(Bradbury Ray) Der Illustrierte Mann
(Bradbury Ray) Der Illustrierte Mann
(Bradbury Ray) Der Illustrierte Mann
RAY BRADBURY
DER
ILLUSTRIERTE
MANN
Utopische Erzählungen
INHALT
Prolog .............................................................................................................. 5
Das Kinderzimmer
(THE VELDT) .................................................................................................... 9
Kaleidoskop
(KALEIDOSCOPE) .............................................................................................. 21
Die Landstraße
(THE HIGHWAY) ................................................................................................ 28
Der Mann
(THE MAN) ....................................................................................................... 31
Der lange Regen
(THE LONG RAIN) ............................................................................................. 41
Die Feuerballons
(THE FIRE BALLOONS) ...................................................................................... 51
Die letzte Nacht der Welt
(THE LAST NIGHT OF THE WORLD) ................................................................... 65
Die Verbannten
(THE EXILES) .................................................................................................... 69
Kein Abend, kein Morgen ...
(NO PARTICULAR NIGHT OR MORNING) ............................................................ 80
Der Fuchs und die Hasen
(THE FOX AND THE FOREST) ............................................................................ 88
Der Besucher
(THE VISITOR) .................................................................................................. 101
Zementmixer
(THE CONCRETE MIXER) .................................................................................. 111
Marionetten e. V.
(MARIONETTES, INC.) ....................................................................................... 126
Die Stadt
(THE CITY) ....................................................................................................... 132
Stunde Null
(ZERO HOUR) ................................................................................................... 138
Das Raumschiff
(THE ROCKET) .................................................................................................. 147
Epilog .............................................................................................................. 155
Prolog
Das Kinderzimmer
Kaleidoskop
Der erste Stoß schnitt die Seite des Raumschiffs wie mit
einem riesigen Büchsenöffner auf. Die Männer wurden wie
ein Dutzend zappelnde Silberfische in den Weltraum
geschleudert. Sie fielen nach verschiedenen Richtungen in
ein dunkles Meer – und das Schiff, in Millionen kleinen
Teilchen, verfolgte weiter seine Bahn – ein
Meteoritenschwarm, der eine verlorene Sonne sucht.
»Barkley, Barkley, wo bist du?«
Der Klang von Stimmen, wie wenn verirrte Kinder in
einer kalten Nacht einander rufen.
»Woode, Woode!«
»Käpt'n!«
»Hollis, Hollis, hier spricht Stone.«
»Stone, hier spricht Hollis. Wo sind Sie?«
»Ich weiß nicht. Wie könnte ich auch? Wo ist oben? Ich
falle. Guter Gott, ich falle!«
Sie fielen. Sie fielen wie Kieselsteine in einen
Brunnenschacht. Sie waren zerstreut wie Spielwürfel nach
einem gewaltigen Wurf. Und an Stelle der Menschen
waren da nur noch Stimmen – alle Arten von Stimmen,
körperlos und doch leidenschaftlich erregt, in
verschiedenen Stadien des Entsetzens und der Resignation.
»Wir treiben auseinander.«
Das entsprach den Tatsachen. Hollis, der sich langsam
um seine senkrechte Achse drehte, wußte, daß es wahr war.
Er nahm es mit einem unbestimmten Gefühl der Erkenntnis
hin. Sie trieben in verschiedenen Richtungen auseinander,
und nichts konnte sie wieder zusammenbringen. Sie trugen
ihre luftdichten Raumanzüge mit den Glashelmen über
ihren bleichen Gesichtern, hatten aber keine Zeit mehr
gefunden, ihre Rückstoßpistolen umzuschnallen. Mit
diesen hätten sie sich gleich kleinen Rettungsbooten durch
den Raum schießen können, sich und andere retten,
einander finden und sammeln, bis sie eine Insel von
Menschen bilden und einen Plan schmieden konnten. Ohne
die Rückstoßpistolen jedoch waren sie willenlose Meteore,
die jeder einem anderen, unwiderruflichen Schicksal
entgegenschnellten.
Eine Spanne von vielleicht zehn Minuten verstrich,
während der das erste Entsetzen sich legte und einer kalten
Ruhe Platz machte. Der Raum begann ihre Stimmen wie
auf einem großen, dunklen Webstuhl seltsam zu
verflechten, hin und her, ein letztes, endgültiges Muster
webend.
»Stone an Hollis. Wie lange können wir uns über Funk
verständigen?«
»Das hängt davon ab, wie schnell du in deiner und wie
schnell ich in meiner Richtung abtreibe.«
»Eine Stunde, schätze ich?«
»Das sollte reichen«, sagte Hollis, geistesabwesend und
mit ruhiger Stimme.
»Was ist eigentlich passiert?« fragte Hollis einen
Augenblick später.
»Das Raumschiff flog in die Luft, weiter nichts. Auch
Raumschiffe explodieren gelegentlich«, antwortete der
Kommandant.
»In welche Richtung treiben Sie?«
»Sieht so aus, als ob ich mit dem Mond
zusammenstoßen werde.«
»Und ich mit der Erde. Zurück zur alten Mutter Erde,
mit zehntausend Meilen pro Stunde. Ich werde aufflammen
wie ein Streichholzkopf.« Hollis dachte mit sonderbarer
Geistesabwesenheit daran. Er schien sich aus seinem
Körper gelöst zu haben und beobachtete nun, wie er tiefer
und tiefer in den Weltraum hinabfiel, so objektiv, als
beobachtete er, wie in einem lang vergangenen Winter, die
ersten fallenden Schneeflocken.
Jetzt, als hätten sie eben erst das Grauenhafte ihrer Lage
entdeckt, begannen zwei Männer zu schreien. Wie in einem
Alptraum sah Hollis einen von ihnen ganz nahe
vorbeitreiben, ununterbrochen schreiend.
»Aufhören!« Der Mann befand sich fast in seiner
Reichweite und schrie wie wahnsinnig. Er würde nie
aufhören. Sein Schreien würde noch eine Million Meilen
weit zu hören sein, so weit ihre Radiogeräte reichten, und
ihnen jedes Gespräch untereinander unmöglich machen.
Hollis langte nach ihm. Es war die beste Lösung. Mit
einer besonderen Anstrengung gelang es ihm, den Mann zu
berühren. Er faßte ihn am Knöchel und zog sich an seinem
Körper hoch, bis er seinen Kopf erreichte. Der Mann schrie
und schlug wild um sich, gleich einem Ertrinkenden. Sein
Schreien füllte das Universum.
So oder so, dachte Hollis. Der Mond oder die Erde oder
Meteore werden ihn töten – warum also nicht gleich?
Mit seiner eisernen Faust schlug er die Glasmaske des
Mannes ein. Das Schreien brach ab. Er stieß sich von dem
Körper weg und ließ ihn auf seiner eigenen Bahn
weiterwirbeln, fallen.
Und fallend, stürzend, wirbelten Hollis und der Rest der
Mannschaft in die endlose Tiefe des Schweigens.
»Hollis, sind Sie noch da?«
Hollis antwortete nicht, fühlte aber, wie ihm das Blut ins
Gesicht schoß.
»Hier spricht wieder Applegate.«
»Was gibt's, Applegate?«
»Wir wollen uns unterhalten. Etwas anderes können wir
ja doch nicht tun.«
Der Kommandant schaltete sich ein: »Genug jetzt. Wir
müssen über einen Ausweg aus unserer Lage beraten.«
»Käpt'n, warum halten Sie nicht lieber den Mund«,
fragte Applegate.
»Was!«
»Sie haben mich verstanden, Käpt'n. Spielen Sie sich
nicht mit Ihrem Rang auf, inzwischen sind Sie zehntausend
Meilen entfernt, wir wollen uns doch nichts vormachen.
