnseitige Anordnung eines
axial vorgepreßten O-Rings vermieden werden (Bild 5, unten).
Extrusion vermeiden: Bei hohem schwellendem Druck ist darauf zu achten, daß der O-Ring
nicht in den niederdruckseitigen Gehäusespalt extrudiert und dabei abgeschält oder „ange-
knabbert“ wird, Bild 6. Entweder gelingt es, den Gehäusespalt durch konstruktive Maßnah-
men klein zu halten oder es müssen härtere O-Ringe oder vorzugsweise Stützringe (Back-
Ringe) verwendet werden. Standard O-Ringe mit einer Härte von 70 Sh A lassen bis 8 MPa
O-Ring
radial vorgepreßt
Haftreibkraft Fh
bei
Stützring verschließt
Demontage Einschnitt durch Querdehnung
infolge den Gehäusespalt
wiederholter
O-Ring Extrusion
axial
vorgepreßt:
keine Zwei Stützringe für
Haftreibung wechselnde Druck-
richtung oder um
Montagefehler
auszuschließen
Bild 6
Bild 5 Extrusion und Abhilfe durch
Anordungen des O-Rings als Stützringe
Deckeldichtung
einen Spalt von etwa 0,2 mm zu, bis 15 MPa etwa noch 0,1 mm. Stützringe aus PTFE oder
anderen Kunststoffen stehen ab Lager zur Verfügung.
Einfahrschräge
15°... 20°
Bohrung
zurückgesetzt
Bild 7
Radial gepreßte O-Ringe erfordern bei der Montage
eine "Einfahrschräge"
Bild 8
Verdrillen
Rutschverschleiß vermeiden: Der O-Ring füllt von Anfang an die Nut nicht ganz aus. Wenn
er nun bei besonderen Anwendungen wechselseitig einmal von der einen und dann von der
anderen Seite druckbelastet wird, so rutscht er bei jedem Druckwechsel in der Nut hin und
her, Bild 9. Dadurch kann die Elastomerdichtung mit der Zeit an der rutschenden Fläche
verschleißen.
Bild 9
Verschleiß des O-Rings
durch Rutschen in der Nut
bei Druckwechsel
Bei stirnseitig eingebauten O-Ringen zieht die Tangentialspannung des nach außen aufgewei-
teten O-Rings diesen wieder nach innen, Bild 10.
Einbaulage
Rotations-
symmetrieachse
Walken des O-Rings: Ein radial angepresster O-Ring, der immer von derselben Seite druck-
belastet wird, gleitet nur anfänglich in der Nut, bis er an der druckabgewandten Nutwand
anliegt. Spätere Druckerhöhungen bewirken lediglich ein internes Walken des O-Rings,
Bild 11. Experimentell wurde nachgewiesen, daß sich dabei die Kontaktflächen nicht bewe-
gen. Vielmehr fließt das Elastomer von innen zu den Ecken und legt sich bei zunehmendem
Druck sukzessive an die Wände an. Wegen der hohen Zugspannungen in den Ecken wird der
O-Ring am druckabgewandten Spalt von scharfen Kanten „angeknabbert“ (vgl. Bild 6).
Bild 11
Gestaltänderung des O-Rings
interne Bewegung des Elastomerwerkstoffs in der Nut bei Druckänderung
ohne Rutschen der haftenden Dichtfläche
Gefüllte Nut: Bei einer alternativen Methode der statischen Abdichtung von Flanschen mit
Elastomerwerkstoff wird der Nutquerschnitt etwas kleiner als der Dichtringquerschnitt ausge-
führt, Bild 12. Beim Anziehen der Flanschschrauben gerät das Elastomer unter sehr hohen
inneren Druck und wirkt sodann wie eine im Krafthauptschluß angeordnete Flachdichtung. Im
Vergleich zu harten Flachdichtungen (z.B. aus Metall) dringt jedoch der Elastomerwerkstoff
wirksamer in das Rauheitsprofil der Flanschoberfläche ein. Zudem ist wegen der sehr kleinen
Kontaktfläche zwischen Dichtung und abgedichtetem Fluid die Diffusion in das Elastomer
stark reduziert. Andererseits müssen im Vergleich zu herkömmlichen O-Ringnuten hier für die
Nut und den Dichtring engere Toleranzen eingehalten werden.
