(Bradbury Ray) Der Illustrierte Mann

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Die Erde, der Weltraum und die Sterne

Dies ist die deutsche Ausgabe von Ray Bradburys THE


ILLUSTRATED MAN. Das Buch enthielt in den USA
mehrere Literaturpreise. DER ILLUSTRIERTE MANN
bringt:

die Geschichte der Nächstenliebe auf dem Mars –


die Geschichte vom Wahnsinn im ewigen Regen der Venus

die Geschichte vom einsamen Sterben im All –
die Geschichte von der Stunde Null –
die Geschichte des Mannes, der den Erlöser auf fernen
Sternen sucht –
und andere ungewöhnliche Stories.

RAY BRADBURY

DER
ILLUSTRIERTE
MANN
Utopische Erzählungen

WILHELM HEYNE VERLAG


MÜNCHEN

HEYNE BUCH Nr. 3057


im Wilhelm Heyne Verlag, München

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE ILLUSTRATED MAN

Deutsche Übersetzung von Peter Naujack


Taschenbuchausgabe mit Genehmigung des
Diogenes-Verlages Zürich
Printed in Germany 1965
Umschlag: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg

INHALT

Prolog .............................................................................................................. 5
Das Kinderzimmer
(THE VELDT) .................................................................................................... 9
Kaleidoskop
(KALEIDOSCOPE) .............................................................................................. 21
Die Landstraße
(THE HIGHWAY) ................................................................................................ 28
Der Mann
(THE MAN) ....................................................................................................... 31
Der lange Regen
(THE LONG RAIN) ............................................................................................. 41
Die Feuerballons
(THE FIRE BALLOONS) ...................................................................................... 51
Die letzte Nacht der Welt
(THE LAST NIGHT OF THE WORLD) ................................................................... 65
Die Verbannten
(THE EXILES) .................................................................................................... 69
Kein Abend, kein Morgen ...
(NO PARTICULAR NIGHT OR MORNING) ............................................................ 80
Der Fuchs und die Hasen
(THE FOX AND THE FOREST) ............................................................................ 88
Der Besucher
(THE VISITOR) .................................................................................................. 101
Zementmixer
(THE CONCRETE MIXER) .................................................................................. 111
Marionetten e. V.
(MARIONETTES, INC.) ....................................................................................... 126
Die Stadt
(THE CITY) ....................................................................................................... 132
Stunde Null
(ZERO HOUR) ................................................................................................... 138
Das Raumschiff
(THE ROCKET) .................................................................................................. 147
Epilog .............................................................................................................. 155

Prolog

An einem warmen Nachmittag, anfangs September,


begegnete ich ihm zum ersten Mal – dem illustrierten
Mann. Ich befand mich auf der letzten Etappe einer
zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin. Am späten
Nachmittag machte ich Rast, aß etwas Speck, Brot und
einen Berliner Pfannkuchen und wollte mich gerade
langlegen und lesen, als der illustrierte Mann über die
Hügelkuppe trat und sich einen Augenblick lang gegen den
Himmel abzeichnete.
Ich wußte zu jenem Zeitpunkt noch nicht, daß er
illustriert war; ich sah lediglich, daß er groß war, früher
einmal sehnig und muskulös gewesen sein mußte, jetzt aber
aus irgendeinem Grunde zu fett schien. Ich erinnere mich,
daß er lange Arme und dicke Hände hatte, sein Gesicht
jedoch wie das eines Kindes auf einem zu gewaltigen
Körper aussah.
Er schien meine Gegenwart nur zu spüren, denn als er
zu sprechen begann, sah er mich nicht an.
»Wissen Sie, wo ich einen Job bekommen kann?«
»Bedaure, nein«, antwortete ich.
»Seit vierzig Jahren hab' ich keinen dauerhaften Job
mehr gehabt«, sagte er.
Obwohl es heiß war, trug er sein wollenes Hemd bis an
den Hals geschlossen. Die Ärmel waren heruntergerollt
und über seinen dicken Handgelenken zugeknöpft. Der
Schweiß rann ihm in Strömen vom Gesicht, doch er machte
keine Anstalten, sein Hemd zu öffnen.
»Na ja«, meinte er schließlich, »eigentlich könnte ich
genauso gut hier wie irgendwo anders die Nacht
verbringen. Haben Sie etwas gegen Gesellschaft?«
»Ich hab' noch was von meinem Proviant übrig, das ich
Ihnen gern anbieten würde«, erwiderte ich.
Schwerfällig und mit einem Grunzen setzte er sich. »Es
wird Ihnen noch leid tun, daß Sie mich zum Bleiben
aufgefordert haben«, sagte er. »Bisher hat's noch jeder
bedauert. Deshalb bin ich ja auf der Walz. Und das
anfangs September, wo überall die Veranstaltungen zum
Arbeiterfeiertag dem Höhepunkt entgegensteuern. Auf
jedem Kleinstadtrummelplatz sollte ich das Geld nur so
schaufeln können, dabei sitz' ich hier, ohne jede Aussicht.«
Er zog einen Schuh aus und betrachtete ihn eingehend.
»Gewöhnlich behalte ich so einen Job zehn Tage. Und
dann passiert etwas, und ich werde rausgeschmissen.
Heute ist es soweit, daß kein Schaubudenbesitzer in ganz
Amerika mich mit der Kohlenzange anfassen möchte.«
»Und der Grund dafür?« fragte ich.
Als Antwort öffnete er langsam seinen Kragen. Mit
geschlossenen Augen machte er alle Knöpfe seines Hemdes
auf. Er ließ seine Hand hineingleiten und tastete über seine
Brust. »Sonderbar«, sagte er, immer noch mit
geschlossenen Augen. »Man kann sie nicht fühlen, aber sie
sind doch da. Ich hoffe unentwegt, daß ich eines Tages
hinsehen werde, und sie sind verschwunden. Stundenlang
trabe ich an den heißesten Tagen durch die Sonne und
hoffe daß mein Schweiß sie wegwaschen wird, daß die
Sonne sie fortbrennt, aber am Abend sind sie immer noch
da.« Er drehte sich ein wenig zu mir hin und zog mit
beiden Händen das Hemd über seiner Brust weit
auseinander. »Sind sie auch jetzt noch da?«
Ich hielt unwillkürlich den Atem an. »Ja«, sagte ich
nach einer langen Pause. »Sie sind immer noch da.«
»Ein weiterer Grund, warum ich mein Hemd bis zum
Kragen zugeknöpft lasse«, sagte er, »sind die Kinder. Sie
laufen mir auf den Landstraßen nach.«
Er zog sein Hemd aus und legte es zusammen. Von
einem blauen, eintätowierten Ring um seinen Hals war er
bis zur Gürtellinie mit Illustrationen bedeckt.
»Und genauso geht's weiter«, erriet er meine Gedanken.
»Ich bin am ganzen Körper tätowiert. Sehn Sie.« Er öffnete
seine Hand. Auf der Innenseite war eine Rose abgebildet,
zwischen deren zartrosa Blütenblättern kristallklare
Tautropfen standen.
Ich kann kaum sagen, wie überwältigt ich dasaß und ihn
anstarrte; der ganze Mann floß förmlich über von Bildern,
so echt in den kleinsten Einzelheiten und in der Farbe, daß
ich leise Stimmen aus den Menschenmengen, die seinen
Körper bewohnten murmeln zu hören glaubte. Wenn sein
Fleisch sich bewegte, zuckten die kleinen Münder,
blinzelten die winzigen grüngoldenen Augen, gestikulierten
die winzigen rosa Hände. Gelbe Wiesen und blaue Flüsse
und Berge waren da, und Sterne und Sonnen und Planeten
zogen wie in einer Milchstraße über seine Brust. Die
Menschen verbreiteten sich in zwanzig oder mehr
sonderbaren Gruppierungen über seine Arme und
Schultern, seinen Rücken, die Seiten und die Handgelenke
und auch über seinen Bauch. Man fand sie in Wäldern von
Haaren, versteckt zwischen einer Konstellation von
Sommersprossen oder aus den Achselhöhlen lugend mit
glitzernden kleinen Diamantaugen. Jeder schien völlig
versunken in seine eigene Betriebsamkeit; jedes Gesicht
war vergleichbar mit einem Porträt von Meisterhand.
»Einfach wunderbar!« rief ich aus.
Hätte El Greco in seiner Blütezeit Miniaturen gemalt,
nicht größer als eine Handfläche, unendlich detailliert, mit
seinen schwefligen Farben, seiner Exaktheit und seiner
Gliederungskunst – der Körper dieses Mannes hätte seine
Leinwand sein können. Die Farben brannten in drei
Dimensionen; sie waren Fenster, die den Blick auf eine
feurige Wirklichkeit freigaben. Hier, zusammengerafft auf
einer einzigen Ausstellungswand, befanden sich die
schönsten Stücke des Universums; der Mann war eine
wandernde Kunstgalerie. Das war nicht die Arbeit eines
billigen Rummelplatztätowierers. Es war das Werk eines
Genies, voll vibrierenden Lebens, klar und wunderschön.
»Oh ja«, sagte der illustrierte Mann; »ich bin so stolz
auf meine Illustrationen, daß ich sie am liebsten abbrennen
möchte. Ich hab's schon mit Sandpapier versucht, mit
Salzsäure, mit dem Messer ...«
Die Sonne sank hinter den Horizont. Der Mond stand
bereits hoch im Osten.
»Sie müssen nämlich wissen«, fuhr der illustrierte Mann
fort, »diese Bilder sagen die Zukunft voraus.«
Ich schwieg.
»Solange die Sonne scheint, ist alles in Ordnung«,
sprach er weiter. »Tagsüber könnte ich schon in einer
Schaubude arbeiten. Aber nachts – nachts fangen die
Bilder an, sich zu bewegen. Sie verändern sich.«
Ich muß unwillkürlich gelächelt haben. »Wie lange sind
Sie schon so – illustriert?«
»1900, als ich zwanzig Jahre alt war und in einem
Zirkus arbeitete, brach ich mir ein Bein. Damit war ich
eine Zeitlang auf Eis gelegt. Ich mußte einfach etwas
unternehmen, um nicht völlig zu versauern, und da
beschloß ich, mich tätowieren zu lassen.«
»Aber wer hat Sie tätowiert? Was ist mit dem Künstler
geschehen?«
»Es war eine alte Frau«, antwortete er. »Sie ging wieder
zurück in die Zukunft. Ich lernte sie in einem kleinen Haus
mitten in Wisconsin kennen, irgendwo in dieser Gegend,
nicht weit weg von hier. Eine kleine alte Hexe – einmal sah
sie wie tausend Jahre alt aus und im nächsten Augenblick
wieder wie zwanzig. Sie erzählte mir, sie könne in der Zeit
reisen. Damals hab' ich gelacht. Nun, heute weiß ich es
besser.«
»Wie kam es denn, daß Sie ihr begegneten?«
Er erzählte es mir. Er hatte ihr handgemaltes Schild am
Straßenrand gesehen: HAUT-ILLUSTRATIONEN!
Illustrationen anstelle von Tätowierungen! Und so hatte er
die ganze Nacht gesessen, während ihre magischen Nadeln
ihm Wespenstiche und Mückenstiche versetzten. Am
nächsten Morgen sah er aus wie ein Mann, den man in
eine Zwanzig-Farben-Druckerpresse gestoßen und über
und über bunt und voller Bilder wieder herausgequetscht
hatte.
»Seit fünfzig Jahren jage ich hinter ihr her«, sagte er
und streckte die Hände weit von sich in die Luft. »Wenn ich
diese Hexe jemals finde, bringe ich sie um!«

Die Sonne war untergegangen. Die ersten Sterne schienen,


und das Mondlicht überglänzte Wiesen und Weizenfelder.
Die Bilder des illustrierten Mannes schimmerten wie
glimmende Holzkohlen im Zwielicht, wie verstreute Rubine
und Smaragde, in Farben von Rouault und Picasso und
den langen, schmalen Gestalten von El Greco.
»So wirft man mich hinaus, wenn meine Bilder sich
bewegen. Die Leute mögen es nicht, wenn sich
gewalttätige Dinge in meinen Illustrationen abspielen.
Jede enthält eine kleine Geschichte. Wenn man sie
beobachtet, erzählen sie einem in wenigen Minuten ihre
Geschichte. In drei Stunden kann man eine ganze Menge
Geschichten auf meinem Körper aufgeführt sehen,
Stimmen hören und Gedanken mitdenken. Alles ist da und
wartet nur darauf, daß Sie zusehen. Aber am wichtigsten
ist eine ganz besondere Stelle.« Er drehte mir den Rücken
zu. »Sehn Sie? Auf meinem rechten Schulterblatt – da ist
keine richtige Illustration – nur so ein Durcheinander.«
»Ja.«
»Wenn ich lange genug mit jemandem zusammen bin,
verschwimmt diese Stelle und wird dann klar. Die ganze
Lebensgeschichte des Betrachters steht eine Stunde später
auf meinem Rucken.«
Während er sprach, wanderten seine Hände unablässig
über die Illustrationen, als wolle er sie zurechtrücken,
Staub fortwischen. Dann legte er sich zurück und streckte
sich lang und bequem im Mondlicht aus. Es war eine
warme Nacht. Kein Windhauch regte sich, und die Luft war
drückend. Auch ich hatte mein Hemd ausgezogen.
»Und Sie haben die Alte tatsächlich nie
wiedergesehen?«
»Nie.«
»Und Sie sind überzeugt, daß sie aus der Zukunft kam?«
»Wie sonst hätte sie diese Geschichten kennen können,
die sie mir auf den Leib gemalt hat?«
Ermüdet schloß er die Augen. Seine Stimme wurde
leiser. »Manchmal, nachts, fühle ich sie – die Bilder; wie
Ameisen, die über meine Haut krabbeln. Ich weiß dann,
daß sie tun, was sie tun müssen. Ich sehe überhaupt nicht
mehr hin. Ich versuche nur zu ruhen. Ich schlafe nicht viel.
Sehen Sie auch nicht hin, ich warne Sie. Drehn Sie sich
nach der andern Seite, wenn Sie schlafen.«
Ich legte mich etwa einen Meter entfernt von ihm hin. Er
schien mir nicht bösartig zu sein, und die Bilder waren
wunderbar. Andernfalls hätte ich mich vielleicht versucht
gefühlt, vor so einem Schwätzer das Weite zu suchen. Aber
diese Illustrationen ... meine Augen schwelgten förmlich
darin.
Die Nacht war ruhig. Unter dem Licht des Mondes
konnte ich die Atemzüge des illustrierten Mannes hören.
Grillen zirpten leise zwischen den fernen Hügelketten. Ich
hatte mich auf die Seite gelegt, so daß ich die
Illustrationen beobachten konnte. Vielleicht eine halbe
Stunde verstrich. Ob der illustrierte Mann schlief oder
nicht, konnte ich nicht sagen; doch plötzlich hörte ich ihn
flüstern: »Sie bewegen sich, nicht wahr?«
Ich wartete eine Minute.
Dann antwortete ich: »Ja.«
Die Bilder bewegten sich, eins nach dem andern, jedes
für ein oder zwei kurze Augenblicke. Hier im Mondlicht,
mit leise anklingenden Gedanken und dem fernen Murmeln
der Seen, schien jedes ein kleines Drama aufzuführen. Ob
es nun eine, zwei oder drei Stunden dauerte, bis alle
durchgespielt waren, könnte ich nur schwer sagen. Ich
weiß nur, daß ich völlig fasziniert dalag und mich nicht
regte, während die Sterne durch den Himmel kreisten.
Sechzehn Illustrationen, sechzehn Erzählungen. Ich
zählte sie, eine nach der andern.
Die erste Szene, die meinen Blick bannte, war ein großes
Haus mit zwei Leuten darin. Ich sah eine Kette von
Aasgeiern durch einen brennenden, fleischfarbenen
Himmel fliegen, ich sah Löwen, und ich hörte Stimmen.
Die erste Illustration begann zu leben ...

Das Kinderzimmer

»George, ich möchte gern, daß du dir mal das


Kinderzimmer ansiehst.«
»Stimmt etwas nicht damit?«
»Ich weiß nicht.«
»Na also.«
»Ich möchte nur, daß du es dir einmal ansiehst, das ist
alles – oder einen Psychologen zuziehst, damit der es
prüft.«
»Was sollte wohl ein Psychologe mit einem
Kinderzimmer anfangen?«
»Du weißt sehr gut, daß er etwas tun kann.« Seine Frau
blieb in der Mitte der Küche stehen und blickte zum Herd
hinüber, der geschäftig summend selbsttätig das
Abendessen für vier Personen zubereitete.
»Ich meine nur, das Kinderzimmer ist jetzt einfach ganz
anders als früher.«
»Also gut, laß uns einen Blick hineinwerfen.«
Sie gingen den Korridor ihres schalldichten
›Lebensglück-Hauses‹ hinunter, das sie, fertig eingerichtet,
dreißigtausend Dollar gekostet hatte, dieses Haus, das sie
ankleidete und fütterte, sie in den Schlaf wiegte und sang
und gut zu ihnen war. Ihre Annäherung ließ irgendwo einen
Kontakt ansprechen, und das Licht im Kinderzimmer ging
an, als sie noch etwa drei Meter davor waren. Auf ähnliche
Weise hatte während ihres Ganges durch die Korridore eine
lautlose Automatik die Lampen vor und hinter ihnen an-
und ausgeschaltet.
»Nun«, sagte George Hadley.
Sie standen auf dem mit Strohmatten ausgelegten
Fußboden des Kinderzimmers. Es war etwa zwölf mal
zwölf Meter groß und neun Meter hoch; es hatte noch
einmal halb so viel gekostet wie das ganze übrige Haus.
Aber »nichts ist zu gut für unsere Kinder«, hatte George
gesagt.
Das Kinderzimmer war stumm. Es war leer wie eine
Lichtung im Dschungel an einem heißen Mittag. Die
Wände waren massiv und zweidimensional. Doch jetzt,
während George und Lydia Hadley in der Mitte des
Raumes standen, begannen die Wände zu surren und sich
scheinbar in kristallklare Weite aufzulösen, und langsam
erschien vor ihren Augen eine afrikanische Steppe,
dreidimensional nach allen Seiten, farbig und vollkommen
natürlich bis zum letzten Kieselstein und Grashalm. Die
Decke über ihnen wurde zu einem unendlichen Himmel
mit einer heißen gelben Sonne.
George Hadley fühlte den Schweiß auf seiner Stirn
ausbrechen.
»Laß uns wieder hinausgehen«, sagte er. »Diese Sonne
ist mir etwas zu wirklich. Aber sonst finde ich nichts daran
auszusetzen.«
»Bleib noch einen Augenblick, du wirst's schon sehen«,
erwiderte seine Frau.
Die verborgenen Odorophone begannen jetzt den beiden
in der Mitte der ausgedörrten Steppe stehenden Menschen
Gerüche entgegenzublasen: den heißen, strohigen Geruch
trockenen Grases, den Duft nach kühlem Grün von dem
versteckten Wasserloch, die strenge, harte Ausdünstung
von Tieren – und der Geruch nach Staub hing in der
hitzeflimmernden Luft. Und dann die Geräusche: das
dumpfe Dröhnen von Antilopenhufen in der Ferne, das
papierartige Rauschen von Geierschwingen. Ein Schatten
zog durch den Himmel. Der Schatten strich über George
Hadleys nach oben gerichtetes, schweißbedecktes Gesicht.
»Scheußliche Tiere«, hörte er seine Frau sagen.
»Aasgeier.«
»Siehst du, dort sind die Löwen, weit hinten, dort
drüben. Sie gehen gerade zum Wasserloch hinüber. Sie
haben eben gefressen«, sagte Lydia. »Ich weiß nur nicht,
was.«
»Irgendein Tier.« George Hadley hob die Hand, um
seine zusammengekniffenen Augen gegen das beißende
Licht zu beschirmen. »Ein Zebra vielleicht oder eine junge
Giraffe.«
»Bist du sicher?« Die Stimme seiner Frau klang
merkwürdig gespannt.
»Nein, um es genau sagen zu können, ist es ein bißchen
zu spät«, antwortete er amüsiert. »Nichts mehr zu sehen als
abgenagte Knochen und Aasgeier, die sich auf die Reste
stürzen.«
»Hast du den Schrei gehört?« fragte sie.
»Nein.«
»Vor ungefähr ein paar Minuten?«
»Tut mir leid, nein.«
Die Löwen kamen auf sie zu. Und wieder verspürte
George Hadley grenzenlose Bewunderung für das Genie
des Mannes, der dieses Zimmer erdacht hatte. Ein Wunder
an physikalisch-technischen Funktionen für einen
lächerlich geringen Preis. Jede Familie sollte so ein
Zimmer besitzen. Nun ja, gelegentlich erschreckte es einen
mit seiner klinischen Genauigkeit, ängstigte einen und ließ
die Haare zu Berge stehen, doch die meiste Zeit bot es
einen gewaltigen Spaß – nicht nur für den Sohn und die
Tochter, sondern auch für einen selbst, wenn man das
Bedürfnis nach einem Tapetenwechsel verspürte, einer
kleinen Spritztour in ein fremdes Land. Bitte sehr, hier war
es!
Und hier waren jetzt die Löwen, etwa fünf Meter
entfernt und so wirklich, so beängstigend und erstaunlich
wirklich, daß man ihr Fell an den Händen prickeln zu
spüren glaubte und die Kehle von dem staubigen
Raubtiergeruch ihrer erhitzten Pelze wie verstopft war. Ihr
leuchtendes Gelbbraun hatte die Farbe feiner französischer
Wandteppiche, das Gelbbraun von Löwen und Steppengras
und das knurrende Atmen der Tiere klang wie gedämpftes
Gezeitenrollen durch den stillen Mittag, während der
Geruch rohen Fleisches aus ihren hechelnden Rachen zu
ihnen herüberwehte.
Die Löwen standen da und starrten George und Lydia
Hadley aus furchterregenden grüngelben Augen an.
»Paß auf!« schrie Lydia.
Die Löwen kamen auf sie zugelaufen.
Lydia fuhr herum und rannte. George sprang instinktiv
hinter ihr her. Draußen im Korridor, als sie die Tür hinter
sich zugeschlagen hatten, stand sie weinend und er lachend
da, und beide waren entsetzt über die Reaktion des
anderen.
»George!«
»Lydia! Oh, meine liebe, arme, süße Lydia!«
»Sie haben uns beinahe erwischt!«
»Schemen, Lydia, vergiß das nicht; nichts als Schemen.
Nun ja ich muß zugeben, daß sie sehr echt aussehen –
Afrika in der eigenen Wohnung – aber das sind alles nur
dimensionale Superreaktionen, höchstempfindlicher
Farbfilm und auf Band aufgezeichnete geistige
Vorstellungen hinter Glasscheiben. Odorophone und
Geräuschkulissen, Lydia. Hier, nimm mein Taschentuch.«
»Ich habe Angst.« Sie trat zu ihm, preßte sich gegen
seinen Körper und weinte unablässig. »Hast du's nicht
gesehen? Hast du's nicht gefühlt? Es ist einfach zu echt.«
»Bitte, Lydia ...«
»Du mußt Wendy und Peter sagen, daß sie nichts mehr
über Afrika lesen dürfen.«
»Selbstverständlich – selbstverständlich.« Er streichelte
sie beruhigend.
»Versprichst du's mir?«
»Gewiß doch.«
»Und du mußt das Kinderzimmer für ein paar Tage
abschließen, bis meine Nerven sich wieder beruhigt
haben.«
»Du weißt, wie widerspenstig Peter in dieser Sache ist.
Als ich ihn vor einem Monat damit bestrafte, das
Kinderzimmer nur für ein paar Stunden abzuschließen –
wie er sich da aufgeführt hat! Und Wendy auch. Das
Kinderzimmer ist ihr ein und alles.«
»Es muß abgeschlossen werden, etwas anderes kommt
nicht in Frage.«
»Also gut.« Widerwillig schloß er die mächtige Tür ab.
»Du hast zu viel gearbeitet. Du brauchst Erholung.«
»Ich weiß nicht – ich weiß nicht«, erwiderte sie, putzte
sich die Nase und setzte sich in einen Stuhl, der sofort zu
schaukeln und sie zu beruhigen begann. »Vielleicht habe
ich einfach nicht genug zu tun. Vielleicht habe ich zu viel
Zeit zum Nachdenken. Warum schließen wir nicht das
ganze Haus ein paar Tage ab und machen Ferien?«
»Du meinst, du möchtest für mich das Essen kochen?«
»Ja.« Sie nickte.
»Und meine Socken stopfen?«
»Ja.« Ungestüm nickend, sah sie ihn aus tränenden
Augen an.
»Und das Haus sauber machen?«
»Ja, ja – oh ja!«
»Aber ich denke doch, wir haben dieses Haus gerade
deshalb gekauft, damit wir nichts selbst zu tun brauchen?«
»Das ist es eben. Ich komme mir vor, als ob ich nicht
hierher gehöre. Das Haus ist jetzt Hausfrau, Mutter und
Kindermädchen. Kann ich mit einer afrikanischen Steppe
konkurrieren? Kann ich die Kinder so gründlich und
schnell baden und abschrubben, wie es unser automatisches
Bad tut? Ich kann es nicht. Und mir geht es nicht allein so.
Auch dir. Du bist in letzter Zeit schrecklich nervös.«
»Ich nehme an, ich habe zuviel geraucht.«
»Du siehst aus, als ob du auch nicht wüßtest, was du mit
dir in diesem Haus anfangen sollst. Jeden Vormittag
rauchst du etwas mehr, jeden Nachmittag trinkst du etwas
mehr, und jeden Abend brauchst du etwas mehr
Schlafmittel. Du beginnst auch, dich überflüssig zu
fühlen.«
»Tu' ich das?« Er machte eine Pause und versuchte in
sich hineinzuschauen, um zu erkennen, was wirklich in ihm
vorging.
»Oh, George!« Sie blickte an ihm vorbei auf die Tür des
Kinderzimmers. »Diese Löwen können doch nicht dort
heraus, nicht wahr?«
Er wandte den Kopf und sah die Tür erzittern, als ob
irgend etwas von der anderen Seite dagegenspränge.
»Natürlich nicht«, erwiderte er.
Beim Abendessen blieben sie allein, denn Wendy und Peter
besuchten eine plastische Sonderschau im
Vergnügungspark am anderen Ende der Stadt und hatten
über das Fernsehtelefon Bescheid gesagt, sie würden später
kommen und die Eltern sollten ruhig schon zu essen
beginnen. So saß George Hadley grübelnd am
Eßzimmertisch und sah zu, wie aus dessen technischen
Eingeweiden Teller mit warmen Gerichten an der
Oberfläche erschienen.
»Wir haben das Ketchup vergessen«, sagte er.
»Verzeihung«, antwortete eine dünne Stimme aus dem
Tisch, und eine Flasche mit Ketchup tauchte auf.
Den Kindern, dachte George Hadley, würde es nicht
schaden, wenn man sie eine Zeitlang aus dem
Kinderzimmer ausschloß. Zuviel von ein und demselben tat
niemandem gut. Und alles deutete klar darauf hin, daß die
Kinder sich ein wenig zuviel mit Afrika beschäftigt hatten.
Diese Sonne. Er fühlte sie immer noch in seinem Nacken,
wie eine heiße Pranke. Und die Löwen. Und der
Blutgeruch. Fabelhaft, wie das Kinderzimmer die
telepathischen Gedankenströme der Kinder auffing und
Leben schuf, um alle ihre Wünsche zu erfüllen. Die Kinder
dachten Löwen, und da waren Löwen. Die Kinder dachten
Zebras, und da waren Zebras. Sonne – Sonne. Giraffen –
Giraffen. Tod – und Tod.
Diese letzte Vorstellung! Er kaute, ohne es zu
schmecken, auf dem Fleisch herum, das der Tisch ihm
geschnitten und vorgesetzt hatte. Todesgedanken. Sie
waren reichlich jung für Todesgedanken, Wendy und Peter.
Oder – nein, man war nie dafür zu jung, eigentlich. Lange
bevor man wußte, was Tod bedeutete, wünschte man ihn
jemand anderem. Schon mit zwei Jahren schoß man mit
Spielzeugpistolen auf Leute.
Aber dies – die weite, heiße afrikanische Steppe – der
furchtbare Tod im Rachen eines Löwen. Und die ständige
Wiederholung.
»Wohin gehst du?«
Er gab Lydia keine Antwort. Gedankenverloren merkte
er nicht wie die Lampen lautlos vor ihm aufleuchteten und
hinter ihm wieder verlöschten, während er auf die
Kinderzimmertür zuschritt. Lauschend legte er das Ohr
dagegen. Weit entfernt brüllte ein Löwe.
Er schloß die Tür auf und öffnete sie. Gerade als er
eintreten wollte, hörte er einen entfernten Schrei. Und
darauf ein weiteres Löwengebrüll, das jedoch rasch
verstummte.
Er trat ein und war in Afrika. Wie oft hatte er im
vergangenen Jahr die Tür geöffnet und sich im Wunderland
befunden, mit Alice und der falschen Schildkröte, oder
hatte Aladin mit seiner Wunderlampe gesehen, oder Jack
Pumpkinhead aus Oz, oder Doktor Doolittle, oder die Kuh,
die über einen äußerst echt aussehenden Mond sprang – all
die köstlichen Erfindungen einer Scheinwelt. Wie oft hatte
er Pegasus durch den Himmel an der Decke fliegen sehen,
oder bunte Feuerwerksfontänen, oder Engelsstimmen
singen hören. Aber jetzt, dieses gelblodernde Afrika, dieser
Backofen mit Mord unter der sengenden Sonne! Vielleicht
hatte Lydia recht. Vielleicht benötigten sie einen kleinen
Urlaub von ihrer Phantasie, die für zehnjährige Kinder ein
wenig zu wirklichkeitsnah zu werden begann. Es war in
Ordnung, daß sie ihren Geist mit Phantasiegymnastik
übten; aber wenn der lebhafte kindliche Geist sich auf eine
Schablone festlegte ...? Es schien ihm, als hätte er schon
seit einem Monat von ferne Löwengebrüll gehört und den
strengen Raubtiergeruch bis in sein Arbeitszimmer hinein
wahrgenommen. Doch da er sehr beschäftigt gewesen war,
hatte er sich nicht weiter darum gekümmert.
George Hadley stand allein inmitten einer afrikanischen
Steppe. Die Löwen blickten von ihrem Fraß auf und
beobachteten ihn. Der einzige Bruch in der vollkommenen
Illusion war die offene Tür, durch die er seine Frau sehen
konnte, die weit hinter dem dunklen Korridor, wie ein
gerahmtes Bild, geistesabwesend in ihrem Abendessen
herumstocherte.
»Verschwindet«, sagte er zu den Löwen.
Sie verschwanden nicht.
Er kannte das Arbeitsprinzip des Zimmers genau. Man
sandte seine Gedanken aus, und was auch immer man
dachte, nahm Gestalt an.
»Aladin und die Wunderlampe sollen erscheinen«, rief
er laut.
Die Steppe blieb; die Löwen blieben.
»Komm schon, Zimmer! Ich will Aladin!« befahl er.
Nichts geschah. Die Löwen in ihren hitzeflimmernden
Fellen fraßen weiter.
»Aladin!« Er ging zum Abendessen zurück. »Das
dumme Zimmer ist nicht in Ordnung«, sagte er. »Es will
nicht mehr reagieren.«
»Oder es kann nicht reagieren«, sagte Lydia, »weil die
Kinder so viele Tage an Afrika und Löwen und Töten
gedacht haben, daß das Zimmer jetzt ganz auf dieses eine
Schema festgelegt ist.«
»Kann sein.«
»Oder Peter hat es fest darauf eingestellt.«
»Eingestellt?«
»Er ist vielleicht in den Mechanismus eingedrungen und
hat irgend etwas blockiert.«
»Peter versteht nichts von dem Mechanismus.«
»Er ist sehr klug für zehn Jahre. Sein
Intelligenzquotient ...«
»Trotzdem ...«
»Hallo, Mami. Hallo, Papi.«
Die Hadleys drehten sich um. Wendy und Peter kamen
durch die Vordertür herein, mit roten Wangen und
strahlenden Augen.
»Ihr kommt gerade noch zum Abendessen zurecht«,
sagten beide Eltern wie aus einem Munde.
»Wir sind ganz voll Erdbeereis und heißer Würstchen«,
erwiderten die Kinder, die sich bei den Händen hielten.
»Aber wir wollen uns gern zu euch setzen und zusehen.«
»Ja, kommt her und erzählt uns von dem
Kinderzimmer«, sagte George Hadley.
Bruder und Schwester sahen erst ihn, dann einander
erstaunt an. »Kinderzimmer?«
»Nun, über Afrika und all das«, sagte der Vater mit
vorgetäuschter Heiterkeit.
»Ich versteh' dich nicht«, erwiderte Peter.
»Deine Mutter und ich sind gerade von einer Reise mit
Kamera und Büchse quer durch Afrika zurückgekehrt; Tom
Swift und sein elektrischer Löwe«, sagte George Hadley.
»Im Kinderzimmer ist kein Afrika«, sagte Peter einfach.
»Na, komm schon, Peter, gib's zu. Wir wissen es besser.«
»Ich kann mich an kein Afrika erinnern«, beharrte Peter.
»Du vielleicht, Wendy?«
»Nein.«
»Lauf nachsehen und komm uns erzählen.«
Sie lief los.
»Wendy, komm sofort zurück!« rief George Hadley, aber
sie war schon fort.
»Wendy wird nachsehen und uns dann berichten«, sagte
Peter.
»Sie braucht mir nichts zu berichten. Ich habe es selbst
gesehen.«
»Bestimmt hast du dich getäuscht, Vater.«
»Ich habe mich nicht getäuscht, Peter. Komm jetzt mit.«
Aber Wendy war schon zurück. »Da ist kein Afrika«,
sagte sie atemlos.
»Wir werden ja sehen«, sagte George Hadley, und alle
zusammen gingen sie den Korridor hinunter; er öffnete die
Kinderzimmertür.
Ein herrlicher grüner Wald empfing sie, ein Flüßchen
plätscherte, ein purpurner Berg ragte vor ihnen auf, helle
Stimmen sangen, und Rima, lieblich und geheimnisvoll,
bunte Schmetterlingsschwärme wie lebendige
Blumengebinde in ihrem langen Haar stahl sich durch die
Bäume. Die afrikanische Steppe war verschwunden. Die
Löwen waren verschwunden. Nur Rima war jetzt hier und
sang ein so wunderschönes Lied, daß es einen zu Tränen
rührte.
George Hadley blickte in die veränderte Szene. »Geht
ins Bett«, sagte er zu den Kindern.
Sie öffneten ihre Münder.
»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe.«
Sie traten in die Luftschleuse, wo sie wie braune Blätter
den Windfang hinauf zu ihren Schlafzimmern gesogen
wurden.
George Hadley ging durch die gesangerfüllte
Waldlichtung und hob etwas auf, das in der Ecke nahe der
Stelle lag, wo sich die Löwen aufgehalten hatten. Langsam
schritt er zurück zu Lydia.
»Was hast du da?« fragte sie.
»Eine alte Brieftasche von mir«, antwortete er.
Er zeigte sie ihr. Der Duft des heißen Grases, vermischt
mit dem scharfen Geruch von Löwen, hing noch daran. Sie
war zerbissen, und Speicheltropfen und Blut klebten auf
beiden Seiten.
Er zog die Tür des Kinderzimmers von außen zu und
schloß sie fest ab.

Noch um Mitternacht lag er wach und wußte, daß auch


seine Frau nicht einschlafen konnte. »Glaubst du, daß
Wendy den Wechsel bewirkt hat?« fragte sie schließlich
durch die Dunkelheit.
»Natürlich.«
»Daß sie die Steppe in einen Wald verwandelt und Rima
an Stelle der Löwen gesetzt hat?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht. Aber das Zimmer bleibt abgeschlossen,
bis ich es herausgefunden habe.«
»Wie ist deine Brieftasche dort hingekommen?«
»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte er, »außer daß ich
den Kauf dieses Zimmers für die Kinder zu bedauern
beginne. Wenn Kinder neurotisch veranlagt sind, kann ein
solches Zimmer ...«
»Es soll ihnen aber doch gerade helfen, ihre Neurosen
auf gesunde Art loszuwerden.«
»Ich fange an, mir darüber Gedanken zu machen.« Er
starrte zur Decke hoch.
»Wir haben den Kindern alles gegeben, was sie sich nur
wünschten. Ist das unser Lohn – Geheimnistuerei,
Ungehorsam?«
»Irgend jemand hat einmal gesagt, ›Kinder sind wie
Teppiche – man sollte gelegentlich auf sie treten‹. Wir
haben nie die Hand gegen sie erhoben. Sie sind
unerträglich – wollen wir's doch zugeben. Sie kommen und
gehen, wie es ihnen gefällt; sie behandeln uns, als seien wir
die Kinder.«
»Seit du ihnen vor ein paar Monaten verboten hast, mit
der Rakete nach New York zu fliegen, benehmen sie sich
ganz komisch.«
»Ich habe ihnen erklärt, daß sie noch zu jung sind, um so
eine Reise allein zu machen.«
»Jedenfalls habe ich festgestellt, daß sie sich seit diesem
Zeitpunkt entschieden kühl gegen uns verhalten.«
»Ich glaube, ich werde David McClean morgen
vormittag zu uns bitten, damit er sich dieses Afrika einmal
ansieht.«
»Aber es ist doch nicht mehr Afrika, sondern der
Märchenwald und Rima.«
»Ich habe so ein Gefühl, daß bis dahin wieder Afrika
dasein wird.« Einen Augenblick später hörten sie die
Schreie.
Zwei Schreie. Die Schreie von zwei Menschen im
Erdgeschoß. Und dann Löwengebrüll.
»Wendy und Peter sind nicht in ihren Zimmern«, sagte
Lydia.
Er lag mit klopfendem Herzen in seinem Bett. »Nein«,
erwiderte er. »Sie sind in das Kinderzimmer
eingebrochen.«
»Diese Schreie – sie kommen mir so bekannt vor.«
»Wirklich?«
»Ja, schrecklich bekannt.«
Und obgleich ihre Betten sich alle Mühe gaben, die
beiden Erwachsenen in Schlaf zu schaukeln brauchten sie
dazu noch eine gute Stunde. Raubtiergeruch hing in der
Nachtluft.

»Vater?« sagte Peter.


»Ja.«
Peter blickte auf seine Schuhspitzen. Er sah seinen
Eltern überhaupt nicht mehr ins Gesicht. »Du willst doch
das Kinderzimmer nicht für immer abschließen, nicht
wahr?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worauf?« verlangte Peter ungeduldig zu wissen.
»Auf dich und deine Schwester. Wenn ihr zwischen eure
Afrikabesuche ein wenig Abwechslung legt – sagen wir,
Schweden vielleicht, oder Dänemark oder China ...«
»Ich dachte, wir dürften spielen, was wir wollten.«
»Das dürft ihr auch, aber innerhalb vernünftiger
Grenzen.«
»Was gefällt dir denn nicht an Afrika, Vater?«
»Ach, du gibst also jetzt zu, daß ihr Afrika hergezaubert
habt?«
»Ich will nicht, daß du das Kinderzimmer abschließt«,
sagte Peter kalt. »Niemals.«
»Wir denken sogar daran, das ganze Haus für etwa einen
Monat abzuschließen und irgendwo auf dem Lande zu
leben, wo wir wieder alles selbst machen können.«
»Das hört sich ja schrecklich an! Muß ich dann meine
Schnürsenkel selbst binden, anstatt das den Schuhanzieher
machen zu lassen? Und mir selbst die Zähne putzen und
die Haare kämmen und mich in der Badewanne
abschrubben?«
»Zur Abwechslung würde das auch einmal Spaß
machen, meinst du nicht?«
»Nein, das wäre schrecklich. Ich fand es schon
schrecklich, daß du im letzten Monat den Bildermaler
wegnahmst.«
»Das tat ich nur, damit ihr lernen sollt, selbst Bilder zu
malen, mein Sohn.«
»Ich möchte aber nichts anderes als zuhören, zuschauen
und riechen; was sollte ich denn sonst tun?«
»Na schön, geh und spiel in Afrika.«
»Willst du unser Haus wirklich bald abschließen?«
»Wir überlegen es uns noch.«
»Es wäre besser, wenn ihr nicht länger daran dächtet,
Vater.«
»Ich dulde keine Drohungen von meinem Sohn!«
»Wie du willst.« Und Peter trollte sich ins
Kinderzimmer.
»Komme ich zur rechten Zeit?« fragte David McClean.
»Frühstück?« entgegnete George Hadley.
»Danke, hab' schon gefrühstückt. Wo fehlt's denn?«
»David, du bist doch Psychologe.«
»Ich hoffe es wenigstens.«
»Du mußt dir einmal unser Kinderzimmer ansehen. Du
hast schon vor einem Jahr einen Blick hineingeworfen, als
du uns besuchtest. Ist dir damals etwas Ungewöhnliches
aufgefallen?«
»Das kann ich nicht sagen; die üblichen
Gewalttätigkeiten, ein leichter Hang zur Paranoia hier und
da, wie es bei Kindern üblich ist, weil sie sich ständig von
ihren Eltern verfolgt fühlen, aber sonst eigentlich nichts
Beunruhigendes.«
Sie gingen den Korridor hinunter. »Ich hatte das
Kinderzimmer gestern abgeschlossen«, erklärte der Vater,
»und die Kinder brachen in der Nacht dort ein. Ich ließ sie
gewähren, damit du dir heute ihr Werk ansehen kannst.«
Ein furchtbares Schreien ertönte aus dem Kinderzimmer.
»Da sind wir«, sagte George Hadley. »Jetzt sieh zu, was
dir daran auffällt.«
Sie gingen zu den Kindern hinein, ohne anzuklopfen.
Die Schreie waren verstummt. Die Löwen fraßen.
»Lauft einen Augenblick hinaus, Kinder«, sagte George
Hadley. »Nein, ändert nicht die Mentalkombination. Laßt
alles, wie es ist. Hinaus!«
Als die Kinder gegangen waren, standen die beiden
Männer und beobachteten die sich in der Ferne
zusammendrängenden Löwen, die sich sichtlich ihre Beute
schmecken ließen.
»Ich möchte zu gern wissen, was sie da fressen«, sagte
George Hadley. »Manchmal kann ich es fast erkennen.
Glaubst du, wenn ich ein starkes Fernglas holte, könnte
ich ...«
David McClean lachte trocken. »Kaum«, meinte er. Er
drehte sich um und studierte eingehend alle vier Wände.
»Wie lange geht das nun schon so?«
»Etwas über einen Monat.«
»Jedenfalls spüre ich bestimmt nichts Gutes.«
»Tatsachen möchte ich, keine Gefühle.«
»Mein lieber George, ein Psychologe hat noch nie in
seinem Leben eine Tatsache gesehen. Er erfährt nur von
Gefühlen, unbestimmten Empfindungen. Und dies ist kein
gutes Gefühl, sage ich dir. Du kannst meinem Instinkt und
meinen Ahnungen vertrauen. Das hier ist sehr schlimm. Ich
kann dir nur raten, das ganze verdammte Zimmer
herausreißen zu lassen und mir deine Kinder das nächste
Jahr lang jeden Tag zur Behandlung zu schicken.«
»Ist es so schlimm?«
»Ich fürchte, ja. Ursprünglich waren diese
Kinderzimmer dazu bestimmt, daß wir die
Gedankenmuster des kindlichen Geistes an den Wänden
studieren konnten, in Muße studieren und dem Kinde
helfen konnten. In diesem Falle ist das Zimmer jedoch zu
einem Verstärkerkanal für – zerstörerische Gedanken
geworden, anstatt die Kinder davon zu befreien.«
»Hast du damals noch nichts davon gemerkt?«
»Ich spürte lediglich, daß ihr eure Kinder mehr als die
meisten Eltern verdorben hattet. Und jetzt hast du sie auf
irgendeine Weise schwer zurückgesetzt und enttäuscht.
Wodurch?«
»Ich ließ sie nicht nach New York fliegen.«
»Was noch?«
»Ich habe ein paar Automaten aus dem Haus entfernt,
und vor einem Monat drohte ich ihnen, das Kinderzimmer
ganz zu schließen, wenn sie nicht ihre Schularbeiten
machten. Für ein paar Tage habe ich es dann auch
abgeschlossen, um ihnen zu zeigen, daß ich es ernst
meinte.«
»Aha!«
»Hat das etwas zu bedeuten?«
»Alles. Während sie früher einen Weihnachtsmann
hatten, haben sie nun einen Scrooge. Kinder ziehen
Weihnachtsmänner vor. Du hast dieses Zimmer und dieses
Haus deine Stelle und die deiner Frau in der Zuneigung
eurer Kinder einnehmen lassen. Dieses Zimmer ist für sie
Mutter und Vater, viel wichtiger für ihr Leben als ihre
richtigen Eltern. Und nun kommst du daher und willst es
abschließen. Kein Wunder, daß hier Haß in der Luft liegt.
Man fühlt ihn förmlich aus dem Himmel herabfallen.
Spürst du diese Sonne! George, ihr müßt euer Leben
ändern. Wie so viele andere, habt ihr es nur auf materielle
Annehmlichkeiten gegründet. Ihr müßtet verhungern, wenn
etwas in eurer Küche nicht mehr funktionierte. Ihr wüßtet
vielleicht nicht einmal mehr, wie man ein Ei aufschlägt.
Eben darum müßt ihr einmal alle diese Apparate
abschalten. Fangt neu an. Es wird einige Zeit brauchen.
Aber in einem Jahr werden wir gute Kinder aus schlechten
gemacht haben wart' es nur ab.«
»Aber wird der Schock für die Kinder nicht zu groß sein,
wenn wir das Kinderzimmer so plötzlich für immer
abstellen?«
»Ich möchte auf keinen Fall, daß sie sich noch
eingehender mit dieser Geschichte befassen.«
Die Löwen hatten ihr blutiges Mahl beendet. Sie standen
am Rand ihres Futterplatzes und beobachteten die beiden
Männer.
»Jetzt fühle ich mich verfolgt«, sagte McClean. »Laß
uns hinausgehen. Ich habe diese verdammten Zimmer nie
besonders gern gemocht. Machen mich nervös.«
»Die Löwen sehen sehr echt aus, nicht wahr?« meinte
George Hadley. »Ich will doch nicht hoffen, daß sie
irgendwie ...«
»Daß sie was?«
»Daß sie irgendwie wirkliche Gestalt annehmen
können?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Irgendeine Fehlschaltung im Mechanismus, vielleicht
weil die Kinder daran herumgespielt haben?«
»Nein.«
»Ich glaube, das Zimmer wird sich nicht gern abschalten
lassen«, sagte der Vater.
»Nichts stirbt gern – nicht einmal ein Zimmer.«
»Ob es mich wohl haßt, weil ich es abschalten will?«
»Die Paranoia hängt heute hier ziemlich dick in der
Luft«, erklärte David McClean. »Man kann ihr folgen wie
auf einer Spur. – Hallo!« Er bückte sich und hob ein
blutiges Halstuch auf. »Ist das deins?«
»Nein.« George Hadleys Gesicht wurde hart. »Es gehört
Lydia.«
Sie gingen zusammen zum Sicherungskasten und warfen
den Hebel herum, der das Zimmer sterben ließ.