Wie Stimson sagte, ist es ein weiter Weg bis unten.«
»Seien Sie vernünftig, Applegate!«
»Ich bin's. Sie sehen sich der Meuterei eines einzelnen
gegenüber. Verdammt noch mal, ich habe nicht das
geringste zu verlieren. Ihr Schiff war ein schlechtes Schiff,
und Sie waren ein schlechter Kommandant, und ich hoffe,
daß nichts von Ihnen übrigbleibt, wenn Sie mit dem Mond
zusammenstoßen.«
»Ich befehle Ihnen zu schweigen!«
»Nur weiter so, befehlen Sie mir's noch einmal.«
Applegate lächelte über zehntausend Meilen hinweg. Der
Kommandant schwieg. Applegate fuhr fort: »Wo waren wir
stehengeblieben Hollis? Ach ja, ich erinnere mich. Ich
hasse Sie auch. Doch das wissen Sie. Sie wußten es schon
seit langer Zeit.«
Hollis ballte machtlos die Fäuste.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte Applegate.
»Möchte Sie glücklich machen. Ich war derjenige, der Sie
vor fünf Jahren bei der Raumschiffahrtsgesellschaft
angeschwärzt hat.«
Ein Meteorit flitzte vorbei. Hollis blickte an sich
hinunter, seine linke Hand war fort. Blut spritzte. Plötzlich
war keine Luft mehr in seinem Anzug. Er hatte genug Luft
in seiner Lunge, um mit der rechten Hand nach seinem
linken Ellbogen greifen und einen Knopf drehen zu
können, der einen Verschluß um das Gelenk auslöste und
das Leck abdichtete. Es war so rasch geschehen, daß es ihn
nicht einmal überrascht hatte. Nichts konnte ihn mehr
überraschen. Nachdem das Leck abgedichtet war, wurde
der Luftdruck in seinem Anzug augenblicklich wieder
normal. Und das Blut, das so rasch geflossen war,
versiegte, während er den Knopf weiterdrehte, bis die
Schlagader abgebunden war.
Alle diese Handgriffe verrichtete er in unheimlichem
Schweigen. Und die anderen Männer schwatzten. Der eine,
Lespere, erzählte unaufhörlich von seiner Frau auf dem
Mars, seiner Frau auf der Venus, seiner Frau auf dem
Jupiter, seinem Geld, seiner wunderbaren Vergangenheit,
seinen Saufereien, seinen Wetten und von seinem Glück.
Wieder und wieder, während sie alle fielen.
Die Landstraße
Der Mann
Sie machten sich wieder auf den Weg, gen Süden, die
Küste entlang. Nach vier Stunden mußten sie ins Innere des
Landes abschwenken, um einen Fluß zu umgehen, der eine
Meile breit und so reißend war, daß man ihn nicht mit dem
Boot überqueren konnte. Sie mußten sechs Meilen gehen,
bis sie an eine Stelle kamen, wo der Fluß ganz plötzlich aus
der Erde brach. Durch den Regen wanderten sie über festen
Boden zur Küste zurück.
»Ich muß schlafen«, sagte Pickard schließlich. Er ließ
sich fallen. »Hab' seit vier Wochen nicht mehr geschlafen.
Hab's versucht, konnte aber nicht. Schlaf' hier.«
Der Himmel wurde dunkler. Die Venusnacht brach
herein, sie war so völlig schwarz, daß es gefährlich war,
sich zu bewegen. Simmons und der Leutnant ließen sich
ebenfalls auf die Knie fallen, und der Leutnant sagte: »Also
gut, woll'n wir's wieder mal versuchen.«
Sie streckten sich lang aus, legten die Köpfe hoch, so
daß ihnen das Wasser nicht in den Mund laufen konnte,
und schlossen die Augen.
Der Leutnant zuckte.
Er schlief nicht.
Pflanzen krochen über seinen Körper. Winzige Pflanzen,
die ihn lagenweise überwucherten. Tropfen fielen und
vereinigten sich mit anderen Tropfen und wurden zu
kleinen Bächen, die über seinen Körper rannen; und
während sie über seine Haut flossen, schlugen die winzigen
Gewächse des Waldes Wurzeln in seinen Kleidern. Er
spürte, wie die Schlingpflanzen sich an ihn klammerten
und ein zweites Kleid über ihn woben, er spürte, wie kleine
Knospen blühten und aufbrachen und zerblätterten, und
weiter klopfte der Regen auf seinen Körper und auf seinen
Kopf. In der Dunkelheit – denn die Vegetation
phosphoreszierte in der Nacht – konnte er die Umrisse der
anderen beiden Männer erkennen, wie gestürzte
Baumstämme, über die sich ein samtener Teppich aus Gras
und Blumen gelegt hatte.
Plötzlich sprang er auf und begann, sich das Wasser vom
Körper zu streifen. Tausend Hände berührten ihn, und er
wollte sich nicht länger berühren lassen. Er konnte es nicht
länger aushalten berührt zu werden. Er stolperte und
streifte jemand anderen und wußte, daß es Simmons war,
der ebenfalls aufrecht im Regen stand, Wasser schnaubend,
hustend und keuchend. Und dann kam Pickard hoch,
schreiend und umherspringend.
»Einen Augenblick, Pickard!«
»Aufhören! Aufhören!« schrie Pickard. Er feuerte seine
Pistole sechsmal gegen den Nachthimmel ab. In dem
mehrfachen Aufblitzen konnten sie Armeen von
Regentropfen sehen, die scheinbar reglos einen Augenblick
lang in der Luft hingen, als zögerten sie, erschreckt von der
Explosion – fünfzehn Billionen Tropfen, fünfzehn
Billionen Tränen, fünfzehn Billionen Schmucksteine,
Juwelen in einem weiß unterlegten Schaukasten. Und dann,
als das Licht verschwunden war, fielen die Tropfen, fielen
über sie her.
»Aufhören! Aufhören!«
»Pickard!«
Doch Pickard stand jetzt völlig still. Als der Leutnant
eine kleine Taschenlampe anknipste und den Schein über
Pickards nasses Gesicht spielen ließ, waren die Augen des
Mannes weit aufgerissen, und sein Mund stand offen. Das
Gesicht hielt er nach oben gerichtet, so daß das Wasser ihm
in die Augen schlug und sie ertränkte, ihm in den Mund
spritzte und Schaumbläschen an den Nasenlöchern bildete.
»Pickard!«
Der Mann antwortete nicht. Er stand einfach da,
während der Regen durch sein ausgebleichtes Haar strömte
und Fesseln aus Regenjuwelen sich tropfend um seine
Handgelenke und um seinen Hals legten.
»Pickard! Wir wollen weiter. Wir gehen jetzt. Kommen
Sie mit!«
Der Regen tropfte von Pickards Ohren.
»Können Sie nicht hören, Pickard!«
Es war, als schrie er in einen Brunnenschacht hinab.
»Pickard!«
»Lassen Sie ihn«, sagte Simmons.
»Wir können doch nicht ohne ihn weitergehen.«
»Was sollen wir tun – ihn tragen?« Simmons spuckte
aus. »Er ist nur noch eine Last für uns und sich selbst.
Wissen Sie, was er tun wird? Einfach hier auf dieser Stelle
stehenbleiben und ertrinken.«
»Was?«
»Sie sollten das inzwischen eigentlich wissen. Haben Sie
noch nie davon gehört? Er wird einfach hier stehenbleiben,
das Gesicht nach oben, und sich den Regen in Nase und
Mund fließen lassen. Er wird den Regen einatmen.«
»Nein.«
»Genauso haben sie damals General Mendt gefunden. Er
saß auf einem Stein, den Kopf in den Nacken gelegt, und
atmete den Regen ein. Seine Lungen waren voll Wasser.«
Der Leutnant ließ den Lichtstrahl wieder auf das
unbewegliche Gesicht fallen. Von Pickards Nase ertönte
ein schwaches Geräusch.