fertig montierter
vor Montage O-Ring füllt Nut
vollständig
Bild 12
Sonderanwendung:
Nutvolumen kleiner als
O-Ringvolumen
langsam zunehmender
drucklos Druck
Bild 13
Mögliche Folgen einer
p
Vergrößerung des
Gehäusespalts bei
Druckerhöhung
schnell zunehmender Druck
Ein derartiger Blow-By-Effekt löste die am Anfang des Kapitels erwähnte Challenger-Kata-
strophe aus. Bild 13 (a) auf der nächsten Seite zeigt die ursprüngliche Dichtstelle an der Ver-
bindungsstelle der Segmente der Feststofftriebwerke des NASA-Space-Shuttle. Nach dem
Zünden der Rakete weitet sich der zylindrische Triebwerksmantel auf. Am Unglückstag herrsch-
te zum Zeitpunkt des Starts eine verhältnismäßig niedere Außentemperatur; die Fluorelasto-
mer-O-Ringe (Schnur-Ø 7 mm) waren dadurch hart und konnten offenbar dem in Sekunden-
bruchteilen sich aufweitenden Mantel nicht folgen, Bild 13 (b). Ein gasdurchlässiger Kanal in
der vorgeschalteten Dichtpaste ließ das heiße Brenngas ausströmen, die O-Ringe brannten
durch, und die austretende Flamme zerstörte den Hauptbrennstofftank.
Nach einer langwierigen Analyse der Unfallursache wurde die Dichtstelle umkonstruiert. Bild
13(c) zeigt die geänderte Konstruktion, bei der das obere Endstück des Triebwerksmantels
neu gestaltet wurde. Auf der Innenseite ist nun ein weiterer O-Ring hinzugefügt. Die unter-
schiedliche radiale Aufweitung der Segmente des Triebwerksmantels wird durch eine Doppel-
laschenverbindung vermieden. Alle O-Ringe sind in außenliegende Nuten eingebaut. Dadurch
spannen sie nach dem Einlegen in die Nut in Umfangsrichtung und können vor der Montage
nicht herausfallen.
a) b) c)
Innendruck
Hitze- des Doppel-
Edelstahl- bestän- Feststoff- laschen
zylinder dige Triebwerks verbindung
Ø 3,7 m Paste
brennendes
Gas strömt Spalt
aus vergrößert
sich
Verbin-
dungs-
bolzen heißes
Gas
zusätzlicher
Hitze- O-Ring
Isolation
Fest-
Brennstoff
außen innen
Bild 14
3.4 LITERATUR
Morrison, J.B.: O-Rings and interference seals for static applications. Mach. Des., 29, 1957
O´Neill, G.: Compression of elastomeric seal materials at pressures up to 3.5 GNm-2. Natio-
nal Physical Laboratory Report Chem. 54, 1976
Metcalfe, R., Baset, S.B., Selander, W.N.: Modelling of space shuttle solid rocket O-Rings.
12th Int. Conf. on Fluid Sealing, B.H.R.A. 1989, Paper A1
Scheerer, K.: Einfluss der mechanischen Eigenschaften von O-Ringen auf deren Dichte-
verhalten in Miniatur-Dichtverbindungen, Regensburg: Roderer, 1994
Hörl,L. Haas, W.: O-Rings at pulsating pressure,12th Int. Conf. on Fluid Sealing, BHR
Group, Maastricht 1997.
Müller, H.K., Nau, B.S.: Fluid Sealing Technology, Principles and Applications, M.Dekker
Inc., New York, 1998, ISBN 0-8247-9969-0
Inhaber des Urheberrechts (Copyright ©) und verantwortlich für den Inhalt von
www.fachwissen-dichtungstechnik.de sind die Autoren Dr. Heinz Konrad Müller
und Dr. Bernard S. Nau.