Die beiden Kinder bekamen hysterische Anfälle. Sie


schrien und bäumten sich auf und warfen Gegenstände
herum. Sie heulten und schluchzten und fluchten und
sprangen auf die Möbel.
»Ihr dürft das nicht mit dem Zimmer machen, ihr dürft
das nicht!«
»Nehmt euch zusammen, Kinder.«
Die Kinder warfen sich weinend auf eine Couch.
»George«, sagte Lydia Hadley, »schalte das
Kinderzimmer wieder ein, nur für ein paar Minuten. Du
kannst ihnen das nicht so plötzlich zumuten.«
»Nein!«
»Du kannst nicht so grausam sein.«
»Lydia, es ist abgeschaltet, und es bleibt abgeschaltet.
Und das ganze übrige verdammte Haus soll ebenfalls
augenblicklich ausgelöscht werden. Je mehr ich die Patsche
erkenne, in die wir da freiwillig hineingeraten sind, um so
übler wird mir davon. Wir haben schon viel zu lange
unseren automatisierten, elektronischen Nabel betrachtet.
Mein Gott, wie sehr wir doch einen Atemzug frische Luft
brauchen!«
Und er marschierte durch das Haus, schaltete die
sprechenden Uhren ab, die Herde, die Thermostaten, die
Schuhputzmaschinen, die Schnürsenkelbinder, die Bade-,
Bürste- und Massageapparate und alle anderen Maschinen,
die er erreichen konnte.
Das Haus schien voller Leichen zu sein. Man kam sich
vor wie auf einem Maschinenfriedhof. So still war es. Kein
Summen mehr von verhaltener Energie, die auf
Knopfdruck den Dienst verborgener Mechanismen
auslöste.
»Laßt ihn das nicht tun!« heulte Peter anklagend gegen
die Decke, als riefe er das Haus, das Kinderzimmer an.
»Laßt Vater nicht alles zerstören!« Er wandte sich an
seinen Vater: »Oh, ich hasse dich!«
»Frechheiten werden dir auch nicht helfen.«
»Ich wünschte, du wärest tot!«
»Wir waren es, eine lange Zeit. Aber jetzt wollen wir
beginnen, wirklich zu leben. Anstatt uns von den
Maschinen beherrschen und dirigieren zu lassen, wollen
wir jetzt wirklich leben.«
Wendy weinte immer noch, und Peter leistete ihr erneut
Gesellschaft. »Nur ein Mal noch, nur ein Mal noch, nur ein
einziges Mal noch das Kinderzimmer«, jammerten sie.
»O George«, sagte seine Frau, »es kann doch nichts
schaden.«
»Na schön – sie sollen ihren Willen haben, wenn sie
dann nur ruhig sind. Aber nur einen Augenblick,
verstanden, und dann aus und vorbei für immer.«
»Vati, Vati, Vati!« sangen die Kinder, mit glücklich
lächelnden, nassen Gesichtern.
»Und dann fahren wir in die Ferien. David McClean
kommt in einer halben Stunde und hilft uns, mit unseren
Sachen zum Flugplatz zu kommen. Ich gehe mich jetzt
umziehen. Du, Lydia, kannst das Kinderzimmer für ein
paar Minuten wieder anschalten, aber nur für ein paar
Minuten, denk dran.«
Plappernd zogen die drei los, während er sich durch die
Luftschleuse nach oben saugen ließ und begann, sich
umzukleiden. Einen Augenblick später erschien auch
Lydia.
»Wie werde ich froh sein, wenn wir abreisen!« seufzte
sie.
»Hast du sie im Kinderzimmer allein gelassen?«
»Ich wollte mich auch umziehen. Oh, dieses entsetzliche
Afrika! Was sie nur daran finden mögen?«
»Na, in fünf Minuten sind wir unterwegs nach Iowa.
Herrgott wie sind wir bloß zu diesem Haus gekommen?
Was hat uns nur dazu getrieben, einen Alpdruck zu
kaufen?«
»Falscher Stolz, Geld und Dummheit.«
»Ich glaube, wir gehen lieber nach unten, bevor die
Kinder sich wieder ganz mit diesen verdammten Bestien
beschäftigen.«
In diesem Augenblick hörten sie die Kinder rufen: »Vati,
Mami kommt schnell – schnell!«
Sie sausten durch die Luftschleuse nach unten und
rannten durch den Korridor. Die Kinder waren nirgends zu
sehen. »Wendy, Peter?«
Sie liefen in das Kinderzimmer. Die Steppe war leer bis
auf die Löwen, die wartend zu ihnen herblickten. »Peter,
Wendy?«
Die Tür schlug zu.
»Wendy, Peter!«
George Hadley und seine Frau liefen zur Tür zurück.
»Macht auf!« schrie George Hadley und versuchte den
Türknopf zu drehen. »Ha, sie haben von außen
abgeschlossen! Peter!« Er schlug gegen die Tür.
»Aufmachen!«
Draußen vor der Tür hörte er Peters Stimme.
»Laßt sie nicht das Kinderzimmer und das ganze Haus
abstellen!« sagte er.
Mr. und Mrs. George Hadley trommelten gegen die Tür.
»Kommt schon, macht euch nicht lächerlich, Kinder.
Wir müssen gleich fort. Mr. McClean wird in einer Minute
da sein, und ...«
In diesem Augenblick hörten sie die Geräusche.
Die Löwen hatten sie von drei Seiten eingeschlossen und
strichen jetzt brüllend durch das trocken raschelnde, gelbe
Steppengras um sie herum.
George Hadley blickte seine Frau an, und dann drehten
sie sich beide um und sahen, wie die Bestien geduckt und
mit steifen Schwänzen langsam auf sie zuschlichen.
George und Lydia Hadley schrien.
Und plötzlich erkannten sie, warum jene anderen
Schreie ihnen so vertraut vorgekommen waren.

»Also da bin ich«, sagte David McClean in der Tür zum


Kinderzimmer. »Oh, Hallo!« Er blickte erstaunt auf die
beiden Kinder herab, die mitten in der ebenen Landschaft
saßen und ein kleines Picknick verzehrten. Hinter ihnen
war das Wasserloch und die gelbe Steppe; über ihnen hing
die heiße Sonne. Er begann zu schwitzen. »Wo sind euer
Vater und eure Mutter?«
Die Kinder blickten auf und lächelten. »Oh, sie müssen
jeden Augenblick kommen.«
»Gut, wir müssen uns beeilen.« In einiger Entfernung
sah Mr. McClean die Löwen um ihr blutiges Mahl
kämpfen, bald aber beruhigten sie sich und fraßen
schweigend unter den schattigen Bäumen.
Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt
zu den Tieren hinüber.
Die Löwen hatten ihren Fraß beendet. Sie gingen an das
Wasserloch, um zu trinken.
Ein Schatten strich über Mr. McCleans heißes Gesicht.
Viele Schatten flatterten durch die Luft. Die Aasgeier fielen
aus dem sengenden Himmel.
»Eine Tasse Tee?« brach Wendy das Schweigen.

Der illustrierte Mann bewegte sich im Schlaf. Er warf sich


herum und jedesmal, wenn er sich herumwarf, trat ein
anderes buntes Bild auf seinem Rücken, seinen Armen,
seinen Handgelenken ins Blickfeld. Er schleuderte eine
Hand auf das trockene, nachtdunkle Gras. Seine Finger
streckten sich, und auf seiner Handfläche erwachte eine
weitere farbige Abbildung zum Leben. Er drehte sich, und
auf seiner Brust erschien ein tiefer, schwarzer Raum voller
Sterne, der sich ausweitete und in dem etwas sich zwischen
den Sternen bewegte, etwas tiefer in die Schwärze fiel, fiel,
während ich zuschaute ...

Kaleidoskop

Der erste Stoß schnitt die Seite des Raumschiffs wie mit
einem riesigen Büchsenöffner auf. Die Männer wurden wie
ein Dutzend zappelnde Silberfische in den Weltraum
geschleudert. Sie fielen nach verschiedenen Richtungen in
ein dunkles Meer – und das Schiff, in Millionen kleinen
Teilchen, verfolgte weiter seine Bahn – ein
Meteoritenschwarm, der eine verlorene Sonne sucht.
»Barkley, Barkley, wo bist du?«
Der Klang von Stimmen, wie wenn verirrte Kinder in
einer kalten Nacht einander rufen.
»Woode, Woode!«
»Käpt'n!«
»Hollis, Hollis, hier spricht Stone.«
»Stone, hier spricht Hollis. Wo sind Sie?«
»Ich weiß nicht. Wie könnte ich auch? Wo ist oben? Ich
falle. Guter Gott, ich falle!«
Sie fielen. Sie fielen wie Kieselsteine in einen
Brunnenschacht. Sie waren zerstreut wie Spielwürfel nach
einem gewaltigen Wurf. Und an Stelle der Menschen
waren da nur noch Stimmen – alle Arten von Stimmen,
körperlos und doch leidenschaftlich erregt, in
verschiedenen Stadien des Entsetzens und der Resignation.
»Wir treiben auseinander.«
Das entsprach den Tatsachen. Hollis, der sich langsam
um seine senkrechte Achse drehte, wußte, daß es wahr war.
Er nahm es mit einem unbestimmten Gefühl der Erkenntnis
hin. Sie trieben in verschiedenen Richtungen auseinander,
und nichts konnte sie wieder zusammenbringen. Sie trugen
ihre luftdichten Raumanzüge mit den Glashelmen über
ihren bleichen Gesichtern, hatten aber keine Zeit mehr
gefunden, ihre Rückstoßpistolen umzuschnallen. Mit
diesen hätten sie sich gleich kleinen Rettungsbooten durch
den Raum schießen können, sich und andere retten,
einander finden und sammeln, bis sie eine Insel von
Menschen bilden und einen Plan schmieden konnten. Ohne
die Rückstoßpistolen jedoch waren sie willenlose Meteore,
die jeder einem anderen, unwiderruflichen Schicksal
entgegenschnellten.
Eine Spanne von vielleicht zehn Minuten verstrich,
während der das erste Entsetzen sich legte und einer kalten
Ruhe Platz machte. Der Raum begann ihre Stimmen wie
auf einem großen, dunklen Webstuhl seltsam zu
verflechten, hin und her, ein letztes, endgültiges Muster
webend.
»Stone an Hollis. Wie lange können wir uns über Funk
verständigen?«
»Das hängt davon ab, wie schnell du in deiner und wie
schnell ich in meiner Richtung abtreibe.«
»Eine Stunde, schätze ich?«
»Das sollte reichen«, sagte Hollis, geistesabwesend und
mit ruhiger Stimme.
»Was ist eigentlich passiert?« fragte Hollis einen
Augenblick später.
»Das Raumschiff flog in die Luft, weiter nichts. Auch
Raumschiffe explodieren gelegentlich«, antwortete der
Kommandant.
»In welche Richtung treiben Sie?«
»Sieht so aus, als ob ich mit dem Mond
zusammenstoßen werde.«
»Und ich mit der Erde. Zurück zur alten Mutter Erde,
mit zehntausend Meilen pro Stunde. Ich werde aufflammen
wie ein Streichholzkopf.« Hollis dachte mit sonderbarer
Geistesabwesenheit daran. Er schien sich aus seinem
Körper gelöst zu haben und beobachtete nun, wie er tiefer
und tiefer in den Weltraum hinabfiel, so objektiv, als
beobachtete er, wie in einem lang vergangenen Winter, die
ersten fallenden Schneeflocken.

Die anderen schwiegen und dachten über das Schicksal


nach das sie hierher gebracht hatte: fallen, fallen, und
nichts, was sie dagegen tun konnten. Selbst der
Kommandant war jetzt verstummt, denn er wußte kein
Kommando und kannte keinen Plan, die das Geschehene
rückgängig machen konnten.
»Oh, der Weg nach unten ist lang. Oh, es ist ein weiter
Weg nach unten, ein weiter, weiter Weg nach unten«, sagte
eine Stimme. »Ich will nicht sterben, der Weg nach unten
ist so lang.«
»Wer ist das?«
»Ich weiß nicht.«
»Stimson, glaube ich. Stimson, sind Sie das?«
»Der Weg ist so weit, so weit, und er gefällt mir gar
nicht. O Gott, ich will das nicht.«
»Stimson, hier spricht Hollis. Stimson, hören Sie mich?«
Eine Pause, in der sie weiter auseinander fielen.
»Stimson?«
»Ja.« Er antwortete endlich.
»Stimson, fassen Sie sich wir stecken alle in derselben
Klemme.«
»Ich will aber nicht hier sein. Ich will irgendwo anders
sein.«
»Wir haben noch eine Chance, daß man uns findet.«
»Man muß uns finden, man muß«, sagte Stimson.
»Ich glaube das hier einfach nicht; ich glaube nicht, daß
so etwas passieren kann.«
»Ist bloß ein böser Traum«, sagte jemand.
»Schweigen Sie!« sagte Hollis.
»Bringen Sie mich doch zum Schweigen«, antwortete
die Stimme. Sie gehörte Applegate. »Kommen Sie und
bringen Sie mich zum Schweigen.«
Zum ersten Mal wurde Hollis die Unhaltbarkeit seiner
Stellung bewußt. Eine rasende Wut ergriff ihn, denn mehr
als alles andere wünschte er in diesem Augenblick,
Applegate etwas anzutun. Seit vielen Jahren hatte er eine
solche Gelegenheit herbeigesehnt, und nun war es zu spät.
Applegate war nur noch eine Stimme in seinem Kopfhörer.
Und sie fielen, fielen ...

Jetzt, als hätten sie eben erst das Grauenhafte ihrer Lage
entdeckt, begannen zwei Männer zu schreien. Wie in einem
Alptraum sah Hollis einen von ihnen ganz nahe
vorbeitreiben, ununterbrochen schreiend.
»Aufhören!« Der Mann befand sich fast in seiner
Reichweite und schrie wie wahnsinnig. Er würde nie
aufhören. Sein Schreien würde noch eine Million Meilen
weit zu hören sein, so weit ihre Radiogeräte reichten, und
ihnen jedes Gespräch untereinander unmöglich machen.
Hollis langte nach ihm. Es war die beste Lösung. Mit
einer besonderen Anstrengung gelang es ihm, den Mann zu
berühren. Er faßte ihn am Knöchel und zog sich an seinem
Körper hoch, bis er seinen Kopf erreichte. Der Mann schrie
und schlug wild um sich, gleich einem Ertrinkenden. Sein
Schreien füllte das Universum.
So oder so, dachte Hollis. Der Mond oder die Erde oder
Meteore werden ihn töten – warum also nicht gleich?
Mit seiner eisernen Faust schlug er die Glasmaske des
Mannes ein. Das Schreien brach ab. Er stieß sich von dem
Körper weg und ließ ihn auf seiner eigenen Bahn
weiterwirbeln, fallen.
Und fallend, stürzend, wirbelten Hollis und der Rest der
Mannschaft in die endlose Tiefe des Schweigens.
»Hollis, sind Sie noch da?«
Hollis antwortete nicht, fühlte aber, wie ihm das Blut ins
Gesicht schoß.
»Hier spricht wieder Applegate.«
»Was gibt's, Applegate?«
»Wir wollen uns unterhalten. Etwas anderes können wir
ja doch nicht tun.«
Der Kommandant schaltete sich ein: »Genug jetzt. Wir
müssen über einen Ausweg aus unserer Lage beraten.«
»Käpt'n, warum halten Sie nicht lieber den Mund«,
fragte Applegate.
»Was!«
»Sie haben mich verstanden, Käpt'n. Spielen Sie sich
nicht mit Ihrem Rang auf, inzwischen sind Sie zehntausend
Meilen entfernt, wir wollen uns doch nichts vormachen.
Wie Stimson sagte, ist es ein weiter Weg bis unten.«
»Seien Sie vernünftig, Applegate!«
»Ich bin's. Sie sehen sich der Meuterei eines einzelnen
gegenüber. Verdammt noch mal, ich habe nicht das
geringste zu verlieren. Ihr Schiff war ein schlechtes Schiff,
und Sie waren ein schlechter Kommandant, und ich hoffe,
daß nichts von Ihnen übrigbleibt, wenn Sie mit dem Mond
zusammenstoßen.«
»Ich befehle Ihnen zu schweigen!«
»Nur weiter so, befehlen Sie mir's noch einmal.«
Applegate lächelte über zehntausend Meilen hinweg. Der
Kommandant schwieg. Applegate fuhr fort: »Wo waren wir
stehengeblieben Hollis? Ach ja, ich erinnere mich. Ich
hasse Sie auch. Doch das wissen Sie. Sie wußten es schon
seit langer Zeit.«
Hollis ballte machtlos die Fäuste.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte Applegate.
»Möchte Sie glücklich machen. Ich war derjenige, der Sie
vor fünf Jahren bei der Raumschiffahrtsgesellschaft
angeschwärzt hat.«
Ein Meteorit flitzte vorbei. Hollis blickte an sich
hinunter, seine linke Hand war fort. Blut spritzte. Plötzlich
war keine Luft mehr in seinem Anzug. Er hatte genug Luft
in seiner Lunge, um mit der rechten Hand nach seinem
linken Ellbogen greifen und einen Knopf drehen zu
können, der einen Verschluß um das Gelenk auslöste und
das Leck abdichtete. Es war so rasch geschehen, daß es ihn
nicht einmal überrascht hatte. Nichts konnte ihn mehr
überraschen. Nachdem das Leck abgedichtet war, wurde
der Luftdruck in seinem Anzug augenblicklich wieder
normal. Und das Blut, das so rasch geflossen war,
versiegte, während er den Knopf weiterdrehte, bis die
Schlagader abgebunden war.
Alle diese Handgriffe verrichtete er in unheimlichem
Schweigen. Und die anderen Männer schwatzten. Der eine,
Lespere, erzählte unaufhörlich von seiner Frau auf dem
Mars, seiner Frau auf der Venus, seiner Frau auf dem
Jupiter, seinem Geld, seiner wunderbaren Vergangenheit,
seinen Saufereien, seinen Wetten und von seinem Glück.
Wieder und wieder, während sie alle fielen.

Es war so seltsam, so grotesk. Weltraum, Tausende von


Meilen Weltraum, und in seiner Mitte diese hin und her
schwingenden Stimmen. Man sah niemanden, nur die
Radiowellen trugen ihre Botschaften von einem zum
andern, versuchten, die Lebensgeister der Männer
anzufeuern.
»Sind Sie wütend, Hollis?«
»Nein.« Er war nicht wütend. Die Geistesabwesenheit
hatte ihn wieder erfaßt, und er war wie ein Stück
gefühlloser Materie, das in alle Ewigkeit nirgendwohin
fiel.
»Ihr ganzes Leben lang wollten Sie immer nach oben
gelangen, Hollis. Sie haben sich immer den Kopf
zerbrochen, was eigentlich geschehen war. Ich habe Sie
angeschwärzt, kurz bevor ich selbst rausgeschmissen
wurde.«
»Das ist nicht mehr wichtig«, sagte Hollis. Und es war
auch unwichtig. Es war vorbei. Wenn das Leben zu Ende
geht, zuckt es wie ein greller Film vorbei – ein Augenblick
auf der Leinwand; alle seine Vorurteile und Leidenschaften
leuchten auf und sind verdichtet in einem winzigen Tropfen
Zeit.
Rückblenden vom äußersten Rand seines Lebens,
bereute er nur eines: daß er nicht weiterleben durfte.
Empfanden alle Menschen im Sterben das gleiche, als ob
sie nie gelebt hätten? War das Leben wirklich so kurz,
abgetan und vorbei, bevor man den nächsten Atemzug tun
konnte? Kam es allen anderen auch so abgerissen und
unfaßbar vor oder nur ihm selbst hier, jetzt, da ihm nur
noch wenige Stunden zum Denken und Überlegen blieben?
Einer der anderen Männer, Lespere, erzählte: »Ich hab'
mir wenigstens ein schönes Leben gemacht: auf dem Mars,
der Venus und dem Jupiter hatte ich eine Frau. Alle hatten
sie viel Geld und verwöhnten mich. Ich hab' mich
betrunken, und einmal verspielte ich zwanzigtausend
Dollar auf einen Schlag.«
Aber jetzt bist du hier, dachte Hollis. Ich besaß nichts
dergleichen. Als ich lebte, habe ich dich beneidet, Lespere;
an jedem neuen Tag habe ich dich um deine Frauen und um
dein gutes Leben beneidet. Ich hatte Angst vor Frauen, und
gleichzeitig sehnte ich mich nach ihnen, und wenn ich in
den Weltraum vorstieß, beneidete ich dich um ihren Besitz,
um dein Geld und um das wenige Glück, das du dir auf
deine wilde Art verschafftest. Doch jetzt, da alles vorbei ist
und wir ins Nichts stürzen, beneide ich dich nicht mehr,
denn du bist genauso am Ende wie ich, und jetzt ist es grad
so, als wär' es nie gewesen.
Hollis streckte den Kopf vor und schrie in das
Mikrophon: »Es ist alles vorbei, Lespere!«
Stille.
»Es ist grad so, als ob es nie gewesen ist, Lespere!«
»Wer ist das?« Lesperes unsichere Stimme.
»Ich bin's, Hollis.«
Er benahm sich gemein. Er spürte die Gemeinheit, die
gefühllose Gemeinheit des Sterbens. Applegate hatte ihn
verletzt; jetzt brannte er danach, jemand anderen zu
verletzen. Applegate und der Weltraum, beide hatten ihn
verletzt.
»Sie sind jetzt hier draußen, Lespere. Es ist alles vorbei.
Genauso, als wäre es nie geschehen, nicht wahr?«
»Nein.«
»Wenn etwas vorbei ist, ist es immer so, als sei es nie
geschehen. Ist Ihr Leben auch nur einen Deut besser als
meins, jetzt? Nur das Jetzt zählt. Ist es auch nur eine Spur
besser? Ist es?«
»Ja, es ist besser!«
»Wie denn!«
»Weil ich meine Erinnerungen besitze, die niemand mir
nehmen kann!« schrie Lespere empört.
Und er hatte recht. Mit einem Gefühl, als ströme ihm
kaltes Wasser durch Kopf und Glieder, wußte Hollis, daß er
recht hatte. Zwischen Erinnerungen und Träumen bestand
ein Unterschied. Er besaß nur Träume von Dingen, die er
hatte tun wollen, während Lespere sich an Taten und
wirkliche Geschehnisse erinnerte. Und dieses Wissen
begann Hollis mit langsamer, aber unheimlich zäher
Beständigkeit jegliche Selbstbeherrschung zu rauben.
»Was nützt es Ihnen denn?« schrie er zu Lespere
hinüber. »Jetzt? Wenn etwas verloren ist, hat es überhaupt
keinen Nutzen mehr. Sie sind nicht besser dran als ich!«
»Ich trage es mit Fassung«, antwortete Lespere. »Ich
habe mein Leben gelebt. Ich werde am Ende nicht noch
gemein wie Sie.«
»Gemein?« Hollis ließ das Wort über seine Zunge rollen.
Er war nie in seinem Leben gemein gewesen, so weit er
zurückdenken konnte. Er hatte es nie gewagt, gemein zu
sein. Er mußte dieses Gefühl die ganzen Jahre für eine Zeit
wie diese aufgespart haben. Er spürte Tränen in seine
Augen steigen und über sein Gesicht rollen. Jemand mußte
seinen keuchenden Atem gehört haben.
»Nehmen Sie's nicht so schwer, Hollis.«
Es war regelrecht lächerlich. Noch vor ein paar Minuten
hatte er anderen gute Ratschläge gegeben, Stimson, zum
Beispiel. Er hatte sich mutig gefühlt und diesen Mut als
wahr hingenommen; jetzt aber wußte er, daß dies nichts als
ein Schock und die nur während eines solchen Schocks
mögliche Objektivität gewesen war. Jetzt versuchte er, ein
ganzes Leben voller unterdrückter Gefühlsregungen in eine
Spanne von Minuten zu pressen.
»Ich weiß, wie Sie sich fühlen, Hollis«, sagte Lespere,
dessen Stimme, inzwischen zwanzigtausend Meilen
entfernt, leiser wurde. »Ich fasse es nicht persönlich auf.«
Aber sind wir denn nicht gleich? dachte er verwundert.
Lespere und ich? Hier, jetzt? Wenn etwas vorbei ist, ist es
verloren und nützt keinem mehr etwas. Man stirbt so auch
so. Doch er wußte, daß er mit rein vernunftmäßigen
Erwägungen nicht weiterkam; es war, als wollte man den
Unterschied zwischen einem Lebenden und einer Leiche
beschreiben. In dem einen glühte ein Funke, in der anderen
fehlte er – ein Hauch, ein geheimnisvolles Element.
Ähnlich verhielt es sich mit Lespere und ihm selbst;
Lespere hatte ein schönes, reiches Leben gelebt, das ihn
jetzt zu einem anderen Menschen machte, und er, Hollis,
war seit vielen Jahren so gut wie tot. Sie strebten auf
verschiedenen Pfaden dem Tod entgegen, und wenn es
überhaupt so etwas wie verschiedene Tode gab, mußten
ihre sich wie Tag und Nacht voneinander unterscheiden.
Die Todesarten mußten, wie das Leben selbst, unendliche
Varianten aufweisen, und wenn man schon einmal
gestorben war, was erwartete man dann noch von diesem
letzten, endgültigen Tod?
Einen Augenblick später entdeckte er, daß sein rechter
Fuß glatt abgeschnitten war. Er mußte beinahe darüber
lachen. Die Luft war wieder aus seinem Anzug gewichen.
Er bückte sich rasch und sah das Blut, der Meteorit hatte
Fleisch und Anzug bis zum Knöchel mitgenommen. Oh,
der Tod im Weltraum besaß eine Menge Humor; er schnitt
einen weg, Scheibe um Scheibe, wie ein schwarzer,
unsichtbarer Schlächter. Er dichtete den Knieverschluß ab;
schwindelig vor Schmerzen kämpfte er, um bei Bewußtsein
zu bleiben, und als der Verschluß abgedichtet, die
Schlagader abgebunden und Luft wieder in den Anzug
geströmt war, richtete er sich auf und stürzte weiter,
stürzte, denn ihm blieb keine andere Wahl.
»Hollis?«
Hollis nickte schläfrig, müde vom Warten auf den Tod.
»Hier ist wieder Applegate«, sagte die Stimme.
»Ja?«
»Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Ich habe Ihnen
zugehört. Unser Verhalten ist nicht gut. Es macht uns böse.
Das ist eine schlechte Art zu sterben. So viel Bitterkeit
wird dabei aufgerührt. Hören Sie zu, Hollis?«
»Ja.«
»Ich habe gelogen. Ich habe Sie nicht angeschwärzt. Ich
weiß nicht, warum ich das sagte. Wahrscheinlich wollte ich
Sie verletzen. Sie schienen mir das geeignete Ziel zu sein.
Wir haben uns stets gestritten. Ich glaube, ich werde rasch
alt und bereue rasch. Ich glaube, als ich Sie so boshaft
werden hörte, begann ich mich zu schämen. Was auch der
Grund sein mag, Sie sollen wissen, daß ich mich wie ein
Idiot Ihnen gegenüber benommen habe. In meinem Gerede
war auch nicht ein Körnchen Wahrheit. Und jetzt können
Sie meinetwegen zur Hölle fahren.«
Hollis fühlte, wie sein Herz wieder zu arbeiten begann.
Ihm war, als hätte es seit fünf Minuten nicht mehr
geschlagen; doch jetzt kehrte Wärme und Leben in seine
Glieder zurück. Der erste Schock war vorbei, und der
nachfolgende Schock von Zorn, Grauen und Einsamkeit
verging.
»Danke, Applegate.«
»Nicht der Rede wert. Kopf hoch, alter Bastard.«
»He«, rief Stone.
»Was gibt's?« fragte Hollis quer durch den Weltraum;
denn Stone war ihnen allen ein guter Freund.
»Ich bin in einen Meteorenschwarm geraten, eine Menge
kleiner Asteroiden.«
»Meteore?«
»Ich glaube, es ist der Myrmidonenhaufen, der bis über
den Mars hinaus wandert und alle fünf Jahre in Erdnähe
kommt. Ich befinde mich genau in der Mitte. Es ist wie in
einem riesigen Kaleidoskop. Man sieht alle möglichen
Formen-, Farben- und Größenanordnungen. Gott, ist das
schön, das viele Metall!«
»Ich reise mit ihnen«, sagte Stone. »Sie nehmen mich
mit. Verflucht und zugenäht.« Er lachte.
Hollis blickte sich nach allen Seiten um, aber er sah
nichts. Nur die großen Brillanten und Saphire waren da, die
smaragdgrünen Nebel und samtschwarzen Flecken der
Tiefe, und Gottes Stimme, die aus den kristallenen Feuern
klang. Staunen und Wunder ergriffen ihn bei der
phantastischen Vorstellung, daß Stone mit dem
Meteorenschwarm wanderte, jahrelang, hinaus bis hinter
den Mars und wieder zurück zur Erde, alle fünf Jahre
einmal durch das Gesichtsfeld des Planeten kreisend für die
nächsten hundert Millionen Jahre – Stone und der
Myrmidonenhaufen, ewig und endlos.
»Bis bald, Hollis.« Stones Stimme war schon sehr
schwach. »Bis bald.«
»Viel Glück«, rief Hollis ihm über dreißigtausend
Meilen hinweg zu.
»Witzbold«, sagte Stone und war verschwunden.
Die Sterne kamen näher.
All die anderen Stimmen schwanden jetzt dahin, jede auf
ihrer eigenen Flugbahn, einige zum Mars, einige in die
fernsten Tiefen des Alls. Und Hollis selbst ... Er blickte
hinab. Er als einziger von allen kehrte zur Erde zurück.
»Bis bald.«
»Trag's mit Fassung.«
»Bis bald, Hollis.« Das war Applegate.
Die vielen Auf Wiedersehen. Die kurzen
Abschiedsgrüße. Die Stimmen schwanden, und der ganze
Weltraum wurde stumm. Hollis war allein, stürzend.
Sie waren alle allein. Ihre Stimmen waren gestorben wie
ein Echo auf Gottes Worte, das noch lange in der
sternbesäten Tiefe vibrierte. Der Kommandant flog zum
Mond Stone mit dem Myrmidonenhaufen; dort Stimson;
dort Applegate in Richtung Pluto; dort Smith und Turner
und Underwood und all die anderen; die Scherben des
Kaleidoskops, die so lange ein Muster mit eigenem Willen
und Denken geformt hatten, schleuderten auseinander.
Und ich? dachte Hollis. Was kann ich tun? Gibt es
irgend etwas, das ich jetzt noch tun kann, um für ein
schreckliches und leeres Leben zu büßen? Wenn ich doch
nur eine gute Tat tun könnte um für die Bosheit zu sühnen,
die ich in all diesen Jahren in mir häufte und von der ich
nicht einmal wußte, daß sie in mir steckte! Aber es gibt
niemanden mehr außer mir, und wie soll man ganz allein
Gutes tun? Man kann nicht. Morgen abend werde ich in die
Atmosphäre der Erde tauchen.
Ich werde verbrennen, dachte er, und meine Asche wird
über alle Kontinente verstreut werden. Ich werde nützlich
sein. Zwar nur ein klein wenig, aber Asche ist Asche, und
sie wird das Land mehren.
Er fiel mit rasender Geschwindigkeit, wie ein Geschoß,
wie ein Stein, wie ein eisernes Gewicht, und doch blieb er
dabei objektiv, sachlich; er war weder traurig, noch
glücklich, noch übermannte ihn ein anderes Gefühl; er
wünschte nur, daß er noch eine gute Tat tun könnte, jetzt,
da alles vorbei war, nur eine gute Tat, deren Wissen er
mitnehmen konnte.
Wenn ich in die Atmosphäre tauche, werde ich brennen
wie ein Meteor.
»Ob mich wohl jemand sehen wird?« sagte er.
Der kleine Junge auf der Landstraße blickte hoch und
schrie auf. »Schau, Mutter, schau! Eine Sternschnuppe!«
Der grellweiße Stern fiel in den Abendhimmel von
Illinois.
»Wünsch dir was«, sagte seine Mutter. »Wünsch dir
was.«

Der illustrierte Mann drehte sich im Mondlicht herum. Er


drehte sich wieder ... und wieder ... und wieder ...

Die Landstraße

Der kühlende Nachmittagsregen war über das Tal


hereingebrochen, strich über den Mais auf den geneigten
Bergfeldern und klopfte leise auf das trockene Grasdach
der Hütte. In der regnerischen Dunkelheit mahlte die Frau
Mais zwischen Rachen Scheiben aus Lavagestein.
Irgendwo in der feuchten Lichtlosigkeit schrie ein Baby.
Hernando stand da und wartete auf das Ende des
Regens, damit er wieder mit dem hölzernen Pflug auf das
Feld gehen konnte. Unten kochte bräunlich der Fluß und
trübte sich zusehends in seinem weiteren Verlauf. Die
Betonlandstraße, ein anderer Strom, ruhte still; glänzend
und leer streckte sich ihr Band. Seit einer Stunde war kein
Auto mehr vorbeigekommen. Allein diese Tatsache war
ungewöhnlich interessant. Jahrelang war kaum eine Stunde
vergangen, in der nicht ein Wagen vorgefahren war und
jemand rief: »Hallo, Sie da, dürfen wir Sie fotografieren?«
Jemand mit einem klickenden Kasten und einem Geldstück
in der Hand.
Seine Frau sprach. »Irgend etwas stimmt nicht,
Hernando.«
»Sí. Die Straße. Etwas Großes ist geschehen. Etwas sehr
Großes, das die Straße so leer gemacht hat.«
Langsam und gleichmütig ging er aus der Hütte hinaus
in den Regen, der über seine Schuhe aus geflochtenem
Gras mit Sohlen aus dickem Reifengummi rann.
Er war jetzt auf der Landstraße angekommen und blieb
stehen, um auf die leisen Geräusche zu lauschen, die durch
den Regen drangen.
Und dann, plötzlich, wie auf ein Signal, kamen die
Autos. Hunderte, so weit das Auge reichte, sausten und
brausten vorbei an ihm, vorbei. Große, langgestreckte
schwarze Wagen donnerten in nördlicher Richtung, nach
den Vereinigten Staaten, vorbei, schnitten die Kurven mit
zu hoher Geschwindigkeit. Und in den Gesichtern der dicht
gedrängt in den Autos sitzenden Leute lag ein Ausdruck,
der ihn bestürzt schweigen ließ. Er trat zurück, um die
pausenlos hupenden Wagen vorbeizulassen. Er zählte sie,
bis er müde wurde. Fünfhundert, tausend Wagen fuhren
vorbei, und in allen Gesichtern lag jener unbestimmte
Ausdruck.
Schließlich kehrten Schweigen und Leere zurück. Die
schnellen, niedrigen langen Sportwagen waren fort. In der
Ferne hörte er das letzte Horn verklingen.
Die Straße war wieder leer.
Es hatte wie ein Leichenzug ausgesehen. Aber ein
ungestümer dahinrasender, die Haare zu Berge stehen
lassender, wahnwitzig zu irgendeiner Zeremonie nach
Norden brausender Leichenzug. Warum?
Jetzt, ganz allein, ein letzter Wagen. Etwas absolut
Letztes und Endgültiges ging von seinem Erscheinen aus.
Durch den dünnen, kühlen Regen, gewaltige Dampfwolken
von sich blasend, kam ein alter Ford die Bergstraße
herunter. Das Auto fuhr so schnell es nur konnte. Er
erwartete, es jeden Augenblick auseinanderfallen zu sehen.
Als der Fahrer dieses ehrwürdigen schmutz- und
rostbedeckten Fords Hernando sah, brachte er den Wagen
mit kochendem Kühler vor ihm zum Stehen.
»Könnten wir bitte etwas Wasser haben, Señor!«
Ein junger Mann, vielleicht einundzwanzig, saß am
Steuer. Er trug einen gelben Pullover, ein weißes Hemd mit
offenem Kragen und eine graue Hose. In dem verdecklosen
Wagen fiel der Regen auf ihn und fünf junge Frauen, die so
zusammengepfercht saßen, daß sie sich kaum rühren
konnten. Sie waren alle sehr hübsch, und sie bemühten
sich, den Regen von sich und dem Fahrer mit alten
Zeitungen abzuhalten. Aber der Regen vereitelte ihre
Anstrengungen, durchnäßte ihre bunten Kleider,
durchnäßte auch den Fahrer. Sein Haar war ihm vom
Regen völlig angeklebt. Aber das schien sie nicht zu
bekümmern. Niemand beklagte sich, und das war sehr
ungewöhnlich.
Hernando nickte. »Ich werde Ihnen Wasser bringen.«
»Oh, bitte, beeilen Sie sich!« flehte eines der Mädchen,
fast weinend. Ihre Stimme klang schrill und sehr ängstlich.
Keine Ungeduld lag in ihrer Bitte, sondern nur Furcht.
Zum ersten Mal da ein Tourist etwas verlangte, rannte
Hernando.
Er kehrte mit einer Radkappe voll Wasser zurück.
Während er das Wasser in den kochenden Kühler goß,
blickte Hernando auf und in ihre gezeichneten Gesichter.
»Oh, vielen Dank, vielen Dank«, sagte eines der Mädchen.
»Sie wissen nicht, was das für uns bedeutet.«
Hernando lächelte. »So viel Verkehr in einer Stunde.
Und alle fahren in einer Richtung. Nach Norden.«
Er hatte nichts sagen wollen, was sie verletzte. Doch als
er zum zweiten Mal aufblickte, saßen sie alle im Regen
und weinten. Sie weinten hemmungslos. Und der junge
Mann versuchte sie zu beruhigen, indem er einer nach der
anderen die Hände auf die Schultern legte und sie sanft
schüttelte, aber sie hielten sich die Zeitungen über die
Köpfe, und ihre Augen waren geschlossen, ihre Münder
zuckten und ihre Gesichter wurden bleich, und sie weinten,
die einen laut, die anderen leise.
Hernando stand mit der halbleeren Radkappe zwischen
den Händen. »Ich wollte damit gar nichts sagen, Señor«,
entschuldigte er sich.
»Schon recht«, erwiderte der Fahrer.
»Stimmt etwas nicht, Señor?«
»Haben Sie's denn nicht gehört?« antwortete der junge
Mann, sich umwendend und vorbeugend, mit einer Hand
fest das Steuerrad umklammend. »Es ist passiert!«
Hernando erstarrte. Er goß das restliche Wasser in den
Kühler. Er blickte gen Himmel, der voll schwarzer
Unwetterwolken hing. Er sah hinab auf den
vorbeirauschenden Fluß. Er fühlte den Beton unter seinen
Füßen.
Er trat an die Seite des Wagens. Der junge Mann ergriff
seine Hand und gab ihm einen Peso. »Nein.« Hernando gab
ihn ihm zurück. »Ich hab's gern getan.«
»Vielen Dank, Sie sind so freundlich«, sagte eines der
Mädchen unter Schluchzen. »Oh, Mama, Papa. Oh, ich
möchte nach Hause, ich möchte nach Hause. Oh, Mama,
Papa.« Die anderen hielten sie.
»Ich habe Sie nicht verstanden, Señor«, sagte Hernando
ruhig.
»Der Krieg!« schrie der junge Mann so laut, als ob
niemand ihn hören konnte. »Der Atomkrieg, es ist da, das
Ende der Welt!«
»Señor, Señor«, sagte Hernando.
»Haben Sie Dank, haben Sie Dank für Ihre Hilfe. Leben
Sie wohl«, sagte der junge Mann.
»Leben Sie wohl«, sagten alle, starr in den Regen
blickend und ohne ihn anzusehen.
Er stand da, während der junge Mann den Gang
einrasten ließ und der Wagen davonratterte; langsam
verschwand er am Ausgang des Tales. Schließlich war er
fort, der letzte Wagen, mit den jungen Frauen darin,
flatternde Zeitungen über den Köpfen.
Eine lange Zeit rührte Hernando sich nicht. Der Regen
rann kalt über seine Wangen, an seinen Fingern hinab und
durchtränkte seine Hosen. Er hielt den Atem an und
wartete, aufmerksam und gespannt.
Er beobachtete die Landstraße, aber nichts regte sich
mehr auf ihr.
Es hörte auf zu regnen. Der Himmel brach durch die
Wolken. In zehn Minuten hatte das Unwetter sich aufgelöst
wie ein fauler Atemhauch. Ein linder Wind blies den Duft
des Dschungels zu ihm hin. Er hörte den Fluß sanft und
gelassen dahinplätschern. Der Dschungel leuchtete
tiefgrün; alles war frisch. Er schritt über den Acker zu
seinem Haus hinüber richtete seinen Pflug. Die Hände auf
das Holz gelegt, blickte er in den Himmel, aus dem die
Sonne heiß zu brennen begann.
Seine Frau rief von ihrer Arbeit aus dem Haus: »Was ist
geschehen, Hernando?«
»Nichts«, erwiderte er.
Er setzte den Pflug in die Furche und trieb mit scharfer
Stimme seinen Esel an: »Burrrrrrr-o!« Und sie stapften
beide über den fruchtbaren Boden unter dem aufklarenden
Himmel, über den sanft abfallenden Acker am Ufer des
tiefen Flusses.
»Was meinen sie damit, ›das Ende der Welt‹?« fragte er.