»Pickard!« Der Leutnant schlug ihm ins Gesicht.
»Das fühlt er nicht einmal mehr«, sagte Simmons. »Ein
paar Tage in diesem Regen, und man hat kein Gesicht,
keine Beine und keine Hände mehr.«
Der Leutnant sah voll Grauen seine Hand an. Er fühlte
sie nicht mehr.
»Aber wir können Pickard doch nicht hierlassen.«
»Ich werde Ihnen zeigen, was wir für ihn tun können.«
Und Simmons feuerte seine Pistole ab.
Pickard fiel auf den regenschwimmenden Boden.
»Bewegen Sie sich nicht, Leutnant«, sagte Simmons.
»Ich habe meine Pistole auf Sie gerichtet. Denken Sie doch
mal nach; er wäre hier nur stehengeblieben oder hätte sich
hingesetzt und wäre ertrunken. Es geht nur rascher auf
diese Weise.«
Der Leutnant blickte bestürzt auf den Körper herab.
»Aber Sie haben ihn getötet.«
»Ja; er wäre nur eine Last gewesen und hätte sonst uns
dadurch getötet. Sie haben sein Gesicht gesehen.
Wahnsinnig.«
Nach einem Augenblick nickte der Leutnant. »In
Ordnung.«
Sie machten sich auf durch den Regen.
Es war dunkel, und der Schein ihrer Taschenlampen
durchdrang die Finsternis und den Regen nur ein paar
Meter weit. Nach einer halben Stunde schon mußten sie
anhalten und auf die Dämmerung warten; den Rest der
Nacht saßen sie in der Nässe, Schmerzen vor Hunger in
den Eingeweiden. Als der Tag schließlich anbrach, war er
grau und regnerisch wie immer, und sie machten sich von
neuem auf den Weg.
»Wir haben uns verlaufen«, sagte Simmons.
»Nein. Eine Stunde noch.«
»Sprechen Sie lauter. Ich kann Sie nicht hören.«
Simmons blieb stehen und lächelte. »Gerechter Gott«,
sagte er und befühlte seine Ohren. »Meine Ohren. Sie
haben mich im Stich gelassen. Der dauernde Regen hat
mich letzten Endes noch stocktaub gemacht.«
»Können Sie überhaupt nichts hören?« fragte der
Leutnant.
»Was?« Simmons Augen blickten fragend.
»Nichts. Kommen Sie weiter.«
»Ich glaube, ich werde hier warten. Gehen Sie nur vor.«
»Das können Sie nicht tun.«
»Ich kann Sie nicht hören. Gehen Sie weiter. Ich bin
müde. Ich glaube nicht, daß die Sonnenkuppel in dieser
Richtung liegt. Und wenn, dann hat sie wahrscheinlich
Löcher im Dach wie die letzte. Ich glaube, ich werde
einfach hier sitzenbleiben.«
»Stehen Sie sofort auf!«
»Auf Wiedersehen, Leutnant.«
»Sie dürfen jetzt nicht aufgeben.«
»Ich habe hier eine Pistole, die sagt Ihnen, daß ich
hierbleibe. Mir ist so ziemlich alles egal. Ich bin noch nicht
ganz verrückt, aber dicht davor. Ich möchte jedenfalls nicht
so enden. Sobald Sie nicht mehr in Sicht sind, wird diese
Pistole mir ihren letzten Dienst erweisen.«
»Simmons!«
»Sie haben meinen Namen genannt. Soviel kann ich
noch von Ihren Lippen ablesen.«
»Simmons.«
»Sehen Sie, es ist doch nur noch eine Sache der Zeit.
Entweder sterbe ich jetzt oder in ein paar Stunden. Warten
Sie nur, bis Sie die nächste Sonnenkuppel erreicht haben
und feststellen müssen, daß auch dort der Regen durchs
Dach läuft – wenn Sie überhaupt hinkommen. Wär' das
nicht großartig?«
Der Leutnant wartete noch einen Augenblick und
patschte dann weiter durch den Regen. Einmal drehte er
sich um und rief zurück, aber Simmons blieb mit der
Pistole in der Hand sitzen. Er schüttelte den Kopf und
winkte dem Leutnant, weiterzugehen.
Der Leutnant hörte nicht einmal mehr den
Pistolenschuß.
Während er weiterwanderte, begann er die Blumen zu
essen. Sie waren weder giftig, noch besaßen sie einen
nennenswerten Nährwert, aber sie füllten wenigstens eine
Weile den Magen. Ein paar Minuten später wurde ihm
jedoch schlecht, und er spuckte alles wieder aus.
Einmal pflückte er ein paar Blätter ab und versuchte,
sich daraus einen Hut zu machen, doch er hatte das schon
früher versucht. Der Regen löste die Blätter auf seinem
Kopf auf. Sobald man sie pflückte, verrotteten alle
Pflanzen rasch und zerfielen zu einer grauen Masse.
›Noch fünf Minuten‹, sagte er sich. ›Noch fünf Minuten,
und ich gehe ins Meer, immer weiter ins Meer. Wir sind
hierfür nicht geschaffen; kein Erdenmensch wird jemals
fähig sein, dies auszuhalten.‹
Er quälte sich mühsam durch ein Meer von Schlamm
und Blattwerk und gelangte auf einen kleinen Hügel.
In der Ferne schimmerte ein matter gelber Fleck durch
den kalten Regenvorhang.
Die nächste Sonnenkuppel.
Jetzt konnte er es durch die Bäume sehen: ein großes,
rundes, gelbes Gebäude, weit weg. Einen Augenblick lang
stand er schwankend da und starrte es an.
Er begann zu laufen, fiel aber bald wieder in Schritt,
denn er hatte Angst. Er rief nicht. Wenn es nun dieselbe
war, was dann? Die tote Sonnenkuppel, ohne die Sonne,
was dann? dachte er.
Er rutschte aus und fiel. Bleib liegen, dachte er; es ist die
verkehrte. Bleib liegen. Es hat keinen Sinn. Trinken, nur
trinken.
Doch er brachte es fertig, sich noch einmal aufzuraffen;
er überquerte mehrere Rinnsale, der gelbe Schein wurde
sehr hell, und er begann wieder zu laufen.
Er stand vor dem gelben Tor. SONNENKUPPEL stand
in großen Buchstaben darüber. Tastend streckte er seine
gefühllose Hand danach aus. Dann drehte er den Türknopf
und stolperte hinein.
Einen Augenblick lang blieb er stehen und sah sich um.
Hinter ihm schlug der Regen einen Wirbel gegen die Tür.
Vor ihm, auf einem niedrigen Tisch, stand ein silberner
Topf mit heißer, dampfender Schokolade, daneben ein
gefüllter Becher, in dem Marshmallows schwammen. Und
daneben war ein Tablett mit Sandwiches angerichtet. Und
über einer Stange, gerade vor seinen Augen, hing ein
dickes, großes grünes Frottiertuch; darunter stand ein
Eimer für die nassen Kleider, und rechts von ihm befand
sich eine kleine Nische, in der intensive Wärmestrahlen
einen sofort trockneten. Über einen Stuhl war eine frische
Uniform gebreitet, die hier auf ihn oder jeden anderen
wartete, der sich verlaufen hatte und sie nun brauchen
konnte. Weiter hinten dampfte heißer Kaffee in
Kupfergefäßen, ließ ein Plattenspieler leise Musik
erklingen, standen in rotes und braunes Leder gebundene
Bücher. Und neben dem Büchergestell: ein Feldbett, ein
weich und tief gepolstertes Feldbett, auf dem man sich
nackt ausstrecken konnte, um die Strahlen dieses großen,
hellen, wärmenden Etwas, das den weiten Raum
beherrschte, mit allen Poren zu trinken.