Der Mann

Kapitän Hart stand in der geöffneten Luftschleuse des


Raumschiffes. »Warum kommen sie nicht?« fragte er.
»Wer kann das wissen?« entgegnete Martin, sein
Leutnant. »Weiß ich es vielleicht, Käpt'n?«
»Jedenfalls würde ich gern wissen, wo wir hier gelandet
sind.« Der Kommandant zündete sich eine Zigarre an. Er
warf das Streichholz hinaus auf die in der Sonne
schimmernde Wiese. Das Gras begann zu brennen.
Martin schickte sich an, das Feuer mit seinen Stiefeln
auszutreten.
»Nicht«, entschied Kapitän Hart, »lassen Sie es brennen.
Vielleicht kommen sie dann nachsehen, was hier
geschieht.«
Martin zuckte mit den Schultern und zog den Fuß von
dem sich bereits ausbreitenden Feuer zurück.
Kapitän Hart blickte prüfend auf seine Uhr. »Vor einer
Stunde sind wir hier gelandet, und wo bleiben die
Blaskapelle und die Leute vom Empfangskomitee, um uns
die Hände zu schütteln? Nein, wirklich! Da fliegen wir
Millionen Meilen durch den Weltraum, und die wackeren
Bürger so einer blöden Stadt auf einem unbekannten
Planeten nehmen einfach keine Kenntnis von uns!« Er
schnaubte ärgerlich auf und klopfte auf seine Uhr. »Na
schön! Ich gebe ihnen noch fünf Minuten Zeit, und
dann ...«
»Was dann?« fragte Martin sehr höflich und beobachtete
dabei, wie die Kinnbacken des Kommandanten zitterten.
»Wir fliegen noch einmal über ihre verdammte Stadt und
werden ihnen die Hölle heiß machen.« Seine Stimme
wurde ruhiger. »Glauben Sie, Martin, daß sie uns vielleicht
nicht haben landen sehen?«
»Sie haben uns gesehen. Sie blickten hoch, als wir über
die Stadt flogen.«
»Warum kommen sie dann nicht herbeigelaufen?
Verstecken sie sich? Haben sie die Hosen voll?«
Martin schüttelte den Kopf. »Nein. Nehmen Sie einmal
diesen Feldstecher, Sir. Überzeugen Sie sich selbst. Sie
gehen einfach alle ihrer Wege. Sie – nun ja, sie scheinen
sich einfach nichts aus uns zu machen.«
Kapitän Hart hielt den Feldstecher an seine müden
Augen. Martin blickte auf und hatte Gelegenheit, die
Fältchen und tiefen Furchen, die Gereiztheit, Ermüdung
und Nervosität in sein Gesicht gegraben hatten, zu
erkennen.
»Wirklich, Martin, ich weiß nicht, warum wir uns all die
Mühe machen. Wir bauen Raumschiffe, unterziehen uns
den gewaltigen Strapazen des Raumflugs, um sie zu finden,
und was haben wir davon? Man nimmt keine Notiz von
uns. Können sie denn so blasiert sein?« Martin wußte es
nicht.
Kapitän Hart gab ihm mit einer müden Bewegung den
Feldstecher zurück. »Warum tun wir das nur, Martin?
Diese Raumflüge, meine ich. Immer unterwegs, immer im
Aufbruch.«
»Vielleicht sind wir auf der Suche nach Ruhe und
Frieden. Auf der Erde finden wir beides gewiß nicht«,
erwiderte Martin.
»Nein, dort nicht, das stimmt.« Der Kommandant war
nachdenklich geworden, das Feuer war niedergebrannt.
»Nicht seit Darwins Zeit, wie? Nicht, seit alles, woran wir
glaubten, über Bord ging, wie? Göttliche Allmacht und so
weiter. Und daher glauben Sie nun, daß wir vielleicht
deshalb zu den Sternen fliegen, wie, Martin? Auf der Suche
nach unseren verlorenen Seelen, stimmt's?«
»Vielleicht, Sir. Bestimmt aber suchen wir etwas.«
Kapitän Hart räusperte sich und verschanzte sich wieder
hinter seiner Forschheit. »Jetzt jedenfalls suchen wir
zunächst einmal den Bürgermeister der Stadt dort drüben.
Laufen Sie hin, sagen Sie ihnen, wer wir sind: die erste
Raumexpedition auf Planet Dreiundvierzig im
Sonnensystem Drei. Kapitän Hart sendet seine Grüße und
wünscht den Bürgermeister zu sprechen. Ab durch die
Mitte!«
»Jawohl, Sir.« Martin ging langsam über die Wiese.
»Beeilung!« rief der Kommandant scharf hinter ihm her.
»Jawohl, Sir!« Martin fiel in Laufschritt.

Der Kommandant hatte zwei Zigarren geraucht, bevor


Martin zurückkehrte.
Martin blieb stehen und blickte hinauf in die Schleuse
des Raumschiffes, schwankend und anscheinend unfähig,
seine Augen auf einen Punkt zu konzentrieren und zu
denken.
»Nun?« fuhr Hart ihn an. »Was ist passiert? Wollen sie
uns willkommen heißen?«
»Nein.« Martin mußte sich benommen gegen das
Raumschiff lehnen.
»Warum nicht?«
»Es ist nicht wichtig«, sagte Martin. »Geben Sie mir
bitte eine Zigarette, Kapitän.« Seine Finger griffen blind
nach der ihm entgegengestreckten Packung, denn er blickte
dabei mit blinzelnden Augen nach der goldglänzenden
Stadt. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte eine
Zeitlang schweigend.
»Sagen Sie etwas!« schrie der Kapitän. »Interessieren
sie sich nicht für unser Raumschiff?«
»Wie?« fragte Martin. »Oh. Das Raumschiff?« Er
betrachtete eingehend seine Zigarette. »Nein, sie
interessieren sich nicht dafür. Scheint, als ob wir zu einer
ungünstigen Zeit hier eingetroffen sind.«
»Ungünstigen Zeit!«
Martin blieb geduldig. »Hören Sie, Kapitän. Etwas
Gewaltiges ist gestern in jener Stadt geschehen. Es ist so
groß, so wesentlich, daß wir dagegen abfallen – die zweite
Geige spielen. Jetzt muß ich mich hinsetzen.« Er verlor das
Gleichgewicht und ließ sich, nach Luft schnappend, schwer
hinfallen.
Der Kapitän kaute wütend an seiner Zigarre. »Was ist
geschehen?«
Martin hob den Kopf, während der Wind den Rauch
seiner brennenden Zigarette durch seine Finger blies. »Sir,
gestern erschien in jener Stadt ein äußerst bemerkenswerter
Mann – gütig, klug, voller Mitleid und unendlich weise!«
Der Kapitän funkelte seinen Leutnant an. »Was hat das
mit uns zu tun?«
»Das ist schwer zu erklären. Doch es war ein Mann, auf
den sie lange Zeit gewartet hatten – seit einer Million
Jahren vielleicht. Und darum, Sir, bedeutet heute unsere
Raumschifflandung nichts für sie.«
Der Kapitän setzte sich ruckartig. »Wer war es? Doch
nicht Ashley? Er ist doch nicht etwa vor uns mit seinem
Raumschiff hier gelandet und hat meinen Ruhm gestohlen,
nicht wahr?« Er packte Martins Arm. Sein Gesicht war
bleich und verzweifelt.
»Nicht Ashley, Sir.«
»Dann war es Burton! Ich wußte es. Burton hat sich
heimlich an die Spitze gesetzt und mich um den Erfolg
meiner Landung gebracht!«
»Auch Burton war es nicht, Sir«, sagte Martin ruhig.
Der Kommandant war ungläubig. »Es gab nur drei
Raumschiffe, und wir lagen an der Spitze. Dieser Mann,
der vor uns hier ankam – wie ist sein Name?«
»Er nannte keinen Namen. Er braucht keinen. Man
würde ihn auf jedem Planeten anders nennen.«
Der Kapitän starrte seinen Leutnant aus harten,
zynischen Augen an.
»Nun, was hat er denn so Wunderbares vollbracht, daß
niemand auch nur einen Blick auf unser Schiff
verschwendet?«
»Er hat zum Beispiel«, sagte Martin mit fester Stimme,
»die Kranken geheilt und die Armen getröstet. Er hat die
Heuchelei und die Unmoral in der Politik besiegt und sich
unter das Volk gesetzt und den ganzen Tag zu ihm
gesprochen.«
»Ist das so wunderbar?«
»Ja, Kapitän.«
»Ich begreife das nicht.« Der Kommandant beugte sich
vor und sah Martin forschend ins Gesicht und in die
Augen. »Sie haben getrunken, wie?« fragte er mißtrauisch.
Er lehnte sich wieder zurück. »Ich verstehe einfach nicht.«
Martin blickte zur Stadt hinüber. »Wenn Sie nicht
verstehen, Kapitän, kann es Ihnen niemand erklären.«
Der Kapitän stand auf und trat einen Schritt vor. Er
nahm die Zigarre aus dem Mund, warf noch einen
Seitenblick auf Martin und schaute dann hinüber zu den
goldenen Turmspitzen der Stadt.
»Sie meinen doch nicht – Sie wollen doch nicht etwa
sagen – daß der Mann, von dem Sie sprechen ...«
Martin nickte. »Ja, das glaube ich, Sir.«
Der Kommandant stand unbeweglich und schweigend.
Er richtete sich auf.
»Ich glaube es nicht«, sagte er schließlich.

Um die Mittagszeit betrat Kapitän Hart raschen Schrittes


die Stadt, begleitet von Leutnant Martin und einem
Techniker, der ein elektronisches Gerät trug. Von Zeit zu
Zeit lachte der Kommandant laut auf, stützte die Hände in
die Hüften und schüttelte den Kopf.
Sie standen dem Bürgermeister der Stadt gegenüber.
Martin stellte ein dreibeiniges Stativ auf, schraubte einen
kleinen Kasten darauf fest und schaltete die Batterien an.
»Sind Sie der Bürgermeister?« Der Kapitän zeigte mit
dem Finger auf ihn.
»Das bin ich«, antwortete der Angesprochene.
Zwischen ihnen stand das empfindliche Gerät, von
Martin und dem Techniker bedient und kontrolliert; es war
imstande, Direktübersetzungen aus jeder beliebigen
Sprache zu liefern. Die Worte tönten klar durch die milde
Luft der Stadt.
»Was diese gestrige Begebenheit betrifft ...«, sagte der
Kapitän. »Hat sie wirklich stattgefunden?«
»Sie hat.«
»Haben Sie Zeugen?«
»Ja.«
»Dürfen wir mit ihnen sprechen?«
»Mit jedem von uns«, antwortete der Bürgermeister.
»Wir alle sind Zeugen.«
Der Kommandant wandte den Kopf zur Seite und sagte
zu Martin: »Massensuggestion.« Und zu dem
Bürgermeister: »Wie hat dieser Mann – dieser Fremde –
ausgesehen?«
»Das ist schwer zu sagen«, meinte der Bürgermeister,
ein wenig lächelnd.
»Warum?«
»Die Meinungen darüber könnten leicht
auseinandergehen.«
»Ich möchte trotzdem gern Ihre Meinung hören«, sagte
der Kapitän. »Nehmen Sie das auf«, fuhr er Martin
ärgerlich über seine Schulter an. Der Leutnant schaltete
sein Tonbandgerät ein.
»Nun ja«, sagte der Bürgermeister der Stadt, »er war ein
sehr sanftmütiger und freundlicher Mann. Er besaß
Einsicht und großes Wissen.«
»Ja – ja. Ich weiß, ich weiß.« Der Kapitän winkte ab.
»Verallgemeinerungen. Ich möchte etwas Genaues. Wie
sah er aus?«
»Ich glaube, das ist nicht so wichtig«, sagte der
Bürgermeister.
»Doch, es ist sehr wichtig«, erwiderte der Kapitän
hartnäckig. »Ich brauche eine Beschreibung von diesem
Burschen. Wenn ich sie nicht von Ihnen bekommen kann,
dann eben von anderen.« Und zu Martin: »Bestimmt ist es
Burton gewesen, der ihnen diesen Streich gespielt hat.«
Martin sah ihm nicht ins Gesicht. Martin blieb kühl und
schweigend.
Der Kommandant schnippte mit den Fingern. »Es soll
sich so dies und jenes zugetragen haben – eine Heilung,
zum Beispiel?«
»Viele Heilungen«, antwortete der Bürgermeister.
»Darf ich eine sehen?«
»Gern«, sagte der Bürgermeister. »Mein Sohn.« Er
nickte einem kleinen Jungen zu, der sogleich vortrat. »Er
hatte einen verdorrten Arm. Sehen Sie ihn sich jetzt einmal
an.«
Der Kapitän lachte nachsichtig. »Ja, ja. Das ist noch
nicht einmal ein Indizienbeweis, wissen Sie. Ich habe nicht
den verdorrten Arm des Jungen gesehen. Ich sehe jetzt
lediglich, daß sein Arm gesund und heil ist. Das ist kein
Beweis. Wie wollen Sie beweisen, daß der Arm des Jungen
gestern verdorrt war und heute gesund ist?«
»Mein Wort ist mein Beweis«, erwiderte der
Bürgermeister einfach.
»Mein lieber Mann!« rief der Kapitän. »Sie erwarten
doch nicht, daß ich mich auf Hörensagen verlasse, wie? O
nein!«
»Das tut mir leid«, sagte der Bürgermeister und blickte
den Kapitän mit einer Mischung aus Neugier und
Mitgefühl an.
»Besitzen Sie eventuell Bilder, die den Jungen vor dem
heutigen Tag zeigen?« fragte der Kapitän.
Nach kurzer Zeit wurde ein großes Ölporträt
herbeigebracht, das den Sohn mit einem verdorrten Arm
zeigte.
»Mein lieber Mann!« Der Kapitän tat das Bild mit einer
Handbewegung ab. »Jedermann kann ein Bild malen.
Gemälde lügen. Ich möchte eine Photographie des Jungen
sehen.«
Es gab kein Photo. Photographie war eine unbekannte
Kunst in diesem Staat.
»Na schön«, seufzte der Kapitän mit zuckendem
Gesicht. »Lassen Sie mich mit einigen anderen Bürgern
sprechen. So kommen wir nicht weiter.« Er zeigte auf eine
Frau. »Sie.« Sie zögerte. »Ja, Sie; kommen Sie her«,
ordnete der Kapitän an. »Erzählen Sie mir von diesem
wunderbaren Mann, den Sie gestern gesehen haben.«
Die Frau blickte dem Kapitän fest in die Augen. »Er trat
unter uns und war sehr edel und gütig.«
»Was für eine Farbe hatten seine Augen?«
»Die Farbe der Sonne, die Farbe des Meeres, die Farbe
einer Blume, die Farbe der Berge, die Farbe der Nacht.«
»Genug!« Der Kapitän warf die Hände in die Luft.
»Verstehen Sie nun, Martin? Absolut nichts. Irgendein
Scharlatan wandert hier durch, flüstert ihnen gleisnerische
Nichtigkeiten in die Ohren, und schon –«
»Bitte, hören Sie auf«, sagte Martin.
Der Kapitän trat einen Schritt zurück. »Was?«
»Sie haben richtig gehört«, sagte Martin. »Ich habe diese
Leute gern. Ich glaube, was sie sagen. Sie dürfen sich Ihre
eigene Meinung darüber bilden, aber behalten Sie sie für
sich, Sir.«
»So können Sie nicht mit mir reden!« schrie der
Kommandant.
»Ich habe genug von Ihrer Anmaßung«, erwiderte
Martin. »Lassen Sie diese Leute in Ruhe. Da haben sie
etwas Gutes und Anständiges, und Sie kommen daher und
verhöhnen sie. Jawohl, ich habe auch mit ihnen
gesprochen. Ich bin durch die Stadt gegangen und habe
ihre Gesichter gesehen; sie besitzen etwas, das Sie nie
haben werden – ein kleines bißchen einfachen Glauben,
mit dem sie Berge versetzen können. Sie aber, Sie sind
wütend, weil jemand Ihnen die Schau gestohlen hat!«
»Ich gebe Ihnen noch fünf Sekunden zum Ausreden«,
bemerkte der Kapitän. »Ich verstehe. Sie haben lange unter
starker nervlicher Belastung gestanden, Martin.
Monatelang im Weltraum unterwegs, Heimweh,
Einsamkeit. Und jetzt, da Ihnen dieses Geschehnis
begegnet, fühle ich mit Ihnen, Martin. Ich will Ihnen diese
geringfügige Insubordination verzeihen.«
»Aber ich verzeihe Ihnen nicht Ihre Leuteschinderei«,
erwiderte Martin. »Ich scheide aus. Ich bleibe hier.«
»Das können Sie nicht tun!«
»Kann ich nicht? Versuchen Sie doch, mich zu hindern.
Hiernach habe ich gesucht. Ich wußte es nicht, aber dies ist
es. Danach habe ich mich gesehnt. Tragen Sie Ihren
Schmutz anderswohin und besudeln Sie andere Nester mit
Ihrem Unglauben und Ihrer – wissenschaftlichen
Methode!« Er blickte rasch in die Runde. »Diese Leute
haben ein Erlebnis gehabt, und Ihnen will es einfach nicht
in den Kopf gehen, daß es wirklich geschehen ist und wir
das große Glück haben, fast noch im rechten Augenblick
hier anzukommen, um daran teilnehmen zu können.
Die Leute auf der Erde haben seit zwanzig
Jahrhunderten über diesen Mann geredet, nachdem er über
eben diese alte Erde gewandelt ist. Wir alle haben uns
gewünscht, ihn sehen und hören zu können, und hatten
doch nie die Gelegenheit. Und jetzt, heute, sind wir nur um
ein paar Stunden zu spät gekommen, um ihn zu sehen.«
Kapitän Hart blickte auf Martins Wangen. »Sie weinen
wie ein kleines Kind. Hören Sie auf.«
»Das schert mich nicht.«
»Mich aber. Wir müssen unser Gesicht vor den
Bewohnern dieses Planeten wahren. Sie sind überanstrengt.
Wie ich bereits sagte, verzeihe ich Ihnen.«
»Ich wünsche Ihre Verzeihung nicht.«
»Sie Idiot. Sehen Sie denn nicht, daß dies einer von
Burtons Tricks ist, mit dem er diese Leute zum Narren hält,
um sie zu prellen, um seine Öl- und Erzkonzerne unter
einem religiösen Mäntelchen errichten zu können! Sie sind
ein Narr, Martin. Ein gewaltiger Narr! Sie sollten die
Erdmenschen inzwischen kennengelernt haben. Sie
schrecken vor nichts zurück – Blasphemie, Lüge, Betrug,
Diebstahl, Mord, wenn sie damit ihr Ziel erreichen können.
Alles ist recht, wenn es Erfolg verheißt; und Burton ist
eben der geborene Wichtigtuer. Sie kennen ihn!« Der
Kapitän lachte verächtlich.
»Besinnen Sie sich, Martin, geben Sie es zu; das ist
genau die Lumperei, zu der Burton fähig wäre – diese
Leute einzuseifen und auszunehmen, wenn er sie
weichgemacht hat.«
»Nein«, sagte Martin, bereits nachdenklich geworden.
Der Kommandant hob beschwörend die Hand. »Das ist
Burton. Er ist es. Das ist seine Gemeinheit, seine kriminelle
Art. Doch ich muß diesen Satan bewundern. Schneit hier
von einem Heiligenschein umgeben herein, spricht da ein
sanftes Wort, zeigt dort Güte und Mitgefühl, verabfolgt
hier die richtige Salbe und dort ein paar Heilstrahlen. Das
kann nur Burton sein!«
»Nein.« Martins Stimme klang ganz benommen. Er
schlug die Hände vor die Augen. »Nein, ich kann's nicht
glauben.«
»Sie wollen es nur nicht glauben«, fuhr Kapitän Hart
eindringlich fort. »Geben Sie's nur zu. Geben Sie's zu! Das
ist genau das Ding, das Burton drehen würde. Hören Sie
auf, am hellen Tag zu träumen, Martin. Wachen Sie auf!«
Martin drehte sich um.
»Schon gut, Martin«, sagte Hart, ihm mechanisch auf die
Schulter klopfend. »Ich verstehe. Ist ein ziemlicher Schock
für Sie. Ich weiß. Eine Niedertracht ohnegleichen und noch
mehr. Dieser Burton ist ein Schuft. Gehen Sie jetzt und
nehmen Sie's nicht so tragisch. Überlassen Sie mir den
Rest.«
Martin ging langsam zum Raumschiff zurück.
Kapitän Hart sah ihm lange nach. Dann holte er tief Luft
und wandte sich wieder der Frau zu, die er vor der
Unterbrechung durch Martin befragt hatte. »So. Erzählen
Sie mir etwas mehr über diesen Mann. Sie wollten gerade
sagen, Madame ...?«

Die Offiziere des Raumschiffes saßen an Klapptischen im


Freien und verzehrten ihr Abendessen. Der Kapitän
berichtete dem schweigenden Martin über das Ergebnis
seiner weiteren Untersuchungen. Mit geröteten Augen und
über seiner Mahlzeit brütend, hörte Martin zu.
»Drei Dutzend Leute habe ich befragt, alle voll von
demselben sentimentalen Gewäsch«, sagte der Kapitän.
»Das ist Burtons Werk, dessen bin ich ganz sicher. Morgen
oder nächste Woche wird er wieder hier hereingesegelt
kommen, um seine Wunder zu untermauern und uns alle
Kontrakte vor der Nase wegzuschnappen. Ich werde
hierbleiben und ihm die Suppe versalzen.«
Martin blickte finster hoch. »Ich bring' ihn um!« sagte
er.
»Aber, aber, Martin! Junge, beruhigen Sie sich.«
»Ich bring' ihn um – ich kann nicht anders!«
»Wir werden ihm einen Stein zwischen die Beine
werfen. Er ist einfach gerissen, das werden Sie zugeben
müssen. Unmoralisch, aber gerissen.«
»Er ist ein gemeiner Lump.«
»Sie müssen mir versprechen, keine Gewalt
anzuwenden.« Kapitän Hart prüfte seine Unterlagen.
»Nach meinen Aufzeichnungen haben dreißig
Wunderheilungen stattgefunden; ein Blinder wurde sehend
gemacht, ein Aussätziger kuriert. Oh, Burton ist tüchtig,
das muß man ihm lassen.«
Ein Gong ertönte. Einen Augenblick später kam ein
Mann herbeigelaufen. »Eine Funkmeldung, Käpt'n!
Burtons Schiff setzt zur Landung an, Sir! Ashleys Schiff
ebenfalls!«
»Was hab' ich gesagt!« Kapitän Hart schlug mit der
Faust auf den Tisch. »Die Schakale sammeln sich zum
Mahl! Sie werden sich wundern, wenn ich Ihnen mein
Material unter die Nase halte. Ich werde sie zwingen, mich
an ihrer Ernte zu beteiligen – das steht fest!«
Martin sah krank aus. Er starrte den Kommandanten an.
»Geschäft, mein Junge, Geschäft«, sagte der Kapitän.
Alle blickten hoch. Zwei Raumschiffe stießen aus dem
Himmel herab.
Als die Raumschiffe landeten, gingen sie fast zu Bruch.
»Was ist bloß in diese Narren gefahren?« schrie der
Kapitän und sprang auf. Die Männer rannten über die
Wiese zu den rauchenden Schiffen. Als der Kommandant
ankam, zischte die Luftschleuse in Burtons Schiff auf.
Ein Mann fiel hinaus und in ihre Arme.
»Was ist passiert?« schrie Kapitän Hart.
Der Mann lag am Boden. Sie beugten sich über ihn und
sahen, daß er verbrannt war. Sein Körper war mit Wunden
und Narben bedeckt, und die Haut war überall entzündet
und blasig. Er blickte aus verquollenen Augen hoch, und
seine angeschwollene Zunge bewegte sich zwischen
geplatzten Lippen.
»Was ist passiert?« verlangte der Kapitän zu wissen; er
war niedergekniet und schüttelte den Arm des Mannes.
»Sir, Sir«, flüsterte der sterbende Mann, »vor
achtundvierzig Stunden, im Raumsektor neunundsiebzig
DFS, in Höhe von Planet Eins dieses Systems, kamen
unser und Ashleys Schiff in einen kosmischen Sturm, Sir.«
Graue Flüssigkeit tropfte aus der Nase des Mannes. Blut
rann aus seinen Mundwinkeln. »Ausgelöscht. Die ganze
Mannschaft. Burton tot. Ashley starb vor einer Stunde. Nur
drei Überlebende.«
»Hören Sie zu!« schrie Hart, sich über den blutenden
Mann beugend. »Sie sind nicht vor dieser Stunde schon
einmal auf diesem Planeten gelandet?«
Schweigen.
»Antworten Sie!« schrie Hart.
»Nein«, sagte der sterbende Mann. »Sturm. Burton vor
zwei Tagen gestorben. Dies erste Landung auf irgendeiner
Welt seit sechs Monaten.«
»Sind Sie sicher?« schrie Hart, den Mann mit beiden
Händen umfassend und heftig schüttelnd. »Sind Sie ganz
sicher?«
»Bestimmt, bestimmt«, entrang es sich dem Mund des
sterbenden Mannes.
»Burton starb vor zwei Tagen? Wissen Sie das genau?«
»Ja, ja«, flüsterte der Mann. Sein Kopf fiel vornüber.
Der Mann war tot.
Der Kapitän kniete neben dem stummen Körper. Im
Gesicht des Kapitäns zuckte es, die Muskeln spannten und
entspannten sich unwillkürlich. Die restlichen Mitglieder
der Mannschaft traten zurück und blickten auf ihn herab.
Martin wartete. Schließlich bat der Kapitän, ihm auf die
Beine zu helfen; man half ihm. Sie standen und blickten
zur Stadt hinüber. »Das bedeutet ...«
»Das bedeutet?« fragte Martin.
»Wir sind die einzigen, die hier gelandet sind«, flüsterte
Kapitän Hart. »Und dieser Mann ...«
»Was ist mit dem Mann, Kapitän?« fragte Martin.
Im Gesicht des Kapitäns zuckte es irr. Er sah sehr, sehr
alt und aschfahl aus. Seine Augen starrten glasig. Langsam
setzte er sich über das trockene Gras in Bewegung.
»Kommen Sie mit, Martin. Kommen Sie mit. Stützen
Sie mich; um meinetwegen, stützen Sie mich. Ich fürchte,
ich falle sonst. Und lassen Sie uns eilen.«
Stolpernd schleppten sie sich über das lange trockene
Gras und durch den säuselnden Wind zur Stadt.
Einige Stunden später saßen sie im Empfangszimmer
des Bürgermeisters. An die tausend Leute waren
gekommen, hatten gesprochen und waren wieder
gegangen. Der Kapitän hatte die ganze Zeit hindurch
gesessen und zugehört und zugehört. So viel Licht strahlte
aus den Gesichtern derjenigen, die kamen und Zeugnis
ablegten und sprachen, daß er ihren Anblick kaum ertragen
konnte.
Als es vorbei war, wandte Kapitän Hart sich an den
Bürgermeister und fragte mit sonderbarem Blick: »Aber
Sie müssen wissen, wo er hingegangen ist?«
»Er sagte nicht, wo er hingehen wollte«, antwortete der
Bürgermeister.
»Zu einer der anderen nahegelegenen Welten?«
verlangte der Kapitän zu wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen es wissen.«
»Sehen Sie ihn?« fragte der Bürgermeister, auf die
Menge deutend.
Der Kapitän blickte hin. »Nein.«
»Dann ist er wahrscheinlich fortgegangen«, sagte er.
»Wahrscheinlich, wahrscheinlich!« schrie der Kapitän
mutlos. »Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen,
und ich möchte ihn jetzt sehen. Gerade jetzt ist mir wieder
eingefallen, welch ein beispielloses Ereignis dies doch in
der Geschichte ist. Daran teilnehmen zu können! Sie
müssen wissen, wohin er gegangen ist!«
»Ein jeder findet auf seine Weise zu ihm«, antwortete
der Bürgermeister freundlich.
»Ihr versteckt ihn!« Das Gesicht des Kommandanten
wurde langsam boshaft. Zug um Zug kehrte die alte Härte
zurück. Er begann sich zu erheben.
»Nein«, sagte der Bürgermeister.
»Sie wissen also, wo er ist?« Die Hand des Kapitäns
fingerte an der ledernen Pistolentasche an seiner rechten
Hüfte herum.
»Ich könnte Ihnen nicht genau sagen, wo er ist«,
erwiderte der Bürgermeister.
»Ich rate Ihnen, mit der Sprache herauszurücken«,
forderte der Kapitän barsch und zog eine kleine,
stahlblitzende Waffe heraus.
»Es gibt kein Mittel«, sagte der Bürgermeister, »es Ihnen
zu erklären.«
»Lügner!«
Ein mitleidiger Ausdruck trat in das Gesicht des
Bürgermeisters während er Hart in die Augen sah.
»Sie sind sehr müde«, sagte er. »Sie sind eine lange
Strecke gereist, und Sie gehören einem müde gewordenen
Volk an, das seit langer Zeit seinen Glauben verloren hat;
und jetzt sehnen Sie sich so sehr danach, zu glauben, daß
Sie sich selbst das größte Hindernis sind. Wenn Sie töten,
werden Sie es sich nur noch schwerer machen. Auf diese
Weise werden Sie ihn nie finden.«
»Wohin ist er gegangen? Er hat es Ihnen gesagt; Sie
wissen es. Los, erzählen Sie's mir!« Der Kapitän fuchtelte
mit der Pistole.
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf.
»Reden Sie! Reden Sie!«
Die Pistole knallte einmal, zweimal. Der Bürgermeister
stürzte, sein Arm war getroffen.
Martin sprang vor. »Kapitän!«
Die Pistole zuckte herum und deutete auf Martin.
»Mischen Sie sich nicht ein!«
Vom Boden her, seinen verwundeten Arm haltend,
blickte der Bürgermeister hoch. »Stecken Sie Ihre Pistole
weg. Sie tun sich selbst weh. Sie haben nie geglaubt, und
jetzt, da Sie annehmen zu glauben, tun Sie deshalb anderen
Leuten weh.«
»Ich brauche Sie nicht«, sagte Hart, über ihm stehend.
»Wenn ich ihn hier um einen Tag verpaßt habe, werde ich
eben zu einer anderen Welt weiterfahren. Und zur nächsten
und weiter zur nächsten. Auf dem nächsten Planeten werde
ich ihn vielleicht um einen halben Tag verpassen, und
einen viertel Tag auf dem zweiten, und zwei Stunden auf
dem dritten Planeten, und eine Stunde auf dem nächsten,
und eine halbe Stunde auf dem nächsten, und eine Minute
auf dem nächsten. Dann aber werde ich eines Tages
zugleich mit ihm ankommen! Haben Sie das gehört?« Die
letzten Worte schrie er heraus. Er schwankte vor
Erschöpfung. »Kommen Sie, Martin.« Er ließ die Hand mit
der Pistole hängen.
»Nein«, erwiderte Martin. »Ich bleibe hier.«
»Sie sind ein Narr. Bleiben Sie, wenn Sie wollen. Ich
fahre weiter mit den anderen, so weit ich nur kann.«
Der Bürgermeister blickte zu Martin hoch. »Um mich
brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Lassen Sie nur.
Andere werden meine Wunden pflegen.«
»Ich komme zurück«, sagte Martin. »Ich werde nur bis
zum Raumschiff mitgehen.«
So rasch sie konnten, eilten sie durch die Stadt zurück.
Man sah, mit welcher Anstrengung der Kommandant
kämpfte, um vor allen seinen unverminderten Elan zu
beweisen, um sich selbst voranzutreiben. Als sie das
Raumschiff erreichten, schlug er mit zitternder Hand gegen
seine Wand. Er steckte seine Pistole ein. Er sah Martin an.
»Nun, Martin?«
Martin sah ihn an. »Nun, Kapitän?«
Die Blicke des Kapitäns wanderten über den Himmel.
»Wollen Sie wirklich nicht – mitkommen – mit mir, hm?«
»Nein, Sir.«
»Es wird ein großes Abenteuer werden, bei Gott! Ich
weiß, daß ich ihn finden werde.«
»Sie sind unwiderruflich dazu entschlossen, nicht wahr,
Sir?«
Das Gesicht des Kommandanten zuckte, und seine
Augen schlossen sich. »Ja.«
»Eines hätte ich gern gewußt.«
»Was?«
»Wenn Sie ihn finden, Sir – wenn Sie ihn finden«, fragte
Martin, »was werden Sie dann von ihm erbitten?«
»Nun ...« Der Kapitän wurde unsicher und öffnete die
Augen. Seine Hände schlossen und öffneten sich. Er sann
einen Augenblick nach, und dann breitete sich ein
sonderbares Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Nun, ich
werde ihn um ein wenig – Ruhe und Frieden bitten.« Er
berührte die Rakete. »Es ist lange her, eine lange, lange
Zeit, seit ich – seit ich Ruhe gehabt habe.«
»Haben Sie denn jemals auszuruhen versucht, Kapitän?«
»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Hart.
»Macht nichts. Auf Wiedersehen, Kapitän.«
»Leben Sie wohl, Mr. Martin.«
Die Mannschaft stand vor der Luftschleuse. Nur drei von
ihnen wollten mit Hart weiterfliegen. Sieben andere sagten,
daß sie mit Martin zurückblieben.
Kapitän Hart musterte sie und fällte sein Urteil:
»Narren!«
Als letzter kletterte er in die Luftschleuse, grüßte
militärisch lachte rauh. Die Tür schlug zu.
Auf einer Feuersäule hob sich das Raumschiff in den
Himmel.
Martin sah ihm nach, bis es in der Ferne verschwand.
Am Rande der Wiese stand der Bürgermeister, von
mehreren Männern gestützt, und winkte.
»Er ist fort«, sagte Martin, als er zu ihnen trat.
»Ja, der arme Mann; er ist fort«, sagte der Bürgermeister.
»Und er wird weiter und weiter ziehen, von Planet zu
Planet, suchend und weitersuchend, und wieder und wieder
wird er zu spät kommen. Und schließlich wird er nur um
ein paar Sekunden zu spät kommen. Und wenn er
dreihundert Welten besucht hat und siebzig oder achtzig
Jahre alt geworden ist, wird er nur noch um eine Sekunde
und endlich nur um einen winzigen Bruchteil einer
Sekunde zu spät kommen. Und er wird weiter und weiter
ziehen immer im Glauben, das zu finden, was er hinter sich
gelassen hat, hier, auf diesem Planeten, in dieser Stadt ...«
Martin sah dem Bürgermeister fest in die Augen.
Der Bürgermeister streckte seine Hand aus. »Bestand
jemals der geringste Zweifel daran?« Er winkte den
anderen und drehte sich um. »Kommt mit jetzt. Wir dürfen
ihn nicht warten lassen.«
Sie gingen in die Stadt.

Der lange Regen


Der Regen hörte nicht auf. Es war ein schrecklicher Regen,
ein Dauerregen, ein schweißtreibender und dampfender
Regen; eben noch ein Sprühregen, jetzt ein Platzregen,
dann ein Wasserfall; er peitschte die Augen, er strömte wie
ein reißender Fluß um die Knöchel; es war ein Regen, in
dem alle bisherigen Regen und alle Erinnerungen an Regen
ertranken.
»Wie weit noch, Leutnant?«
»Keine Ahnung. Eine Meile, zehn Meilen, tausend.«
»Wissen Sie es denn nicht?«
»Wie kann ich das wissen?«
»Ich hasse diesen Regen. Wenn wir nur wüßten, wie weit
es bis zur Sonnenkuppel ist, würde ich mich schon wohler
fühlen.«
»Noch ein oder zwei Stunden von hier.«
»Glauben Sie das wirklich, Leutnant?«
»Selbstverständlich.«
Die beiden Männer saßen nebeneinander im Regen.
Hinter ihnen saßen noch zwei Männer, naß und müde und
zusammengesunken wie schmelzender Ton.
Der Leutnant blickte auf. Sein ehemals braunes Gesicht
war vom Regen bleichgewaschen; auch aus seinen Augen
hatte der Regen die Farbe gewaschen, und sie waren weiß
wie seine Zähne und sein Haar. Er war völlig weiß. Selbst
seine Uniform begann weiß zu werden und sich mit einem
leichten, grünlichen Schimmel zu überziehen.
Der Leutnant fühlte den Regen auf seinen Wangen. »Wie
viele Millionen Jahre mag es wohl her sein, daß der Regen
hier auf der Venus einmal aufgehört hat?«
»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte einer der beiden
anderen Männer. »Auf der Venus hört es nie auf zu regnen.
Ich lebe jetzt hier seit zehn Jahren, und ich habe nicht eine
Minute, ja nicht einmal eine Sekunde erlebt, in der es nicht
regnete.«
»Es ist, als ob man unter Wasser lebte«, sagte der
Leutnant und stand auf, seine Pistolen zurechtrückend.
»Am besten machen wir uns wieder auf den Weg. Wir
werden die Sonnenkuppel schon finden.«
»Oder wir finden sie nie«, entgegnete der Zyniker.
»Etwa eine Stunde werden wir wohl brauchen.«
»Jetzt lügen Sie mich an, Leutnant.«
»Nein, ich belüge mich jetzt nur selbst. In einer solchen
Lage muß man sich einfach etwas vormachen.«
Sie folgten dem Dschungelpfad, dann und wann auf ihre
Kompasse blickend. Es gab nirgends einen Anhaltspunkt
für ihre Richtung. Es gab nur grauen Himmel, fallenden
Regen, Dschungel und einen Pfad, und weit hinter ihnen,
irgendwo, eine Rakete, mit der sie abgestürzt waren. Eine
Rakete, in der zwei ihrer Kameraden lagen, tot.
Sie gingen schweigend in einer Reihe hintereinander. Sie
kamen an einen Fluß; breit, flach und braun erstreckte er
sich vor ihnen und floß in das große, einzige Meer des
Planeten.
»Fertigmachen, Simmons.«
Der Leutnant nickte, und Simmons nahm ein kleines
Paket vom Rücken, das mittels einer verborgenen
Chemikalie zu einem großen Boot aufgeblasen wurde. Der
Leutnant hieß Holz schlagen und rasch Paddel machen,
und sie schoben das Boot ins Wasser und paddelten schnell
durch den Regen über die gerippelte Oberfläche.
Der Leutnant spürte den kalten Regen auf seinen
Wangen, auf seinem Nacken und auf seinen sich
bewegenden Armen. Die Kälte begann in seine Lungen zu
dringen.
»Letzte Nacht habe ich nicht geschlafen«, sagte er.
»Wer könnte? Wer hat? Wann? Wie viele Nächte haben
wir nicht mehr geschlafen? Dreißig Nächte, dreißig Tage!
Wie soll man schlafen können, wenn einem der Regen
unaufhörlich auf den Kopf trommelt? Ich bekomme
Kopfschmerzen. Mein Kopf tut mir weh, immer nur weh.«
»Tut mir leid, daß ich nach China geraten bin«, sagte
einer der Männer.
»Ich höre zum ersten Mal, daß jemand die Venus China
nennt.«
»Ja, China. Die chinesische Wasserkur. Könnt ihr euch
an diese alte Foltermethode erinnern? Man wird an eine
Mauer gebunden. Kopf rasiert. Alle paar Minuten einen
Tropfen Wasser. Immer auf dieselbe Stelle. Das Warten auf
den nächsten macht einen wahnsinnig. Nun, genauso ist's
auf der Venus, bloß in größerem Maßstab. Wenn wir auf
einen Absturz vorbereitet gewesen wären, hätten wir
wasserfeste Uniformen und Kopfbedeckungen
mitgenommen. Dies Geprassel auf dem Kopf macht einem
am meisten zu schaffen. Der Regen ist so schwer. Wie ein
Trommelfeuer mit Luftgewehrschrot. Ich weiß nicht, wie
lange ich es noch aushalten kann.«
»Mensch, die Sonnenkuppeln sind doch eine feine
Sache! Wer die erfunden hat, konnte keinen bess'ren Einfall
gehabt haben.«
Während sie den Fluß überquerten, dachten sie an die
Sonnenkuppel, die irgendwo vor ihnen im Dschungel durch
den Regen schien. Ein gelbes Gewölbe, rund und strahlend
wie die Sonne.
Ein Haus, fünf Meter hoch und dreißig Meter im
Durchmesser, in dem es Wärme und Ruhe und heißes
Essen und Befreiung von diesem Regen gab. Und im
Zentrum der Sonnenkuppel war natürlich eine Sonne. Eine
kleine, freischwebende Kugel aus gelbem Feuer, die in der
Spitze des Gewölbes hing, wo man sie von seinem Platz
aus erblicken konnte, während man rauchte oder ein Buch
las oder heiße Schokolade mit Marshmallow-Klümpchen
schlürfte. Dort hing sie, die gelbe Sonne, im Verhältnis
genau so groß wie die Sonne der Erde, ununterbrochen
Wärme ausstrahlend, und die Regenwelt der Venus geriet
in Vergessenheit, solange man unter dieser Kuppel saß.
Der Leutnant drehte sich um und blickte zu den drei
Männern zurück, die zähneknirschend ihre Paddel
schwangen. Sie waren weiß wie Pilze, weiß wie er selbst.
Die Venus bleichte alles in wenigen Monaten aus. Selbst
der Dschungel war wie eine riesige, alpdruckerweckende
Witzblattzeichnung, denn wie konnte ein Dschungel ohne
Sonne grün sein, ein Dschungel, über den stets Regen fiel
und über dem ewige Dämmerung hing? Der weiße, weiße
Dschungel mit den bleichen, käsigen Blättern, der wie aus
nassem Camembert geschnittenen Erde und den wie
Riesenpilze aussehenden Baumstämmen – alles schwarz
und weiß.
»Wir sind drüben!«
Sie sprangen an das gegenüberliegende Ufer, planschend
und spritzend. Sie ließen die Luft aus dem Boot und
verstauten es in einer Zigarettenschachtel. Am regnerischen
Ufer scharten sie sich zusammen und versuchten, ein paar
Zigaretten anzuzünden; es dauerte ungefähr fünf Minuten,
bevor es ihnen gelang, den feuchten Tabak mit dem
umgekehrten Feuerzeug in Brand zu setzen und ein paar
Züge zu inhalieren, ehe ihnen die nassen Zigaretten von
einem plötzlichen Regenguß aus den Lippen geschlagen
wurden.
Sie gingen weiter.
»Bleibt einen Augenblick stehen«, sagte der Leutnant.
»Ich glaube, dort vorn habe ich etwas gesehen.«
»Die Sonnenkuppel?«
»Ich bin nicht sicher. Der Regen hat mir wieder die Sicht
genommen.«
Simmons begann zu laufen. »Die Sonnenkuppel!«
»Kommen Sie zurück, Simmons!«
»Die Sonnenkuppel!«
Simmons wurde vom Regen verschluckt. Die anderen
rannten hinter ihm her.
Sie fanden ihn in einer kleinen Lichtung und blieben
stehen, um auch zu sehen, was er entdeckt hatte.
Ihr Raumschiff.
Irgendwie hatten sie einen Bogen geschlagen und waren
wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. In den
Trümmern des Schiffes wuchsen grünliche
Schimmelpilzgewächse aus den Mündern der beiden toten
Männer. Während sie noch standen und sahen erblühten die
Pflanzen, der Regen wusch die Blütenblätter fort, und die
Gewächse starben.
»Wie konnte uns das passieren?«
»Ein Gewitter muß unsere Kompasse abgelenkt haben.
Das würde es erklären.«
»Sie haben recht.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir ziehen von neuem los.«
»Guter Gott, wir sind unserem Ziel noch nicht einen
Schritt nähergekommen!«
»Wir müssen versuchen, die Ruhe zu bewahren,
Simmons.«
»Die Ruhe bewahren! Dieser Regen macht mich
verrückt!«
»Unser Proviant reicht noch für zwei Tage, wenn wir
vernünftig damit umgehen.«
Und während sie noch dastanden, hörten sie ein fernes
Krachen. Das Ungeheuer trat aus dem Regen.
Das Ungeheuer hatte tausend elektrische, blauweiße
Beine. Sein Gang war rasch und furchtbar. Überall, wo es
ein Bein mit schrecklicher Gewalt zu Boden fallen ließ,
stürzte ein Baum und ging in Flammen auf.
Durchdringender Geruch nach Ozon erfüllte die
regnerische Luft, Rauch stieg auf und wurde vom Regen
niedergeschlagen. Das Ungeheuer war eine halbe Meile
breit und eine Meile hoch und tastete den Boden wie ein
riesiges, blindes Geschöpf ab. Manchmal hatte es einen
Augenblick lang überhaupt keine Beine. Dann wieder
peitschten plötzlich tausend Schläge aus seinem Wanst,
bläulich-weiße Schläge, die dem Dschungel tiefe Wunden
schlugen.
»Dort kommt das Gewitter«, sagte einer der Männer,
»das unsere Kompasse abgelenkt hat. Es zieht auf uns zu.«
»Alle hinlegen«, ordnete der Leutnant an.
»Fort!« schrie Simmons.
»Seid keine Narren. Legt euch hin. Es trifft stets die
höchsten Punkte. Vielleicht kommen wir unversehrt durch.
Werft euch ungefähr fünfzehn Meter von der Rakete
entfernt zu Boden. Möglicherweise wird es dort seine
ganze Kraft austoben und uns verschonen. Hinwerfen!«
Die Männer ließen sich fallen.
»Kommt es?« fragte einer den anderen nach einem
Augenblick.
»Es kommt.«
»Wie nahe schon?«
»Etwa zweihundert Meter.«
»Und jetzt?«
»Es ist da!«
Das Ungeheuer stand über ihnen. Es sandte zehn
blauweiße Blitzstrahlen aus, die auf die Rakete prasselten.
Die Rakete leuchtete auf und hallte wie ein angeschlagener
Gong. Das Ungeheuer schickte fünfzehn weitere Strahlen
herab, die in einer grausigen Pantomime umhertanzten und
den Dschungel und den wäßrigen Boden abtasteten.
»Nein, nein!« Einer der Männer sprang auf.
»Hinwerfen, Sie Narr!« rief der Leutnant.
»Nein!«
Noch etwa zwölf Blitze schlugen in die Rakete. Der
Leutnant drehte den Kopf auf seinem Arm zur Seite und
sah die grellen, blauweißen Strahlen. Er sah die Bäume
splittern und zusammenschrumpfen. Er sah die ungeheure,
schwarze Wolke sich wie eine Scheibe über ihren Köpfen
drehen und hundert weitere Pfeile geballter Elektrizität
herabschleudern.
Der Mann, der aufgesprungen war, lief jetzt wie durch
eine gewaltige Säulenhalle. Er rannte geduckt zwischen
den Säulen hindurch, bis schließlich ein Dutzend davon auf
ihn niederschlugen und ein Geräusch ertönte, wie wenn
eine Fliege auf dem Drahtgitter eines elektrischen
Insektenvertilgers landete. Der Leutnant erinnerte sich
daran aus seiner Kindheit auf einer Farm. Der Geruch
verkohlten Fleisches wehte herüber.
Der Leutnant senkte seinen Kopf. »Nicht hochblicken!«
rief er den anderen zu. Er hatte Angst, daß er selbst jeden
Moment aufspringen und losrennen könnte.
Das Gewitter über ihnen ließ noch eine Serie Blitze
herabprasseln und wanderte weiter. Nur der Regen blieb,
der rasch die Luft von dem brandigen Geruch reinigte, und
einen Augenblick später hatten die drei übriggebliebenen
Männer sich hingesetzt und warteten darauf, daß ihr
Herzschlag wieder ruhiger wurde.
Sie gingen zu dem Körper hinüber, in der Hoffnung,
vielleicht noch das Leben des Mannes retten zu können.
Der Körper war verdreht und hart wie in verbranntes
Leder gewickelter Stahl. Er sah aus wie eine Wachsfigur,
die man in einen Bestattungsofen geschoben und
herausgezogen hatte, nachdem das Wachs bis auf das
verkohlte Skelett geschmolzen war. Nur die Zähne waren
weiß geblieben und glänzten wie ein fremdartiges weißes
Armband in einer halbgeschlossenen schwarzen Faust.
»Er hätte nicht aufspringen dürfen«, sagten alle fast wie
aus einem Munde.
Noch während sie neben dem Körper standen, begann er
zu verschwinden, denn die Vegetation kroch von allen
Seiten her über ihn; kleine Schlinggewächse, Ranken und
Kriechpflanzen, und sogar Blumen erblühten für den Toten.
In der Ferne zog das Gewitter auf blauweißen Stelzen
ab.
Sie überquerten einen Fluß und einen Bach und einen
Strom und ein Dutzend weiterer Flüsse und Bäche und
Ströme. Vor ihren Augen erschienen rauschend neue
Flüsse, während bereits bestehende Flüsse ihren Lauf
änderten – Flüsse in der Farbe von geschmolzenem Blei,
Flüsse in der Farbe von Silber und Milch:
Sie kamen an das Meer.
Das einzige Meer. Es gab nur einen Kontinent auf der
Venus. Das Land war dreitausend Meilen lang und tausend
Meilen breit und rund um diese Insel erstreckte sich das
Meer, das den gesamten, in Regen gehüllten Planeten
bedeckte. Das Meer, das nur schwach gegen den bleichen
Strand schlug ...
»Dort hinunter.« Der Leutnant deutete mit dem Kopf gen
Süden. »Ich bin sicher, daß in dieser Richtung zwei
Sonnenkuppeln liegen.«
»Warum hat man nicht gleich hundert mehr davon
errichtet, wenn man schon einmal beim Bauen war?«
»Inzwischen gibt es wohl schon hundertzwanzig
Sonnenkuppeln, nicht wahr?«
»Bis zum Ende des letzten Monats waren es sogar schon
hundertsechsundzwanzig. Vor einem Jahr hat man auf der
Erde versucht, eine Vorlage durch den Kongreß zu bringen,
damit noch ein paar Dutzend mehr gebaut werden könnten,
aber o nein, ihr wißt ja, wie so etwas ausläuft! Die lassen
lieber ein paar Männer im Regen wahnsinnig werden.«
Sie starrten nach Süden.
Der Leutnant, Simmons und der dritte Mann, Pickard,
gingen durch den Regen.
Simmons sah sie zuerst. »Dort ist sie!«
»Was ist dort?«
»Die Sonnenkuppel!«
Der Leutnant wischte sich das Wasser aus den Augen.
In der Ferne sah man einen gelblichen Schimmer am
Rande des Dschungels, an der Küste. Es war wirklich die
Sonnenkuppel.
Die Männer lächelten einander an.
»Sieht aus, als ob Sie recht hatten, Leutnant.«
»Glück.«
»Mensch, der Anblick gibt mir wieder Mumm! Ein
Hundesohn wer zuletzt dort ist!« Simmons fiel in
Laufschritt. Die anderen machten automatisch mit,
keuchend, ermattet, aber sie hielten Schritt.
Sie rannten.
Sie lachten. Und lachend erreichten sie den Eingang der
Sonnenkuppel.
Simmons riß die Tür weit auf. »Heda!« schrie er.
»Bringt den Kaffee und die Brötchen!«
Keine Antwort.
Sie traten ein.
Die Sonnenkuppel war leer und dunkel. Keine
künstliche gelbe Sonne schwebte mit leisem Zischen hoch
in der Mitte der blauen Decke. Kein Essen wartete. Es war
kalt wie in einer Leichenhalle. Und durch tausend frische
Löcher strömte Wasser von der Decke herab, fiel der
Regen, durchnäßte die dicken Teppiche und die schweren
modernen Möbel und spritzte von den Glastischen. Wie
Moos überwucherte bereits der Dschungel den Raum,
wuchs auf den Büchergestellen und auf den Betten. Der
Regen schlug durch die Löcher und ergoß sich über die
Gesichter der drei Männer.
Pickard begann leise zu lachen.
»Still, Pickard!«
»Ihr Götter, seht, was hier auf uns wartet – kein Essen,
keine Sonne, nichts! Die Venusier – natürlich! Die Venusier
haben das getan!«
Simmons nickte, während ihm der Regen über das
Gesicht rann. Das Wasser strömte über sein silbriges Haar
und durch seine weißen Augenbrauen. »Von Zeit zu Zeit
steigen die Venusier aus dem Meer und greifen eine
Sonnenkuppel an. Sie wissen, daß sie uns vernichten
können, wenn sie die Sonnenkuppeln zerstören.«
»Aber sind die Kuppeln nicht durch Feuerwaffen
geschützt?«
»Das stimmt.« Simmons trat beiseite an eine Stelle, die
relativ trocken war. »Aber es ist schon fünf Jahre her, seit
die Venusier einen Überfall versuchten. Die Verteidigung
ist eingeschlafen. Sie haben diese Kuppel völlig
überrascht.«
»Wo sind die Leichen?«
»Die Venusier haben sie alle mit ins Meer genommen.«
»Ich möchte wetten, daß hier überhaupt nichts mehr zu
essen ist.« Pickard lachte.
Der Leutnant sah ihn stirnrunzelnd an und deutete mit
dem Kopf nach ihm, so daß nur Simmons es sehen konnte.
Simmons schüttelte den Kopf und ging nach hinten in eine
Kammer an der Seite des ovalen Mittelraumes. Durchnäßte
Brote lagen in der Küche verstreut und Fleisch, auf dem
fahlgrüner Schimmel wuchs. Regen drang durch hundert
Löcher im Küchendach.
»Großartig.« Der Leutnant blickte zu den Löchern hoch.
»Ich glaube kaum, daß wir diese Löcher alle verstopfen
und es uns hier gemütlich machen können.«
»Ohne Essen, Sir?« schnaubte Simmons. »Wie ich
gesehen habe, ist die Sonnenmaschine auseinandergerissen.
Am sichersten ist es für uns, wenn wir uns bis zur nächsten
Sonnenkuppel durchschlagen. Wie weit ist es von hier
noch?«
»Nicht weit. Wie ich mich erinnere, hat man hier zwei
ziemlich nahe beieinander gebaut. Wenn wir hier warten,
könnte vielleicht eine Rettungsmannschaft von der anderen
Sonnenkuppel ...«
»Die ist wahrscheinlich schon vor ein paar Tagen hier
gewesen und wieder gegangen. In ungefähr sechs Monaten
werden sie Leute herschicken und dieses Ding hier
reparieren lassen. Darauf sollten wir lieber nicht warten.«
»Also gut; wir wollen den Rest unserer Rationen essen
und uns dann auf den Weg zur nächsten Sonnenkuppel
machen.«
Pickard begann zu sprechen: »Wenn der Regen bloß
aufhören wollte, auf meinen Kopf zu hämmern, wenigstens
für ein paar Minuten.« Er preßte die Hände über seinen
Kopf. »Als ich noch in die Schule ging, saß einmal ein
ganz gemeiner Schuft hinter mir, der mich dauernd kniff,
immer wieder, alle fünf Minuten, den ganzen Tag lang.
Wochen und Monate tat er das. Und eines Tages bin ich
wohl auch von dieser dauernden Peinigung ein wenig
wahnsinnig geworden; jedenfalls ergriff ich mein
metallenes Dreieck, das ich gerade beim Unterricht im
technischen Zeichnen verwendete, und brachte diesen
Schweinehund fast um. Aber was kann ich jetzt tun? Wen
kann ich jetzt schlagen? Wem sage ich jetzt, daß er
aufhören soll, mich zu quälen?«
»Gegen vier Uhr nachmittags werden wir die nächste
Sonnenkuppel erreicht haben.«
»Sonnenkuppel? Seht euch doch diese hier an! Was,
wenn alle Sonnenkuppeln auf der Venus vernichtet sind?
Was dann?«
»Wir müssen uns eben auf unser Glück verlassen.«
»Ich habe keine Lust mehr, auf Glück zu warten. Ich will
nur ein Dach über dem Kopf und etwas Ruhe. Ich will in
Ruhe gelassen werden.«
»Das kannst du alles in acht Stunden haben wenn du
aushältst.«
»Macht euch keine Sorgen. Ich werd's schon aushalten.«
Und Pickard lachte, ohne sie anzusehen.

Sie machten sich wieder auf den Weg, gen Süden, die
Küste entlang. Nach vier Stunden mußten sie ins Innere des
Landes abschwenken, um einen Fluß zu umgehen, der eine
Meile breit und so reißend war, daß man ihn nicht mit dem
Boot überqueren konnte. Sie mußten sechs Meilen gehen,
bis sie an eine Stelle kamen, wo der Fluß ganz plötzlich aus
der Erde brach. Durch den Regen wanderten sie über festen
Boden zur Küste zurück.
»Ich muß schlafen«, sagte Pickard schließlich. Er ließ
sich fallen. »Hab' seit vier Wochen nicht mehr geschlafen.
Hab's versucht, konnte aber nicht. Schlaf' hier.«
Der Himmel wurde dunkler. Die Venusnacht brach
herein, sie war so völlig schwarz, daß es gefährlich war,
sich zu bewegen. Simmons und der Leutnant ließen sich
ebenfalls auf die Knie fallen, und der Leutnant sagte: »Also
gut, woll'n wir's wieder mal versuchen.«
Sie streckten sich lang aus, legten die Köpfe hoch, so
daß ihnen das Wasser nicht in den Mund laufen konnte,
und schlossen die Augen.
Der Leutnant zuckte.
Er schlief nicht.
Pflanzen krochen über seinen Körper. Winzige Pflanzen,
die ihn lagenweise überwucherten. Tropfen fielen und
vereinigten sich mit anderen Tropfen und wurden zu
kleinen Bächen, die über seinen Körper rannen; und
während sie über seine Haut flossen, schlugen die winzigen
Gewächse des Waldes Wurzeln in seinen Kleidern. Er
spürte, wie die Schlingpflanzen sich an ihn klammerten
und ein zweites Kleid über ihn woben, er spürte, wie kleine
Knospen blühten und aufbrachen und zerblätterten, und
weiter klopfte der Regen auf seinen Körper und auf seinen
Kopf. In der Dunkelheit – denn die Vegetation
phosphoreszierte in der Nacht – konnte er die Umrisse der
anderen beiden Männer erkennen, wie gestürzte
Baumstämme, über die sich ein samtener Teppich aus Gras
und Blumen gelegt hatte.
Plötzlich sprang er auf und begann, sich das Wasser vom
Körper zu streifen. Tausend Hände berührten ihn, und er
wollte sich nicht länger berühren lassen. Er konnte es nicht
länger aushalten berührt zu werden. Er stolperte und
streifte jemand anderen und wußte, daß es Simmons war,
der ebenfalls aufrecht im Regen stand, Wasser schnaubend,
hustend und keuchend. Und dann kam Pickard hoch,
schreiend und umherspringend.
»Einen Augenblick, Pickard!«
»Aufhören! Aufhören!« schrie Pickard. Er feuerte seine
Pistole sechsmal gegen den Nachthimmel ab. In dem
mehrfachen Aufblitzen konnten sie Armeen von
Regentropfen sehen, die scheinbar reglos einen Augenblick
lang in der Luft hingen, als zögerten sie, erschreckt von der
Explosion – fünfzehn Billionen Tropfen, fünfzehn
Billionen Tränen, fünfzehn Billionen Schmucksteine,
Juwelen in einem weiß unterlegten Schaukasten. Und dann,
als das Licht verschwunden war, fielen die Tropfen, fielen
über sie her.
»Aufhören! Aufhören!«
»Pickard!«
Doch Pickard stand jetzt völlig still. Als der Leutnant
eine kleine Taschenlampe anknipste und den Schein über
Pickards nasses Gesicht spielen ließ, waren die Augen des
Mannes weit aufgerissen, und sein Mund stand offen. Das
Gesicht hielt er nach oben gerichtet, so daß das Wasser ihm
in die Augen schlug und sie ertränkte, ihm in den Mund
spritzte und Schaumbläschen an den Nasenlöchern bildete.
»Pickard!«
Der Mann antwortete nicht. Er stand einfach da,
während der Regen durch sein ausgebleichtes Haar strömte
und Fesseln aus Regenjuwelen sich tropfend um seine
Handgelenke und um seinen Hals legten.
»Pickard! Wir wollen weiter. Wir gehen jetzt. Kommen
Sie mit!«
Der Regen tropfte von Pickards Ohren.
»Können Sie nicht hören, Pickard!«
Es war, als schrie er in einen Brunnenschacht hinab.
»Pickard!«
»Lassen Sie ihn«, sagte Simmons.
»Wir können doch nicht ohne ihn weitergehen.«
»Was sollen wir tun – ihn tragen?« Simmons spuckte
aus. »Er ist nur noch eine Last für uns und sich selbst.
Wissen Sie, was er tun wird? Einfach hier auf dieser Stelle
stehenbleiben und ertrinken.«
»Was?«
»Sie sollten das inzwischen eigentlich wissen. Haben Sie
noch nie davon gehört? Er wird einfach hier stehenbleiben,
das Gesicht nach oben, und sich den Regen in Nase und
Mund fließen lassen. Er wird den Regen einatmen.«
»Nein.«
»Genauso haben sie damals General Mendt gefunden. Er
saß auf einem Stein, den Kopf in den Nacken gelegt, und
atmete den Regen ein. Seine Lungen waren voll Wasser.«
Der Leutnant ließ den Lichtstrahl wieder auf das
unbewegliche Gesicht fallen. Von Pickards Nase ertönte
ein schwaches Geräusch.
»Pickard!« Der Leutnant schlug ihm ins Gesicht.
»Das fühlt er nicht einmal mehr«, sagte Simmons. »Ein
paar Tage in diesem Regen, und man hat kein Gesicht,
keine Beine und keine Hände mehr.«
Der Leutnant sah voll Grauen seine Hand an. Er fühlte
sie nicht mehr.
»Aber wir können Pickard doch nicht hierlassen.«
»Ich werde Ihnen zeigen, was wir für ihn tun können.«
Und Simmons feuerte seine Pistole ab.
Pickard fiel auf den regenschwimmenden Boden.
»Bewegen Sie sich nicht, Leutnant«, sagte Simmons.
»Ich habe meine Pistole auf Sie gerichtet. Denken Sie doch
mal nach; er wäre hier nur stehengeblieben oder hätte sich
hingesetzt und wäre ertrunken. Es geht nur rascher auf
diese Weise.«
Der Leutnant blickte bestürzt auf den Körper herab.
»Aber Sie haben ihn getötet.«
»Ja; er wäre nur eine Last gewesen und hätte sonst uns
dadurch getötet. Sie haben sein Gesicht gesehen.
Wahnsinnig.«
Nach einem Augenblick nickte der Leutnant. »In
Ordnung.«
Sie machten sich auf durch den Regen.
Es war dunkel, und der Schein ihrer Taschenlampen
durchdrang die Finsternis und den Regen nur ein paar
Meter weit. Nach einer halben Stunde schon mußten sie
anhalten und auf die Dämmerung warten; den Rest der
Nacht saßen sie in der Nässe, Schmerzen vor Hunger in
den Eingeweiden. Als der Tag schließlich anbrach, war er
grau und regnerisch wie immer, und sie machten sich von
neuem auf den Weg.
»Wir haben uns verlaufen«, sagte Simmons.
»Nein. Eine Stunde noch.«
»Sprechen Sie lauter. Ich kann Sie nicht hören.«
Simmons blieb stehen und lächelte. »Gerechter Gott«,
sagte er und befühlte seine Ohren. »Meine Ohren. Sie
haben mich im Stich gelassen. Der dauernde Regen hat
mich letzten Endes noch stocktaub gemacht.«
»Können Sie überhaupt nichts hören?« fragte der
Leutnant.
»Was?« Simmons Augen blickten fragend.
»Nichts. Kommen Sie weiter.«
»Ich glaube, ich werde hier warten. Gehen Sie nur vor.«
»Das können Sie nicht tun.«
»Ich kann Sie nicht hören. Gehen Sie weiter. Ich bin
müde. Ich glaube nicht, daß die Sonnenkuppel in dieser
Richtung liegt. Und wenn, dann hat sie wahrscheinlich
Löcher im Dach wie die letzte. Ich glaube, ich werde
einfach hier sitzenbleiben.«
»Stehen Sie sofort auf!«
»Auf Wiedersehen, Leutnant.«
»Sie dürfen jetzt nicht aufgeben.«
»Ich habe hier eine Pistole, die sagt Ihnen, daß ich
hierbleibe. Mir ist so ziemlich alles egal. Ich bin noch nicht
ganz verrückt, aber dicht davor. Ich möchte jedenfalls nicht
so enden. Sobald Sie nicht mehr in Sicht sind, wird diese
Pistole mir ihren letzten Dienst erweisen.«
»Simmons!«
»Sie haben meinen Namen genannt. Soviel kann ich
noch von Ihren Lippen ablesen.«
»Simmons.«
»Sehen Sie, es ist doch nur noch eine Sache der Zeit.
Entweder sterbe ich jetzt oder in ein paar Stunden. Warten
Sie nur, bis Sie die nächste Sonnenkuppel erreicht haben
und feststellen müssen, daß auch dort der Regen durchs
Dach läuft – wenn Sie überhaupt hinkommen. Wär' das
nicht großartig?«
Der Leutnant wartete noch einen Augenblick und
patschte dann weiter durch den Regen. Einmal drehte er
sich um und rief zurück, aber Simmons blieb mit der
Pistole in der Hand sitzen. Er schüttelte den Kopf und
winkte dem Leutnant, weiterzugehen.
Der Leutnant hörte nicht einmal mehr den
Pistolenschuß.
Während er weiterwanderte, begann er die Blumen zu
essen. Sie waren weder giftig, noch besaßen sie einen
nennenswerten Nährwert, aber sie füllten wenigstens eine
Weile den Magen. Ein paar Minuten später wurde ihm
jedoch schlecht, und er spuckte alles wieder aus.
Einmal pflückte er ein paar Blätter ab und versuchte,
sich daraus einen Hut zu machen, doch er hatte das schon
früher versucht. Der Regen löste die Blätter auf seinem
Kopf auf. Sobald man sie pflückte, verrotteten alle
Pflanzen rasch und zerfielen zu einer grauen Masse.
›Noch fünf Minuten‹, sagte er sich. ›Noch fünf Minuten,
und ich gehe ins Meer, immer weiter ins Meer. Wir sind
hierfür nicht geschaffen; kein Erdenmensch wird jemals
fähig sein, dies auszuhalten.‹
Er quälte sich mühsam durch ein Meer von Schlamm
und Blattwerk und gelangte auf einen kleinen Hügel.
In der Ferne schimmerte ein matter gelber Fleck durch
den kalten Regenvorhang.
Die nächste Sonnenkuppel.
Jetzt konnte er es durch die Bäume sehen: ein großes,
rundes, gelbes Gebäude, weit weg. Einen Augenblick lang
stand er schwankend da und starrte es an.
Er begann zu laufen, fiel aber bald wieder in Schritt,
denn er hatte Angst. Er rief nicht. Wenn es nun dieselbe
war, was dann? Die tote Sonnenkuppel, ohne die Sonne,
was dann? dachte er.
Er rutschte aus und fiel. Bleib liegen, dachte er; es ist die
verkehrte. Bleib liegen. Es hat keinen Sinn. Trinken, nur
trinken.
Doch er brachte es fertig, sich noch einmal aufzuraffen;
er überquerte mehrere Rinnsale, der gelbe Schein wurde
sehr hell, und er begann wieder zu laufen.
Er stand vor dem gelben Tor. SONNENKUPPEL stand
in großen Buchstaben darüber. Tastend streckte er seine
gefühllose Hand danach aus. Dann drehte er den Türknopf
und stolperte hinein.
Einen Augenblick lang blieb er stehen und sah sich um.
Hinter ihm schlug der Regen einen Wirbel gegen die Tür.
Vor ihm, auf einem niedrigen Tisch, stand ein silberner
Topf mit heißer, dampfender Schokolade, daneben ein
gefüllter Becher, in dem Marshmallows schwammen. Und
daneben war ein Tablett mit Sandwiches angerichtet. Und
über einer Stange, gerade vor seinen Augen, hing ein
dickes, großes grünes Frottiertuch; darunter stand ein
Eimer für die nassen Kleider, und rechts von ihm befand
sich eine kleine Nische, in der intensive Wärmestrahlen
einen sofort trockneten. Über einen Stuhl war eine frische
Uniform gebreitet, die hier auf ihn oder jeden anderen
wartete, der sich verlaufen hatte und sie nun brauchen
konnte. Weiter hinten dampfte heißer Kaffee in
Kupfergefäßen, ließ ein Plattenspieler leise Musik
erklingen, standen in rotes und braunes Leder gebundene
Bücher. Und neben dem Büchergestell: ein Feldbett, ein
weich und tief gepolstertes Feldbett, auf dem man sich
nackt ausstrecken konnte, um die Strahlen dieses großen,
hellen, wärmenden Etwas, das den weiten Raum
beherrschte, mit allen Poren zu trinken.
Er hielt sich die Hand über die Augen. Er sah, wie die
anderen Männer auf ihn zukamen, sagte jedoch kein Wort.
Er wartete, hielt die Augen weit offen und sah sich um. Das
Wasser aus seiner Uniform bildete Pfützen zu seinen
Füßen, und er fühlte, wie seine Haare, sein Gesicht, seine
Brust, seine Arme und seine Beine zu trocknen begannen.
Er blickte zur Sonne empor.
Sie hing in der Mitte des Raumes, groß und gelb und
warm.
Er schritt vorwärts, und im Gehen riß er sich die Kleider
vom Leibe.
Die Feuerballons

Feuerwerk explodierte über sommernächtlichen Wiesen.


Strahlende Gesichter von Onkeln und Tanten. Raketen
stiegen und sanken, sich spiegelnd in den braunen,
glänzenden Augen der Vettern auf der Veranda, und die
kalten, verkohlten Holzstäbchen fielen irgendwo in der
Ferne in trockenes Gras.
Der ehrwürdige Pater Joseph Daniel Peregrine öffnete
die Augen.
Er lag still und lauschte in das tiefe Schweigen des
Klosters, zu den anderen Zellen hinüber, wo die restlichen
Patres lagen. Hatten auch sie in der letzten Nacht vor dem
Start des Raumschiffes Kruzifix im Traum
Kindheitserinnerungen an den Vierten Juli gehabt?
Hier lagen sie nun, die Patres der Episkopalkirche, im
grauenden Morgen des Tages, an dem sie auf einer feurigen
Bahn zum Mars fliegen sollten, gleichsam einen
Weihrauchschweif durch die samtschwarze Kathedrale des
Weltraums ziehend.
»Sollen wir überhaupt dorthin gehen?« flüsterte Pater
Peregrine. »Sollten wir nicht zuerst unsere Erde von ihren
Sünden befreien? Fliehen wir nicht vor unserer Aufgabe
hier?«
Mit einiger Anstrengung erhob er sich; sein fleischiger
Körper zeigte deutlich die Spuren reichlichen, guten
Essens.
»Ist es vielleicht nur Faulheit?« fragte er sich. »Oder
habe ich Angst vor der Reise?«
Er trat unter die nadelscharfen Strahlen der Dusche.
»Aber ich werde dich dennoch zum Mars befördern,
Körper«, redete er sich selbst an. »Die alten Sünden lassen
wir hinter uns. Um auf dem Mars vielleicht neuen Sünden
zu begegnen?« Ein beinahe köstlicher Gedanke. Sünden,
an die noch nie jemand gedacht hatte. Oh, er hatte selbst
einmal ein kleines Buch darüber geschrieben: Das Problem
der Sünde in anderen Welten, von seinen Brüdern in der
Episkopalkirche als nicht ernsthaft genug abgetan.
Erst gestern abend hatten er und Pater Stone darüber
gesprochen.
»Auf dem Mars könnte die Sünde als Tugend
erscheinen. Wir müssen wachsam sein gegenüber
tugendhaften Handlungen, die vielleicht später als Sünden
erkannt werden!« sagte Pater Peregrine, strahlend vor
Eifer. »Wie aufregend! Seit Jahrhunderten ist die Aussicht,
als Missionar wirken zu können, nicht mehr so
abenteuerlich gewesen!«
»Ich werde die Sünde entlarven«, sagte Pater Stone
barsch, »selbst wenn ich ihr auf dem Mars begegne.«
»Oh, wir Priester bilden uns ein, wir seien so etwas wie
Lackmuspapier, das sich in Gegenwart der Sünde
verfärbt«, erwiderte Pater Peregrine. »Was über, wenn
diese Chemie auf dem Mars so beschaffen ist, daß wir uns
überhaupt nicht verfärben! Wenn es auf dem Mars
unbekannte Sinne gibt, muß man auch die Möglichkeit
unerkennbarer Sünden in Betracht ziehen.«
»Wo keine böse Absicht ist, da ist auch keine Sünde und
keine Strafe dafür – das hat uns Gott versichert«,
antwortete Pater Stone.
»Auf der Erde, ja, aber vielleicht teilt eine Marssünde
nur dem Unterbewußten ihre Bosheit mit und läßt das
Bewußtsein, den Verstand des Menschen, scheinbar ohne
böse Absicht handeln! Was dann?«
»Was könnte es denn überhaupt an neuen Sünden
geben?«
Mit eindringlicher Geste beugte Pater Peregrine sich vor.
»Adam allein hat nicht gesündigt. Nimm Eva dazu, und du
hast die Versuchung. Nimm einen zweiten Mann dazu, und
es besteht die Möglichkeit des Ehebruchs. Sobald man Sex
oder mehrere Leute dazutut, fügt man auch Sünde hinzu.
Wenn die Menschen keine Arme hätten, könnten sie
einander nicht mit ihren Händen erwürgen. Die Sünde des
Mordes würde es dann nicht geben. Die Arme sind also
eine mögliche Quelle neuer Gewalttat. Amöben können
nicht sündigen, weil sie sich durch Teilung vermehren. Sie
befruchten keine Weibchen und morden einander nicht.
Gäbe man den Amöben jedoch Sex, Arme und Beine, so
würden auch sie morden und ehebrechen. Sowie man
Arme, Beine oder eine Person hinzufügt oder wegnimmt,
fügt man auch die Möglichkeit zum Sündigen hinzu oder
nimmt sie weg. Wie, wenn es auf dem Mars fünf neue
Sinne gäbe, andere Organe, unsichtbare Gliedmaßen, die
unsere Vorstellungskraft übersteigen – könnten dann nicht
dort zumindest fünf neue Sünden existieren?«
Pater Stone rang nach Luft. »Ich glaube fast, Sie finden
Gefallen an solchen Gedankenspielereien!«
»Ich halte nur meinen Verstand wach, Pater, das ist
alles.«
»Ihr Verstand jongliert dauernd, nicht wahr?«
»Ja. Denn manchmal scheint die Kirche eine Vorliebe für
jene starren Zirkusbilder zu entwickeln, bei denen sich der
Vorhang hebt und die Menschen wie weiße, mit Zinkoxyd
und Talkum bepuderte Statuen dastehen, eingefroren, ein
Sinnbild abstrakter Schönheit. Wunderbar. Aber ich hoffe,
für mich wird es immer Raum genug geben, zwischen den
Statuen herumzusausen, meinen Sie nicht auch, Pater
Stone?«
Pater Stone war im Begriff, fortzugehen. »Ich glaube,
wir sollten jetzt lieber schlafen gehen. In ein paar Stunden
werden wir auffahren, um Ihre neuen Sünden zu sehen,
Pater Peregrine.«

Das Raumschiff stand startbereit.


Nach ihrer Andacht in der frostigen Morgenkühle
wanderten die Patres, viele auserlesene Gottesdiener aus
New York, Chicago oder Los Angeles durch die Stadt zum
Startplatz. Im Gehen erinnerte Pater Peregrine sich an die
Worte des Bischofs.
»Pater Peregrine«, hatte er gesagt, »Sie werden die
Missionare anführen, und Pater Stone wird Ihnen zur Seite
stehen. Meine Gründe, Sie zu dieser ernsten Aufgabe zu
bestimmen, sind mir selbst beklagenswert dunkel; aber Ihr
Pamphlet über die Sünde auf anderen Planeten ist nicht
ungelesen geblieben, Pater. Sie sind ein beweglicher Mann.
Und der Mars ist wie jene nie gereinigte Kammer, die wir
jahrtausendelang vernachlässigt haben. Die Sünde hat sich
dort angehäuft wie eine Antiquitätensammlung. Wenn wir
die Tür zu jener Kammer öffnen, wird ihr Inhalt über uns
hereinbrechen. Wir brauchen einen raschen, wendigen
Mann – jemand, dessen Verstand auch Winkelzügen folgen
kann. Jemand, der ein wenig zu dogmatisch veranlagt
wäre, könnte daran zerbrechen. Ich habe das Gefühl, daß es
an Ihnen abprallen wird. Pater, Sie übernehmen diese
Aufgabe.«
Der Bischof und die Patres knieten.
Der Segen wurde gesprochen und etwas Weihwasser
gegen das Raumschiff gesprenkelt.
Während sie sich erhoben, sagte der Bischof zu ihnen:
»Ich weiß, daß ihr mit Gott gehen werdet, um die
Marsbewohner für den Empfang Seiner Wahrheit
vorzubereiten. Ich wünsche euch allen eine nachdenkliche
Reise.«
Sie zogen an dem Bischof vorbei, zwanzig Männer in
raschelnden Gewändern, um ihre Hände noch einmal in
seine gütigen Hände zu legen, bevor sie in das geweihte
Projektil kletterten.
»Ich möchte gern wissen«, sagte Pater Peregrine im
letzten Moment, »ob der Mars die Hölle ist? Vielleicht
wartet er nur unsere Ankunft ab, um Feuer und Schwefel
zu speien.«
»Herr, verlasse uns nicht«, sagte Pater Stone.
Das Raumschiff stieg empor.

Der Austritt aus dem Weltraum war wie das Verlassen der
schönsten und wunderbarsten Kathedrale, die sie je
gesehen hatten. Der Anblick des Mars war wie der Anblick
der Pflastersteine vor der Kirche, fünf Minuten nachdem
man ganz in der Liebe Gottes aufgegangen war.
Die Patres traten behutsam aus dem heißen Raumschiff
und knieten auf dem Sand des Mars nieder, während Pater
Peregrine ein Dankgebet sprach.
»Herr, wir danken Dir für die Reise durch Deine Paläste.
Erneuere unsere Augen, Herr, da wir ein neues Land
erreicht haben. Erneuere unsere Ohren, da wir neue
Geräusche und Töne hören werden. Und da wir neuen
Sünden begegnen werden, bitten wir Dich, unsere Herzen
zu läutern, zu festigen und zu reinigen. Amen.«
Sie erhoben sich.
Und vor ihnen lag der Mars, wie ein Meer, unter dessen
Oberfläche sie nun wie in Taucheranzüge verkleidete
Biologen auf der Suche nach neuen Lebensformen
wandern mußten. Hier war das Land der verborgenen
Sünde.
Der Bürgermeister der Ersten Stadt kam ihnen mit
ausgestreckten Händen zur Begrüßung entgegen.
»Was kann ich für Sie tun, Pater Peregrine?«
»Wir würden gern etwas über die Marsbewohner wissen.
Denn nur, wenn wir über sie Bescheid wissen, können wir
unsere Kirche vernünftig planen. Sind sie drei Meter groß?
Dann werden wir entsprechende Türen für sie bauen. Ist
ihre Haut blau oder rot oder grün? Wir müssen das wissen,
wenn wir menschliche Figuren in die Buntglasfenster
setzen, damit wir die richtige Hautfarbe wählen. Sind sie
schwer? Dann werden wir stabile Bänke für sie bauen.«
»Pater«, sagte der Bürgermeister, »ich glaube, Sie
brauchen sich über die Marsbewohner keine Gedanken zu
machen. Es gibt zwei Rassen. Die eine ist so gut wie
ausgestorben. Ein paar davon leben in Verstecken. Und die
zweite Rasse – nun ja, man kann sie kaum menschlich
nennen.«
»Oh?« Pater Peregrines Herz begann rascher zu
schlagen.
»Sie sind runde, strahlende Lichtkugeln, Pater, und leben
drüben in jenen Hügeln. Mensch oder Tier, wer kann das
wissen? Jedenfalls handeln sie intelligent, wie ich gehört
habe.« Der Bürgermeister zuckte mit den Schultern. »Aber
natürlich sind sie keine Menschen, und ich glaube daher
nicht, daß Sie sich um sie kümmern ...«
»Im Gegenteil«, unterbrach Pater Peregrine ihn rasch.
»Intelligent, sagten Sie?«
»Man erzählt sich eine Geschichte. Ein Prospektor brach
sich in jenen Hügeln dort ein Bein und wäre wohl auch
dort gestorben. Die blauen Lichtkugeln schwebten auf ihn
zu. Als er aufwachte, lag er auf einer Landstraße im
Unterland und wußte nicht, wie er dorthin gekommen
war.«
»Betrunken«, sagte Pater Stone.
»So sagt man«, bestätigte der Bürgermeister. »Da also
die meisten Marsbewohner tot und nur diese blauen
Lichterscheinungen vorhanden sind, Pater Peregrine,
glaube ich offen gesagt, daß Sie in der Ersten Stadt besser
am Platze sind. Der Mars wird erschlossen. Er ist ein neues
Pionierland, wie auf der Erde vor langer Zeit der
amerikanische Westen und Alaska. Menschen strömen
herein. Hier in der Ersten Stadt haben wir ein paar tausend
gottlose irische Mechaniker, Bergleute und Tagelöhner, die
Ihre Hilfe dringender brauchen.«
Pater Peregrine starrte zu der sanftgeschwungenen,
blauen Hügelkette hinüber.
Pater Stone räusperte sich. »Nun, Pater?«
Pater Peregrine hörte nicht. »Kugeln aus blauem
Feuer?«
»Ja, Pater.«
»Ah«, seufzte Pater Peregrine.
»Blaue Ballons.« Pater Stone schüttelte den Kopf. »Ein
Zirkus!«
Pater Peregrine fühlte seine Pulse schlagen. Er sah die
kleine Pionierstadt mit der derben, frisch importierten
Sünde, und er sah die alten Hügel mit der ältesten und
vielleicht sogar (für ihn) neuesten Sünde.
»Bürgermeister, können Ihre gottlosen irischen Arbeiter
noch einen Tag länger in der Hölle schmoren?«
»Ich werde ihnen notfalls an Ihrer Stelle ins Gewissen
reden Pater.«
Pater Peregrine nickte zu der Hügelkette hinüber.
»Dann ist das unser erstes Ziel.«
Ein Murmeln ging durch die Reihen der Patres.
»Es wäre so einfach, in die Stadt zu gehen«, erklärte
Pater Peregrine. »Aber ich glaube eher, daß der Herr, wenn
er hier an unserer Stellte weilte und die Leute sagten: ›Hier
ist der ausgetretene Pfad‹, antworten würde: ›Zeigt mir das
Unkraut. Ich will einen Pfad bereiten‹.«
»Aber ...«
»Pater Stone, denken Sie daran, welche Bürde wir auf
uns laden würden, wenn wir an Sündern vorbeigingen,
ohne ihnen unsere Hände zu reichen.«
»Aber Feuerkugeln!«
»Ich stelle mir vor, daß der Mensch den Tieren komisch
vorkam als er zum ersten Mal in Erscheinung trat. Und
doch besitzt er eine Seele, trotz seines schlichten
Aussehens. Bis wir das Gegenteil beweisen können, wollen
wir daher annehmen, daß auch diese feurigen Kugeln
Seelen besitzen.«
»In Ordnung«, stimmte der Bürgermeister zu, »doch Sie
werden bald in die Stadt zurückkehren.«
»Wir werden sehen. Zunächst laßt uns frühstücken.
Danach werden Sie, Pater Stone, und ich, allein in die
Hügel gehen.«