Er hielt sich die Hand über die Augen. Er sah, wie die
anderen Männer auf ihn zukamen, sagte jedoch kein Wort.
Er wartete, hielt die Augen weit offen und sah sich um. Das
Wasser aus seiner Uniform bildete Pfützen zu seinen
Füßen, und er fühlte, wie seine Haare, sein Gesicht, seine
Brust, seine Arme und seine Beine zu trocknen begannen.
Er blickte zur Sonne empor.
Sie hing in der Mitte des Raumes, groß und gelb und
warm.
Er schritt vorwärts, und im Gehen riß er sich die Kleider
vom Leibe.
Die Feuerballons
Der Austritt aus dem Weltraum war wie das Verlassen der
schönsten und wunderbarsten Kathedrale, die sie je
gesehen hatten. Der Anblick des Mars war wie der Anblick
der Pflastersteine vor der Kirche, fünf Minuten nachdem
man ganz in der Liebe Gottes aufgegangen war.
Die Patres traten behutsam aus dem heißen Raumschiff
und knieten auf dem Sand des Mars nieder, während Pater
Peregrine ein Dankgebet sprach.
»Herr, wir danken Dir für die Reise durch Deine Paläste.
Erneuere unsere Augen, Herr, da wir ein neues Land
erreicht haben. Erneuere unsere Ohren, da wir neue
Geräusche und Töne hören werden. Und da wir neuen
Sünden begegnen werden, bitten wir Dich, unsere Herzen
zu läutern, zu festigen und zu reinigen. Amen.«
Sie erhoben sich.
Und vor ihnen lag der Mars, wie ein Meer, unter dessen
Oberfläche sie nun wie in Taucheranzüge verkleidete
Biologen auf der Suche nach neuen Lebensformen
wandern mußten. Hier war das Land der verborgenen
Sünde.
Der Bürgermeister der Ersten Stadt kam ihnen mit
ausgestreckten Händen zur Begrüßung entgegen.
»Was kann ich für Sie tun, Pater Peregrine?«
»Wir würden gern etwas über die Marsbewohner wissen.
Denn nur, wenn wir über sie Bescheid wissen, können wir
unsere Kirche vernünftig planen. Sind sie drei Meter groß?
Dann werden wir entsprechende Türen für sie bauen. Ist
ihre Haut blau oder rot oder grün? Wir müssen das wissen,
wenn wir menschliche Figuren in die Buntglasfenster
setzen, damit wir die richtige Hautfarbe wählen. Sind sie
schwer? Dann werden wir stabile Bänke für sie bauen.«
»Pater«, sagte der Bürgermeister, »ich glaube, Sie
brauchen sich über die Marsbewohner keine Gedanken zu
machen. Es gibt zwei Rassen. Die eine ist so gut wie
ausgestorben. Ein paar davon leben in Verstecken. Und die
zweite Rasse – nun ja, man kann sie kaum menschlich
nennen.«
»Oh?« Pater Peregrines Herz begann rascher zu
schlagen.
»Sie sind runde, strahlende Lichtkugeln, Pater, und leben
drüben in jenen Hügeln. Mensch oder Tier, wer kann das
wissen? Jedenfalls handeln sie intelligent, wie ich gehört
habe.« Der Bürgermeister zuckte mit den Schultern. »Aber
natürlich sind sie keine Menschen, und ich glaube daher
nicht, daß Sie sich um sie kümmern ...«
»Im Gegenteil«, unterbrach Pater Peregrine ihn rasch.
»Intelligent, sagten Sie?«
»Man erzählt sich eine Geschichte. Ein Prospektor brach
sich in jenen Hügeln dort ein Bein und wäre wohl auch
dort gestorben. Die blauen Lichtkugeln schwebten auf ihn
zu. Als er aufwachte, lag er auf einer Landstraße im
Unterland und wußte nicht, wie er dorthin gekommen
war.«
»Betrunken«, sagte Pater Stone.
»So sagt man«, bestätigte der Bürgermeister. »Da also
die meisten Marsbewohner tot und nur diese blauen
Lichterscheinungen vorhanden sind, Pater Peregrine,
glaube ich offen gesagt, daß Sie in der Ersten Stadt besser
am Platze sind. Der Mars wird erschlossen. Er ist ein neues
Pionierland, wie auf der Erde vor langer Zeit der
amerikanische Westen und Alaska. Menschen strömen
herein. Hier in der Ersten Stadt haben wir ein paar tausend
gottlose irische Mechaniker, Bergleute und Tagelöhner, die
Ihre Hilfe dringender brauchen.«
Pater Peregrine starrte zu der sanftgeschwungenen,
blauen Hügelkette hinüber.
Pater Stone räusperte sich. »Nun, Pater?«
Pater Peregrine hörte nicht. »Kugeln aus blauem
Feuer?«
»Ja, Pater.«
»Ah«, seufzte Pater Peregrine.
»Blaue Ballons.« Pater Stone schüttelte den Kopf. »Ein
Zirkus!«
Pater Peregrine fühlte seine Pulse schlagen. Er sah die
kleine Pionierstadt mit der derben, frisch importierten
Sünde, und er sah die alten Hügel mit der ältesten und
vielleicht sogar (für ihn) neuesten Sünde.
»Bürgermeister, können Ihre gottlosen irischen Arbeiter
noch einen Tag länger in der Hölle schmoren?«
»Ich werde ihnen notfalls an Ihrer Stelle ins Gewissen
reden Pater.«
Pater Peregrine nickte zu der Hügelkette hinüber.
»Dann ist das unser erstes Ziel.«
Ein Murmeln ging durch die Reihen der Patres.
»Es wäre so einfach, in die Stadt zu gehen«, erklärte
Pater Peregrine. »Aber ich glaube eher, daß der Herr, wenn
er hier an unserer Stellte weilte und die Leute sagten: ›Hier
ist der ausgetretene Pfad‹, antworten würde: ›Zeigt mir das
Unkraut. Ich will einen Pfad bereiten‹.«
»Aber ...«
»Pater Stone, denken Sie daran, welche Bürde wir auf
uns laden würden, wenn wir an Sündern vorbeigingen,
ohne ihnen unsere Hände zu reichen.«
»Aber Feuerkugeln!«
»Ich stelle mir vor, daß der Mensch den Tieren komisch
vorkam als er zum ersten Mal in Erscheinung trat. Und
doch besitzt er eine Seele, trotz seines schlichten
Aussehens. Bis wir das Gegenteil beweisen können, wollen
wir daher annehmen, daß auch diese feurigen Kugeln
Seelen besitzen.«
»In Ordnung«, stimmte der Bürgermeister zu, »doch Sie
werden bald in die Stadt zurückkehren.«
»Wir werden sehen. Zunächst laßt uns frühstücken.
Danach werden Sie, Pater Stone, und ich, allein in die
Hügel gehen.«
Die Verbannten
Sie legten eine Pause ein und sahen sich suchend um. »Wo
ist der Kristall? Wo sind die Nadeln?«
»Hier!«
»Gut!«
»Ist das gelbe Wachs geschmolzen?«
»Ja!«
»Gießt es in die eiserne Form!«
»Ist die Wachsfigur bereit?« Wie Sirup rann es von ihren
grünen, knetenden Fingern.