Als die Nacht hereinbrach, befanden Pater Peregrine und


Pater Stone sich hoch in den Hügeln. Sie blieben stehen
und setzten sich auf einen Stein, um eine kurze
Erholungspause zu genießen und abzuwarten. Die
Marsbewohner hatten sich noch nicht gezeigt, und sie
fühlten sich beide irgendwie enttäuscht.
»Ich möchte gern wissen ...« Pater Peregrine tupfte sich
den Schweiß aus dem Gesicht. »Glauben Sie, wenn wir
›Hallo!‹ riefen, würden sie antworten?«
»Pater Peregrine, können Sie denn nicht ernst bleiben?«
»Erst, wenn auch unser gütiger Herrgott es sein wird.
Oh, machen Sie bitte nicht so ein schockiertes Gesicht. Der
Herr ist nicht ernst. Wirklich, es ist ein wenig schwer für
uns zu verstehen, was Er außer Liebe noch alles ist. Und
Liebe ist mit Humor verbunden, nicht wahr? Denn man
kann niemanden lieben, wenn man ihn nicht so nimmt, wie
er ist, nicht wahr? Und man kann sich nicht auf die Dauer
mit jemandem vertragen, wenn man nicht auch über ihn
lachen kann. Ist das nicht wahr? Und gewiß sind wir
lächerliche kleine Wesen, die in ihren eigenen
Aufschneidereien schwelgen, und Gott muß uns um so
mehr lieben, weil wir Seinem Humor zusagen.«
»Ich habe Gott nie für spaßhaft veranlagt gehalten«,
erwiderte Pater Stone.
»Den Schöpfer des Schnabeltiers, des Kamels, des
Straußes und des Menschen? Na, wissen Sie!« Pater
Peregrine lachte.
Doch in diesem Augenblick erschienen zwischen den
bereits in Zwielicht getauchten Hügeln, wie eine Reihe
blauer Lampen, angezündet, um ihnen den Weg zu weisen,
die Marsbewohner.
Pater Stone sah sie zuerst. »Schauen Sie!«
Pater Peregrine drehte sich um und hörte jäh auf zu
lachen.
Die runden blauen Feuerkugeln hingen zwischen den
funkelnden Sternen, fern und flimmernd.
»Ungeheuer!« rief Pater Stone und sprang auf. Aber
Pater Peregrine hielt ihn zurück. »Warten Sie!«
»Wir hätten in die Stadt gehen sollen!«
»Aber so hören Sie doch, schauen Sie!« bat Pater
Peregrine.
»Ich fürchte mich!«
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Dies ist Gottes
Werk!«
»Des Teufels Werk!«
»Nein, und nun beruhigen Sie sich!« redete Pater
Peregrine ihm zu, und sie duckten sich, während das milde
blaue Licht der näherkommenden feurigen Bälle auf ihre
nach oben gerichteten Gesichter fiel.
Und bebend mußte Pater Peregrine wieder an die
Unabhängigkeitsfeiern denken. Er kam sich vor wie als
Kind, damals, an den Abenden des Vierten Juli, wenn der
Himmel barst und ungezählte bunte Sterne aufglühten,
Explosionen die Fenster der Häuser wie dünnes Eis auf
tausend Teichen erklingen ließen und Onkel, Tanten und
Vettern ›Ah!‹ riefen, wie als Beifall für einen himmlischen
Physiker. Der sommerlich gefärbte Himmel. Und die
Feuerballons, von dem nachsichtigen Großvater entzündet
und von seinen großen, geduldigen Händen ruhig gehalten.
Oh, die Erinnerung an diese von sanftem Licht erhellten,
wunderschönen Feuerballons diese wärmegefüllten
Stoffstückchen, die wie gefaltete Insektenschwingen in
Kästchen lagen und als letzte nach einem Tag voller Trubel
und überschäumender Lebenslust, als allerletzte, aus ihren
Kästen geholt und vorsichtig entfaltet wurden, blau, rot,
weiß, patriotisch – die Feuerballons! Im Geiste sah er
neben sich die Gesichter der lieben, lang verstorbenen und
von Moos bedeckten Verwandten, während der Großvater
die winzige Kerze entzündete und die warme Luft aufstieg,
den in seinen Händen sich formenden und aufleuchtenden
Ball füllend, eine sanft strahlende Vision, die diese Hände
nur widerwillig freigaben, denn einmal losgelöst,
entschwebte mit ihnen wieder ein Lebensfahr, wieder ein
Vierter Juli, wieder ein Stück Schönheit.
Pater Peregrine spürte Tränen in seinen Augen. Über ihm
schwebten die Marsbewohner, nicht einer, nein Tausende
wispernde, raunende Feuerballons, wie es schien. Jeden
Augenblick konnte sein lang verstorbener, gesegneter
Großvater neben ihm erscheinen, während er zu diesem
verwirrend schönen Bild aufsah.
Doch es war Pater Stone.
»Bitte, Pater, lassen Sie uns gehen!«
»Ich muß mit ihnen reden.« Pater Peregrines Gewänder
raschelten, als er sich unsicher erhob; er wußte nicht, was
er sagen wollte denn soweit er zurückdenken konnte, hatte
er für die Feuerballons seiner Kindheit nie andere Worte
gefunden als die lautlos gedachten: Wie schön ihr seid, wie
schön! – und das war jetzt nicht genug. Er konnte nur seine
schweren Arme emporstrecken und hochrufen, wie er so
oft hinter den bezaubernd schönen Feuerballons seiner
Kindheit hatte herrufen wollen: »Hallo!«
Doch die feurigen Kugeln brannten unerreichbar über
ihnen, wie Bilder in einem dunklen Spiegel. Gasförmig,
scheinbar fest verankert, wunderbar, ewig.
»Wir kommen mit Gott«, sprach Pater Peregrine zum
Himmel hinauf.
»Töricht, töricht, töricht!« Pater Stone biß sich in den
Handrücken. »Im Namen Gottes, Pater Peregrine, haltet
ein!«
Doch die phosphoreszierenden Kugeln zogen sich jetzt
in die Berge zurück. Einen Augenblick später waren sie
verschwunden.
Pater Peregrine rief nochmals, und das Echo seines
letzten Schreies erschütterte die Felswände über ihnen. Als
er sich umwandte, sah er eine Staubwolke aufsteigen, aus
der sich eine Steinlawine löste und mit dem donnernden
Krachen riesiger Räder den Berg herab auf sie zustürzte.
»Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben!« schrie Pater
Stone.
Pater Peregrine war zuerst fasziniert, dann zu Tode
erschrocken. Er drehte sich um und wußte, daß sie nur
noch ein paar Schritte laufen konnten, bevor die Steine sie
zermahlen würden. Er hatte noch Zeit zu flüstern »O
Herr!« während die Steine auf sie zustürzten.
»Pater!«
Und plötzlich wurden sie hochgeblasen wie die Spreu
vom Weizen. Ein blauer Schimmer umhüllte sie, die kalten
Sterne drehten sich, ein Brausen, und sie standen auf einem
sechzig Meter entfernten Felsvorsprung und blickten zu der
Stelle hinüber, wo sie jetzt eigentlich unter vielen Tonnen
Gesteins begraben liegen sollten.
Das blaue Licht schwand.
Die beiden Patres klammerten sich aneinander. »Was ist
geschehen?«
»Die blauen Feuerballons haben uns emporgetragen!«
»Wir sind gerannt, das war es!«
»Nein, die Kugeln haben uns gerettet.«
»Das hätten sie nicht gekonnt!«
»Sie haben es aber.«
Der Himmel war leer. In ihnen war ein Gefühl, als hätte
eine große Glocke zu schlagen aufgehört. Der Nachhall
ließ sie zittern und mit den Zähnen klappern.
»Wir wollen machen, daß wir hier fortkommen. Sie
werden uns noch umbringen.«
»Schon seit vielen Jahren habe ich verlernt, den Tod zu
fürchten, Pater Stone.«
»Es ist nichts erwiesen. Diese blauen Lichter machten
sich bei dem ersten Schrei davon. Es ist zwecklos.«
»Nein.« Pater Peregrine war von einem hartnäckigen
Wunderglauben ergriffen. »Irgendwie haben sie uns
gerettet. Das beweist, daß sie Seelen besitzen.«
»Nichts ist bewiesen, sie könnten uns vielleicht gerettet
haben. Es war ein völliges Durcheinander. Genauso können
wir auch aus eigener Kraft entkommen sein.«
»Sie sind auf keinen Fall Tiere, Pater Stone. Tiere retten
niemandem das Leben, vor allem keinem Fremden. Hier ist
Gnade und Erbarmen. Vielleicht werden wir morgen mehr
beweisen können.«
»Was beweisen? Und wie?« Pater Stone war restlos
erschöpft; die übermäßige Anspannung von Geist und
Körper zeigte sich auf seinem starren Gesicht. »Sollen wir
ihnen in Hubschraubern folgen und aus der Bibel und dem
Gesangbuch vorlesen? Sie sind nicht menschlich. Sie
haben weder Augen noch Ohren noch Körper wie wir.«
»Aber irgend etwas ist an ihnen, das fühle ich«,
erwiderte Pater Peregrine. »Ich weiß, daß uns eine große
Offenbarung bevorsteht.
Sie haben uns gerettet. Sie können denken. Sie hatten die
Wahl uns leben oder sterben zu lassen. Das beweist das
Vorhandensein freien Willens!«
Pater Stone machte sich an die Arbeit, ein Feuer
anzufachen zornig starrte er die Holzstücke in seinen
Händen an, während der dicke graue Qualm ihn zum
Husten zwang. »Ich will eigenhändig einen Konvent für
Gänseküken eröffnen, ein Kloster für fromme Schweine
und außerdem noch eine Miniaturkirche in einem
Mikroskop bauen, damit die Amöben Gottesdienste
besuchen und Rosenkränze beten können.«
»Oh, Pater Stone.«
»Es tut mir leid.« Wütend blinzelte Pater Stone über das
Feuer hinweg. »Aber genauso können Sie ein Krokodil
segnen, bevor es Sie verschluckt. Sie riskieren die gesamte
Mission.«
»Aber wenn ich Ihnen beweise, daß diese Wesen
sündigen, die Sünde erkennen, Moral von Unmoral
unterscheiden, einen freien Willen und Urteilskraft
besitzen, Pater Stone?«
»Es wird Ihnen schwerfallen, mich davon zu
überzeugen.«
Die Nacht wurde sehr schnell kalt, und sie starrten ins
Feuer um dort ihre wildesten Gedanken bestätigt zu finden,
während sie Kekse und Beeren aßen, bald hatten sie sich
zum Schlaf unter den singenden Sternen in Decken gehüllt.
Pater Stone starrte noch lange in die mattrote, verlöschende
Glut und dachte darüber nach womit er Pater Peregrine
Verdruß bereiten könnte; und bevor er sich zum letzten
Male umdrehte, sagte er: »Kein Adam und keine Eva auf
dem Mars. Keine Erbsünde. Vielleicht führen die
Marsbewohner ein Leben in göttlicher Gnade. In diesem
Falle könnten wir in die Stadt zurückkehren und unsere
Arbeit für die Menschen von der Erde aufnehmen.«
Pater Peregrine ermahnte sich, ein kurzes Gebet für
Pater Stone zu sprechen, der so zornig geworden war und
nun auch noch Gott helfe ihm, rachsüchtig und
nachtragend. »Ja, Pater Stone aber die Marsbewohner
haben ein paar von unseren Siedlern hier getötet. Das ist
sündhaft. Es muß also eine Erbsünde und einen Adam und
eine Eva auf dem Mars gegeben haben. Wir werden sie
finden.«
Pater Stone stellte sich schlafend.

Die runden blauen Traumgebilde hingen noch am Himmel,


als Pater Peregrine am frühen Morgen erwachte.
Pater Stone schlief still und ruhig weiter. Pater Peregrine
blickte zu den schwebenden Marsbewohnern auf, die ihn
zu beobachten schienen. Sie waren menschlich, er wußte
es. Doch er mußte es beweisen, oder sein ungläubiger
Bischof würde ihn mit spöttischem Blick freundlich
auffordern, beiseite zu treten und einem anderen Platz zu
machen.
Aber wie konnte er ihre Menschenähnlichkeit beweisen,
wenn sie sich in den hohen Gewölben des Himmels
verbargen? Wie sie näher heranholen und Antworten auf
die vielen Fragen erhalten?
›Sie haben uns vor der Steinlawine gerettet.‹
Pater Peregrine erhob sich, schritt zwischen den
Felsbrocken hindurch und begann die nächste Erhebung zu
erklimmen, bis er an eine Stelle kam, wo eine
überhängende Klippe den Blick in einen schroffen, sechzig
Meter tiefen Abgrund freigab. Die Luft war ihm von dem
anstrengenden Klettern in der morgendlichen Kühle knapp
geworden. Nach Atem ringend, blieb er stehen.
›Wenn ich hier herunterfiele, würde ich gewiß sterben
müssen.‹
Er ließ einen Kiesel fallen. Einen Augenblick später
hörte er ihn auf den Felsboden prallen.
›Der Herr würde mir nie vergeben.‹
Er warf einen zweiten Kiesel.
›Vielleicht wäre es kein Selbstmord, wenn ich es aus
Liebe täte ...?‹
Er hob den Blick zu den blauen Kugeln. ›Doch vorher
will ich es noch einmal versuchen.‹ Er rief zu ihnen empor:
»Hallo, hallo!«
Ein vielfältiges Echo kam zurück, doch die blauen Feuer
regten und bewegten sich nicht.
Fünf Minuten lang sprach er zu ihnen. Danach blickte er
zurück und sah Pater Stone, der immer noch empörend
friedlich dort unten auf ihrem kleinen Lagerplatz schlief.
›Ich muß alles hiermit beweisen.‹ Pater Peregrine trat an
die steil abfallende Kante. ›Ich bin ein alter Mann. Ich habe
keine Angst. Gewiß wird der Herr mich verstehen, daß ich
dies nur für ihn tue?‹
Er tat einen tiefen Atemzug. Sein ganzes Leben glitt an
seinen Augen vorbei, und er dachte: werde ich im nächsten
Augenblick tot sein? Ich fürchte, ich liebe das Leben viel
zu sehr. Aber ich liebe andere Dinge noch mehr.
Und mit diesem Gedanken ließ er sich von dem
Vorsprung fallen.
Er stürzte.
»Narr!« schrie er, während er sich in rasendem Fall
überschlug. »Du hast dich geirrt!« Der Abgrund stürzte
ihm entgegen, und er sah sich bereits zerschmettert und
gestorben. »Warum habe ich dies nur getan?« Aber er
wußte die Antwort und hatte im nächsten Augenblick
seinen Frieden wiedergefunden, während er weiterstürzte.
Der Wind umbrauste ihn, und die Felsen wirbelten ihm
entgegen.
Doch plötzlich schienen sich wieder die Sterne zu
drehen, ein blauer Lichtschimmer umfing ihn, er fühlte sich
schweben. Einen Moment später wurde er mit sanftem
Plumps auf den Felsboden gesetzt, wo er eine ganze Weile
sitzenblieb und zu den blauen Lichtern aufblickte, die sich
augenblicklich zurückgezogen hatten. »Ihr habt mich
gerettet!« flüsterte er. »Ihr wolltet mich nicht sterben
lassen. Ihr wußtet, daß ich fehlte.«
Er eilte zu Pater Stone hinüber, der immer noch in
friedlichem Schlummer lag. »Pater, Pater! Wachen Sie
auf!« Er schüttelte ihn und machte ihn munter. »Pater, sie
haben mich gerettet!«
»Wer hat Sie gerettet?« Pater Stone richtete sich auf.
Pater Peregrine berichtete sein Erlebnis.
»Ein Traum, ein Alpdruck; legen Sie sich wieder
schlafen«, sagte Pater Stone gereizt. »Sie und Ihre
Zirkusballons!«
»Aber ich war hellwach!«
»Aber, aber, Pater, beruhigen Sie sich. Kommen Sie zu
sich.«
»Sie glauben mir nicht? Haben Sie eine Pistole? Ja, dort,
geben Sie her.«
»Was wollen Sie tun?« Pater Stone reichte ihm die
kleine Pistole die sie mitgenommen hatten, um sich gegen
Schlangen oder gegen andere ähnliche und unbekannte
Tiere zu schützen.
Pater Peregrine ergriff die Pistole. »Ich werde es
beweisen!«
Er richtete die Pistole auf seine Hand und feuerte.
»Halt!«
Ein Lichtschimmer glänzte auf, und vor ihren Augen
blieb die Kugel vor seiner ausgestreckten Hand ein paar
Zentimeter in der Luft stehen. Sie hing eine Sekunde lang,
von einem blauen Schein umgeben, bewegungslos in der
Luft. Dann fiel sie zischend in den Staub.
Pater Peregrine feuerte die Pistole dreimal ab – auf seine
Hand, auf sein Bein, auf seinen Körper. Alle drei Kugeln
blieben funkelnd in der Luft hängen und fielen dann wie
tote Insekten zu Boden.
»Sehen Sie?« sagte Pater Peregrine, ließ seinen Arm
sinken, öffnete die Hand und ließ die Pistole zu den Kugeln
fallen. »Es sind keine Tiere. Sie besitzen Erkenntnis und
Verstand. Sie denken und urteilen und leben in einer Welt
moralischer Werte. Welches Tier würde mich auf diese
Weise vor mir selbst retten? Es gibt kein Tier, das so etwas
tun würde. Nur ein anderer Mensch Pater. Sind Sie jetzt
überzeugt?«
Pater Stone beobachtete unterdes den Himmel und die
blauen Lichter, und nun ließ er sich schweigend auf ein
Knie fallen, nahm die noch warmen Geschosse auf und
legte sie in seine hohle Hand. Er schloß die Hand fest
darüber.
Die Sonne ging hinter ihnen auf.
»Ich glaube, wir sollten jetzt erst einmal zu den anderen
gehen ihnen von unserem Erlebnis erzählen und sie
hierherholen«, sagte Pater Peregrine.
Als die Sonne vollends aufgegangen war, befanden sie
sich schon ein gutes Stück auf ihrem Heimweg zum
Raumschiff.

Pater Peregrine zog einen Kreis in der Mitte der schwarzen


Tafel.
»Dies ist Christus, Gottes Sohn.«
Er tat, als höre er nicht das scharfe Luftholen der
anderen Patres.
»Dies ist Christus, in all seiner himmlischen
Herrlichkeit«, fuhr er fort.
»Es sieht aus wie eine Geometrieaufgabe«, bemerkte
Pater Stone.
»Ein gelungener Vergleich, denn wir haben es hier mit
Symbolen zu tun. Christus ist deshalb nicht weniger
Christus, werden Sie zugeben müssen, wenn man ihn durch
einen Kreis oder ein Quadrat darstellt. Jahrhundertelang
war das Kreuz das Symbol für seine Liebe und sein Leid.
Dieser Kreis wird nun Christus auf dem Mars darstellen.
So werden wir Ihn den Marsbewohnern bringen.«
Die Patres bewegten sich unruhig und sahen einander an.
»Sie, Bruder Matthias werden in Glas ein Abbild dieses
Kreises schaffen, eine mit strahlendem Licht gefüllte
Kugel. Sie soll auf dem Altar stehen.«
»Ein billiger Zaubertrick«, murrte Pater Stone.
Pater Peregrine fuhr geduldig fort: »Im Gegenteil. Wir
bringen ihnen Gott in einem für sie verständlichen Bild.
Wenn Christus als achtfüßiger Polyp zu uns auf die Erde
herabgestiegen wäre, hätten wir ihn dann so bereitwillig
empfangen?« Er breitete die Hände aus. »War es also ein
billiger Zaubertrick des Herrn, uns den Heiland durch
Jesus, in des Menschen Gestalt, zu bringen? Wenn wir die
Kirche, die wir hier bauen werden, gesegnet und den Altar
und dieses Symbol geweiht haben werden, glauben Sie,
daß Christus sich weigern würde, diese Form zu
bewohnen? Ihr alle wißt in euren Herzen, daß er sich nicht
weigern würde.«
»Aber die Gestalt eines seelenlosen Tieres!« protestierte
Bruder Matthias.
»Darüber haben wir schon etliche Male gesprochen, seit
wir heute morgen zurückkamen, Bruder Matthias. Diese
Geschöpfe retteten uns vor der Steinlawine. Sie erkannten,
daß Selbstzerstörung eine Sünde ist, und verhinderten sie
wieder und wieder. Deshalb müssen wir eine Kirche in den
Bergen bauen, bei ihnen leben, damit wir ihre Art zu
sündigen herausfinden, uns fremde Sünden vielleicht, und
ihnen helfen können, zu Gott zu finden.«
Die Patres schien diese Aussicht nicht sonderlich zu
erfreuen.
»Ist es, weil sie dem Auge so ungewöhnlich
erscheinen?« wunderte sich Pater Peregrine. »Aber was
bedeutet schon die Gestalt? Nur ein Gefäß für die
leuchtende Seele, die Gott uns allen gegeben hat. Wenn ich
morgen plötzlich herausfände, daß Seelöwen einen freien
Willen besäßen, Verstand, wüßten, was Sünde bedeutet,
wüßten, was Leben ist, die Gerechtigkeit durch Gnade
linderten und das Leben durch Liebe läuterten – ich würde
ihnen eine unterseeische Kathedrale bauen. Und wenn die
Sperlinge auf wunderbare Weise durch Gottes Willen
morgen ewige Seelen erhielten, ich würde eine Kirche mit
Helium füllen und sie hinter ihnen hertragen; denn alle
Seelen in jeglicher äußeren Form, die einen freien Willen
besitzen und sich ihrer Sünde bewußt sind werden in der
Hölle brennen, wenn sie nicht die ihnen von Rechts wegen
zustehende Heilige Kommunion empfangen. Ich möchte
auch keinen Marsbewohner in der Hölle brennen lassen,
weil er in meinen Augen nur eine gasgefüllte Kugel ist.
Wenn ich meine Augen schließe, steht vor mir ein
intelligentes Wesen, voller Liebe, mit einer Seele begabt –
und ich darf es nicht verleugnen!«
»Aber diese Glaskugel, die Sie auf den Altar setzen
lassen wollen«, protestierte Pater Stone.
»Denken Sie einmal an die Chinesen«, erwiderte Pater
Peregrine unerschüttert. »Was für einen Heiland beten die
christlichen Chinesen an? Einen orientalischen Christus,
natürlicherweise. Ihr alle habt orientalische Darstellungen
der Geburt Christi gesehen. Wie ist Christus dort gekleidet?
In östliche Gewänder. Durch was für Gefilde wandelt er?
Durch chinesische Bambushaine und neblige
Berglandschaften mit seltsamen Bäumen. Seine Augen
laufen spitz aus, seine Backenknochen stehen hervor. Jedes
Land, jede Rasse gibt unserem Herrn ihr Gesicht. Ich
denke an die Jungfrau von Guadalupe, die von ganz
Mexiko verehrt wird. Ihre Haut? Habt ihr ihre Bilder
betrachtet? Eine dunkle Haut, wie die ihrer Anbeter. Ist das
Blasphemie? Nicht im geringsten. Es entbehrt der Logik,
daß Menschen einen Gott anderer Hautfarbe akzeptieren
sollten, ganz gleich, wie wahr er ist. Ich wundere mich oft
darüber, daß unsere Missionare in Afrika mit einem
schneeweißen Christus Erfolg haben. Vielleicht, weil Weiß
im Albino oder in irgendeiner anderen Form für die
afrikanischen Stämme eine heilige Farbe ist. Doch
vielleicht wird Christus auch dort in absehbarer Zeit eine
dunkle Hautfarbe annehmen? Das Äußere spielt keine
Rolle. Der Inhalt der Form ist alles. Wir können von diesen
Marsbewohnern nicht erwarten, daß sie eine fremde Form
akzeptieren. Wir werden ihnen Christus in ihrem Ebenbild
bringen.«
»In Ihrer Rechnung ist ein Fehler«, sagte Pater Stone.
»Werden die Marsbewohner uns nicht der Heuchelei
verdächtigen? Sie werden merken, daß wir nicht einen
runden, kugelförmigen Christus anbeten, sondern einen
Menschen mit Kopf und Gliedern. Wie werden wir ihnen
den Unterschied erklären?«
»Indem wir ihnen zeigen, daß es keinen gibt. Christus
wird jedes Gefäß erfüllen, das man ihm bietet. Menschliche
Körper oder Kugeln, er wohnt in ihnen, und jeder betet das
gleiche in einer anderen Verkleidung an. Allerdings müssen
wir an diese Kugel glauben, die wir den Marsbewohnern
geben. Wir müssen an eine Form glauben, die als Gestalt
für uns bedeutungslos ist. Diese Glaskugel wird Christus
sein. Und wir müssen immer daran denken, daß wir selbst
und die Gestalt unseres irdischen Christus diesen
Marsbewohnern bedeutungslos und lächerlich erscheinen
müßten, ja geradezu eine Verschwendung ungeeigneten
Materials darstellen würde.«
Pater Peregrine legte seine Kreide beiseite. »Und jetzt
wollen wir in die Berge ziehen und unsere Kirche bauen.«
Die Patres begannen, ihre Ausrüstung
zusammenzupacken.

Die Kirche war keine Kirche im eigentlichen Sinne,


sondern ein von Felsbrocken geräumter Platz auf der
flachen Kuppe eines niedrigen Berges, dessen Boden sie
geglättet und gefegt hatten, und auf dem sie einen Altar mit
der von Bruder Matthias konstruierten leuchtenden Kugel
errichtet hatten.
Nach sechs Arbeitstagen war die ›Kirche‹ fertig.
»Was wollen wir damit anfangen?« Pater Stone klopfte
gegen eine eiserne Glocke, die sie mitgebracht hatten.
»Was soll eine Glocke für sie bedeuten?«
»Ich glaube, ich habe sie uns zum Trost mitgebracht«,
gestand Pater Peregrine. »Wir brauchen ein paar vertraute
Dinge. Diese Kirche gleicht so wenig einer richtigen
Kirche. Und wir kommen uns hier etwas albern vor – selbst
ich, es ist noch ein wenig neu für uns, diese Aufgabe, die
Geschöpfe einer fremden Welt zu bekehren. Manchmal
komme ich mir wie ein Komödienschauspieler vor. Und
dann bete ich zu Gott, er möge mir Kraft verleihen.«
»Viele der Patres sind unglücklich. Manche machen
Witze über diese ganze Sache, Pater Peregrine.«
»Ich weiß. Zu ihrem Trost werden wir für die Glocke
einen kleinen Turm errichten.«
»Und was geschieht mit der Orgel?«
»Wir werden sie bei unserem ersten Gottesdienst
spielen.«
»Aber die Marsbewohner ...«
»Ich weiß. Auch hier gilt wohl wieder: unsere Musik uns
zum Trost. Später werden wir vielleicht ihre entdecken.«
Am Sonntagmorgen standen sie sehr früh auf; wie blasse
Phantome bewegten sie sich durch die kalte Luft, Reif
blitzte an ihren Gewändern wie winzige Glöckchen, die
sich in Schauern silbrigen Wassers auflösten und zu Boden
sprühten.
»Ob es wohl hier auf dem Mars auch Sonntag ist?«
grübelte Pater Peregrine. Doch als er Pater Stone
zusammenzucken sah, fuhr er rasch fort: »Es könnte ja
Dienstag oder Donnerstag sein, wer weiß? Aber das spielt
keine Rolle. Es war nur so ein Einfall von mir. Für uns ist
es Sonntag. Kommen Sie.«
Die Patres traten in den ebenen, weiten Raum der
›Kirche‹ und knieten nieder, fröstelnd und mit blauen
Lippen.
Pater Peregrine sprach ein kurzes Gebet und legte seine
kalten Finger auf die Tasten der Orgel. Die Töne stiegen
empor wie eine Schar schöner Vögel. Seine Hände wirkten
Wunder auf den Tasten und ließen Klänge von herrlicher
Schönheit erblühen.
Die Musik trieb in die Berge und schüttelte Steinstaub
wie Regen von den Felswänden.
Die Patres warteten.
»Nun, Pater Peregrine?« Pater Stones Augen suchten
den leeren Himmel ab, an dem die Sonne rotglühend
aufzusteigen begann. »Ich sehe Ihre Freunde nicht.«
»Lassen Sie es mich noch einmal versuchen.« Pater
Peregrine schwitzte.
Er errichtete ein Gebäude aus Tönen von Bach, Stein für
Stein einen Dom aus Musik. Die Musik blieb und fiel nicht
zusammen, als er zu Ende gespielt hatte, sondern schwang
sich auf einen Haufen weißer Wolken und schwebte fort.
Der Himmel war immer noch leer.
»Sie werden kommen!« Doch Pater Peregrine fühlte
Panik in seiner Brust, wenig noch, aber ständig wachsend.
»Laßt uns beten. Laßt uns sie bitten zu kommen. Sie
können Gedanken lesen; sie werden verstehen.«
Flüsternd und mit raschelnden Gewändern ließen die
Patres sich wieder auf die Knie nieder. Sie beteten.
Und aus dem Osten, aus den eisigen Bergen, um sieben
Uhr an diesem Sonntagmorgen, oder vielleicht Dienstag-
oder Montagmorgen auf dem Mars, kamen die sanft
strahlenden feurigen Kugeln.
Sie schwebten und sanken herab und füllten den Raum
rund um die zitternden Priester. »Ich danke dir, Herr; oh,
ich danke dir!« Pater Peregrine schloß fest seine Augen
und spielte weiter auf der Orgel, und als er geendet hatte,
drehte er sich um und überblickte seine wunderbare
Gemeinde.
Da erklang eine Stimme in ihm, und diese Stimme
sprach: »Wir sind für eine kurze Zeit zu euch gekommen.
Wir sind gekommen, um euch gewisse Dinge zu erklären.
Wir hätten schon früher sprechen sollen, aber wir hatten
gehofft, ihr würdet eures Weges ziehen, wenn wir euch
allein ließen.«
Pater Peregrine wollte antworten, aber die Stimme
sprach weiter und brachte ihn zum Schweigen.
»Wir sind die Alten«, sagte die Stimme und drang in ihn
wie eine blaue Gasflamme und brannte in den Kammern
seines Gehirns. »Wir sind die ersten Marsbewohner, die
aus ihren marmornen Städten in die Berge auszogen und
dem materialistischen Leben entsagten, das wir bis dahin
geführt hatten. Vor sehr, sehr langer Zeit nahmen wir diese
Gestalt an, die wir jetzt besitzen. Einst waren wir
Menschen, mit Körpern und Armen und Beinen wie ihr.
Die Überlieferung berichtet, daß einer von uns, ein guter
Mensch, einen Weg fand, die Seele und den Verstand des
Menschen zu befreien, ihn frei zu machen von körperlichen
Gebrechen und Schwermut, von Tod und Gestaltwandel,
von übler Laune und Altersschwache – so nahmen wir
dieses Aussehen von Blitz und blauem Feuer an und leben
seitdem in Wind und Wolken und Bergen, weder stolz noch
hochmütig, weder arm noch reich, weder leidenschaftlich
noch teilnahmslos. Wir leben getrennt von jenen, die wir
zurückgelassen haben, den anderen Menschen dieser Welt,
und wie wir zu dieser Gestalt gekommen sind, ist in
Vergessenheit geraten. Das Verfahren ist verloren
gegangen, aber wir werden nie sterben, noch Böses tun.
Wir haben die Sünden des Fleisches abgetan und leben im
Zustand göttlicher Gnade. Wir begehren kein anderes Gut,
wir besitzen kein Eigentum. Wir stehlen nicht, wir töten
nicht, wir kennen keine Begierde und keinen Haß. Wir
leben in Glückseligkeit. Wir können uns nicht vermehren,
wir essen nicht, wir trinken nicht, wir führen keinen Krieg.
Alles sinnliche Begehren, alle Kindlichkeit und alle
körperlichen Sünden haben wir abgestreift, als wir unsere
menschliche Gestalt ablegten. Wir haben die Sünde
abgelegt, Pater Peregrine, und sie ist vergangen wie der
schmutzige Schnee eines üblen Winters, vergangen wie die
sinnenfrohen Blüten eines rotgoldenen Frühlings,
vergangen wie die schweißtreibenden Nächte eines heißen
Sommers, und unsere Jahreszeiten sind gemäßigt, und
unsere geistige Saat treibt reiche Ernte.«
Pater Peregrine hatte sich erhoben, denn die Stimme traf
ihn mit solcher Macht, daß sie ihm fast die Sinne raubte.
Verzückung brannte wie Feuer durch seine Glieder.
»Wir möchten euch sagen, daß wir euch für die
Einrichtung dieses Ortes für uns dankbar sind, aber wir
benötigen ihn nicht, denn jeder von uns ist sein eigenes
Gotteshaus und braucht keinen besonderen Ort, um sich zu
läutern. Vergebt uns, daß wir nicht früher zu euch
gekommen sind, aber wir leben völlig abgeschlossen für
uns und haben seit zehntausend Jahren mit niemandem
anderem gesprochen, noch jemals auf irgendeine Weise in
das Leben auf diesem Planeten eingegriffen. Ihr denkt jetzt,
daß wir die Lilien auf dem Felde sind; ihr habt recht, wir
arbeiten nicht und wir schaffen nicht. Wir schlagen euch
vor, daß ihr die Teile dieses Tempels in eure eigenen neuen
Städte tragt, um dort andere zu läutern; denn ihr dürft euch
darauf verlassen, daß wir glücklich und zufrieden sind.«
Die Patres lagen auf ihren Knien in dem alles
überflutenden blauen Licht, auch Pater Peregrine, und sie
weinten, und es kümmerte sie nicht, daß sie ihre Zeit
verschwendet hatten.
Raunend begannen die blauen Kugeln sich wieder in die
kühle Morgenluft zu schwingen.
»Darf ich«, rief Pater Peregrine, der keine Fragen zu
stellen wagte, mit geschlossenen Augen, »darf ich eines
Tages wiederkommen, damit ich von euch lernen kann?«
Die blauen Feuer strahlten. Die Luft bebte.
Ja. Eines Tages dürfe er wiederkommen.
Und dann waren die Feuerballons weggeweht und
verschwunden, und er lag wie ein Kind auf den Knien, die
Tränen strömten ihm aus den Augen, und er schluchzte in
sich hinein: ›Kommt zurück, kommt zurück!‹
Bei Sonnenuntergang zogen sie aus den Bergen herab in
die Ebene. Als er zurückblickte, sah Pater Peregrine die
blauen Feuer lodern. Nein, dachte er, für euch konnten wir
keine Kirche bauen Ihr seid Gestalt gewordene Schönheit.
Welche Kirche könnte sich mit dem Glanz der reinen Seele
messen?
Pater Stone schritt schweigend neben ihm her.
Schließlich begann er zu sprechen.
»So wie ich es sehe«, sagte er, »gibt es auf jedem
Planeten eine Wahrheit. Alles Teile der einzigen großen
Wahrheit. An einem bestimmten Tage aber werden sie sich
vereinen wie die Teile eines Puzzlespieles. Dieses Erlebnis
ist mir sehr nahegegangen. Ich werde nie wieder zweifeln,
Pater Peregrine. Denn diese Wahrheit hier ist so wahr wie
unsere irdische Wahrheit, sie existieren beide
nebeneinander. Und wir werden weiterziehen zu anderen
Welten, die Summe aller Teile dieser Wahrheit
zusammenfügend bis eines Tages das ganze Gebäude vor
uns stehen wird wie das Licht eines neuen Tages.«
»Aus Ihrem Munde ist das sehr viel, Pater Stone.«
»In gewisser Weise tut es mir jetzt leid, daß wir in die
Stadt zurückgehen, um unter unseresgleichen zu wirken.
Diese blauen Lichter ... als sie sich um uns niederließen ...
und diese Stimme ...« Pater Stone erschauerte.
Pater Peregrine ergriff seinen Arm. Sie schritten
zusammen weiter.
»Und wissen Sie«, sagte Pater Stone schließlich, indem
er seine Augen auf Bruder Matthias richtete, der vor ihnen
schritt und die Glaskugel vorsichtig in seinen Armen trug,
jene Glaskugel mit dem ewig glühenden, blau
phosphoreszierenden Licht darin, »wissen Sie, Pater
Peregrine, jene Kugel dort ...«
»Ja?«
»Er ist es. Ja, Er ist es.«
Pater Peregrine lächelte, während sie aus den Ausläufern
der Berge traten und auf die neue Stadt zuschritten.

Die letzte Nacht der Welt

»Was würdest du tun, wenn du wüßtest, daß heute die


letzte Nacht der Welt anbricht?«
»Was ich tun würde? Meinst du das im Ernst?«
»Ja, absolut.«
»Ich weiß nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht.«
Er goß Kaffee ein. Im Hintergrund spielten die beiden
Mädchen im Licht der grünen Sturmlaternen mit
Bauklötzen auf dem Teppich des Wohnzimmers. Der
angenehme, reine Duft des frisch aufgebrühten Kaffees lag
in der Abendluft.
»Es wäre gut, wenn du dir jetzt einmal darüber
Gedanken machtest«, sagte er.
»Das kannst du nicht ernst meinen!«
Er nickte.
»Ein Krieg?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht die Wasserstoff- oder die Atombombe?«
»Nein.«
»Oder ein Krieg mit biologischen Waffen?«
»Nichts dergleichen«, antwortete er, während er langsam
seinen Kaffee umrührte. »Ich möchte es ganz einfach so
formulieren: ein Buch wird geschlossen.«
»Ich glaube, das verstehe ich nicht.«
»Auch ich verstehe es nicht ganz; es ist mehr ein Gefühl.
Manchmal schreckt es mich, ein andermal wieder gar nicht,
und der Gedanke läßt mich völlig ruhig.« Er blickte zu den
Mädchen hinein, deren blonde Haare im Rampenlicht
schimmerten. »Ich habe dir bisher nichts gesagt. Zum
erstenmal kam er vor vier Nächten.«
»Wer?«
»Der Traum. Ich träumte, daß alles zu Ende gehen
würde, und eine Stimme bestätigte es; keine Stimme, an
die ich mich erinnern kann, aber es war jedenfalls eine
Stimme, und sie sagte, daß jegliches Leben hier auf der
Erde enden würde. Am nächsten Tag dachte ich kaum noch
daran, aber am Nachmittag sah ich im Büro, wie Stan
Willis aus dem Fenster starrte, und ich sagte, ich gäb' was
drum, Stan, wenn ich wüßte, was du denkst, und er
antwortete, er hätte letzte Nacht einen Traum gehabt, und
noch bevor er mir seinen Traum erzählte, kannte ich ihn.
Genauso gut hätte ich ihm seinen Traum erzählen können,
aber er erzählte ihn mir, und ich hörte zu.«
»Und es war derselbe Traum?«
»Derselbe. Ich sagte es Stan, und er schien davon nicht
einmal überrascht zu sein. Im Gegenteil, er atmete sichtlich
auf. Danach begannen wir, das ganze Büro
durchzukämmen. Das war nicht etwa geplant. Wir hatten
uns nicht dazu verabredet, wir gingen einfach los, jeder für
sich, und überall hatten die Leute die Blicke auf ihre Hände
oder Schreibtische gesenkt oder sahen aus dem Fenster. Ich
sprach mit einigen. Stan ebenfalls.«
»Und sie hatten alle geträumt?«
»Alle. Denselben Traum – ohne jeden Unterschied.«
»Und du glaubst daran?«
»Ja. Ich bin mir nie einer Sache sicherer gewesen.«
»Und wann wird sie enden? Die Welt, meine ich.«
»Für uns irgendwann in dieser Nacht, und während die
Nacht weiter um die Welt geht, wird alles andere mitgehen.
Im ganzen wird es vierundzwanzig Stunden dauern, bis
alles zu Ende ist.«
Sie saßen eine Weile, ohne ihren Kaffee anzurühren.
Dann hoben sie langsam die Tassen und tranken, sich dabei
in die Augen sehend.
»Haben wir das verdient?« fragte sie.
»Darum dreht es sich ja gar nicht; die Dinge sind einfach
nicht so gelaufen, wie sie hätten sollen. Übrigens stelle ich
fest, daß du nicht einmal an dieser Sache zu zweifeln
scheinst. Warum nicht?«
»Ich glaube, ich habe meine Gründe dafür«, erwiderte
sie.
»Dieselben wie alle in meinem Büro?«
Sie nickte langsam. »Ich wollte eigentlich nichts sagen.
Ich träumte es letzte Nacht. Und die Frauen in unserem
Häuserblock redeten heute untereinander darüber. Sie
haben es auch geträumt. Ich dachte, es sei nur ein
zufälliges Zusammentreffen.« Sie nahm die Abendzeitung
in die Hand. »In der Zeitung steht nichts davon.«
»Warum auch, es weiß ja jeder.«
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah sie an.
»Fürchtest du dich?«
»Nein. Früher habe ich das immer geglaubt, aber jetzt
habe ich keine Angst.«
»Wo bleibt dieser sogenannte Selbsterhaltungstrieb, über
den so viel geredet wird?«
»Ich weiß nicht. Man regt sich nicht besonders auf,
wenn man das Gefühl hat, daß die Dinge sich logisch
entwickeln. Dies hier ist logisch. Nach dem Leben, das wir
geführt haben, war nichts anderes zu erwarten.«
»Sind wir denn so schlecht gewesen?«
»Nein, aber auch nicht besonders gut. Und ich glaube,
darin liegt unser Fehler – wir haben uns zuviel mit uns
selbst beschäftigt, während ein großer Teil der Welt nichts
Besseres zu tun hatte, als lauter schreckliche Dinge
anzurichten.«
Im Wohnzimmer lachten die Mädchen.
»Ich habe immer gedacht, die Leute würden vor einem
solchen Ereignis schreiend durch die Straßen rennen.«
»Man schreit nicht, wenn man dem Unausweichlichen
gegenübersteht.«
»Weißt du, außer dir und den Kindern würde ich nie
etwas vermissen. Meine Arbeit, die Stadt – nichts außer
euch dreien habe ich je wirklich geliebt. Ich würde nichts
anderes vermissen – außer vielleicht den Wechsel im
Wetter und ein Glas kaltes Wasser, wenn es sehr heiß ist,
und vielleicht den Schlaf. Wie können wir hier nur so ruhig
sitzen und so darüber reden?«
»Weil es nichts anderes zu tun gibt.«
»Du hast recht, natürlich; denn sonst würden wir es tun.
Wahrscheinlich ist dies das erste Mal in der Geschichte der
Welt, daß jedermann genau weiß, was er in der
kommenden Nacht tun wird.«
»Ich würde gern wissen, was all die andern in den
nächsten Stunden, heute abend, tun werden.«
»Irgendeine Vorstellung besuchen, Radio hören, vor dem
Fernsehgerät sitzen, Karten spielen, die Kinder zu Bett
bringen, schlafen gehen – wie immer.«
»In gewisser Weise ist das etwas, worauf man stolz sein
kann: wie immer.«
Sie schwiegen einen Augenblick, während er sich eine
frische Tasse Kaffee eingoß. »Warum nimmst du an, daß es
heute nacht geschehen wird?«
»Weil es so ist.«
»Warum geschah es nicht in irgendeiner Nacht des
vorigen Jahrhunderts, oder vor fünf Jahrhunderten, oder
zehn?«
»Vielleicht, weil noch nie der 19. Oktober 1969 gewesen
ist, noch nie in der Weltgeschichte, und heute ist er da; weil
dieses Datum wichtiger ist als jedes andere Datum zuvor;
weil in diesem Jahr die Dinge überall in der Welt so und
nicht anders sind, und weil darum das Ende kommen
muß.«
»Auch heute nacht fliegen strategische
Bomberkommandos, die nie wieder landen werden, auf
ihren vorgeschriebenen Routen in beiden Richtungen über
den Ozean.«
»Das ist einer der Gründe, warum.«
»Also«, sagte er und stand auf, »was wollen wir tun?
Das Geschirr abwaschen?«
Sie wuschen das Geschirr ab und stellten es mit
besonderer Sorgfalt in den Schrank. Um acht Uhr dreißig
brachten sie die Kinder zu Bett, gaben ihnen den
Gutenachtkuß, knipsten die kleinen Lampen an ihren
Betten aus und ließen die Tür einen kleinen Spalt weit
offen.
»Ich möchte gern wissen ...«, sagte er, als er aus dem
Schlafzimmer der Kinder gekommen war, mit der Pfeife in
der Hand stehenbleibend und zurückblickend.
»Was?«
»Ob sich die Tür völlig schließen wird, oder ob sie einen
kleinen Spalt weit offen bleibt, damit etwas Licht
hereinfallen kann.«
»Ich würde gern wissen, ob die Kinder etwas wissen.«
»Nein, natürlich nicht.«
Sie saßen und lasen Zeitungen und unterhielten sich und
hörten Radiomusik; dann setzten sie sich an den Kamin
und sahen in die Glut, während die Uhr halb elf, elf und
halb zwölf schlug. Sie dachten an all die andern Leute auf
der Erde, die auch diesen Abend verbrachten, jeder auf
seine Weise.
»Alsdann«, sagte er schließlich.
Er gab seiner Frau einen langen Kuß.
»Wir sind jedenfalls immer gut zueinander gewesen.«
»Möchtest du weinen?« fragte er.
»Ich glaube nicht.«
Sie gingen zusammen durch das Haus und drehten
überall das Licht aus und traten in ihr Schlafzimmer; in der
kühlen, dunklen Nachtluft zogen sie sich aus und deckten
die Betten auf. »Die Laken sind so frisch und sauber.«
»Ich bin müde.«
»Wir sind alle müde.«
Sie stiegen in die Betten und legten sich hin.
»Nur einen Augenblick«, sagte sie.
Er hörte sie aus dem Bett steigen und in die Küche
gehen. Einen Augenblick später war sie wieder da.
»Ich hatte vergessen, den Wasserhahn abzudrehen«,
sagte sie. Er fand das so komisch, daß er lachen mußte.
Sie stimmte in sein Lachen ein, denn ihr wurde jetzt
auch bewußt, wie komisch sie gehandelt hatte. Als sie
endlich aufhörten zu lachen, lagen sie still nebeneinander,
Hand in Hand die Köpfe aneinandergelegt.
»Gute Nacht«, sagte sie einen Augenblick später.
»Gute Nacht«, erwiderte er.

Die Verbannten

Ihre Augen glühten, und der Atem schlug flammend aus


ihren Mündern, während die drei Hexen sich über den
Kessel beugten und mit schmierigem Stock und knochigen
Fingern den Inhalt prüften.

»Sehen wir uns wieder am dritten Tag,


Bei Regen, Blitz und Donnerschlag?«

Sie tanzten trunken am Gestade eines ausgetrockneten


Meeres, verpesteten die Luft mit ihrem Hauch und
versengten sie mit ihren bösartig glitzernden Katzenaugen.

»Um den Kessel zieh den Kreis,


Und hinein den Giftdarm schmeiß ...
Eilt euch, müht euch, Flamme lodre,
Feuer brenn und Kessel brodle!«

Sie legten eine Pause ein und sahen sich suchend um. »Wo
ist der Kristall? Wo sind die Nadeln?«
»Hier!«
»Gut!«
»Ist das gelbe Wachs geschmolzen?«
»Ja!«
»Gießt es in die eiserne Form!«
»Ist die Wachsfigur bereit?« Wie Sirup rann es von ihren
grünen, knetenden Fingern.
»Stoßt die Nadel durch das Herz!«
»Den Kristall her, den Kristall! Zieh ihn aus der
Kartentasche! Reib ihn blank, blick hinein!«
Mit weißen Gesichtern beugten sie sich über den
Kristall.
»Seht, seht, seht ...«

Ein Raumschiff raste durch den Weltraum von der Erde


zum Mars. Menschen in dem Raumschiff lagen im Sterben.
Der Kommandant hob müde den Kopf. »Wir werden
ihm Morphium geben müssen.«
»Aber, Kapitän ...«
»Sie sehen doch selbst, in welchem Zustand sich der
Mann befindet.« Der Kommandant hob die Wolldecke, und
der Mann unter dem nassen Laken bewegte sich und
stöhnte. Es roch nach Schwefel, und fernes Donnergrollen
lag in der Luft.
»Ich hab' sie gesehen, ich hab' sie gesehen.« Der Mann
öffnete die Augen und starrte aus der Luke, an der nur
tiefschwarzer Raum vorüberzog, kreisende Sterne – und in
der Ferne stieg der Mars groß und rot empor. Weit hinter
ihnen lag die Erde. »Ich hab' sie gesehen – eine
Fledermaus, ein riesiges Untier, eine Fledermaus mit einem
Menschengesicht, wie sie über der vorderen Luke flatterte
und flatterte und flatterte ... und flatterte.«
»Puls?« fragte der Kommandant.
Der Krankenwärter zählte den Puls.
»Hundertunddreißig.«
»Das hält er nicht lange aus. Geben Sie ihm Morphium.
Kommen Sie, Smith.«
Sie gingen weiter. Plötzlich waren die Bodenplatten von
Gebeinen und weißen, kreischenden Schädeln gesäumt.
Der Kommandant wagte nicht, nach unten zu blicken, und
das Gekreische übertönend fragte er: »Liegt hier Perse?«
während er durch ein Schott in eine Kammer stieg.
Ein weißgekleideter Chirurg trat von einer Leiche
zurück. »Ich verstehe das einfach nicht.«
»Woran ist Perse gestorben?«
»Wir wissen es nicht, Kapitän. Es war weder sein Herz,
noch sein Gehirn, noch ein Schock. Er ist einfach –
gestorben.«
Der Kommandant griff nach dem Handgelenk des
Arztes, das sich in eine zischende Schlange verwandelte
und ihn biß. Der Kommandant zuckte mit keiner Wimper.
»Nehmen Sie sich in acht. Auch Ihr Puls schlägt zu
schnell.«
Der Arzt nickte. »Perse klagte über Schmerzen –
Nadelstiche sagte er – in seinen Handgelenken und Beinen.
Sagte, er fühle sich wie schmelzendes Wachs. Er fiel zu
Boden. Ich half ihm auf. Er weinte wie ein Kind. Sagte,
eine silberne Nadel durchbohre sein Herz. Er starb. Hier
liegt er. Wir können die Autopsie wiederholen. Alles ist
physisch vollkommen normal.«
»Das ist unmöglich! Er muß an irgend etwas gestorben
sein!«
Der Kommandant schritt zu einer Luke. Er roch nach
Menthol und Jod, und seine Hände mit manikürten und
polierten Nägeln dufteten nach grüner Seife. Seine Zähne
waren frisch geputzt und seine Ohren und Wangen vom
Schrubben leicht gerötet. Seine Uniform strahlte hell wie
frisches Salz, und seine Stiefel glänzten wie schwarze
Spiegel. Selbst sein Atem war klar und frisch und rein. Sein
kurzgeschorenes, krauses Haar roch scharf nach Alkohol.
Nicht der geringste Fleck war an ihm zu entdecken. Er
glich einem neuen Instrument, geschliffen und gerichtet,
noch warm von der Gußform.
Seine Mannschaft stammte aus dem gleichen Guß. Sie
waren wie teure, gut funktionierende und gut geölte
Spielzeuge.
Der Kommandant beobachtete den Mars, der jetzt
schnell größer wurde.
»In einer Stunde werden wir auf diesem verfluchten
Planeten landen. Smith, haben Sie vielleicht auch
Fledermäuse gesehen oder irgendwelche Alpträume
gehabt?«
»Ja, Sir. In den Wochen, bevor unser Raumschiff von
New York startete. Weiße Ratten bissen mir in den Hals
und tranken mein Blut. Ich habe nichts davon erzählt, weil
ich fürchtete, Sie würden mich nicht auf diese Reise
mitnehmen.«
»Nur keine Angst«, seufzte der Kommandant, »auch ich
hatte Träume. Fünfzig Jahre lang, solange ich lebe, habe
ich nicht einen einzigen Traum gehabt, bis zu der Woche
vor unserem Start von der Erde. Und dann träumte ich jede
Nacht, ich sei ein weißer Wolf. Umzingelt auf einem
schneebedeckten Hügel. Mit einer silbernen Kugel
totgeschossen. Mit einem Pfahl in meinem Herzen
vergraben.« Er deutete mit dem Kopf zum Mars hin.
»Glauben Sie, Smith, daß sie von unserem Kommen
wissen?«
»Wir wissen nicht einmal, ob es Lebewesen auf dem
Mars gibt, Sir.«
»Nein? Vor acht Wochen, vor unserem Start schon,
begannen sie uns abzuschrecken. Gerade haben sie Perse
und Reynolds getötet. Gestern ließen sie Grenville blind
werden. Wie? Ich weiß es nicht. Fledermäuse, Nadeln,
Alpträume – Männer, die ohne jeden Grund sterben. Früher
hätte man das Hexerei genannt. Aber wir schreiben jetzt
das Jahr 2120, Smith. Wir sind aufgeklärte Menschen. All
das kann einfach nicht passieren. Und doch geschieht es!
Wer sie auch sein mögen, mit ihren Nadeln und
Fledermäusen, sie werden versuchen, uns alle
umzubringen.« Mit einem Ruck drehte er sich um. »Smith,
holen Sie diese Bücher aus meinem Archiv. Ich brauche
sie, wenn wir landen.«
Zweihundert Bücher stapelte er auf dem Boden auf.
»Danke, Smith. Haben Sie einen Blick darauf geworfen?
Glauben Sie, daß ich geistesgestört bin? Vielleicht. Ist nur
so eine wilde Vermutung von mir. Habe diese Bücher noch
im letzten Moment aus dem Literarhistorischen Museum
kommen lassen. Wegen meiner Träume. Zwanzig Nächte
lang wurde ich erstochen, abgeschlachtet, war eine
kreischende, auf einen Operationstisch gebundene
Fledermaus, verrottete in einem Sarg unter der Erde –
entsetzliche, grauenhafte Träume. Unsere ganze
Mannschaft träumte von Hexen und Werwölfen, Vampiren
und Gespenstern, Dingen, von denen sie überhaupt nichts
wissen konnten. Warum nicht? Weil die Bücher über solche
gräßlichen Themen vor hundert Jahren vernichtet wurden.
Durch gesetzlichen Beschluß. Niemand durfte diese
grausigen Bücher mehr besitzen. Die Bände, die Sie hier
sehen, sind die letzten Exemplare, die für historische
Zwecke in versiegelten Museumskammern aufbewahrt
wurden.«
Smith bückte sich, um die verstaubten Titel lesen zu
können.
»Tales of Mystery and Imagination, von Edgar Allan
Poe. Dracula, von Bram Stoker. Frankenstein, von Mary
Shelley. The Turn of the Screw, von Henry James. The
Legend of Sleepy Hollow, von Washington Irving.
Rappaccini's Daughter, von Nathaniel Hawthorne. An
Occurrence at Owl Creek Bridge, von Ambrose Bierce.
Alice in Wonderland, von Lewis Carroll. The Willows, von
Algernon Blackwood. The Wizard of Oz, von L. Frank
Baum. The Weird Shadow Over Innsmouth, von H. P.
Lovecraft. Und noch mehr! Bücher von Walter de la Mare,
Wakefield, Harvey, Wells, Asquith, Huxley – alles
verbotene Autoren. Alle im selben Jahr verbrannt, als
Allerheiligen und Weihnachten durch Gesetz abgeschafft
wurden! Aber sagen Sie, Sir, was sollen diese Bücher uns
hier im Schiff nützen?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte der Kommandant, »noch
nicht.«

Die drei Hexen hielten den Kristall hoch, in dem das Bild
des Kommandanten flackerte, aus dem leise und hoch seine
Stimme klang:
»Ich weiß es nicht«, seufzte der Kommandant, »noch
nicht.« Mit glühenden Augen starrten die drei Hexen
einander an.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte eine.
»Wir sollten die in der Stadt lieber warnen.«
»Sie müssen von den Büchern erfahren. Es sieht nicht
gut aus. Dieser Narr von Kommandant!«
»In einer Stunde werden sie mit ihrem Raumschiff
landen.«
Die drei Hexen schauderten und blickten zu der
smaragdenen Stadt am Gestade des ausgetrockneten
Marsmeeres auf. Im Fenster des höchsten Turmes stand ein
kleiner Mann und hielt einen blutroten Vorhang beiseite. Er
beobachtete den öden Landstreifen, wo die drei Hexen
ihren Kessel rührten und Wachsfiguren formten. Weiter
landeinwärts qualmten Zehntausende von blauen Feuern
und Lorbeerbränden, rauchten schwarzer Tabak und
Geißbockkraut, stiegen Zimtpulver und Knochenstaub
leicht wie Motten empor zum nächtlichen Marshimmel.
Der Mann zählte die wild flackernden, magischen Feuer.
Als die drei Hexen zu ihm herstarrten, drehte er sich um.
Der rote Vorhang fiel, und das ferne Fenster blinkte auf wie
ein riesiges Auge.

Mr. Edgar Allan Poe stand am Turmfenster; sein Atem


duftete leicht nach Alkohol. »Hekates Freunde sind heut'
nacht sehr eifrig«, sagte er, als er weit unten die drei Hexen
erblickte.
Eine Stimme hinter ihm entgegnete: »Ich habe vorhin
Shakespeare am Strand gesehen, wie er sie anfeuerte.
Allein Shakespeares Armee entlang der Meeresküste zählte
heute nacht Tausende: die drei Hexen, Oberon, Hamlets
Vater, Puck – alle, alle sind sie da – Tausende! Großer
Geist, eine wahre Sintflut von Geschöpfen!«
»Guter William.« Poe drehte sich um. Er ließ den roten
Vorhang zufallen. Einen Augenblick blieb er still stehen
und ließ seine Blicke durch den von rohen Steinmauern
eingeschlossenen Raum schweifen, über den
Ebenholztisch, die Kerzenflamme, den anderen Mann, Mr.
Ambrose Bierce, der äußerst faul dasaß, leise vor sich hin
pfeifend Streichhölzer anzündete, zusah, wie sie
abbrannten, und dann und wann leise in sich hinein lachte.
»Wir müssen es jetzt Mr. Dickens berichten«, sagte Mr.
Poe. »Wir haben schon zu lange damit gezögert. Es kann
sich nur noch um Stunden handeln. Kommen Sie mit mir
zu seinem Haus, Mr. Bierce?«
Bierce blickte fröhlich lächelnd auf. »Ich habe gerade
darüber nachgedacht – wie es uns wohl ergehen wird?«
»Wenn wir die Menschen im Raumschiff nicht töten
oder abschrecken können, müssen wir selbstverständlich
hier fortziehen. Wir gehen zum Jupiter, und wenn sie uns
auf den Jupiter folgen, fliegen wir zum Saturn, und wenn
sie uns auch dorthin nachkommen, lassen wir uns auf dem
Uranus oder Neptun nieder, dann weiter zum Pluto ...«
»Und wohin dann?«

Mr. Poes Gesicht sah abgekämpft aus; seine Augen


brannten nur noch wie verglühende Kohlen, die Wildheit
seiner Stimme war von Traurigkeit überschattet, seine
Handbewegungen wirkten zerfahren, sein Haar fiel schlaff
über seine weißen Augenbrauen.
»Wir besitzen den Vorteil der überlegenen
Reisegeschwindigkeit und -art«, sagte er. »Wir können
immer noch auf einen ihrer Atomkriege hoffen, völlige
Auflösung, Wiederkehr des Mittelalters, Wiederkehr des
Aberglaubens. Alle könnten wir dann im Laufe einer
einzigen Nacht zur Erde zurückkehren.« Mr. Poes
schwarze Augen brüteten unter seiner gewölbten,
leuchtenden Stirn. Er starrte an die Decke. »Nun kommen
sie also, um auch diese Welt zu vernichten? Können sie
denn nichts unbefleckt lassen?«
»Stellt ein Wolfsrudel seine Verfolgung ein, bevor es
seine Beute gerissen hat? Das kann eine feine Schlacht
werden. Ich werde mich als Linienrichter betätigen und die
Punkte beider Parteien zählen.«
Poe schwankte ärgerlich, leicht vom Wein benebelt.
»Was haben wir ihnen getan? Im Namen Gottes, Bierce,
kommen Sie auf unsere Seite! Hat man uns vielleicht ein
gerechtes Gericht vor einem Tribunal von Literaturkritikern
zugestanden? Nein! Man hat unsere Bücher in große Tröge
geworfen, sie vernichtet, all ihre tödlichen Bakterien
zerkocht. Zur Hölle mit ihnen allen!«
»Ich finde unsere Lage belustigend«, erklärte Bierce.
Ein hysterischer Ruf aus der Wendeltreppe des Turmes
unterbrach ihr Gespräch.
»Mr. Poe! Mr. Bierce!«
»Ja, ja, wir kommen schon!« Poe und Bierce stiegen
hinunter und fanden einen Mann, der sich keuchend gegen
die steinerne Wand des Aufganges lehnte.
»Haben Sie die Botschaft gehört?« schrie er, kaum daß
er sie erblickte, sich an die beiden klammernd wie ein
Mann, der sich vor dem Sturz in einen Abgrund fürchtet.
»In einer Stunde werden sie landen! Sie bringen Bücher
mit – alte Bücher, sagen die Hexen! Was suchen Sie im
Turm zu einer solchen Zeit? Warum handeln Sie nicht?«
Poe antwortete: »Wir tun alles, was wir können,
Blackwood. Für Sie ist all dies noch neu. Kommen Sie mit,
wir suchen Mr. Charles Dickens in seinem Reich auf.«

Sie stiegen durch die hohl widerhallenden Schlünde der


Burg hinab, ein grünlich schimmerndes Gewölbe nach dem
anderen zurücklassend, hinab in Feuchtigkeit und
modernden Verfall. »Macht euch keine Sorgen«, sagte Poe.
»Ich habe alle die Unsrigen für heute nacht rund um das
Tote Meer versammelt. Eure Freunde und meine,
Blackwood und Bierce. Alle sind sie gekommen. Die Tiere
und die alten Weiber und die großen Männer mit den
scharfen weißen Zähnen. Die Fallen sind gestellt; die
Gruben, ja, und die Pendel. Der Rote Tod.« Er lachte leise.
»Ja, sogar der Rote Tod. Ich habe nie gedacht – nein, ich
habe wirklich nie gedacht, daß so etwas wie der Rote Tod
einmal wirklich in Aktion treten sollte. Aber sie haben ihn
herausgefordert, und sie sollen ihn haben!«
»Aber sind wir denn stark genug?« zweifelte
Blackwood.
»Wie stark ist stark? Sie werden letzten Endes nicht
gegen uns gewappnet sein. Sie besitzen nicht die
entsprechende Phantasie. Diese sauberen jungen
Raumfahrer mit ihren antiseptischen Pumphöschen und
Aquariumshelmen, mit ihrer neuen Religion.«
Draußen vor der Burg schritten sie durch ein wäßriges
Gebilde, einen Bergsee, der keiner war und wie der Nebel
eines bösen Traumes vor ihnen zurückwich. Surren und
Flügelschlagen füllte die Luft, schwarze Schatten und
Stoßwinde strichen vorbei. Stimmen verklangen, dunkle
Gestalten taumelten um Lagerfeuer. Mr. Poe beobachtete
die hin- und hergleitenden Weberschiffchen, die im Schein
der Feuer Schmerz und Elend webten; die Nadeln, die Tod
und Verderben in Wachsfiguren, tönerne Puppen stachen.
Dünste nach wildem Knoblauch, Cayennepfeffer und
Safran entwichen zischend aus den Hexenkesseln und
füllten die Nacht mit beißender Bosheit.
»Macht weiter so!« sagte Poe. »Ich komme wieder!«
Die ganze Küste entlang schossen schwarze Gestalten in
die Höhe und schwanden, wuchsen und lösten sich in
schwarzen Rauch auf, der gen Himmel stieg.

Über ein einsames Moor und in ein enges Tal eilten Poe
und Bierce und befanden sich unvermittelt auf einer mit
runden Kopfsteinen gepflasterten Straße, in beißend
kaltem, nebligem Wetter; Leute stampften auf steinigen
Höfen hin und her, um sich die Füße zu wärmen; alles
schwamm in bleichem Winterlicht, Kerzen flackerten in
Bürofenstern, und Weihnachtstruthähne hingen in den
Läden. In einiger Entfernung sangen ein paar dick
angezogene Jungen, deren Atem wie kleine Wölkchen in
der frostigen Luft hing: ›Gott schenk euch seinen Frieden‹,
während die dumpf dröhnenden Schläge einer großen Uhr
unablässig Mitternacht verkündeten. Vom Pastetenbäcker
her huschten Kinder vorbei, die mit ihren schmutzigen
kleinen Fäusten Tabletts umklammerten, auf denen unter
silbernen Schalen dampfende Gerichte standen.
Bei einem Schild mit der Aufschrift SCROOGE, MARLEY
UND DICKENS betätigte Poe den Türklopfer. Als die Tür
aufschlug, scholl laute Musik ihnen entgegen. Und drinnen,
hinter dem Rücken des Mannes, der ihnen einen säuberlich
getrimmten Spitz- und Schnurrbart entgegenstreckte,
klatschte Mr. Fezziwig in die Hände, und Mrs. Fezziwig
tanzte mit strahlendem Lächeln zwischen anderen
ausgelassenen Festgästen, während die Fidel zwitscherte
und Gelächter silberhell durch den Raum klang. Truthähne
und Schweinskopf und Gänse häuften sich auf dem mit
Stechpalmenzweigen geschmückten Tisch, Fleischpasteten,
gebratene Ferkel, Wurstkränze, Äpfel und Apfelsinen – und
dort saßen auch Bob Cratchit und Little Dorrit und Tiny
Tim und Mr. Fagin und ein Mann, der ein Gesicht wie ein
rohes Stück Fleisch hatte, wie ein Mostrichklecks, eine
Käserinde, ein Bruchstück einer halb gargekochten
Kartoffel – wer anders konnte das sein als Mr. Marley, in
Ketten und seinem altvertrauten Gewand, während der
Wein in Strömen floß und die knusperigen braunen
Truthähne nach Kräften dampften!
»Was wünschen Sie?« verlangte Charles Dickens zu
wissen.
»Wir sind gekommen, um Sie nochmals zu bitten,
Charles«, sagte Poe. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«
»Hilfe? Glauben Sie im Ernst, ich würde Ihnen gegen
diese guten Menschen kämpfen helfen, die im Raumschiff
zu uns kommen? Ich gehöre sowieso nicht hierher. Die
Verbrennung meiner Bücher beruhte auf einem
Mißverständnis. Ich bin kein Anhänger des
Übernatürlichen, kein Dichter des Grauens und Entsetzens
wie Sie, Poe, oder Sie, Bierce, oder die anderen. Ich habe
nichts mit euch gräßlichen Leute gemein!«
»Sie sind ein überzeugender Redner«, meinte Poe. »Sie
könnten den Raumfahrern entgegengehen, sie einlullen,
ihren Argwohn besänftigen, und dann – dann werden wir
uns ihrer annehmen.«
Mr. Dickens beäugte scharf die Falten des schwarzen
Umhangs der Poes Hände verbarg. Lächelnd zog Poe eine
schwarze Katze daraus hervor. »Für einen von unseren
Besuchern.«
»Und für die anderen?«
»Das Begräbnis bei lebendigem Leibe!« meinte Poe,
selbstzufrieden lächelnd.
»Sie sind ein grimmiger Mann, Mr. Poe.«
»Ich bin ein geängstigter, zorniger Mann. Ich bin ein
Gott, Mr. Dickens, genau wie auch Sie und wir alle hier
Götter sind, und unsere Geistesgeschöpfe – unsere Leute,
wenn Sie wollen – sind nicht nur bedroht worden, sondern
verbannt und verbrannt, zerrissen und der Zensur
anheimgefallen, vernichtet und abgetan. Die Welten, die
wir geschaffen haben, zerfallen zu Staub. Selbst Götter
müssen kämpfen!«
»So?« Mr. Dickens legte den Kopf schief, ungeduldig,
zum Fest, zur Musik, zur Tafelrunde zurückzukehren.
»Vielleicht können Sie erklären, warum wir hier sind? Wie
sind wir hierhergekommen?«
»Krieg gebiert Krieg. Zerstörung gebiert Zerstörung. Vor
einem Jahrhundert, im Jahre 2020, hat man auf der Erde
unsere Bücher geächtet. Oh, welch eine gräßliche Tat –
unsere literarischen Schöpfungen auf diese Art zu
vernichten! Sie rief uns auf den Plan – woher? Aus dem
Tode? Dem Jenseits? Ich mag keine abstrakten Begriffe.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß unsere Welten und
unsere Geschöpfe uns riefen und daß wir versuchten, sie zu
retten; und die einzige Rettung, die wir ihnen angedeihen
lassen konnten, war unsere Flucht mit ihnen auf den Mars,
wo wir ein ganzes Jahrhundert gewartet und gehofft haben,
daß die Erde mit diesen Wissenschaftlern eines Tages von
ihren eigenen Zweifeln überrannt würde. Jetzt aber
kommen sie, um uns auch hier auszutreiben, uns und
unsere finsteren Geschöpfe, die Alchimisten, Hexen,
Vampire und Werwölfe, die eins nach dem andern durch
den Weltraum zurückwichen, im gleichen Verhältnis, wie
die Wissenschaft Breschen in jedes Land der Erde schlug
und ihnen letzten Endes keine Alternative als den Auszug
ließ. Sie müssen uns helfen. Sie verfügen über große
Redegewandtheit. Wir brauchen Sie.«
»Ich wiederhole nur, ich bin keiner der Eurigen, und ich
schätze weder Sie noch die anderen«, rief Dickens erbost.
»Ich habe nicht mit Hexen und Vampiren und
Mitternachtsgeschöpfen gespielt.«
»Und wie erklären Sie Ihre Weihnachtsgeschichte?«
»Lächerlich! Eine Geschichte! Nun ja, ich habe wohl
noch ein paar andere über Gespenster geschrieben, aber
was zählen die schon? Meine Hauptwerke enthielten nichts
von diesem Unsinn!«
»Mißverständnis oder nicht, man hat Sie jedenfalls zu
uns geschlagen. Man hat auch Ihre Bücher – Ihre Welten –
zerstört. Sie müssen sie hassen, Mr. Dickens!«
»Ich gebe zu, daß sie dumm und gemein gehandelt
haben, aber das ist auch alles. Gute Nacht!«
»Geben Sie uns wenigstens Mr. Marley mit!«
»Nein!«

Mr. Poe hetzte am mitternächtlichen Gestade des Toten


Meeres entlang. Bei Feuer und Rauch blieb er kurz stehen,
rief Befehle, prüfte die brodelnden Hexenkessel, die Gifte
und die mit Kreidestrichen gezogenen Drudenfüße. »Gut!«
sagte er und lief weiter. »Ausgezeichnet!« rief er und setzte
seinen Lauf fort. Leute schlossen sich ihm an und rannten
gemeinsam mit ihm weiter. Hier kamen Mr. Machen und
Mr. Coppard. Und dort waren haßerfüllte Schlangen und
tobende Dämonen, feuerspeiende Bronzedrachen und
geifernde Vipern, Giftpfeile, Nesseln und Dornen und all
das üble Strandgut des zurückweichenden Meeres der
Phantasie, angetrieben am düsteren Strand der
Verzweiflung, winselnd und zuckend und schäumend.
Mr. Machen blieb stehen. Er ließ sich auf den kalten
Sand fallen und blieb dort sitzen, schluchzend wie ein
kleines Kind. Sie versuchten ihn zu trösten, aber er hörte
nicht auf sie. »Mir fiel gerade ein«, sagte er, »was wird
wohl mit uns geschehen, wenn die letzten Exemplare
unserer Bücher vernichtet sind?«
Die Luft brodelte.
»Sprechen Sie nicht davon!«
»Wir müssen aber«, jammerte Mr. Machen. »Denn jetzt,
während das Raumschiff zu uns herabstößt, schwinden Sie,
Mr. Poe, Sie, Mr. Bierce, Sie, Mr. Coppard – Sie alle
schwinden langsam dahin. Wie Rauch aus einem Holzstoß.
Fortgeblasen. Ihre Gesichter schmelzen dahin ...«
»Tod! Endgültiger Tod für uns alle!«
»Wir existieren nur, weil die Erde es duldet. Wenn ein
letzter Richtspruch heute nacht unsere letzten Werke
vernichtet, würden wir ausgeblasen wie Kerzen.«
Coppard brütete vor sich hin: »Ich würde gern wissen,
wer ich bin. In welchem irdischen Gehirn existiere ich
heute nacht? In einer Hütte in Afrika? Im Geiste eines
Einsiedlers, der meine Erzählungen liest? Ist er die einsam
flackernde Kerze im Winde von Zeit und Wissenschaft?
Der schwindende Schein, der mich hier im aufrührerischen
Exil ernährt? Ist er es? Oder irgendein Junge, der mich in
einer vergessenen Bodenkammer gefunden hat? Oh, letzte
Nacht fühlte ich mich krank, krank bis ins Mark, denn
genau wie das Fleisch einen Körper, hat auch die Seele
einen solchen, und dieser Seelenkörper schmerzte, als
wolle er auseinanderbrechen; letzte Nacht kam ich mir vor
wie eine tropfende Kerze. Doch plötzlich sprang ich auf,
von neuem Feuer erfüllt! Irgendein Kind, niesend vor
Staub, hatte vielleicht gerade in einer finsteren
Rumpelkammer auf der Erde ein abgegriffenes, vergilbtes
Exemplar von mir gefunden! Und so ist mir noch eine
kurze Frist gegeben!«
Die Tür einer kleinen Hütte am Strand sprang weit auf.
Ein dünner, kleiner Mann, dem das Fleisch in Falten vom
Leibe hing, trat heraus, setzte sich und starrte, ohne die
anderen zu beachten auf seine geballten Fäuste.
»Der tut mir am meisten leid«, flüsterte Blackwood.
»Seht nur, wie jämmerlich er vergeht. Einst war er
wirklicher als wir, die wir doch Menschen waren. Sie
griffen ihn auf, einen dürren Gedanken, kleideten dieses
Skelett über die Jahrhunderte in rosiges Fleisch, angetan
mit rotem Samt, schneeweißem Bart und glänzenden
schwarzen Stiefeln, gaben ihm Rentiere und Esel,
Rauschgold, Palmen- und Tannenzweige. Und nachdem sie
ihn jahrhundertelang regelrecht fabriziert hatten, ertränkten
sie ihn sozusagen in einem Faß mit Lysol.«
Die Männer schwiegen.
»Wie mag es jetzt auf Erden sein?« grübelte Poe. »Ohne
Weihnachten? Ohne heiße Kastanien, ohne Christbaum,
Trommeln, Schmuck und Kerzen – nichts, nichts als
Schnee und Wind und einsame, nur nüchterne Tatsachen
geltenlassende Leute ...«
Sie blickten alle zu dem dünnen, eingeschrumpften alten
Mann mit dem zerzausten Bart und dem verblichenen roten
Samtgewand hinüber.
»Kennen Sie seine Geschichte?«
»Ich kann sie mir vorstellen. Der Psychiater mit dem
durchbohrenden Blick, der kluge Soziologe, der
rachsüchtige, eifernde Erziehungswissenschaftler, die
antiseptischen Eltern ...«
»Eine beklagenswerte Situation«, sagte Bierce lächelnd,
»für die Händler mit Weihnachtskram. Wie ich mich aus
meinen letzten Erdentagen erinnere, begannen sie schon
am Tage vor Allerheiligen Tannenbäume aufzustellen und
Weihnachtslieder zu singen. Wenn sie nur gekonnt hätten,
würden sie in diesem Jahr schon im September damit
angefangen haben!«
Bierce sprach nicht weiter. Mit einem Seufzer fiel er
vornüber. Als er auf dem Boden lag, hatte er nur noch Zeit
zu sagen: »Wie interessant.« Und während sie alle
schreckerstarrt zusahen, verbrannte sein Körper zu Staub,
und die Asche floh in schwarzen Schwaden in alle Winde.
»Bierce, Bierce!«
»Er ist fort!«
»Sein letztes Buch vernichtet. Jemand auf der Erde hat
es gerade verbrannt.«
»Gott gebe ihm Frieden. Nichts ist von ihm geblieben.
Denn was sind wir anderes als Bücher, und wenn sie nicht
mehr sind, sind auch wir nicht mehr.«
Ein Rauschen erfüllte die Luft.
Entsetzt schrien sie auf und blickten hoch. Im Himmel,
geblendet von gleißenden Feuerstrahlen, sahen sie das
Raumschiff! Rund um die Männer am Strand hüpften
Laternenlichter; ein Winseln und Brodeln und ein Geruch
nach kochenden Zaubertränken. Kerzenäugige Kürbisköpfe
erhoben sich in die kalte, klare Luft. Hagere Finger ballten
sich zu Fäusten, und eine Hexe kreischte aus zahnlosem
Mund:

»Schiff, Schiff, brich und zerfall!


Schiff, Schiff, stürz ins All!
Lodre auf wie dürres Laub!
Katzenfell und Mumienstaub!«

»Zeit, weiterzuziehen«, murmelte Blackwood. »Auf zum


Jupiter, weiter zu Saturn oder Pluto.«
»Die Flucht ergreifen?« schrie Poe in den Wind. »Nie!«
»Ich bin ein müder alter Mann!«
Poe starrte dem alten Mann ins Gesicht und glaubte ihm.
Er kletterte auf einen gewaltigen Felsbrocken und blickte
über die zehntausend grauen Schatten, grünfunkelnden
Lichter und gelbglänzenden Augenpaare im pfeifenden
Wind.
»Die Zauberpulver!« schrie er.
Ein atembeklemmender Dunst nach bitteren Mandeln,
Moschus, Kümmel, Wurmsamen und Nieswurz stieg
empor!
Das Raumschiff glitt herab – rasch und stetig, mit dem
Kreischen eines verdammten Geistes! Poe tobte vor Wut!
Er schüttelte ihm seine Fäuste entgegen, und ein ganzes
Orchester von Haß, Gestank und Hitze schloß sich seinem
Zornausbruch an! Riesige Fledermäuse schwangen sich
empor! Brennende Herzen sausten wie Geschosse hoch
und zerbarsten zu blutigem Feuerwerk in der verpesteten
Luft. Herab, herab, gnadenlos herab – wie ein Pendel
näherte sich die Rakete. Und Poe heulte, raste, tobte – und
wich weiter zurück mit jedem Bogen, den das Raumschiff
gierig durch die Luft schnitt. Das Tote Meer schien zu einer
gewaltigen Fallgrube geworden zu sein, in der sie,
gefangen, auf das Sinken der drohenden Maschine, den
Fall des Richtbeils warteten; eine Lawine rollte auf sie zu!
»Die Schlangen!« kreischte Poe.
Und leuchtendes Höllengewürm in schlängelndem Grün
raste auf das Raumschiff zu. Aber es kam unaufhaltsam
herab. Eine letzte Schleife, ein Feuerstoß, eine letzte
Bewegung, und es lag funkenstiebend auf dem Sand, eine
Meile entfernt.
»Drauf!« schrie Poe. »Der Plan ist geändert! Unsere
letzte Chance! Stürmt! Drauf! Drauf! Erstickt sie mit euren
Leibern! Tötet sie!«
Und als hätte er einem tobenden Meer befohlen, über
seine Ufer zu treten, sich aus seinem angestammten Bett zu
lösen, breiteten sich Tod und Verderben aus, rasten
Flammen wie Wind und Regen und Gewitterblitz über den
Strand, ausgetrocknete Flußmündungen hoch, Schatten
verbreitend und kreischend, pfeifend und winselnd, sich
trennend und wieder vereinend, rasten auf das Raumschiff
zu, das verloschen wie eine glatte metallene Fackel im
fernsten Tal lag.
»Tötet sie!« kreischte Poe im Laufen.

Die Männer sprangen aus ihrem Raumschiff,


Maschinenpistolen schußbereit. Sie pirschten umher,
prüften schnüffelnd die Luft wie Hunde. Sie sahen nichts.
Erleichtert atmeten sie auf.
Der Kommandant sprang als letzter heraus. Er erteilte
ein paar kurze Befehle. Holz wurde zusammengetragen,
entzündet, und Feuer sprang auf. Der Kommandant
bedeutete seinen Leuten, im Halbkreis um ihn zu treten.
»Eine neue Welt«, begann er, sich zu ruhigem Sprechen
zwingend. Dabei warf er dann und wann nervöse Blicke
über die Schulter auf das ausgetrocknete Meer. »Die alte
Welt liegt hinter uns. Ein neuer Anfang. Was wäre
gleichnishafter, als daß wir uns hier um so fester zu
Wissenschaft und Fortschritt bekennen.« Er nickte kurz
seinem Leutnant zu. »Die Bücher.«
Das Licht der Flammen ließ die verblichenen goldenen
Titel aufglänzen: The Willows, The Outsider, Behold, The
Dreamer, Dr. Jekyll and Mr. Hyde, The Land of Oz,
Pellucidar, The Land that Time Forgot, A Midsummer
Night's Dream und die ungeheuerlichen Namen von
Machen und Edgar Allan Poe, Cabell und Dunsany,
Blackwood und Lewis Carrol – die alten Namen, die
sündhaften Namen.
»Eine neue Welt. Mit dieser Geste verbrennen wir die
Reste einer vergangenen Welt.«
Der Kommandant riß die Seiten aus den Büchern. Blatt
für Blatt ließ er sie in das Feuer fallen.
Ein Schrei!
Die Männer sprangen zurück und starrten über das Feuer
hinweg zum Rande des nahen, ausgetrockneten Meeres.
Noch ein Schrei! Ein hoher, heulender Ton wie der Tod
eines Drachen und das Toben eines Wales, wenn die
Wasser des Meeres durch den Kies absickern und den
Leviathan keuchend auf dem Trockenen zurücklassen.
Das Sausen von Luft, die in ein Vakuum einbricht, wo
soeben noch etwas gewesen ist!
Der Kommandant vernichtete säuberlich das letzte Buch,
indem er es in das Feuer warf.
Die Luft hörte auf zu beben.
Schweigen!
Die Raumfahrer beugten sich vor und lauschten.
»Kapitän, haben Sie das gehört?«
»Nein.«
»Wie eine Woge, Sir. Auf dem Grunde des
Meeresbeckens! Mir war eben, als sähe ich dort etwas.
Eine schwarze, riesige Woge, die auf uns zuraste.«
»Sie haben sich getäuscht.«
»Dort drüben, Sir!«
»Was?«
»Können Sie sehen? Dort! Die Stadt! Dort drüben! Die
grüne Stadt am See! Sie bricht auseinander. Sie stürzt ein!«
Die Männer blickten hinüber und drängten sich vor.
Smith stand zitternd unter ihnen. Er legte die Stirn in die
Hand, als wolle er dort einen Gedanken greifen. »Ich
erinnere mich ... ja, jetzt weiß ich es wieder. Es ist lange
her. Als ich noch ein Kind war, las ich ein Buch. Eine
Erzählung. Oz, hieß sie, glaube ich. Ja, Oz. Oz, die
smaragdene Stadt ...«
»Oz? Nie davon gehört.«
»Ja, das war Oz. Gerade habe ich sie gesehen, genau wie
in dem Buch. Ich sah sie einstürzen.«
»Smith!«
»Ja, Sir.«
»Melden Sie sich morgen zur Psychoanalyse.«
»Jawohl, Sir!« Ein kurzer militärischer Gruß.
»Nehmen Sie sich in acht.«
Auf Zehenspitzen und mit schußbereiten Waffen
schwärmten die Männer über den Lichtkreis des
Raumschiffes hinaus, ließen ihre Blicke über das weite,
ausgetrocknete Meer und die niedrigen Hügel schweifen.
»Na so was«, flüsterte Smith enttäuscht. »Hier ist wohl
überhaupt niemand, wie? Nicht eine Menschenseele.«
Der Wind blies winselnd Sand über seine Schuhe.

Kein Abend, kein Morgen ...