»Stoßt die Nadel durch das Herz!«
»Den Kristall her, den Kristall! Zieh ihn aus der
Kartentasche! Reib ihn blank, blick hinein!«
Mit weißen Gesichtern beugten sie sich über den
Kristall.
»Seht, seht, seht ...«
Die drei Hexen hielten den Kristall hoch, in dem das Bild
des Kommandanten flackerte, aus dem leise und hoch seine
Stimme klang:
»Ich weiß es nicht«, seufzte der Kommandant, »noch
nicht.« Mit glühenden Augen starrten die drei Hexen
einander an.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte eine.
»Wir sollten die in der Stadt lieber warnen.«
»Sie müssen von den Büchern erfahren. Es sieht nicht
gut aus. Dieser Narr von Kommandant!«
»In einer Stunde werden sie mit ihrem Raumschiff
landen.«
Die drei Hexen schauderten und blickten zu der
smaragdenen Stadt am Gestade des ausgetrockneten
Marsmeeres auf. Im Fenster des höchsten Turmes stand ein
kleiner Mann und hielt einen blutroten Vorhang beiseite. Er
beobachtete den öden Landstreifen, wo die drei Hexen
ihren Kessel rührten und Wachsfiguren formten. Weiter
landeinwärts qualmten Zehntausende von blauen Feuern
und Lorbeerbränden, rauchten schwarzer Tabak und
Geißbockkraut, stiegen Zimtpulver und Knochenstaub
leicht wie Motten empor zum nächtlichen Marshimmel.
Der Mann zählte die wild flackernden, magischen Feuer.
Als die drei Hexen zu ihm herstarrten, drehte er sich um.
Der rote Vorhang fiel, und das ferne Fenster blinkte auf wie
ein riesiges Auge.
Über ein einsames Moor und in ein enges Tal eilten Poe
und Bierce und befanden sich unvermittelt auf einer mit
runden Kopfsteinen gepflasterten Straße, in beißend
kaltem, nebligem Wetter; Leute stampften auf steinigen
Höfen hin und her, um sich die Füße zu wärmen; alles
schwamm in bleichem Winterlicht, Kerzen flackerten in
Bürofenstern, und Weihnachtstruthähne hingen in den
Läden. In einiger Entfernung sangen ein paar dick
angezogene Jungen, deren Atem wie kleine Wölkchen in
der frostigen Luft hing: ›Gott schenk euch seinen Frieden‹,
während die dumpf dröhnenden Schläge einer großen Uhr
unablässig Mitternacht verkündeten. Vom Pastetenbäcker
her huschten Kinder vorbei, die mit ihren schmutzigen
kleinen Fäusten Tabletts umklammerten, auf denen unter
silbernen Schalen dampfende Gerichte standen.
Bei einem Schild mit der Aufschrift SCROOGE, MARLEY
UND DICKENS betätigte Poe den Türklopfer. Als die Tür
aufschlug, scholl laute Musik ihnen entgegen. Und drinnen,
hinter dem Rücken des Mannes, der ihnen einen säuberlich
getrimmten Spitz- und Schnurrbart entgegenstreckte,
klatschte Mr. Fezziwig in die Hände, und Mrs. Fezziwig
tanzte mit strahlendem Lächeln zwischen anderen
ausgelassenen Festgästen, während die Fidel zwitscherte
und Gelächter silberhell durch den Raum klang. Truthähne
und Schweinskopf und Gänse häuften sich auf dem mit
Stechpalmenzweigen geschmückten Tisch, Fleischpasteten,
gebratene Ferkel, Wurstkränze, Äpfel und Apfelsinen – und
dort saßen auch Bob Cratchit und Little Dorrit und Tiny
Tim und Mr. Fagin und ein Mann, der ein Gesicht wie ein
rohes Stück Fleisch hatte, wie ein Mostrichklecks, eine
Käserinde, ein Bruchstück einer halb gargekochten
Kartoffel – wer anders konnte das sein als Mr. Marley, in
Ketten und seinem altvertrauten Gewand, während der
Wein in Strömen floß und die knusperigen braunen
Truthähne nach Kräften dampften!
»Was wünschen Sie?« verlangte Charles Dickens zu
wissen.
»Wir sind gekommen, um Sie nochmals zu bitten,
Charles«, sagte Poe. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Hilfe? Glauben Sie im Ernst, ich würde Ihnen gegen
diese guten Menschen kämpfen helfen, die im Raumschiff
zu uns kommen? Ich gehöre sowieso nicht hierher. Die
Verbrennung meiner Bücher beruhte auf einem
Mißverständnis. Ich bin kein Anhänger des
Übernatürlichen, kein Dichter des Grauens und Entsetzens
wie Sie, Poe, oder Sie, Bierce, oder die anderen. Ich habe
nichts mit euch gräßlichen Leute gemein!«
»Sie sind ein überzeugender Redner«, meinte Poe. »Sie
könnten den Raumfahrern entgegengehen, sie einlullen,
ihren Argwohn besänftigen, und dann – dann werden wir
uns ihrer annehmen.«
Mr. Dickens beäugte scharf die Falten des schwarzen
Umhangs der Poes Hände verbarg. Lächelnd zog Poe eine
schwarze Katze daraus hervor. »Für einen von unseren
Besuchern.«
»Und für die anderen?«
»Das Begräbnis bei lebendigem Leibe!« meinte Poe,
selbstzufrieden lächelnd.
»Sie sind ein grimmiger Mann, Mr. Poe.«
»Ich bin ein geängstigter, zorniger Mann. Ich bin ein
Gott, Mr. Dickens, genau wie auch Sie und wir alle hier
Götter sind, und unsere Geistesgeschöpfe – unsere Leute,
wenn Sie wollen – sind nicht nur bedroht worden, sondern
verbannt und verbrannt, zerrissen und der Zensur
anheimgefallen, vernichtet und abgetan. Die Welten, die
wir geschaffen haben, zerfallen zu Staub. Selbst Götter
müssen kämpfen!«
»So?« Mr. Dickens legte den Kopf schief, ungeduldig,
zum Fest, zur Musik, zur Tafelrunde zurückzukehren.
»Vielleicht können Sie erklären, warum wir hier sind? Wie
sind wir hierhergekommen?«
»Krieg gebiert Krieg. Zerstörung gebiert Zerstörung. Vor
einem Jahrhundert, im Jahre 2020, hat man auf der Erde
unsere Bücher geächtet. Oh, welch eine gräßliche Tat –
unsere literarischen Schöpfungen auf diese Art zu
vernichten! Sie rief uns auf den Plan – woher? Aus dem
Tode? Dem Jenseits? Ich mag keine abstrakten Begriffe.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß unsere Welten und
unsere Geschöpfe uns riefen und daß wir versuchten, sie zu
retten; und die einzige Rettung, die wir ihnen angedeihen
lassen konnten, war unsere Flucht mit ihnen auf den Mars,
wo wir ein ganzes Jahrhundert gewartet und gehofft haben,
daß die Erde mit diesen Wissenschaftlern eines Tages von
ihren eigenen Zweifeln überrannt würde. Jetzt aber
kommen sie, um uns auch hier auszutreiben, uns und
unsere finsteren Geschöpfe, die Alchimisten, Hexen,
Vampire und Werwölfe, die eins nach dem andern durch
den Weltraum zurückwichen, im gleichen Verhältnis, wie
die Wissenschaft Breschen in jedes Land der Erde schlug
und ihnen letzten Endes keine Alternative als den Auszug
ließ. Sie müssen uns helfen. Sie verfügen über große
Redegewandtheit. Wir brauchen Sie.«
»Ich wiederhole nur, ich bin keiner der Eurigen, und ich
schätze weder Sie noch die anderen«, rief Dickens erbost.