Innerhalb von zwei Stunden hatte er ein Päckchen


Zigaretten aufgeraucht.
»Wie weit draußen im Raum sind wir?«
»Eine Milliarde Meilen.«
»Eine Milliarde Meilen von wo?« fragte Hitchcock.
»Das kommt darauf an«, erwiderte Clemens, der
überhaupt nicht rauchte. »Eine Milliarde Meilen von zu
Hause, könnte man sagen.«
»Dann sag's doch.«
»Zu Hause. Erde. New York. Chicago. Woher du
gekommen bist.«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Hitchcock.
»Ich glaube nicht einmal mehr daran, daß es noch eine
Erde gibt. Glaubst du es?«
»Ja«, antwortete Clemens. »Ich habe heute morgen von
ihr geträumt.«
»Im Weltraum gibt es keinen Morgen.«
»Dann eben während der Nacht.«
»Es ist immer Nacht«, entgegnete Hitchcock ruhig.
»Welche Nacht meinst du?«
»Ach, sei still«, sagte Clemens gereizt. »Laß mich jetzt
weitermachen.«
Hitchcock zündete sich eine neue Zigarette an. Seine
Hand zitterte nicht, aber sie sah aus, als ob es unter der
sonnengebräunten Haut bebte. Die beiden Männer saßen
auf dem Boden der Beobachtungskanzel und blickten
hinaus zu den Sternen. Clemens' Augen blitzten,
Hitchcocks Blick jedoch schien sich in der Ferne zu
verlieren; seine Augen waren leer und ausdruckslos.
»Ich bin um 5.00 Uhr aufgewacht«, sagte Hitchcock, als
spräche er zu seiner rechten Hand. »Und ich hörte mich
schreien: ›Wo bin ich?‹ Und die Antwort lautete:
›Nirgends!‹ Und ich fragte: ›Woher bin ich gekommen?‹
Und ich antwortete: ›Von der Erde.‹ – ›Was ist das, Erde?‹
fragte ich verwundert. ›Wo ich geboren wurde‹, antwortete
ich. Aber die Antwort sagte mir nichts und war schlimmer
als nichts. Ich glaube an nichts, das ich nicht sehen oder
hören oder fühlen kann. Ich kann die Erde nicht sehen,
warum also sollte ich an sie glauben? Es ist sicherer so,
nicht zu glauben.«
»Dort ist die Erde.« Lächelnd deutete Clemens nach
draußen. »Jenes Lichtpünktchen dort.«
»Das ist nicht die Erde; das ist unsere Sonne. Man kann
die Erde von hier aus nicht sehen.«
»Ich kann sie sehen. Ich habe ein gutes Gedächtnis.«
»Das ist nicht dasselbe, du Narr«, sagte Hitchcock
plötzlich heftig. »Ich meine, man muß sie tatsächlich sehen
können. Ich bin schon immer so gewesen. Wenn ich in
Boston bin, ist New York für mich tot. Wenn ich in New
York bin, existiert Boston nicht. Wenn ich einen Menschen
einen Tag lang nicht sehe, ist er für mich gestorben. Wenn
ich ihm dann auf der Straße begegne, mein Gott, das ist
eine Auferstehung! Ich tanze fast vor Freude, daß ich ihn
wiedersehe. Doch inzwischen habe ich mich daran
gewöhnt. Ich tanze nicht mehr. Ich sehe nur noch genau
hin. Und wenn der Mensch dann fortgegangen ist, ist er
wieder tot.«
Clemens lachte. »Das liegt einfach daran, daß dein
Verstand auf einem primitiven Niveau arbeitet. Du findest
kein rechtes Verhältnis zu den Dingen. Du hast keine
Phantasie, Hitchcock, du mußt lernen, dich innerlich an
den Dingen festzuhalten.«
»Warum sollte ich mich an etwas binden, das ich nicht
benutzen kann?« fragte Hitchcock mit großen Augen,
immer noch in den Weltraum hinausstarrend. »Ich bin nur
praktisch. Wenn die Erde für mich nicht da ist, so daß ich
auf ihr gehen kann, soll ich dann vielleicht auf einer
Erinnerung gehen? Das tut weh! Erinnerungen, hat mein
Vater einmal gesagt, sind Stachelschweine. Zur Hölle mit
ihnen! Halte sie dir vom Leibe. Sie machen dich
unglücklich.«
»Gerade jetzt, in diesem Augenblick, gehe ich auf der
Erde spazieren«, sagte Clemens, in sich hineinlächelnd,
Luftschlösser bauend.
»Du spielst mit Stachelschweinen. Nachher wirst du
beim Essen keinen Bissen hinunterbringen und dich
wundern, wieso«, sagte Hitchcock mit tonloser Stimme.
»Und das nur, weil ein Bündel Stacheln in dir brennt. Zur
Hölle damit! Was ich nicht zwicken, puffen, trinken oder
betreten kann, magst du getrost in die Sonne werfen. Für
die Erde bin ich tot, also ist sie für mich tot. Niemand
weint heute nacht in New York für mich. New York kann
mir gestohlen bleiben. Hier gibt es keine Jahreszeiten;
Winter und Sommer gehören der Vergessenheit an;
Frühling und Herbst ebenfalls. Es gibt keinen bestimmten
Abend oder Morgen; nur Weite und abermals Weite. Im
Augenblick existieren nur du und ich und dieses
Raumschiff hier. Und wirklich überzeugt bin ich eigentlich
nur von meiner Existenz. Mehr gibt es darüber nicht zu
sagen.«
Clemens achtete nicht auf seine Worte. »Und jetzt stecke
ich einen Nickel in den Münzfernsprecher«, sagte er,
während er mit behaglichem Lächeln eine entsprechende
Handbewegung vorführte. »Ich telephoniere gerade mit
meinem Mädchen in Evanston. Hallo, Barbara!«
Das Schiff glitt weiter durch den Weltraum.
Um 13.05 läutete die Glocke zum Mittagessen. Auf
weichen Gummisohlen liefen die Männer vorbei und
setzten sich an die gedeckten Tische. Clemens war nicht
hungrig.
»Siehst du, was habe ich dir gesagt!« meinte Hitchcock.
»Du und deine verdammten Stachelschweine! Halt sie dir
vom Leibe, wie ich es dir geraten habe. Sieh mich an, wie
ich schlemme.« Die letzten Worte sprach er mit
mechanischer, unbewegter und humorloser Stimme. »Sieh
mir zu.« Er steckte sich ein großes Stück Pastete in den
Mund und befühlte es mit der Zunge. Er betrachtete die
Pastete auf seinem Teller, als wolle er ihre Struktur
ergründen. Er schob sie mit seiner Gabel hin und her. Er
betastete den Gabelgriff. Er zerdrückte die Zitronenfüllung
und beobachtete, wie der Saft zwischen den Zinken
emporquoll. Dann befühlte er eine Flasche mit Milch von
oben bis unten und lauschte auf das Geräusch, während er
sich ein Halbliterglas vollgoß. Er trank die Milch so rasch,
daß er sie kaum geschmeckt haben konnte. Sein ganzes
Essen hatte er in wenigen Minuten verzehrt, fieberhaft in
sich hineingeschlungen; jetzt sah er sich nach mehr um,
doch es gab nichts mehr. Mit unbewegtem Gesicht starrte
er durch eine Luke des Raumschiffes. »Die existieren in
Wirklichkeit auch nicht«, sagte er.
»Wer?« fragte Clemens.
»Die Sterne. Wer hat schon jemals einen berührt?
Gewiß, ich kann sie sehen, aber was bedeutet das schon,
daß man etwas sehen kann, das eine Million oder eine
Milliarde Meilen entfernt ist? So entfernte Dinge sind es
überhaupt nicht wert, daß man sich Gedanken über sie
macht.«
»Warum bist du auf diese Reise mitgekommen?« fragte
Clemens plötzlich.
Hitchcock sah in sein leeres Milchglas und schloß fest
die Hand darum. »Ich weiß es nicht. Ich mußte es einfach
tun, das ist alles. Woher weiß man denn, warum man
irgend etwas in diesem Leben tut?«
»Dir gefiel der Gedanke der Raumfahrt? So von einem
Ort zum andern zu ziehen?«
»Ich weiß nicht. Ja. Nein. Nicht unbekannte Orte haben
mich gelockt. Das Treiben dazwischen war es.« Hitchcock
versuchte zum ersten Mal, seine Augen auf einen
bestimmten Funkt zu zwingen; aber was er erblicken
wollte, war so nebelhaft und so fern, daß seine Augen es
nicht fassen konnten. »In der Hauptsache war es die Weite.
Der grenzenlose Raum. Mir gefiel der Gedanke: oben
nichts und unten nichts und dazwischen nichts – und ich in
der Mitte dieses Nichts.«
»Eine solche Definition habe ich noch nie gehört.«
»Ich habe es eben so definiert; ich hoffe, du hast
zugehört.«
Hitchcock zog seine Zigaretten aus der Tasche, zündete
eine an und begann den Rauch zu inhalieren und
auszublasen, pausenlos.
»Was hast du eigentlich für eine Kindheit gehabt,
Hitchcock?«
»Ich war niemals jung. Was ich damals gewesen bin, ist
gestorben. Ich habe es mir immer so ausgemalt, daß man
am Ende eines jeden Tages stirbt und daß jeder Tag eine
Schachtel ist, weißt du, alle fein säuberlich numeriert; nie
darf man zurückgehen und einen Deckel anheben, denn
man ist ein paar tausendmal gestorben, und das bedeutet
eine Menge Leichen, die jede auf andere Art gestorben ist,
und jede weckt schlimmere Gefühle. Jeder dieser Tage
zeigt dir ein anderes Bild von dir, jemand, den du nicht
kennst oder nicht verstehst oder nicht verstehen willst.«
»Auf diese Weise schließt du dich selbst aus.«
»Warum sollte ich mich noch mit dem jungen Hitchcock
abgeben? Er war ein Narr, wurde umhergestoßen und
ausgenutzt. Sein Vater war ein Taugenichts, und er war
froh, als seine Mutter starb, denn sie war auch nicht besser.
Soll ich in der Vergangenheit wühlen, sein Gesicht
wiedersehen und mich daran weiden? Er war ein Narr.«
»Wir sind alle Narren«, sagte Clemens, »jetzt und
immer, nur jeden Tag auf andere Weise. Man denkt, heute
bin ich kein Narr; ich habe meine Lehre aus dem Gestern
gezogen. Gestern war ich noch ein Narr, aber heute nicht
mehr. Und morgen stellt man dann fest, daß man auch
heute ein Narr gewesen ist. Ich glaube, die einzige Art, auf
die wir darüber hinauswachsen und diese Welt hinnehmen
können, ist, uns mit der Tatsache abzufinden, daß wir nicht
vollkommen sind, und entsprechend zu leben.«
»Ich möchte mich aber nicht an Unvollkommenes
erinnern«, erwiderte Hitchcock. »Kann ich jenem jungen
Hitchcock vielleicht die Hand schütteln? Wo ist er? Kannst
du ihn für mich finden? Er ist tot, also mag er zur Hölle
fahren!«
»Du hast da eine völlig falsche Vorstellung.«
»Dann laß sie mir nur.« Hitchcock, der mit seinem Essen
lange fertig war, sah wieder aus der Luke. Die anderen
Männer blickten zu ihm hinüber.
»Existieren Meteore?« fragte Hitchcock.
»Du weißt sehr gut, daß sie existieren.«
»Auf unseren Radarschirmen – ja; als Lichtstreifen im
Weltraum. Nein, ich glaube an nichts, das nicht in meiner
Gegenwart existiert und handelt. Manchmal« – er deutete
mit dem Kopf zu den Männern hinüber, die noch beim
Essen saßen – »manchmal glaube ich, daß nichts und
niemand außer mir existiert.« Er richtete sich auf. »Gibt es
in diesem Schiff eigentlich noch ein Obergeschoß?«
»Ja.«
»Ich muß mich sofort davon überzeugen.«
»Reg dich bitte nicht auf.«
»Warte hier; ich bin gleich wieder zurück.« Hitchcock
ging rasch hinaus. Die anderen stocherten in ihrem Essen
und aßen langsam weiter. Ein paar Augenblicke
verstrichen. Schließlich hob einer den Kopf. »Wie lange
geht das nun schon so? Ich meine, mit Hitchcock?«
»Erst heute.«
»Er war schon neulich einmal so komisch.«
»Ja, aber heute ist es schlimmer.«
»Hat jemand das schon dem Psychiater gemeldet?«
»Wir dachten, er würde allein damit fertig werden. Jeder,
der zum erstenmal draußen ist, bekommt ein wenig die
Raumkrankheit. Ich hab' sie auch gehabt. Zuerst beginnt
man wild zu philosophieren, dann bekommt man's mit der
Angst. Man bricht in Schweiß aus, zweifelt an seiner
Geburt, glaubt nicht mehr an die Existenz der Erde,
schließlich betrinkt man sich, wacht mit einem
fürchterlichen Brummschädel auf und hat's überstanden.«
»Aber Hitchcock betrinkt sich nicht. Ich wünschte, er
täte es.«
»Wie hat er überhaupt die Eignungsprüfungen
bestanden?«
»Wie wir alle sie überstanden haben. Sie brauchen
Leute. Der Weltraum ist für die meisten Menschen
gleichbedeutend mit der Hölle. So läßt die
Prüfungskommission eben auch eine Menge Grenzfalle
durch.«
»Der Mann ist kein Grenzfall«, sagte jemand anders.
»Der ist ein Sturz in den bodenlosen Abgrund!«
Sie warteten fünf Minuten. Hitchcock kam nicht zurück.
Schließlich stand Clemens auf, ging hinaus und kletterte
die Wendeltreppe zum Schleusendeck hoch. Hitchcock war
dort und betastete bedächtig die Wände.
»Es ist da«, sagte er.
»Natürlich ist es da.«
»Ich hatte Angst, es würde nicht da sein.« Hitchcock sah
aus den Augenwinkeln zu Clemens hinüber. »Und auch du
lebst.«
»Nun, ich lebe schon ziemlich lange.«
»Nein«, erwiderte Hitchcock. »Jetzt, nur jetzt, in diesem
Augenblick, während du hier bei mir bist, lebst du. Vor
einem Augenblick existiertest du nicht.«
»Für mich schon«, entgegnete Clemens.
»Das ist unwesentlich. Du warst nicht hier bei mir«,
sagte Hitchcock. »Nur das zählt. Ist die Mannschaft
unten?«
»Ja.«
»Kannst du das beweisen?«
»Hör zu, Hitchcock, du solltest lieber mal mit Doktor
Edwards reden. Ich glaube, du mußt dich von ihm
behandeln lassen.«
»Nein, ich bin völlig gesund. Wo ist der Doktor
überhaupt? Kannst du beweisen, daß er hier in diesem
Schiff ist?«
»Das kann ich. Ich brauche ihn nur zu rufen.«
»Nein. Ich meine, während du hier stehst, in diesem
Augenblick, kannst du nicht beweisen, daß es ihn gibt,
oder?«
»Nein, nicht ohne mich von der Stelle zu rühren.«
»Siehst du. Es gibt keinen gedanklichen Beweis. Das ist
es, was ich haben möchte – einen gedanklichen Beweis,
den ich fühlen kann. Ich will keinen körperlichen Beweis,
den ich mir erst von draußen hereinholen muß. Ich möchte
einen Beweis, den man im Verstand mit sich herumtragen
und jederzeit fühlen, riechen und greifen kann. Ich hasse
alles Körperliche, weil man es verlieren und dann
unmöglich mehr daran glauben kann.«
»Das sind nun einmal die Spielregeln.«
»Ich möchte sie ändern. Wäre es nicht herrlich, wenn
wir Dinge einfach mit unserem Verstand beweisen und mit
Gewißheit darauf vertrauen könnten, daß sie sich da
befinden, wo sie gerade sind? Ich möchte wissen, wie es an
einem Ort aussieht, wenn ich nicht da bin. Ich möchte es
genau wissen.«
»Das ist nicht möglich.«
»Weißt du«, sagte Hitchcock, »vor ungefähr fünf Jahren
kam mir zum ersten Mal der Gedanke, in den Weltraum
hinauszugehen. Ungefähr um die Zeit, als ich meine feste
Stelle verlor. Wußtest du, daß ich eigentlich Schriftsteller
werden wollte? O ja, einer von diesen Männern, die immer
davon reden, aber selten wirklich schreiben. Und zuviel
Ungeduld. So verlor ich meinen guten Job als Redakteur,
konnte keinen neuen Job finden und sackte immer tiefer.
Dann starb meine Frau. Ich mußte meinen Jungen in die
Obhut einer Tante geben, und die Lage verschlechterte sich
weiter; dann, eines Tages, wurde eine Geschichte von mir
gedruckt, mit meinem Namen darunter, aber sie war nicht
von mir.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ich kann nur sagen, daß ich die Seite mit meinem
Namen unter dem Titel sah: von Joseph Hitchcock. Aber
das war ein anderer Mann. Es gab kein Mittel, um zu
beweisen – greifbar, wirklich zu beweisen –, daß ich dieser
Mann war. Die Geschichte war mir bekannt – ich wußte,
daß ich sie geschrieben hatte –, aber der Name auf dem
Papier war trotzdem nicht ich. Er war fremd. Und dann
kam mir zum Bewußtsein, selbst wenn ich ein erfolgreicher
Schriftsteller werden wollte, so würde mir das doch nie
etwas bedeuten, denn ich konnte mich nicht mit jenem
Namen identifizieren. Es wäre wie Schall und Rauch für
mich gewesen. Daher hörte ich gänzlich auf zu schreiben.
Ich war sowieso nie sicher, daß die Geschichten, die ich ein
paar Tage später in meiner Schreibtischlade fand, von mir
stammten, wenn ich mich auch erinnern konnte, sie getippt
zu haben. Immer war da diese Beweislücke. Die Lücke
zwischen tun und getan zu haben. Und wenn einmal eine
Tat getan ist, gibt es keinen Beweis dafür, nur noch die
Erinnerung daran. Ich begann, überall Lücken zu
entdecken. Ich bezweifelte, daß ich verheiratet war, daß ich
ein Kind besaß oder jemals in meinem Leben einen Job
hatte. Ich zweifelte daran, daß ich in Illinois zur Welt
gekommen war und einen trunksüchtigen Vater und eine
schweinische Mutter hatte. Ich konnte nichts beweisen.«
»Du solltest derartigen geistigen Ballast abwerfen.«
»Ich kann nicht. All die Lücken und leeren Räume. Und
so kam es, daß ich über die Sterne nachzudenken begann.
Ich begann darüber nachzudenken, wie es in einem
Raumschiff sein müßte, im Nichts, mitten im Nichts, nur
von einer dünnen metallenen Eierschale gehalten, sich
immer weiter von all den Dingen mit Lücken dazwischen
entfernend, die sich nicht selbst beweisen konnten. Da
wußte ich, daß die einzige Zufriedenheit für mich im Raum
lag. Wenn wir auf Aldebaran II ankommen, werde ich mich
sofort wieder für die fünfjährige Rückreise zur Erde
anheuern lassen. Und so werde ich für den Rest meines
Lebens immer hin und her fahren, wie ein
Weberschiffchen.«
»Hast du darüber schon einmal mit dem Psychiater
gesprochen?«
»Damit er versuchen kann, die Lücken für mich zu
schließen die Löcher mit Lärm und warmem Wasser und
Worten zu füllen mich mit seinen Händen abzutasten und
all das? Nein, vielen Dank.« Hitchcock unterbrach sich.
»Es wird schlimmer mit mir, nicht wahr? Ich dachte es mir.
Als ich heute morgen aufwachte dachte ich, es wird
schlimmer mit mir. Oder ist es besser geworden?« Er
stutzte wieder und schielte mit einem Auge nach Clemens.
»Bist du da? Bist du wirklich da? Los, beweise es mir.«
Clemens schlug ihm hart auf den Arm.
»Ja«, sagte Hitchcock seinen Arm reibend, ihn gründlich
betrachtend und nachdenklich eine Weile massierend. »Du
warst da. Für den kurzen Bruchteil eines Augenblicks. Aber
ich weiß nicht ob du – jetzt da bist.«
»Bis nachher«, sagte Clemens. Er war bereits auf dem
Weg zum Arzt. Er ließ Hitchcock stehen.

Eine Alarmglocke läutete. Zwei Glocken, drei Glocken


läuteten. Das Schiff schwankte, als habe eine riesige Hand
es geschlagen. Ein saugendes Geräusch ertönte, als sei ein
Staubsauger angestellt worden. Clemens hörte Schreie und
fühlte, wie die Luft dünner wurde. Die Luft zischte an
seinen Ohren vorbei. Plötzlich war nichts mehr in seiner
Nase und in seinen Lungen. Er taumelte und dann hörte das
Zischen plötzlich wieder auf.
Er hörte jemand schreien: »Ein Meteor!« Jemand anders
sagte:
»Bereits abgedichtet!« Und das stimmte. Die ›Spinne‹,
ein um die Außenhaut des Schiffes laufender Reparatur-
Roboter für derartige Notfälle, hatte das Loch bereits mit
einer Metallplatte elektrisch dicht geschweißt.
Irgend jemand in einiger Entfernung redete und redete
und begann dann zu schreien. Clemens rannte den Korridor
entlang durch die frisch einströmende, dicker werdende
Luft. Als er um die Ecke bog und durch ein Schott stieg,
sah er das soeben versiegelte Loch in der Stahlwand. Er
sah die Bruchstücke des Meteors wie Teile eines
Spielzeugs auf dem Boden des Raumes herumliegen. Er
sah den Kommandanten und Angehörige der Mannschaft
um einen am Boden liegenden Mann herumstehen. Es war
Hitchcock. Er hatte die Augen geschlossen und weinte. »Er
hat mich zu töten versucht«, sagte er wieder und wieder.
»Er hat mich zu töten versucht.« Sie halfen ihm auf die
Füße. »Das kann nicht sein«, sagte Hitchcock. »So etwas
darf sich nicht ereignen. Solche Dinge können einfach
nicht geschehen, nicht wahr? Er schlug hier durch, weil er
mich treffen wollte. Warum?«
»Ist ja gut, Hitchcock, ist ja gut«, sagte der Kapitän.
Der Arzt verband einen kleinen Schnitt an Hitchcocks
Arm. Mit bleichem Gesicht blickte Hitchcock auf und sah
Clemens in die Augen. »Er hat mich zu töten versucht«,
sagte er.
»Ich weiß«, erwiderte Clemens.

Siebzehn Stunden verstrichen. Das Schiff glitt weiter im


Raum. Clemens trat durch ein Schott und wartete. Der
Psychiater und der Kapitän waren da. Hitchcock saß auf
dem Fußboden, die Beine an die Brust gezogen und die
Arme fest darum geschlungen.
»Hitchcock«, sagte der Kapitän.
Keine Antwort.
»Hitchcock, hören Sie mir zu«, sagte der Psychiater.
Sie wandten sich an Clemens. »Sie sind sein Freund?«
»Ja.«
»Wollen Sie uns helfen?«
»Wenn ich kann.«
»Dieser verdammte Meteor ist schuld daran«, sagte der
Kapitän. »Wenn das nicht passiert wäre, würde er jetzt
nicht hier sitzen.«
»Früher oder später würde es ihm auch ohne den Meteor
so ergangen sein«, meinte der Arzt. Und zu Clemens sagte
er leise: »Sie können jetzt zu ihm sprechen.«
Clemens trat ruhig zu Hitchcock, kauerte sich neben ihn
hin, schüttelte sachte seinen Arm und begann leise zu
rufen: »He du, Hitchcock.«
»He, ich bin's. Ich, Clemens«, sagte Clemens. »Sieh, ich
bin da.«
Keine Antwort.
Er versetzte ihm einen leichten Schlag auf den Arm. Er
massierte ihm behutsam den steifen Nacken und strich ihm
über den vornüber gebeugten Kopf. Er warf dem
Psychiater, der ganz leise seufzte, einen Blick zu. Der
Kapitän zuckte mit den Schultern.
»Schockbehandlung, Doktor?«
Der Psychiater nickte. »In einer Stunde fangen wir an.«
Ja, dachte Clemens, Schockbehandlung. Spielt ihm ein
Dutzend Jazzplatten vor, wedelt eine Flasche mit grünem
Chlorophyll und ein Bund Löwenzahn um seine Nase
herum, legt ihm eine Grasmatte unter die Füße, sprüht
Chanel in die Luft, schneidet ihm die Haare, feilt ihm die
Fingernägel, bringt ihm eine Frau, schreit ihn an, knallt,
macht Lärm, röstet ihn mit Elektrizität, füllt die Lücken
und Löcher, aber wo sind eure Beweise? Ihr könnt nicht
ohne Unterlaß fortfahren, ihm Beweise anzubieten.
»Hitchcock!« schrie er, so laut er konnte, fast in
panischer Angst, als fürchte er, selbst in einen Abgrund zu
stürzen. »Ich bin's. Dein Freund! He!«
Clemens drehte sich um und ging aus dem still
gewordenen Raum.
Zwölf Stunden später ertönte wieder eine Alarmglocke.
Nachdem die Aufregung abgeklungen war, erklärte der
Kommandant: »Hitchcock schien ein paar Minuten lang
wieder ganz vernünftig zu sein. Man ließ ihn allein. Er
stieg in einen Raumanzug. Dann kletterte er in eine
Luftschleuse und spazierte in den Weltraum hinaus.«
Clemens blinzelte durch die gewaltige Glasscheibe,
hinter der ein Gewimmel von Sternen sich in ferner
Schwärze verlor. »Ist er jetzt dort draußen?«
»Ja. Eine Million Meilen hinter uns. Wir würden ihn nie
wiederfinden. Erst als ich seine Stimme aus dem
Helmradio im Lautsprecher unseres Kontrollempfängers
hörte, merkte ich, daß er sich außerhalb unseres Schiffes
befinden mußte. Ich hörte ihn mit sich selbst sprechen.«
»Was sagte er?«
»Ungefähr folgendes: ›Kein Raumschiff mehr. Hat nie
eins gegeben. Keine Menschen. Keine Menschen im
ganzen Universum. Hat nie welche gegeben. Keine
Planeten. Keine Sterne.‹ Und dann sagte er etwas über
seine Hände und Beine und Füße: ›Keine Hände‹, sagte er.
›Ich habe keine Hände mehr. Habe nie welche gehabt.
Keine Füße. Habe nie welche gehabt. Kann's nicht
beweisen. Kein Körper. Nie einen gehabt. Keine Lippen.
Kein Gesicht. Kein Kopf. Nichts. Nur Raum. Nur Weite.
Nur die Lücke.‹«
Der Raum, dachte Clemens. Der grenzenlose Raum, den
Hitchcock so liebte. Nichts oben, nichts unten, unendliches
Nichts dazwischen, und Hitchcock in der Mitte dieses
Nichts, auf seiner Reise zu einem nicht näher
bestimmbaren Abend oder Morgen ...

Der Fuchs und die Hasen

Schon am ersten Abend erlebten sie ein Feuerwerk.


Eigentlich hätten sie sich davor fürchten müssen, denn es
konnte sie an andere, schrecklichere Dinge erinnern; aber
dieses Feuerwerk war wunderschön – Raketen stiegen in
die linde Luft Mexikos und zerplatzten zu blauen und
weißen Sternschnuppen. Alles war gut und schön, die Luft
atmete jenes unvergleichliche Aroma einer ausgewogenen
Mischung von Gegenwart und Vergangenheit, von Regen
und Staub, von Weihrauch aus der Kirche und Messing von
den Tuben auf dem Orchesterpodium, die in
überschwenglichen Rhythmen die Klänge von ›La Paloma‹
über die Plaza bliesen. Die Tore der Kirche standen weit
offen, und ein riesiges gelbes Sternbild schien
feuersprühend vom nächtlichen Oktoberhimmel auf ihre
Mauern gesunken zu sein; unzählige Kerzen verströmten
rauchend ihr warmes Licht.
»Wir befinden uns im Jahre 1938«, sagte William Travis,
der lächelnd neben seiner Frau am Rande der lärmenden
Menge stand. »Es ist ein gutes Jahr.«
Ein Stier stürmte auf sie zu. Beiseite springend und sich
an den Händen haltend, lief das Ehepaar lachend durch den
Funkenregen, durch Lärm und Musik, vorbei an der
Blaskapelle, vorbei an der Kirche, über sich die Sterne. Der
Stier, ein leichtes, mit Schwefel und Schießpulver gefülltes
Bambusgerüst auf den Schultern eines jungen Mexikaners,
stürmte an ihnen vorbei.
»Noch nie in meinem Leben bin ich so vergnügt
gewesen!« rief Susan Travis, atemlos stehenbleibend.
»Ein verwirrendes Bild«, sagte William.
»Und das geht so weiter, nicht wahr?«
»Die ganze Nacht.«
»Nein, ich meine jetzt unsere Reise.«
Er runzelte die Stirn und klopfte auf seine Brusttasche.
»Ich habe genug Reiseschecks für unser ganzes Leben.
Amüsier dich nur. Vergiß alles. Sie werden uns nie finden.«
»Nie?«
»Nie.«
Jemand warf brennende, große Schwärmer von dem
glockendröhnenden Kirchturm, die in Qualmwolken
gehüllt unter die tanzende, auseinanderstiebende Menge
fielen und in phantastischen Sprüngen zwischen ihren
quirlenden Leibern und Beinen explodierten. Ein
wundervoller Duft von frischgebackenen Tortillas hing in
der Luft, und an den Cafétischen saßen Männer hielten
Biergläser in ihren braungebrannten Händen und schauten
zu.
Der Stier war tot. Das Feuer in den Bambusrohren war
ausgebrannt, er hatte seine Schuldigkeit getan. Der Mann
hob das Gerüst von seinen Schultern. Kleine Jungen
bedrängten ihn, um das gewaltige Papiermachehaupt und
die echten Hörner zu betasten.
»Laß uns den Stier anschauen gehen«, sagte William.
Als sie am Eingang des Cafés vorbeikamen, erblickte
Susan den Mann, der zu ihnen heraussah, einen weißen
Mann in makellos weißem Anzug, mit blauer Krawatte und
blauem Hemd. Er hatte ein schmales, sonnengebräuntes
Gesicht, sein Haar war blond und glatt, seine Augen blau,
und er beobachtete sie.
Er wäre ihr überhaupt nicht aufgefallen, hätten nicht die
Flaschen neben seinem Ellbogen gestanden; eine dunkle
Flasche mit Creme de Menthe, eine klare Flasche mit
Vermouth, eine bauchige Flasche mit Cognac und sieben
weitere Flaschen mit verschiedenen Likören. Vor ihm
waren zehn kleine, halbgefüllte Gläser aufgereiht, aus
denen er, ohne seine Augen von der Straße abzuwenden
und gelegentlich dabei schielend, abwechselnd nippte und
genußvoll seine dünnen Lippen zusammenpreßte. In seiner
freien Hand qualmte eine dünne Havannazigarre, und auf
einem Stuhl neben ihm lagen zwanzig Päckchen mit
türkischen Zigaretten, sechs Kistchen Zigarren und ein paar
Schachteln mit Eau de Cologne.
»Bill ...«, flüsterte Susanne.
»Hab' keine Angst!«, erwiderte er. »Der hat nichts zu
bedeuten.«
»Ich sah ihn schon heute morgen auf der Plaza.«
»Sieh dich nicht um, geh weiter. Schau dir den
Papiermachestier hier an. Das ist er schon – stell Fragen.«
»Glaubst du, er gehört zu den Spürhunden?«
»Sie können uns nicht gefolgt sein!«
»Vielleicht doch!«
»Welch ein feiner Stier!« sagte William zu dem Besitzer
des Fabelwesens.
»Er kann uns doch unmöglich durch zweihundert Jahre
zurückverfolgt haben, nicht wahr?«
»Nimm dich jetzt um Gottes willen zusammen«, sagte
William.
Sie schwankte. Er preßte ihren Ellbogen und steuerte sie
durch das Gedränge.
»Werd' mir jetzt nicht ohnmächtig.« Er lächelte bei
diesen Worten, um kein Aufsehen zu erregen. »Gleich
geht's dir wieder besser. Am besten gehn wir jetzt einfach
in das Café und trinken etwas direkt vor seinen Augen;
wenn er der ist, den wir in ihm vermuten, werden wir so
seinen Verdacht zerstreuen.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Wir müssen es wagen. Komm jetzt. Und zu David habe
ich gesagt, das ist einfach lächerlich!« Den letzten Satz
sprach er mit lauter Stimme, während sie schon die Stufen
zum Café hinaufstiegen.
Wo sind wir? dachte Susan. Wer sind wir? Wohin gehen
wir? Wovor fürchten wir uns? Du mußt ganz von vorn
beginnen, sagte sie sich, ihren gesunden Verstand
zusammenraffend, als sie den getrockneten Lehmboden
unter ihren Füßen spürte.
Mein Name ist Ann Kristen, mein Mann heißt Roger.
Wir wurden im Jahre des Herrn 2125 geboren. Und wir
lebten in einer Welt, die dem Bösen geweiht war. In einer
Welt, die sich wie ein großes schwarzes Schiff vom
Gestade der Vernunft und der Zivilisation losgerissen hatte,
das sein schwarzes Nebelhorn in die Nacht hinein
erschallen ließ und drei Milliarden Menschen in den Tod
führte, ob sie wollten oder nicht, zum Sturz über den Rand
der Erde in ein Meer von Wahnsinn und radioaktiver Glut.
Sie betraten das Café. Der Mann starrte sie an.
Ein Telephon läutete.
Das Läuten ließ Susan zusammenzucken. Es erinnerte
sie an das Läuten eines Telephons zweihundert Jahre in der
Zukunft, das sie an jenem blauen Aprilmorgen des Jahres
2155 abgenommen hatte:
»Ann, hier spricht Renée! Hast du's schon gehört? Ich
meine, von der ›Gesellschaft für Reisen in die Zeit‹?
Ausflüge ins Rom des Jahres 21 vor Christi Geburt, auf das
Schlachtfeld von Napoleons Niederlage bei Waterloo – in
jede Zeit und an jeden Ort!«
»Renée, du machst Witze!«
»Nein. Clinton Smith ist heute früh nach Philadelphia im
Jahre 1776 abgereist. ›Reisen in die Zeit GmbH‹ arrangiert
alles. Kostet natürlich einiges. Aber denk nur – mit eigenen
Augen die Einäscherung von Rom sehen, Kublai Khan,
Moses und das Rote Meer! Wahrscheinlich steckt schon
eine Anzeige in deiner Rohrpost.«
Sie hatte den Rohrpostbehälter geöffnet, und darin lag
die Metallfolie mit der Anzeige:

ROM UND DIE BORGIAS!


DIE GEBRÜDER WRIGHT BEI KITTY HAWK!

Reisen in die Zeit GmbH, kleidet Sie zeitgemäß ein und


reiht Sie in die Zuschauermenge bei der Ermordung
Lincolns oder Caesars! Wir garantieren Ihnen die
Beherrschung jeder Sprache, die Sie benötigen, um sich
frei in jeder Zivilisation, in jedem Jahr bewegen zu
können, ohne alle Schwierigkeiten. Latein, Griechisch,
die frühere amerikanische Umgangssprache. Wechseln
Sie in Ihrem Urlaub nicht nur den Ort, sondern auch die
Zeit!

Renées Stimme schnatterte weiter aus dem Telephonhörer:


»Tom und ich wollen morgen ins Jahr 1492 abreisen. Sie
treffen für Tom die nötigen Vorbereitungen, daß er mit
Kolumbus segeln kann. Ist das nicht phantastisch!«
»Ja«, murmelte Ann wie betäubt. »Und was sagt die
Regierung zu diesen Reisen in die Zeit?«
»Oh, die Polizei hat natürlich ein Auge darauf geworfen.
Die Leute könnten sich ja womöglich dem Militärdienst
entziehen und in der Vergangenheit verstecken. Jeder muß
als Sicherheit sein Haus und sein Hab und Gut verpfänden,
um seine Rückkehr zu garantieren. Schließlich haben wir
Krieg.«
»Ja, der Krieg«, murmelte Ann. »Der Krieg.«
Mit dem Hörer in der Hand hatte sie dagestanden und
gedacht: dies ist die Chance, über die mein Mann und ich
seit Jahren geredet, um die wir seit Jahren gebetet haben.
Wir lieben diese Welt von 2155 nicht. Wir möchten
fortlaufen, Roger von seiner Arbeit in der Bombenfabrik,
ich von meinen Bakterienkulturen. Vielleicht gelingt uns
die Flucht – die Flucht in die Jahrhunderte, in einen wilden
Dschungel von Jahren, wo sie uns nie finden und in eine
Zeit zurückbringen können, in der man unsere Bücher
verbrennt, unsere Gedanken zensiert, uns mit Angst vor der
Zukunft erfüllt, uns verhaftet und ständig aus
Lautsprechern auf uns einschreit ...

Sie befanden sich im Mexiko des Jahres 1938.


Susan blickte auf die bunte Wand des Cafés.
Gute Arbeitskräfte ihres Staates in der Zukunft durften
ihren Urlaub in der Vergangenheit verbringen, um sich von
ihren Strapazen zu erholen. Und so waren sie und ihr Mann
in das Jahr 1938 zurückgereist, hatten sich ein Zimmer in
New York genommen, Theatervorstellungen genossen und
den Anblick der Freiheitsstatue, die noch grünschimmernd
im Hafen stand. Und am dritten Tag hatten sie ihre
Kleidung und ihre Namen gewechselt und waren nach
Mexiko geflogen, um sich dort zu verbergen!
»Er muß es sein«, flüsterte Susan, zu dem Fremden
hinüberblickend. »Diese Zigaretten, die Zigarren, die
Flaschen. Sie verraten ihn. Erinnerst du dich an unseren
ersten Abend in der Vergangenheit?«
Vor einem Monat, als sie ihren ersten Tag in New York
verbrachten, vor ihrer Flucht hierher, hatten auch sie all die
fremden Getränke gekostet, merkwürdige Nahrungsmittel
geschmeckt und gekauft, Parfüms, zehn Dutzend
Zigaretten kostbarer Marken, denn auch Zigaretten waren
in der Zukunft knapp, in der Krieg alles bedeutete. So
waren sie wie die Narren von einem Geschäft ins andere
gelaufen, in die Bars und Tabakläden und waren schließlich
mit einer Übelkeit in ihrem Zimmer gelandet.
Und hier saß jetzt dieser Fremde und handelte genauso,
tat etwas, das nur ein Mensch aus der Zukunft tun würde,
der seit Jahren nach Alkohol und Zigaretten geschmachtet
hatte.
Susan und William setzten sich und bestellten Getränke.
Der Fremde prüfte ihre Haare, ihre Kleider, ihren
Schmuck – die Art, wie sie gingen und sich setzten.
»Sitz bequem«, flüsterte William. »Du mußt aussehen,
als hättest du diese Mode dein ganzes Leben lang
getragen.«
»Wir hätten nie zu fliehen versuchen dürfen.«
»Mein Gott!« sagte William. »Er kommt zu uns herüber!
Laß mich für uns beide reden.«
Der Fremde verbeugte sich vor ihnen. Sehr leise zwar,
doch eben noch hörbar, schlugen seine Hacken zusammen.
Susan erstarrte. Dieses militärische Geräusch! –
unmißverständlich wie jenes gewisse gräßliche Klopfen um
Mitternacht an der Wohnungstür.
»Mr. Roger Kristen«, sagte der Fremde, »Sie haben Ihre
Hosenbeine nicht hochgezogen, als Sie sich hinsetzten.«
William durchzuckte es eiskalt. Er blickte unschuldig
auf seine Hände, die auf seinen Knien lagen. Susans Herz
verkrampfte sich.
»Sie sind an den Verkehrten geraten«, sagte William
rasch. »Ich heiße nicht Krisler.«
»Kristen«, korrigierte der Fremde.
»Ich bin William Travis«, sagte William. »Und ich
möchte wissen, was Sie meine Hosenbeine angehen!«
»Verzeihung.« Der Fremde zog sich einen Stuhl an ihren
Tisch. »Wir wollen einmal annehmen, ich dachte, ich
kenne Sie, weil Sie Ihre Hosenbeine nicht hochzogen.
Jedermann tut das. Andernfalls beuteln die Hosen rasch
aus. Ich habe eine weite Reise hinter mir, Mr. – Travis, und
ich sehne mich nach Gesellschaft. Mein Name ist Simms.«
»Es tut uns leid, Mr. Simms, daß Sie sich einsam fühlen,
aber wir sind sehr müde. Wir wollen morgen früh nach
Acapulco weiterfahren.«
»Ein reizender Ort. Ich war gerade dort und habe mich
nach ein paar Freunden umgesehen. Sie müssen hier
irgendwo in der Nähe sein. Ich werde sie schon finden. Oh,
fühlt die Dame sich nicht ganz wohl?«
»Gute Nacht, Mr. Simms.«
Sie gingen zur Tür, und William drückte fest Susans
Arm. Sie sahen sich nicht um, als Mr. Simms hinter ihnen
her rief: »Oh, nur noch eine Kleinigkeit.« Er machte eine
kurze Pause und fügte dann langsam hinzu: »2155.«
Susan schloß die Augen und fühlte den Boden unter
ihren Füßen schwanken. Sie ging weiter, hinaus auf die im
Feuerwerk strahlende Plaza, ohne etwas zu sehen.

Sie schlossen die Tür ihres Hotelzimmers hinter sich ab.


Und dann begann Susan zu weinen, während sie in der
Dunkelheit standen und der Raum sich um sie drehte.
Schwärmer explodierten in der Ferne, und Gelächter wehte
von der Plaza herüber.
»Einen Nerv hat der verdammte Kerl«, sagte William.
»Sitzt da, mustert uns von oben bis unten wie Tiere, raucht
seine verflixten Zigaretten und schlürft seine Drinks. Ich
hätte ihn auf der Stelle umbringen sollen!« Seine Stimme
klang fast hysterisch. »Er besaß sogar die Frechheit, uns
seinen richtigen Namen zu nennen. Der Chef der
Geheimpolizei. Und die Sache mit meinen Hosenbeinen.
Mein Gott, warum habe ich sie nur nicht hochgezogen, als
ich mich hinsetzte! Hier in diesem Zeitalter ist das eine
automatische Geste. Als ich es unterließ, unterschied mich
das von den anderen; er mußte ja denken: dieser Mann hat
nie lange Hosen getragen, er ist an Breeches und
Uniformen gewöhnt und an die Moden der Zukunft. Ich
könnte mich töten, daß ich uns verraten habe!«
»Nein, nein, es war mein Gang – diese ungewohnten
hohen Absätze – die ihn stutzen ließen. Unsere
Haarschnitte – so neu, so frisch. Und alles an uns so fremd
und ungewohnt.«
Er drehte das Licht an. »Noch prüft er uns. Er ist noch
nicht überzeugt, daß wir es sind – noch nicht restlos.
Deshalb dürfen wir nicht vor ihm fortlaufen. Wir dürfen
ihn nicht sicher machen. Wir werden in aller Ruhe nach
Acapulco fahren.«
»Vielleicht ist er aber bereits sicher und spielt nur mit
uns.«
»Ich würde es ihm zutrauen. Er hat alle Zeit der Welt zur
Verfügung. Er kann hier herumtrödeln, wenn er will, und
uns dennoch sechzig Sekunden nach unserer Abreise aus
der Zukunft wieder dorthin zurückbringen. Er kann uns
tagelang im ungewissen lassen und über uns lachen.«
Susan saß auf der Bettkante und wischte sich die Tränen
vom Gesicht, während ihr der altertümlich anmutende Duft
nach Holzkohle und Weihrauch in die Nase stieg.
»Sie werden kein Aufsehen erregen, nicht wahr?«
»Das werden sie nicht wagen. Sie werden uns schon
allein antreffen müssen, um uns mit der Zeitmaschine
zurückzuschicken.«
»Dann gibt es eine Lösung«, sagte sie. »Wir werden nie
allein sein, uns immer unter Menschen bewegen. Wir
werden Märkte besuchen, in jeder Stadt im Gästehaus des
Bürgermeisters schlafen und den Polizeichef bezahlen,
damit er uns beschützt, bis wir eine Möglichkeit gefunden
haben, Simms zu töten und zu entkommen, um uns danach
wieder neu einzukleiden, vielleicht als Mexikaner.«
Schritte ertönten vor ihrer verschlossenen Tür.
Sie drehten das Licht aus und entkleideten sich
schweigend. Die Schritte verklangen. Eine Tür klappte zu.
Susan stand am Fenster und blickte auf die dunkle Plaza
hinab. »Das Gebäude dort ist also eine Kirche?«
»Ja.«
»Ich habe schon oft wissen wollen, wie eine Kirche
aussieht. Es ist so lange her, daß man bei uns welche sehen
konnte. Können wir sie morgen besichtigen gehen?«
»Natürlich. Komm jetzt ins Bett.«
Sie lagen im dunklen Zimmer. Eine halbe Stunde später
läutete ihr Telephon. Sie nahm den Hörer ab.
»Hallo?«
»Die Hasen mögen sich im Wald verbergen«, sagte eine
Stimme, »aber ein Fuchs wird sie immer aufspüren.«
Sie legte den Hörer auf die Gabel zurück und lag gerade
ausgestreckt und kalt in ihrem Bett.
Draußen, im Jahre 1938, spielte ein Mann nacheinander
drei Melodien auf einer Gitarre.

Während der Nacht streckte sie ihre Hand aus und berührte
fast das Jahr 2155. Sie fühlte ihre Finger über die kalte
Ferne der Zeit gleiten, wie über eine geriffelte Oberfläche,
hörte das dumpfe Dröhnen marschierender Stiefel, sah
fünfzigtausend Reihen Reagenzgläser mit
Bakterienkulturen, streckte ihre Hand an ihrem
Arbeitsplatz in der Fabrik der Zukunft danach aus, nach
den Gläsern mit Lepra, Pest, Typhus, Tuberkulose – und
dann erfolgte die große Explosion. Sie sah ihre Hand
verbrennen, zu einer Backpflaume zusammenschrumpfen,
fühlte sich von einer Erschütterung zurückgeworfen, so
gewaltig, daß die Welt aus den Angeln gehoben wurde und
stürzte, und alle Gebäude brachen ein und alle Menschen
spien Blut und starben. Riesige Vulkane, Maschinen,
Winde, Lawinen versanken im Schweigen, und sie
erwachte, schluchzend, in ihrem Bett, in Mexiko, viele
Jahre entfernt ...
Früh am Morgen, betäubt von der einen Stunde Schlaf, die
sie endlich noch hatte finden können, weckte sie der laute
Lärm von Automobilen auf der Straße. Susan blickte von
dem eisernen Balkon hinab und sah, wie acht Leute lebhaft
schwatzend und rufend aus Lieferwagen und
Personenautos mit roten Aufschriften kletterten. Eine
Menge von Mexikanern drängte sich um die Wagen.
»Qué pasa?« rief Susan zu einem kleinen Jungen
hinunter.
Der Junge antwortete.
Susan drehte sich zu ihrem Mann um. »Eine
amerikanische Filmgesellschaft, die hier Außenaufnahmen
drehen will.«
»Klingt interessant.« William stand unter der Dusche.
»Wir wollen ihnen zusehen. Ich glaube, wir reisen heute
lieber noch nicht ab. Wir wollen versuchen, Simms
einzulullen. Zusehen wie sie ihre Filme drehen. Die
primitive Filmproduktion soll ja ein tolles Schauspiel
gewesen sein. Die Ablenkung wird uns gut tun.«

Ablenkung, dachte Susan. Einen Augenblick lang hatte sie


unter der strahlenden Sonne völlig vergessen, daß
irgendwo im Hotel ein Mann, scheinbar unaufhörlich
Zigaretten rauchend, auf sie wartete. Sie sah die acht
lauten, fröhlichen Amerikaner dort unten und hätte ihnen
am liebsten zugerufen: ›Rettet mich, versteckt mich, helft
mir! Färbt mein Haar, meine Augen; steckt mich in fremde
Kleider. Ich brauche eure Hilfe. Ich bin aus dem Jahr
2155!‹
Aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. Die
Funktionäre der ›Reisen in die Zeit, GmbH‹ waren nicht
leichtfertig. Bevor sie jemand auf die Reise schickten,
legten sie ihm eine psychologische Sperre in sein Gehirn.
Man konnte niemandem seine wahre Zeitrechnung oder
seinen Geburtsort verraten, noch den Leuten aus der
Vergangenheit die Zukunft enthüllen. Die Zukunft mußte
vor jeder Änderung geschützt werden, die von ihren in der
Vergangenheit reisenden Menschen verursacht werden
könnte. Selbst wenn sie es von ganzem Herzen wünschte,
konnte sie niemandem dieser glücklichen Leute dort unten
auf der Plaza erzählen, wer sie war oder in welch
schrecklicher Lage sie sich befand.
»Wollen wir jetzt frühstücken gehen?« fragte William.