»Ich habe nicht mit Hexen und Vampiren und
Mitternachtsgeschöpfen gespielt.«
»Und wie erklären Sie Ihre Weihnachtsgeschichte?«
»Lächerlich! Eine Geschichte! Nun ja, ich habe wohl
noch ein paar andere über Gespenster geschrieben, aber
was zählen die schon? Meine Hauptwerke enthielten nichts
von diesem Unsinn!«
»Mißverständnis oder nicht, man hat Sie jedenfalls zu
uns geschlagen. Man hat auch Ihre Bücher – Ihre Welten –
zerstört. Sie müssen sie hassen, Mr. Dickens!«
»Ich gebe zu, daß sie dumm und gemein gehandelt
haben, aber das ist auch alles. Gute Nacht!«
»Geben Sie uns wenigstens Mr. Marley mit!«
»Nein!«
Während der Nacht streckte sie ihre Hand aus und berührte
fast das Jahr 2155. Sie fühlte ihre Finger über die kalte
Ferne der Zeit gleiten, wie über eine geriffelte Oberfläche,
hörte das dumpfe Dröhnen marschierender Stiefel, sah
fünfzigtausend Reihen Reagenzgläser mit
Bakterienkulturen, streckte ihre Hand an ihrem
Arbeitsplatz in der Fabrik der Zukunft danach aus, nach
den Gläsern mit Lepra, Pest, Typhus, Tuberkulose – und
dann erfolgte die große Explosion. Sie sah ihre Hand
verbrennen, zu einer Backpflaume zusammenschrumpfen,
fühlte sich von einer Erschütterung zurückgeworfen, so
gewaltig, daß die Welt aus den Angeln gehoben wurde und
stürzte, und alle Gebäude brachen ein und alle Menschen
spien Blut und starben. Riesige Vulkane, Maschinen,
Winde, Lawinen versanken im Schweigen, und sie
erwachte, schluchzend, in ihrem Bett, in Mexiko, viele
Jahre entfernt ...
Früh am Morgen, betäubt von der einen Stunde Schlaf, die
sie endlich noch hatte finden können, weckte sie der laute
Lärm von Automobilen auf der Straße. Susan blickte von
dem eisernen Balkon hinab und sah, wie acht Leute lebhaft
schwatzend und rufend aus Lieferwagen und
Personenautos mit roten Aufschriften kletterten. Eine
Menge von Mexikanern drängte sich um die Wagen.
»Qué pasa?« rief Susan zu einem kleinen Jungen
hinunter.
Der Junge antwortete.
Susan drehte sich zu ihrem Mann um. »Eine
amerikanische Filmgesellschaft, die hier Außenaufnahmen
drehen will.«
»Klingt interessant.« William stand unter der Dusche.
»Wir wollen ihnen zusehen. Ich glaube, wir reisen heute
lieber noch nicht ab. Wir wollen versuchen, Simms
einzulullen. Zusehen wie sie ihre Filme drehen. Die
primitive Filmproduktion soll ja ein tolles Schauspiel
gewesen sein. Die Ablenkung wird uns gut tun.«
Der Besucher
Zementmixer
Die Zelle war hübsch und sauber. Ohne ein Buch war Ettil
nervös. Er umklammerte die Gitterstäbe und beobachtete,
wie die Feuerwerksraketen in den Nachthimmel schossen.
Unzählige kalte Sterne blinkten; sie schienen
auseinanderzuweichen, wenn eine Rakete nach der anderen
zwischen ihnen zerplatzte.
»Narren«, flüsterte Ettil. »Narren!«
Die Zellentür öffnete sich. Ein Mann schob ein fahrbares
Gestell herein das ganz mit Büchern gefüllt war; Bücher
hier, dort, überall – sie quollen förmlich aus den Borden
des Gestelles. Dahinter wurde drohend die Gestalt des
Militärbefehlshabers sichtbar.
»Ettil Vrye, wir verlangen Aufklärung, warum du diese
illegalen Bücher von der Erde in deinem Hause gehabt
hast. Diese vielen Exemplare Wonder Stories, Scientific
Tales, Fantastic Stories. Erkläre!« Der Mann ergriff Ettils
Handgelenk.
Ettil schüttelte sich frei. »Wenn ihr mich erschießen
wollt, laßt euch nicht abhalten. Diese Literatur von der
Erde ist der eigentliche Grund, warum ich mich nicht an
der Invasion beteiligen will. Es ist der Grund, warum eure
Invasion fehlschlagen muß.«
»Wieso?« Der Befehlshaber machte ein finsteres Gesicht
und wandte sich den vergilbten Magazinen zu.
»Nimm irgendein Exemplar«, sagte Ettil, »irgendein
beliebiges. Neun von zehn Erdgeschichten aus den Jahren
1929, 1930 bis 1950, Erdzeitrechnung, lassen jede
Marsinvasion erfolgreich die Erde bezwingen.«
»Ah!« Der Befehlshaber nickte lächelnd.
»Und dann«, sagte Ettil, »– fehlgeschlagen.«
»Nenne es Verrat! Solche Schriften zu besitzen!«
»Nenne es, wie du willst. Aber erlaube mir, daraus ein
paar Schlußfolgerungen zu ziehen. Jede Invasion wird
unweigerlich von einem jungen Mann vereitelt;
gewöhnlich ist es ein Ire von drahtiger Gestalt, namens
Mick oder Rick oder Jick oder Bannon, der ganz auf sich
allein gestellt, die Marsmenschen vernichtet.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«
»Nein, ich glaube nicht, daß die Erdmenschen das
wirklich bewerkstelligen können – nein. Aber sie besitzen
eine Vergangenheit, verstehst du, Befehlshaber, eine
Vergangenheit von Generationen von Kindern, die diese
Geschichten förmlich verschlungen haben. Sie verfügen
über eine regelrechte Literatur von erfolgreich
zurückgeschlagenen Invasionen. Kannst du dasselbe von
der Marsliteratur behaupten?«
»Also ...«
»Nein.«
»Ich glaube nicht.«
»Du weißt, daß das nicht der Fall ist. Wir haben nie so
phantastische Geschichten geschrieben. Jetzt rebellieren
wir gegen unsere Vergangenheit, wir schreiten zum
Angriff, und wir werden sterben.«
»Ich kann keinen Sinn in deinen Schlußfolgerungen
erkennen. Wo steckt der Zusammenhang mit diesen
Magazingeschichten?«
»In der Moral. Das ist eine große Sache. Die
Erdmenschen wissen, daß sie nicht versagen können.
Dieses Wissen steckt ihnen im Blut, das durch ihre Adern
rinnt. Sie können einfach nicht versagen. Sie werden jede
Invasion zurückschlagen, ganz gleich, wie gut sie
organisiert sein mag. Diese Geschichten, die sie in ihrer
Jugend lasen, haben ihnen ein Selbstvertrauen gegeben,
dem wir nichts Gleichwertiges entgegensetzen können. –
Wir Marsmenschen? Wir sind unsicher; denn wir wissen,
daß wir versagen können. Unsere Moral ist schwach, trotz
Trommelschlag und Trompetengeschmetter.«
»Von diesem Verrat will ich nichts wissen«, schrie der
Befehlshaber. »Dies Geschreibsel wird in den nächsten
zehn Minuten verbrannt werden, genau wie du, Ettil Vrye!
Du hast die Wahl: entweder reihst du dich in unser
Kriegsheer ein, oder du wirst verbrannt.«
»Es ist die Wahl zwischen zwei Todesarten. Ich wähle
den Flammentod.«
»Wache!«
Er wurde in den Hof gestoßen. Er sah, wie sein sorgsam
gehorteter Lesestoff ein Raub der Flammen wurde. Man
hatte eine anderthalb Meter tiefe, mit Öl gefüllte Grube
angelegt. Tosend loderte das Öl auf, als die Fackel
hineingeworfen wurde. In einer Minute würde man ihn
hineinstoßen.
Am anderen Ende des Hofes erkannte er im Schatten die
traurige Gestalt seines Sohnes; einsam und verlassen stand
er in einer Ecke, seine großen gelben Augen leuchteten vor
Kummer und Furcht.
Ettil blickte in die lodernde Grube. Er fühlte, wie rohe
Hände ihn ergriffen, ihm die Kleider vom Leibe rissen und
ihn dem sengenden Todeskreis entgegenschoben. Erst jetzt,
im letzten Augenblick, besann Ettil sich und schrie:
»Wartet!«
Das Gesicht des Befehlshabers, überstrahlt von der
orangefarbenen Glut, schob sich durch die bebende Luft.
»Was gibt es?«
»Ich will dem Kriegsheer beitreten«, erwiderte Ettil.
»Gut! Laßt ihn frei!«
Die Hände lösten sich von ihm.
Als er sich umwandte, begegneten seine Augen dem
Blick seines Sohnes am anderen Ende des Hofes. Er
lächelte nicht, er wartete nur. Am Himmel sprang ein
ehernes Raumschiff flammenspeiend von Stern zu Stern ...
»Und jetzt wünschen wir diesen kühnen Kriegern
Lebewohl«, sagte der Militärbefehlshaber. Die Kapelle
schmetterte, und der Wind blies einen feinen, süßen
Tränenregen sanft über die schwitzende Armee. Die Kinder
tollten herum. In dem Durcheinander sah Ettil seine Frau
vor Stolz weinen, während sein Sohn gefaßt und
schweigend an ihrer Seite stand.
Lachend marschierten die Männer in die Raumschiffe.
Sie banden sich in ihren Hängematten fest, die wie ein
riesiges Spinnennetz das Raumschiff durchzogen. Bald
waren alle Hängematten mit faul sich räkelnden Männern
gefüllt. Sie kauten an Bissen ihrer Verpflegung und
warteten. Ein großes Schott schlug zu. Ein Ventil zischte.
»Auf zur Erde und zur Vernichtung«, flüsterte Ettil.
»Was?« fragte jemand.
»Auf zum glorreichen Sieg«, sagte Ettil und schnitt eine
Grimasse.
Das Raumschiff machte einen Satz.
Hinein ins Leere, dachte Ettil. Da sausen wir nun wie in
einem Kupferkessel durch die Tintenschwärze des
Weltraumes, vorbei an rosigen Lichtpunkten; ein gefeiertes
Geschoß, abgesandt, die Augen der Erdmenschen mit
brennender Furcht zu erfüllen, wenn sie zum Himmel
aufsehen. Was ist das nur für ein Gefühl, hier und jetzt zu
sein, weit, weit weg von zu Hause, von Weib und Kind?
Er versuchte sein Zittern zu analysieren. Es war, als habe
man seine verborgensten, innersten Organe fest auf dem
Mars verankert und dann einen gewaltigen Sprung
gemacht, Millionen Meilen weit ins Nichts. Das glühende
Herz schlug immer noch auf dem Mars. Das Gehirn lag
immer noch auf dem Mars, wie eine weggeworfene Fackel,
fein gebunden und weiter denkend. Der Magen lag immer
noch auf dem Mars, faul und bemüht, das letzte Mahl zu
verdauen. Und die Lungen atmeten noch die kühle blaue,
weinige Luft des Mars, ein weich gefalteter Blasebalg, der
nach ihm schrie, ein Teil von ihm, der nach dem Rest
verlangte.
Und du befindest dich hier, ein getriebeloser, räderloser
Automat, ein Leichnam, an dem die Staatsfunktionäre eine
Obduktion vorgenommen und alles von dir, was zählte,
dortbehalten und über das öde Meer und die dunklen Hügel
gestreut haben. Hier bist du nun, ein leeres Gefäß, kalt und
ausgebrannt, hast nur noch deine Hände, um den
Erdmenschen den Tod zu bringen.
Hier liegst du nun in diesem furchtbaren Spinngewebe.
Andere sind um dich herum, doch sie sind unversehrt –
haben Herz und Körper beisammen. Aber alles von dir, das
lebt, hast du zurückgelassen. Das hier, diese kalte
Lehmpuppe, ist bereits tot.
»Klar zum Gefecht, klar zum Gefecht!«
»Fertigmachen!«
»Aus den Hängematten, schnell!«
Ettil bewegte sich. Irgendwo vor ihm regten sich seine
zwei kalten Hände.
Wie rasch das alles gekommen ist, dachte er. Vor einem
Jahr ist ein Raumschiff von der Erde auf dem Mars
gelandet. Unsere Wissenschaftler haben es mit ihrem
unglaublichen telepathischen Können kopiert; unsere
Arbeiter haben es in unseren unglaublichen Fabriken
hundertfach nachgebaut. Kein weiteres Raumschiff von der
Erde hat seitdem den Mars erreicht, und doch beherrschen
wir alle vollkommen ihre Sprache. Wir kennen ihre Kultur
und ihre Logik. Und jetzt werden wir den Preis für unsere
Intelligenz zahlen müssen ...
»Geschütze fertig machen!«
»Richten!«
»Entfernung?«
»Zehntausend Meilen!«
»Klar zum Angriff!«
Eine summende Stille. Ein Schwirren wie von Insekten
erfüllte das Raumschiff. Das Surren winziger Rollen,
Räder und Hebel.
»Bereithalten! Abwarten!«
Ettil klammerte sich mit seinen Fingernägeln an seinem
Verstand fest, eine scheinbare Unendlichkeit lang.
Stille, Stille, Stille. Warten.
Tiiii-i-ii!
»Was ist das?«
»Erdfunk!«
»Stellt genau ein!«
»Sie versuchen uns zu erreichen, uns anzurufen. Stellt
genau ein!«
Iii-i-ii!
»Wir haben sie! Hört!«
»Wir rufen die Invasionsflotte vom Mars!«
Angespannte Stille, alles horchte, selbst das Surren der
Maschinen schien zu verstummen, um die knarrende
Stimme von der Erde in die Ohren der wartenden Männer
dringen zu lassen.
»Hier spricht die Erde. Hier spricht William Sommers,
Präsident der Vereinigung amerikanischer Produzenten!«
Ettil hielt sich an seinem Gefechtsstand fest,
vornübergebeugt, die Augen geschlossen.
»Willkommen auf der Erde!«
»Was?« schrien die Männer im Raumschiff. »Was hat er
gesagt?«
»Ja, willkommen auf der Erde.«
»Das ist eine Falle!«
Ettil überlief ein Schauer; er öffnete die Augen und
starrte verwirrt nach der Quelle der unsichtbaren Stimme,
dem Lautsprecher unter der Decke.
»Willkommen auf der Erde! Willkommen auf der
grünen, industriell erschlossenen Erde!« erklärte die
freundliche Stimme. »Mit offenen Armen heißen wir euch
willkommen, um eine blutige Invasion in eine Freundschaft
zu verwandeln, die alle Zeiten überdauern wird.«
»Eine Falle!«
»Pst, hört zu!«
»Vor vielen Jahren haben wir auf der Erde den Krieg
geächtet und unsere Atombomben zerstört. Ungerüstet, wie
wir jetzt sind, können wir euch nur willkommen heißen.
Der Planet gehört euch. Wir erbitten lediglich Gnade von
euch gütigen und barmherzigen Invasoren.«
»Das kann nicht wahr sein!« sagte jemand im Flüsterton.
»Es muß eine Falle sein!«
»Landet und seid allesamt willkommen«, sagte Mr.
Sommers von der Erde. »Landet, wo ihr wollt. Die Erde
gehört euch. Wir sind alle Brüder!«
Ettil begann zu lachen. Alle im Raum drehten sich um
und sahen ihn an. Sie schüttelten die Köpfe. »Er ist
wahnsinnig geworden!«
›Liebe Tylla,
unvorstellbar, daß ich mir in meiner Naivität einbilden
konnte, die Erdmenschen würden mit Bomben und
Geschützen zu einem Gegenangriff starten! Nein, nein.
Ich habe mich geirrt. Hier gibt es keinen Rick oder Mick
oder Bannon – diese Kraftprotze, die Welten vor dem
Untergang retten. Nein.
Wir sind hier blonden Robotern mit rosa
Plastikkörpern begegnet, lebendig, aber trotzdem
irgendwie unwirklich, automatisch in all ihren
Reaktionen, die ihr ganzes Leben in Höhlen verbringen.
Ihre Hinterteile haben einen unglaublichen Umfang. Ihre
Augen blicken starr und bewegungslos vom endlosen
Anschauen weißer Wände mit bewegten Bildern. Ihre
einzigen Muskeln scheinen in ihren Kinnbacken zu
liegen, da sie damit ununterbrochen Kaugummi mahlen.
Und nicht nur dies ist schlimm, liebe Tylla, sondern
diese ganze Zivilisation, in die man uns geworfen hat
wie eine Schaufel Sandkörnchen in einen Zementmixer.
Nichts wird von uns übrig bleiben. Wir werden
vernichtet werden, nicht von ihren Geschützen, sondern
von ihrer Leutseligkeit ...‹
Marionetten, e. V.
Gegen zehn Uhr abends schlenderten sie die Straße
hinunter und plauderten miteinander. Sie waren beide
ungefähr fünfunddreißig Jahre alt und beide
bemerkenswert nüchtern.
»Aber warum nur so früh?« fragte Smith.
»Ich kann nicht anders«, erwiderte Braling.
»Seit Jahren ist es das erste Mal, daß du ausgehst, und
dann willst du um zehn Uhr nach Hause!«
»Ich hab' keine Ruhe mehr«, meinte Braling.
»Ich wundere mich nur, wie du es überhaupt
fertiggebracht hast. Seit zehn Jahren versuche ich nun, zu
einem ruhigen kleinen Umtrunk zu entwischen. Und heute,
wo wir es beide zum erstenmal geschafft haben, willst du
unbedingt früh nach Hause.«
»Darf mein Glück nicht in Versuchung führen«, sagte
Braling.
»Wie hast du's gemacht, deiner Frau Schlafpulver in den
Kaffee getan?«
»Nein, das wäre unmoralisch. Du wirst's schon früh
genug sehn.«
Sie gingen um eine Ecke. »Ehrlich, Braling, ich sag's
nicht gern, aber du hast wirklich viel Geduld mit ihr
gehabt. Du brauchst es mir nicht zu bestätigen, aber die
Ehe ist für dich bisher schrecklich gewesen, nicht wahr?«
»So würde ich es eigentlich nicht ausdrücken.«
»Jedenfalls hat es sich da und dort herumgesprochen,
wie sie dich zur Heirat gezwungen hat. Damals 1979, als
du nach Rio fahren wolltest ...«
»Ach ja, Rio! So viele Pläne, und doch bin ich nie
hingekommen.«
»Und wie sie ihre Kleider zerrissen, sich die Haare
gerauft und gedroht hat, die Polizei zu rufen, wenn du sie
nicht heiratest.«
»Sie war immer sehr sensibel, Smith, verstehst du.«
»Es war mehr als unfair. Du liebtest sie nicht. Und du
hast es ihr auch gesagt, stimmt's nicht?«
»Ich erinnere mich, daß ich in dieser Sache ziemlich
deutlich gewesen bin.«
»Aber du hast sie trotzdem geheiratet.«
»Ich mußte an meine Firma denken, ebenso an meine
Mutter und meinen Vater. Ein solcher Skandal hätte sie
getötet.«
»Und so geht das nun seit zehn Jahren.«
»Ja«, sagte Braling, dessen graue Augen starr geradeaus
blickten. »Doch vielleicht ändert sich die Lage jetzt. Sieh
her.«
Er zog ein langes blaues Billet aus der Tasche.
»Ach, das ist ja ein Flugschein nach Rio mit der
Donnerstags-Rakete!«
»Ja, endlich habe ich es geschafft.«
»Aber das ist ja großartig! Du hast es wirklich verdient!
Doch wird sie auch keine Einwände erheben?
Schwierigkeiten machen?«
Braling lächelte nervös. »Sie wird gar nicht merken, daß
ich fort bin.«
Smith seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mit dir
Siegen.«
»Armer Smith, deine Ehe ist auch nicht gerade rosig?«
»Nicht besonders, wenn man mit einer Frau verheiratet
ist, die zuviel des Guten tut. Weißt du, wenn man zehn
Jahre verheiratet ist, erwartet man schließlich nicht mehr,
daß die Frau einem Abend für Abend zwei Stunden lang
auf dem Schoß sitzt, einen zwölfmal am Tag im Büro
anruft und verliebten Unsinn schwatzt. Manchmal überlege
ich mir, ob sie nicht vielleicht etwas zu naiv ist.«
»Ah, Smith, immer der alte – nur niemand zu nahe
treten. Doch wir sind bei meinem Haus angelangt. Na,
möchtest du gern mein Geheimnis kennenlernen? Wie ich's
angestellt habe, heute abend zu entwischen?«
»Willst du's mir wirklich verraten?«
»Schau hoch, dort!« sagte Braling.
Sie starrten beide durch die Dunkelheit nach oben.
Am Fenster über ihnen im ersten Stock öffnete sich ein
Laden. Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, mit
leicht angegrauten Schläfen, traurigen grauen Augen und
einem schmalen, schütteren Schnurrbart sah zu ihnen
herab.
»Himmel, das bist ja du!« rief Smith.
»Sch-sch, nicht so laut!« Braling winkte nach oben. Der
Mann am Fenster winkte bedeutungsvoll zurück und
verschwand.
»Ich muß verrückt sein«, sagte Smith.
»Gedulde dich einen Augenblick.«
Sie warteten.
Die Haustür öffnete sich, und der große hagere Mann
mit dem Schnurrbart und den kummervollen Augen trat
heraus und gesellte sich zu ihnen.
»Hallo, Braling«, sagte er.
»Hallo, Braling«, erwiderte Braling.
Die beiden waren identisch.
Smith staunte mit weitaufgerissenen Augen. »Ist das
dein Zwillingsbruder? Ich habe nie gewußt ...«
»Nein, nein«, sagte Braling ruhig. »Tritt näher. Lege
dein Ohr an die Brust von Braling Zwei.«
Smith zögerte, beugte sich dann aber vor und legte
seinen Kopf gegen die Rippen des anderen.
Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick.
»Oh, nein! Das kann nicht sein!«
»Es ist so.«
»Laß mich nochmal hören.«
Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick.
Smith richtete sich schwankend auf und klappte entsetzt
mit den Augenlidern. Er streckte den Arm aus und berührte
die warmen Hände und Wangen des Dings.
»Woher hast du es?«
»Ist er nicht fabelhaft nach Maß gearbeitet?«
»Unglaublich. Woher?«
»Gib dem Herrn deine Karte, Braling Zwei.«
Braling Zwei produzierte eine weiße Karte:
MARIONETTEN, E. V.
Die Stadt
Stunde Null
Das Raumschiff