Das Frühstück wurde in dem sehr weiträumigen Speisesaal


serviert. Es gab Schinken und Spiegeleier für alle. Der Saal
war voller Touristen. Die acht Filmleute traten ein – sechs
Männer und zwei Frauen – und schoben sich lachend und
scherzend Stühle an einem Tisch zurecht. Und Susan setzte
sich in ihre Nähe und spürte die Wärme und den Schutz,
den sie boten, selbst noch als Mr. Simms die Treppe zur
Hotelhalle herunterkam, mit sichtlichem Genuß seine
türkische Zigarette paffend. Er nickte ihnen von weitem zu,
und Susan nickte lächelnd zurück, denn hier, in der
Gegenwart von acht Filmleuten und zwanzig anderen
Touristen, konnte er ihnen nichts anhaben.
»Diese Schauspieler ...«, sagte William. »Vielleicht
könnte ich zwei von ihnen kaufen, ihnen erklären, es sei
ein Scherz, sie in unsere Kleider stecken und mit unserem
Wagen abfahren lassen wenn Simms sich gerade an einer
Stelle befindet, von wo er sie nur von hinten sehen kann.
Wenn die beiden ihn für ein paar Stunden fortlocken
könnten, würden wir es inzwischen bis nach Mexico-City
schaffen. Er brauchte Jahre, um uns dort zu finden.«
»Hallooo!«
Ein dicker, schnapsduftender Mann stützte sich mit
beiden Händen auf ihren Tisch.
»Amerikanische Touristen!« rief er. »Die Mexikaner
stehen mir schon bis zum Hals; ich könnte euch küssen!«
Er schüttelte ihnen die Hände. »Kommen Sie, essen Sie mit
uns. Trübsal braucht Gesellschaft. Ich bin Trübsal, dies ist
Miß Schwermut, und dies sind Mr. und Mrs. Wie-hassen-
wir-Mexiko! Wir alle hassen Mexiko. Aber wir müssen hier
ein paar Probeaufnahmen für einen gräßlichen Film drehen.
Der Rest unserer Leute kommt morgen. Ich heiße Joe
Melton. Bin der Regisseur. Kommt, setzt euch zu uns.
Verschönt unsere Runde und heitert uns auf!«
Susan und William lachten.
»Bin ich etwa spaßig?« Mr. Melton schleuderte der Welt
seine Frage entgegen.
»Wunderbar!« Susan setzte sich zu den anderen hinüber.
Mr. Simms starrte ärgerlich quer durch den Speisesaal zu
ihnen herüber.
Susan schnitt ihm eine Grimasse.
Mr. Simms schlängelte sich zwischen den Tischen zu
ihnen durch.
»Mr. und Mrs. Travis«, rief er, »ich dachte, wir wollten
allein miteinander frühstücken.«
»Tut mir leid«, erwiderte William.
»Setzen Sie sich, Kumpan«, sagte Mr. Melton. »Jeder
Freund von diesen beiden ist auch mein Freund.«
Mr. Simms setzte sich. Die Filmleute unterhielten sich
laut, und während sie redeten, fragte Mr. Simms harmlos:
»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«
»Sie etwa nicht?«
»Ich bin Sprungfedermatratzen nicht gewöhnt«,
erwiderte Mr. Simms bekümmert. »Aber dafür gibt es
Entschädigungen. Ich habe die halbe Nacht gewacht und
unbekannte Zigaretten und Speisen probiert. Sonderbar,
faszinierend. Eine ganz neue Gefühlsskala, die diese
altertümlichen Laster einem eröffnen.«
»Wir verstehen nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Susan.
»Immer dieses Theaterspiel.« Simms lachte. »Das nützt
Ihnen nichts. Genauso wenig wie dieser Kniff, sich unter
die Menge zu mischen. Ich werde Sie früh genug allein
erwischen. Meine Geduld ist nahezu unerschöpflich.«
»Sagen Sie«, mischte Mr. Melton sich mit gerötetem
Gesicht ein, »will dieser Bursche Ihnen vielleicht
Schwierigkeiten machen?«
»Keine Sorge, ist alles in Ordnung.«
»Ein Wort von Ihnen, und er fliegt.«
Melton wandte sich wieder ab, um sich lautstark mit
seinen Leuten zu unterhalten. In dem allgemeinen
Gelächter fuhr Mr. Simms fort: »Wir wollen zur Sache
kommen. Ich habe Ihnen einen ganzen Monat durch Städte
und Ortschaften nachspüren müssen, bis ich Sie fand, und
den ganzen gestrigen Tag habe ich gebraucht, um mich von
Ihrer Identität zu überzeugen. Wenn Sie freiwillig
mitkommen und weiter an der Super-Wasserstoffbombe
arbeiten wollen, kann ich vielleicht erreichen, daß Sie ohne
Strafe wegkommen.«
»Von Physik redet dieser Bursche beim Frühstück!«
bemerkte Mr. Melton, der mit halbem Ohr zugehört hatte.
Simms sprach gelassen weiter: Ȇberlegen Sie's sich.
Sie können nicht entkommen. Wenn Sie mich töten,
werden andere Sie verfolgen.«
»Wir wissen immer noch nicht, wovon Sie reden.«
»Lassen Sie das!« fuhr Simms gereizt auf. »Benutzen
Sie Ihren Verstand! Sie wissen, daß wir Sie nicht einfach so
entkommen lassen können. Andere Leute aus dem Jahr
2155 könnten auf dieselbe Idee kommen und tun, was Sie
getan haben. Wir brauchen aber Menschen.«
»Um Ihre Kriege zu führen«, meinte William
schließlich.
»Bill!«
»Schon gut, Susan. Wir wollen in seiner Sprache mit
ihm reden. Wir können nicht entkommen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Simms. »Wirklich, Sie sind
beide unglaublich romantisch gewesen, daß Sie geglaubt
haben, vor Ihren Pflichten weglaufen zu können.«
»Vor dem Grauen sind wir weggelaufen.«
»Unsinn. Nur ein Krieg.«
»Worüber redet ihr Burschen eigentlich?« fragte Mr.
Melton.
Susan hätte es ihm so gern erzählt. Aber man konnte nur
in Verallgemeinerungen sprechen. So viel erlaubte die
psychologische Sperre in ihrem Gehirn. Allgemeine
Redensarten, wie Simms und William sie jetzt benutzten,
gestattete sie.
»Nur über den Krieg im allgemeinen«, antwortete
William. »Die halbe Welt von Pestbomben getötet!«
»Nichtsdestoweniger«, bedeutete Simms, »nehmen es
Ihnen die Menschen der Zukunft sehr übel, daß Sie sich auf
einer tropischen Insel verstecken, während sie in den
Abgrund der Hölle stürzen. Der Tod liebt den Tod, nicht
das Leben. Ein Sterbender findet Trost in dem Gedanken,
daß andere mit ihm sterben. Es ist beruhigend zu wissen,
daß man nicht allein verheizt und ins Grab geworfen wird.
Ich bin der Wächter ihres Kollektivunwillens gegen Sie
beide.«
»Seht hier den Wächter des Unwillens!« rief Mr. Melton
seinen Gefährten zu.
»Je länger Sie mich warten lassen, um so schlimmer
wird es für Sie werden. Wir brauchen Sie für das
Bombenprojekt, Mr. Travis. Wenn Sie jetzt mitkommen –
werden Sie nichts zu erdulden haben. Später, wenn wir Sie
mit Gewalt holen müßten, werden wir Sie zur Arbeit
zwingen, und wenn Sie die Aufgabe gelöst haben, werden
wir eine Anzahl komplizierter neuer Erfindungen an Ihnen
ausprobieren, mein Lieber.«
»Ich möchte einen Vorschlag machen«, sagte William.
»Ich komme mit Ihnen zurück, wenn meine Frau hier leben
darf, sicher und fern diesem Krieg.«
Mr. Simms dachte nach. »Angenommen. Wir treffen uns
in zehn Minuten auf der Plaza. Sie holen mich mit Ihrem
Wagen ab. Wir fahren zu einem einsamen Platz auf dem
Lande. Ich werde veranlassen, daß die Zeitmaschine uns
dort aufnimmt.«
»Bill!« Susan umklammerte seinen Arm.
»Laß nur.« Er sah sie an. »Es ist abgemacht.« Und zu
Simms: »Noch etwas. Letzte Nacht hätten Sie in unser
Zimmer eindringen und uns entführen können. Warum
haben Sie es nicht getan?«
»Wollen wir einmal annehmen, daß ich mich amüsiert
habe«, erwiderte Mr. Simms träge, eine neue Zigarre
anfeuchtend. »Ich gebe nur äußerst ungern diese
wunderbare Atmosphäre auf, diese Sonne, diesen Urlaub.
Nur mit Bedauern lasse ich den Wein und die Zigaretten
zurück. Oh, wie ich es bedaure. In zehn Minuten also, auf
der Plaza. Ihre Frau wird beschützt werden und darf hier
bleiben, so lange sie will. Verabschieden Sie sich jetzt.«
Mr. Simms erhob sich und ging hinaus.
»Da geht unser Mr. Großmaul!« rief Melton hinter dem
abziehenden Gentleman her. Er drehte sich um und blickte
Susan an. »He! Da weint ja jemand! Frühstück ist nicht die
richtige Zeit zum Weinen.«

Um 9.15 Uhr stand Susan auf dem Balkon ihres Zimmers


und sah auf die Plaza herab. Mr. Simms saß dort mit
gekreuzten Beinen auf einer zierlichen Bank. Er biß die
Spitze von einer Zigarre ab und zündete sie zärtlich an.
Susan hörte das Brummen eines Motors, und weit
hinten, am Ende der Straße, bog William mit seinem
Wagen aus einer Garage und kam langsam über das leicht
abschüssige Pflaster herabgefahren.
Der Wagen wurde schneller. Vierzig, sechzig, achtzig
Stundenkilometer. Hühner flatterten vor ihm auf.
Mr. Simms nahm seinen weißen Panamahut und betupfte
seine rosige Stirn, setzte den Hut wieder auf – und
erblickte den Wagen.
Das Auto brauste jetzt mit rund hundert
Stundenkilometern auf die Plaza zu.
»William!« schrie Susan.
Der Wagen knallte donnernd gegen die niedrige
Einfassung der Plaza, machte einen kleinen Satz, sauste
über den Ziegelboden auf die grüne Bank zu, wo Mr.
Simms jetzt seine Zigarre fallen ließ, aufschrie, die Hände
in die Luft warf und von dem Auto erfaßt wurde. Sein
Körper segelte hoch empor, kreiselte wild in der Luft und
schlug dumpf auf den Boden.
Am anderen Ende der Plaza kam der Wagen mit einem
zerbrochenen Vorderrad zum Stillstand. Leute rannten.
Susan ging in ihr Zimmer und schloß die Balkontür.

Arm in Arm kamen sie mit bleichen Gesichtern um zwölf


Uhr mittags die Treppe des Bürgermeisteramtes herunter.
»Adiós, Señor«, sagte der Bürgermeister hinter ihnen.
»Señora.«
Sie standen auf der Plaza, wo die Menge sich
versammelt hatte und die Leute auf das Blut zeigten.
»Wirst du noch einmal hingehen müssen?« fragte Susan.
»Nein, wir haben es wieder und wieder
durchgesprochen. Es war ein Unfall. Ich habe die Kontrolle
über den Wagen verloren. Ich habe sogar vor ihnen
geweint. Gott weiß, wie sehr ich meine Erleichterung
abreagieren mußte. Mir war wirklich zum Weinen zumute.
Es war furchtbar, ihn töten zu müssen.«
»Du wirst nicht vor Gericht müssen?«
»Sie sprachen darüber, ließen es aber fallen. Ich sprach
rascher. Sie glauben mir. Es war ein Unfall. Es ist alles
vorbei.«
»Wohin werden wir fahren? Mexico-City? Uruapan?«
»Der Wagen ist in der Werkstatt. Heute nachmittag um
vier Uhr soll er fertig sein. Dann machen wir uns so rasch
wie möglich aus dem Staube.«
»Werden wir verfolgt werden? Arbeitete Simms allein?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, wir werden einen
kleinen Vorsprung haben.«
Als sie sich dem Hotel näherten, kamen die Filmleute
heraus. Mr. Melton eilte ihnen entgegen, ein betrübtes
Gesicht ziehend. »Ha, ich habe gehört, was geschehen ist.
Wie schrecklich. Wollen Sie sich ein wenig ablenken? Wir
machen am Ende der Straße ein paar Probeaufnahmen.
Wenn Sie zusehen wollen, sind Sie willkommen.«
Sie gingen.
Sie standen auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße,
während die Filmkamera aufgestellt wurde. Susan blickte
die Straße hinunter, die in die Ferne führte, auf die
Landstraße nach Acapulco und an das Meer, und sie
dachte: wir werden immer unterwegs sein, nie allein,
immer in der Menge reisen, uns auf Märkten und in
Hotelhallen drängen, Polizisten bestechen, daß sie unseren
Schlaf bewachen, die Türen doppelt verschließen, aber nie
wieder allein, immer in der Menge reisen, immer in Angst
der nächste, der an uns vorbeigeht, könnte ein anderer
Simms sein. Wir werden nie wissen, ob wir die Spürhunde
überlistet und abgeschüttelt haben.
Eine Menschenmenge sammelte sich, um den
Aufnahmen zuzusehen. Und Susan beobachtete die
Menschen und die Straßen.
»Jemand Verdächtigen gesehen?«
»Nein. Wie spät ist es?«
»Drei Uhr. Der Wagen müßte beinahe fertig sein.«
Die Probeaufnahmen waren um Viertel vor vier beendet.
In reger Unterhaltung gingen sie alle zum Hotel zurück.
William blieb bei der Garage stehen und ging hinein. »Der
Wagen wird erst um sechs Uhr fertig sein«, sagte er, als er
mit besorgtem Gesicht herauskam.
»Bestimmt nicht später?«
»Er wird fertig sein, mach dir keine Sorgen.«
In der Hotelhalle sahen sie sich nach anderen allein
reisenden Männern um, nach Männern, die an Simms
erinnerten, Männern mit frischem Haarschnitt und zu viel
Zigarettenrauch und Duft nach Eau de Cologne um sich;
aber die Halle war leer.
Als sie die Treppe hinaufstiegen, sagte Mr. Melton: »Das
war ein langer, anstrengender Tag. Hätte jemand Lust, ihn
ein wenig zu begießen?«
»Ein Gläschen vielleicht.«
Sie drängten sich alle in Mr. Meltons Zimmer, und das
Gelage begann.
»Achte auf die Zeit«, sagte William.
Mr. Melton öffnete den Champagner.
»Auf eine wunderschöne Dame, wie geschaffen für den
Film«, sagte er, Susan zutrinkend. »Wenn Sie wollen,
würde ich sogar Probeaufnahmen von Ihnen machen.«
Sie lachte.
»Ich meine es ernst«, behauptete Melton. »Sie gefallen
mir sehr. Ich könnte einen Filmstar aus Ihnen machen.«
»Und mich nach Hollywood bringen?« rief Susan
aufgeregt.
»Wie der Blitz verschwinden wir hier aus Mexiko,
darauf können Sie sich verlassen!«
Susan sah William an, der eine Augenbraue hob und
zustimmend nickte. Sie würden ihre Umgebung, die
Kleider, den Aufenthaltsort und vielleicht sogar den Namen
wechseln; und sie würden zusammen mit acht anderen
Leuten reisen, ein guter Schutz gegen jede Einmischung
der Zukunft.
»Das klingt wunderbar«, sagte Susan.
Sie spürte bereits die Wirkung des Champagners. Der
Nachmittag rauschte vorbei, die Gesellschaft wirbelte um
sie herum. Sie fühlte sich gut und geborgen und zum ersten
Mal in ihrem Leben wirklich glücklich.
»Für welch einen Filmstoff wäre meine Frau denn
geeignet?« fragte William, sein Glas nachfüllend.
Melton trank Susan zu. Die Gesellschaft hörte auf zu
lachen und lauschte.
»Hm, am liebsten würde ich eine spannende Geschichte
mit ihr drehen«, meinte Melton. »Die Geschichte eines
Ehepaares, wie Sie es sind.«
»Weiter.«
»Einen Film vielleicht, der vom Krieg handelt«, sagte
der Regisseur, sein Glas prüfend gegen die Sonne haltend.
Susan und William warteten.
»Die Geschichte eines Mannes und einer Frau zum
Beispiel die im Jahre 2155 in einem kleinen Haus in einer
kleinen Straße leben«, sagte Melton. »Das ist natürlich erst
einmal aus dem Stegreif, Sie verstehen schon. Und dieser
Mann und seine Frau werden von einem schrecklichen
Krieg bedroht, von Super-Wasserstoffbomben, Zensur, Tod
im selben Jahr; aber – und hier liegt die Pointe – sie
entfliehen in die Vergangenheit, verfolgt von einem Mann,
den sie für grundschlecht halten, der ihnen aber nur ihre
Pflichten klarmachen will.«
William fiel das Glas aus der Hand.
Mr. Melton fuhr fort: »Und dieses Ehepaar begibt sich in
den Schutz einer Gruppe von Filmleuten, denen sie
vertrauen zu können glauben. Sicherheit in der Menge,
nennen sie das.«
Susan spürte, wie sie in einen Stuhl fiel. Alle Augen
waren auf den Regisseur gerichtet. Er nahm einen kleinen
Schluck Wein. »Ah, dieser Wein ist gut. Also, dieser Mann
und diese Frau scheinen nicht zu begreifen, wie wichtig sie
für die Zukunft sind. Besonders der Mann, der den
Schlüssel zu einer neuen Metallegierung für die Bombe
besitzt. Daher sparen die Spürhunde wie wir sie einmal
nennen wollen, weder Mühe noch Ausgaben, um den Mann
und die Frau zu finden, sie zu fangen und nach Hause zu
transportieren, nachdem sie die beiden ganz allein in ein
Hotelzimmer gelockt haben, wo niemand zusehen kann.
Kriegslist. Die Spürhunde arbeiten entweder allein oder in
Gruppen zu acht. Mit dem einen oder dem anderen Trick
schaffen sie's immer. Würde das nicht einen wunderbaren
Film abgeben, Susan? Meinen Sie nicht auch, Bill?« Er
leerte sein Glas.
»Noch einen Schluck?« fragte Mr. Melton.
William riß seine Pistole heraus und feuerte dreimal. Ein
Mann stürzte, die anderen sprangen vorwärts. Susan schrie.
Eine Hand verschloß ihr den Mund. Die Pistole fiel auf den
Fußboden, und William, der wild um sich schlug, wurde
festgehalten.
»Bitte«, sagte Mr. Melton, der immer noch am selben
Fleck stand, Blut an den Händen, »wir wollen die Sache
nicht noch schlimmer machen.«
Jemand hämmerte gegen die Tür zum Hotelflur.
»Öffnen Sie!«
»Der Hoteldirektor«, sagte Mr. Melton trocken. Er warf
den Kopf herum. »Beeilung, wir müssen fort!«
»Lassen Sie mich hinein! Ich rufe die Polizei!«
Susan und William sahen sich rasch an und blickten
dann zur Tür hinüber.
»Der Hoteldirektor will herein«, sagte Mr. Melton.
»Schnell!«
Eine Kamera wurde aufgestellt. Ein blauer Lichtstrahl
schoß heraus, weitete sich aus und erfüllte in
Sekundenschnelle den ganzen Raum. Einer nach dem
andern verschwanden die Teilnehmer der kleinen
Gesellschaft.
»Schneller!«
In dem winzigen Augenblick, bevor sie verschwand, sah
Susan draußen vor dem Fenster das grüne Land, die
purpurnen und blauen und gelben und karminroten Wände,
die Kopfsteine, einen Mann, der auf einem Esel in die
warmen Hügel hinausritt, einen Orangensaft trinkenden
Jungen, einen Mann, der mit einer Gitarre im kühlen
Schatten eines Baumes auf der Plaza stand, und weit weg
meinte sie das Meer zu sehen, spürte die Wogen über sich
rollen und sie mit sich nehmen ...
Und dann war sie verschwunden. Ihr Mann war
verschwunden.

Die Tür schlug weit auf. Der Hoteldirektor und sein


Personal stürmten herein.
Das Zimmer war leer.
»Aber eben sind sie noch dagewesen! Ich hab' sie
hineingehen sehen, und jetzt – verschwunden!« schrie der
Hoteldirektor. »Vor den Fenstern sind Eisengitter. Dort
können sie nicht hinausgelangt sein!«
Am späten Nachmittag wurde der Dorfgeistliche
gerufen; man öffnete das Zimmer zum zweitenmal, und er
räucherte es aus besprengte es mit Weihwasser und sprach
seinen Segen.
»Was sollen wir damit machen?« fragte die Scheuerfrau.
Sie zeigte in den Wandschrank, in dem sich 67 Flaschen
mit Chartreuse, Cognac, Crème de Cacao, Absinth,
Vermouth und Tequila befanden, 106 Schachteln türkische
Zigaretten und 198 gelbe Kistchen feinster
Havannazigarren zu fünfzig Cent das Stück ...

Der Besucher

Saul Williams erwachte an einem stillen Morgen.


Mißmutig blickte er aus seinem Zelt und dachte daran, wie
weit doch die Erde entfernt war. Viele Millionen Meilen,
dachte er. Aber was nützte es, man konnte es doch nicht
ändern. Die Lungen waren voll brandigem Blut. Man
mußte dauernd husten.
Saul stand an diesem Morgen um sieben Uhr auf. Er war
ein großer Mann, schlank und von seiner Krankheit
ausgemergelt. Es war ein stiller Morgen auf dem Mars, der
Boden des Toten Meeres lag flach und reglos – kein
Lüftchen bewegte sich. Die Sonne stand klar und kühlend
am leeren Himmel. Er wusch sich das Gesicht und
frühstückte.
Danach sehnte er sich sehr auf die Erde zurück.
Während des ganzen Tages versuchte er auf jede nur
mögliche Weise, sich in Gedanken nach New York zu
versetzen.
Später am Vormittag versuchte Saul zu sterben. Er legte
sich in den Sand und befahl seinem Herzen, aufzuhören zu
schlagen. Es schlug weiter.
Vielleicht, wenn ich mich darauf konzentriere und
intensiv genug daran denke, kann ich einfach einschlafen
und nie wieder aufwachen, dachte er. Er versuchte es. Eine
Stunde später erwachte er mit dem Mund voll Blut. Er
stand auf und spuckte es aus und tat sich selbst sehr leid.
Dieser ›Blut-Brand‹ – er füllte einem Mund und Nase; er
sickerte einem aus den Ohren und unter den Fingernägeln
hervor und brauchte ein Jahr, um einen zu töten. Für die
Erkrankten gab es nur eine Maßnahme: sie wurden in eine
Rakete geschoben und in die Verbannung auf den Mars
geschossen. Man kannte auf der Erde kein Heilmittel
dagegen, und wenn man dort blieb, würde man nur andere
anstecken und töten. Deshalb war er also hier, blutete
unaufhörlich und fühlte sich einsam.
Sauls Augen verengten sich. In der Ferne, bei den
Ruinen einer alten Stadt, sah er einen anderen Mann, der
auf einer schmutzigen Decke lag.
Als Saul zu ihm trat, regte sich der Mann auf der Decke
schwach.
»Hallo, Saul«, sagte er.
»Wieder ein Tag«, sagte Saul. »Herrgott, wie einsam mir
ist!«
»Das ist der Fluch unserer Krankheit«, stellte der Mann
auf der Decke fest. Er bewegte sich dabei nicht und sah
sehr bleich aus, so, als würde er sich in Nichts auflösen,
wenn man ihn berührte.
»Ich flehe zu Gott«, sagte Saul, auf den Mann
herabsehend, »daß du wenigstens reden könntest. Warum
bekommen bloß die Intellektuellen nie den Blut-Brand und
werden zu uns heraufbefördert?«
Der Mann schloß die Augen, zu matt, um sie offen zu
halten. »Einst hatte ich die Kraft, ein Intellektueller zu sein.
Jetzt bedeutet schon das Denken eine Anstrengung.«
»Wenn wir uns nur unterhalten könnten«, sagte Saul
Williams.
Der andere zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
»Komm morgen wieder. Vielleicht habe ich dann genug
Kraft, um über Aristoteles zu reden. Ich will's versuchen.
Wirklich, ich will's.« Der Mann unter dem verkümmerten
Baum schien noch mehr in sich zusammenzusinken. Er
öffnete ein Auge. »Du erinnerst dich doch, wie wir einmal
über Aristoteles sprachen, vor sechs Monaten, als ich einen
guten Tag hatte.«
»Ich erinnere mich«, antwortete Saul, ohne zuzuhören.
Er blickte über das Tote Meer. »Ich wünschte, ich wäre so
krank wie du – vielleicht würde es mir dann nichts mehr
ausmachen, ein gebildeter Mensch zu sein. Vielleicht
würde ich dann ein wenig Frieden finden.«
»In etwa sechs Monaten wird es dir genauso schlecht
gehen wie mir«, erwiderte der sterbende Mann. »Dann
wirst du dich nach nichts anderem sehnen als nach Schlaf
und noch mehr Schlaf.«
Die Stimme des Mannes war zu einem kaum hörbaren
Flüstern abgesunken. Jetzt verstummte sie, und nur noch
ein flaches Atmen war zu erkennen.
Saul ging fort.
Am Strand des Toten Meeres lagen, wie leere Flaschen,
von einer lang verdunsteten Woge an Land geworfen, die
zusammengekrümmten Körper schlafender Männer. Saul
konnte sie alle sehen, verstreut am geschwungenen Strand
der ausgetrockneten See. Eins, zwei, drei – jeder schlief
allein für sich, die meisten schlimmer dran als er, jeder bei
seinem versteckten kleinen Proviantlager, jeder zu einem
Einsiedler geworden, denn die Geselligkeit hatte
nachgelassen, und der Schlaf tat gut.
In der ersten Zeit hatten sie sich ein paar Nächte lang um
gemeinsame Lagerfeuer versammelt. Und alle hatten sie
über die Erde gesprochen. Es war ihr einziges
Gesprächsthema.
Ich sehne mich nach der Erde, dachte Saul. Ich sehne
mich so sehr, daß es schmerzt. Ich sehne mich nach etwas,
das ich nie wieder haben kann. Und alle sehnen sie sich
danach, und der unerfüllbare Wunsch tut ihnen weh. Mehr
als Essen oder eine Frau oder irgend etwas in der Welt
wünsche ich mir die Erde.
Glänzendes Metall blitzte am Himmel auf.
Saul blickte empor.
Wieder blitzte das glänzende Metall.
Eine Minute später war das Raumschiff auf dem
Meeresboden gelandet. Die Luftschleuse öffnete sich, und
ein Mann kletterte mit seinem Gepäck heraus. Zwei andere
Männer in Bazillenschutzanzügen begleiteten ihn, brachten
große Kisten mit Nahrungsmitteln heraus und stellten ein
Zelt für ihn auf.
Ein paar Minuten später schoß das Raumschiff zurück in
den Himmel. Der Verbannte stand allein.
Saul begann zu rennen. Es strengte ihn sehr an, denn er
war seit Wochen nicht gelaufen – aber er rannte weiter und
rief: »Hallo! Hallo!«
Als Saul angekommen war, musterte der junge Mann ihn
von oben bis unten.
»Hallo. Dies ist also der Mars. Ich heiße Leonard
Mark.«
»Ich bin Saul Williams.«
Sie schüttelten sich die Hände. Leonard Mark war sehr
jung, erst achtzehn Jahre, er hatte blonde Haare, blaue
Augen, und sein rosiges Gesicht sah trotz seiner Krankheit
ungemein frisch aus.
»Wie sieht's in New York aus?« fragte Saul.
»So«, sagte Leonard Mark. Und dabei blickte er Saul an.
New York wuchs aus der Wüste empor, ein steinernes
Häusermeer, durch das Märzwinde strichen. Neonlichter
verströmten gleißende Farben. Gelbe Taxis glitten durch
eine stille Nacht. Brücken wuchsen auf, und Schlepper
tuteten im mitternächtlichen Hafen.
Saul preßte heftig seinen Kopf zwischen die Hände.
»Aufhören! Aufhören!« schrie er. »Was geschieht mit
mir? Was ist mit mir los? Werde ich wahnsinnig?«
Blätter sproßten aus den Bäumen im Central Park, grün
und frisch. Saul schlenderte auf dem Spazierweg einher
und schnupperte die Luft.
»Mach Schluß, mach doch Schluß, du Narr!« schrie Saul
sich selbst an. Er preßte die Hände gegen die Stirn. »Das
gibt es doch nicht!«
»Doch«, sagte Leonard Mark.
Die Türme von New York verschwammen. Der Mars
kehrte zurück. Saul stand auf dem ausgetrockneten
Meeresboden und starrte kraftlos den jungen
Neuankömmling an.
»Du«, sagte er, die Hand nach Leonard Mark
ausstreckend. »Du hast das getan Du hast es mit deinem
Verstand gemacht.«
»Ja«, erwiderte Leonard Mark.
Schweigend standen sie da und sahen sich an.
Schließlich ergriff Saul zitternd die Hand des anderen
Ausgestoßenen, drückte und schüttelte sie wieder und
wieder und sagte: »Oh, ich bin so glücklich, daß du
gekommen bist. Du kannst nicht ermessen, wie glücklich
ich bin!«
Sie tranken starken, aromatischen braunen Kaffee aus
ihren Blechbechern.
Es war Mittagszeit. Den ganzen, warmen Vormittag über
hatten sie sich unterhalten.
»Und woher hast du diese Fähigkeit?« fragte Saul, über
seinen Becher hinweg Leonard Mark unverwandt in die
Augen blickend.
»Ich bin einfach damit geboren worden«, antwortete
Mark, in seinen Kaffee sehend. »Meine Mutter hat die
atomare Vernichtung von London überlebt. Zehn Monate
später wurde ich geboren. Ich weiß nicht recht, wie man
meine Fähigkeit nennen soll. Telepathie und
Gedankenübertragung, nehme ich an. Jedenfalls war das
meine Nummer, mit der ich um die ganze Erde gereist bin.
Leonard Mark, der Mann mit dem Wundergehirn, stand auf
den Plakaten. Hab' eine Menge damit verdient. Die meisten
Leute hielten mich für einen Scharlatan. Ich allein wußte,
daß mein Können echt war, ließ es aber niemand wissen.
Es war sicherer, wenn es nicht zu sehr bekannt wurde. Nun
ja, ein paar meiner besten Freunde kannten meine wahren
Fähigkeiten. Immerhin besitze ich eine Menge Talente, die
mir hier auf dem Mars gut zustatten kommen werden.«
»Du hast mich jedenfalls höllisch erschreckt«, sagte
Saul, seinen Becher starr vor sich hinhaltend. »Als New
York so aus dem Boden hervorschoß, zweifelte ich an
meinem Verstand.«
»Es ist eine Art Hypnose, die alle Sinnesorgane
gleichzeitig ergreift. Was würdest du denn jetzt am liebsten
tun wollen?«
Saul stellte seinen Becher hin. Er bemühte sich, seine
Hände ganz ruhig zu halten. Er fuhr sich mit der Zunge
über die Lippen. »Am liebsten würde ich, wie so oft in
meiner Kindheit in Mellin Town, Illinois in einem
Flüßchen schwimmen. Am liebsten würde ich splitternackt
durch das Wasser gleiten.«
»Gut«, sagte Leonard Mark und bewegte kaum merklich
seinen Kopf.
Saul fiel mit geschlossenen Augen rücklings in den
Sand.
Leonard Mark blieb sitzen und beobachtete ihn.
Saul lag ausgestreckt auf dem Sand. Von Zeit zu Zeit
bewegten sich seine Hände, zuckten aufgeregt hin und her.
Sein Mund öffnete sich wie in Trance, er entspannte sich,
und Laute drangen aus seiner Kehle.
Sauls Arme begannen sich langsam und gleichmäßig zu
bewegen, vor, seitlich und zurück – vor, seitlich und
zurück; er hatte den Kopf auf die Seite gelegt, atmete durch
die Nase ein und durch den geöffneten Mund wieder aus,
seine Arme strichen langsam durch die warme Luft, über
den gelben Sand, sein Körper wälzte sich langsam herum.
Leonard Mark trank gelassen seinen Kaffee aus.
Während er trank, ließ er kein Auge von dem sich
bewegenden, flüsternde Laute ausstoßenden Saul auf dem
Boden des Toten Meeres.
»Fertig«, sagte Leonard Mark.
Saul richtete sich auf und rieb sein Gesicht.
Nach einer kleinen Weile begann er Leonard Mark zu
erzählen: »Ich sah das Flüßchen. Ich rannte am Ufer
entlang und streifte meine Kleider ab«, sagte er atemlos
und mit noch ungläubigem Lächeln. »Und dann sprang ich
hinein und schwamm umher!«
»Das freut mich«, meinte Leonard Mark.
»Hier!« Saul griff in seine Tasche und zog seine letzte
Rippe Schokolade hervor. »Das ist für dich.«
»Was soll das?« Leonard Mark blickte auf die Gabe.
»Schokolade? Unsinn, ich mache das nicht für Bezahlung.
Ich tue es, weil es dich glücklich macht. Steck das in deine
Tasche zurück, bevor ich es in eine Klapperschlange
verwandle und sie dich beißt.«
»Ich danke dir, ich danke dir!« Saul steckte die
Schokolade weg. »Du glaubst nicht, wie herrlich das
Wasser war.« Er griff nach der Kaffeekanne. »Noch einen
Schluck?«
Während er den Kaffee eingoß, schloß Saul einen
Moment lang die Augen.
Hier habe ich Sokrates, dachte er; Sokrates und Plato
und Nietzsche und Schopenhauer. Nach seinem Wissen zu
beurteilen, ist dieser Mann ein Genie. Wenn man seine
Gabe dazurechnet, ist er einfach unglaublich! Und wenn
ich dann an die langen schönen Tage und kühlen Nächte
denke, in denen wir uns unterhalten werden ... das Jahr
wird bei weitem nicht so schlimm werden. Nicht halb so
schlimm.
Wir werden in Griechenland sein, dachte er. In Athen.
Und wenn wir die römischen Schriftsteller diskutieren,
können wir ganz nach Wunsch, uns in Rom aufhalten. Wir
werden im Parthenon und auf der Akropolis stehen. Wir
werden nicht nur darüber sprechen, sondern wir werden am
Schauplatz unserer Gespräche sein. Das alles kann dieser
Mann bewirken. Er besitzt die Macht dazu.
Und wenn ich ihn ruhig und ernsthaft darum bitte, wird
dieser Mann dann vielleicht auch das Wesen von
Schopenhauer und Darwin und Bergson und all den
anderen Geistesgrößen früherer Jahrhunderte annehmen
können ...? Ja, warum eigentlich nicht? Mit Nietzsche
höchstpersönlich, mit Plato selbst sich zu unterhalten ...!
Nur eine Kleinigkeit paßte nicht in seine Überlegungen.
Er fühlte den Boden unter seinen Füßen rutschen.
Die anderen Männer. Die anderen Kranken am Strande
dieses Toten Meeres.
In der Ferne bewegten sich Gestalten, kamen auf sie zu.
Sie hatten das Raumschiff aufblitzen, landen, einen
Passagier absetzen sehen. Mit quälender Langsamkeit
näherten sie sich jetzt, um den Neuankömmling zu
begrüßen.
Saul fröstelte. »Hör mal, Mark«, sagte er, »ich glaube,
wir ziehen uns lieber in die Berge zurück.«
»Warum?«
»Siehst du die Männer dort kommen? Einige sind
verrückt.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Ist das eine der Folgen der Isolierung und Einsamkeit
hier?«
»Ja, genau. Wir wollen uns lieber auf den Weg machen.«
»Sie sehen nicht besonders gefährlich aus. Sie bewegen
sich langsam.«
»Du würdest staunen.«
Mark sah Saul an. »Du zitterst ja. Warum?«
»Wir haben keine Zeit zur Unterhaltung«, erwiderte
Saul, rasch aufstehend. »Komm mit. Begreifst du denn
nicht was geschehen wird, wenn sie deine Fähigkeiten
entdeckt haben? Sie werden um dich kämpfen. Sie werden
einander – und dich – umbringen, nur um dich allein zu
besitzen.«
»Oh, ich gehöre aber niemanden«, sagte Leonard Mark.
Er blickte Saul an. »Nein. Nicht einmal dir.«
Saul warf den Kopf zur Seite. »Daran habe ich
überhaupt nicht gedacht.«
»Jetzt auch nicht?« Mark lachte.
»Wir haben keine Zeit zum Streiten«, antwortete Saul
mit blitzenden Augen und geröteten Wangen. »Komm
jetzt!«
»Ich will aber nicht. Ich bleibe hier auf diesem Fleck
sitzen, bis jene Männer da sind. Du bist mir ein wenig zu
herrschsüchtig. Mein Leben gehört mir allein.«
Saul merkte, wie eine gefährliche Erbitterung ihn
übermannte. Sein Gesicht begann sich zu verzerren. »Du
hast gehört, was ich gesagt habe.«
»Wie schnell du dich doch aus einem Freund in einen
Feind verwandelt hast«, bemerkte Mark.
Saul schlug nach ihm. Es war ein rascher, sauber
gezielter Hieb.
Mark duckte sich rasch zur Seite. »Nein«, sagte er
lachend, »das wirst du nicht tun!«
Sie standen mitten auf dem Times Square. Autos
brausten hupend auf sie zu, Gebäude schossen blitzartig in
den blauen Himmel.
»Das ist Betrug!« schrie Saul, taumelnd unter dem
Druck des geistigen Bildes. »Um Gottes willen, Mark, hör
auf! Die Männer kommen. Sie werden dich töten!«
Mark saß auf dem Bordstein und lachte über seinen
Scherz. »Laß sie nur kommen. Ich stecke sie alle in den
Sack!«
New York lenkte Saul ab. Es sollte ihn ablenken – ihn
fesseln mit seiner sündhaften Schönheit, nachdem er so
viele Monate fern davon gelebt hatte. Anstatt Mark
anzugreifen, konnte er nur dastehen und die fremdartige
und doch vertraute Szene in sich hineintrinken.
Er schloß die Augen. »Nein!« Er stürzte vornüber und
riß Mark mit sich. Hupen gellten in seinen Ohren. Bremsen
kreischten und packten. Mit einem heftigen Schlag traf er
Marks Kinn.
Stille.
Mark lag auf dem trockenen Meeresgrund.
Saul lud sich den bewußtlosen Mann auf die Arme und
begann unbeholfen zu laufen.
New York war verschwunden. Nur die weite Stille des
Toten Meeres umfing sie. Die Männer näherten sich von
allen Seiten. Mit seiner kostbaren Last hetzte er den Bergen
entgegen, mit New York, dem grünen Land, den
frühlingsbunten Wiesen und den alten Freunden in seinen
Armen.

Nacht erfüllte die Höhle. Der Wind strich hindurch, zauste


das kleine Feuer und zerstreute die Asche.
Mark öffnete die Augen. Er war mit Stricken gebunden
und gegen die trockene Wand gelehnt, mit dem Gesicht
zum Feuer.
Saul legte ein neues Stück Holz auf das Feuer; dann und
wann warf er mit katzenartiger Nervosität einen Blick zum
Höhleneingang.
»Du bist ein Narr.«
Saul zuckte zusammen.
»Ja«, sagte Mark, »du bist ein Narr. Sie werden uns
finden. Und wenn sie sechs Monate lang suchen müssen,
sie werden uns finden. Sie haben New York gesehen, wie
ein Wunder, und uns beide in seiner Mitte. Es hieße zu viel
verlangen, daß sie da nicht neugierig sein und unserer Spur
folgen sollten.«
»Dann werde ich eben mit dir weiterziehen.«
»Und sie folgen uns weiter.«
»Halt den Mund!«
Mark lächelte. »Ist das die Art, mit deiner Frau zu
sprechen?«
»Du hast mich verstanden!«
»Oh, eine herrliche Ehe ist das – deine Habgier und
meine geistigen Fähigkeiten. Was möchtest du denn jetzt
sehen? Soll ich dir noch ein paar von deinen
Kindheitsbildern zeigen?«
Saul fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirne trat. Er
wußte nicht, ob der Mann sich über ihn lustig machte oder
nicht. »Ja«, sagte er.
»Na gut«, sagte Mark. »Paß auf!«
Flammen brachen aus den Felsen. Schwefeldämpfe
drückten ihm den Atem ab. Schlünde mit glühender Lava
öffneten sich, Explosionen erschütterten die Höhle.
Mühsam aufstehend, taumelte Saul keuchend umher,
brannte, schmorte in der Hölle!
Die Hölle versank. Die Höhle kehrte zurück.
Mark lachte.
Saul stellte sich vor ihn hin. »Du!« sagte Saul kalt und
beugte sich über ihn.
»Was erwartest du denn anderes?« schrie Mark.
»Fortgeschleppt und zusammengeschnürt, zur geistigen
Braut eines vor Einsamkeit wahnsinnigen Mannes gemacht
– glaubst du, daß mir das Spaß macht?«
»Wenn du mir versprichst, nicht fortzulaufen, binde ich
dich los.«
»Das kann ich dir nicht versprechen. Ich bin ein freier
Mensch. Ich gehöre niemandem.«
Saul kniete sich vor ihm hin. »Aber du mußt jemandem
gehören, hörst du? Du mußt! Ich kann dich nicht fortgehen
lassen!«
»Je mehr du redest, mein Lieber, um so weiter entfernst
du dich von mir. Wenn du deinen Verstand benützt und
dich wie ein vernünftiger Mensch benommen hättest,
wären wir Freunde geblieben. Es hätte mir Freude
gemacht, dir diese kleinen hypnotischen Wünsche zu
erfüllen. Aber du hast alles verdorben. Du wolltest mich
ganz allein besitzen. Du hattest Angst, daß die anderen
mich dir fortnehmen würden. Oh, wie sehr du dich doch
irrst! Ich besitze genügend Macht, euch alle glücklich zu
machen. Ich wäre mir ganz wie ein Gott unter Kindern
vorgekommen, der freundlich seine Gunst verteilt.«
»Es tut mir leid, es tut mir leid«, rief Saul. »Aber ich
kenne diese Männer zu gut.«
»Bist du denn anders? Kaum! Geh hinaus und sieh nach,
ob sie kommen. Mir war, als hörte ich ein Geräusch.«
Saul rannte. Im Eingang der Höhle legte er die Hände
hinter die Ohren und starrte in den schwarzen Schlund der
Nacht.
»Ich sehe nichts.« Er trat in die leere Höhle zurück.
Er starrte auf den Platz am Feuer. »Mark!«
Mark war verschwunden.
Er sah nur die leere Höhle, in der Felsblöcke, Steine und
Kiesel verstreut lagen, das einsam flackernde Feuer. Der
Wind seufzte. Und Saul stand hilflos, ungläubig und wie
betäubt dazwischen.
»Mark! Mark! Komm zurück!«
Der Mann hatte seine Bande gelockert, langsam,
vorsichtig; und mit Hilfe der List, er höre die anderen
kommen, hatte er Saul fortgeschickt und war
verschwunden – wohin?
Die Höhle war tief, endete aber in einer geschlossenen
Wand. Und Mark konnte unmöglich an ihm
vorbeigeschlüpft und in die Nacht entkommen sein. Was
war geschehen?
Saul ging um das Feuer herum. Er zog sein Messer und
trat auf einen großen Felsblock zu, der gegen die
Höhlenwand gelehnt stand. Lächelnd preßte er die
Messerspitze gegen den Stein. Lächelnd klopfte er ihn mit
dem Messer ab. Dann zog er das Messer zurück und holte
zum Stoß aus.
»Halt!« schrie Mark.
Der Felsblock verschwand, Mark saß da.
Saul ließ das Messer fallen. Der Schein der Flammen
spielte auf seinen Wangen. Wahnsinnige Wut stand in
seinen Augen.
»Es hat nicht geklappt«, flüsterte er. Er bückte sich, legte
seine Hände um Marks Kehle und schloß langsam die
Finger. Mark sagte nichts; er wand sich nur unbehaglich
unter dem Griff, während gleichzeitig seine Augen ironisch
blitzten und Saul Dinge erzählten, die dieser nur zu gut
wußte.
Wo werden deine Träume sein, wenn du mich tötest,
sagten die Augen. Töte mich, töte Plato, töte Aristoteles,
töte Einstein; ja, tote uns alle! Los, erwürge mich! Wage
es!
Schatten drängten sich durch den Eingang der Höhle.
Die beiden Männer drehten ihre Köpfe.
Die anderen waren da. Fünf Männer, erschöpft vom
Marsch, standen abwartend am Rande des Feuerscheins.
»Guten Abend«, rief Mark lachend. »Tretet nur ein,
meine Herren, tretet ein!«

Als der Morgen dämmerte, dauerten Zank und Streit immer


noch an. Mark saß zwischen den böse dreinblickenden
Männern und rieb seine von den Fesseln befreiten
Handgelenke. Er hatte ein mahagonigetäfeltes
Konferenzzimmer mit einem Marmortisch geschaffen, an
dem sie alle aßen – lächerlich bärtige, übelriechende
schwitzende und habgierige Männer, die Augen auf ihren
Schatz geheftet.
»Wenn wir den Streit schlichten wollen«, sagte Mark
schließlich, »ist es am besten, daß wir für jeden von euch
zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Tag eine
Verabredung mit mir festlegen. Ich werde euch alle gleich
behandeln. Ich werde Gemeindeeigentum sein, aber völlige
Bewegungsfreiheit genießen. Das ist für beide Teile fair.
Was Saul angeht, so muß er sich erst bewähren. Wenn er
bewiesen hat, daß er sich wieder zivilisiert benehmen kann,
werde ich ihm auch ein oder zwei Behandlungen
gewähren. Inzwischen aber will ich nichts mit ihm zu tun
haben.«
Die anderen Verbannten grinsten zu Saul hinüber.
»Es tut mir leid«, sagte Saul. »Ich wußte nicht, was ich
tat. Jetzt bin ich wieder in Ordnung.«
»Wir werden sehen«, erwiderte Mark. »Sagen wir, in
einem Monat, nicht wahr?«
Die anderen Männer grinsten Saul an.
Saul sagte nichts. Er saß da und starrte auf den Boden
der Höhle.
»Laßt sehen«, begann Mark. »Am Montag bist du dran,
Smith. Eine Stunde ungefähr.«
Smith nickte.
»Am Dienstag werde ich Peter für ungefähr eine Stunde
empfangen.«
Peter nickte.
»Und am Mittwoch jeder Woche werde ich die restlichen
drei hier, Johnson, Holtzmann und Jim, abfertigen.«
Die drei letzten Männer sahen einander an.
»Die restlichen Wochentage gehören mir ganz allein,
hört ihr?« sagte Mark ihnen. »Ein bißchen ist besser als gar
nichts. Wenn ihr nicht gehorcht, werde ich überhaupt keine
Vorstellungen geben.«
»Vielleicht werden wir dich dazu zwingen«, meinte
Johnson. Er sah die anderen Männer an. »Seht, wir sind
fünf gegen diesen einen. Wir können ihn zwingen, alles zu
tun, was wir wollen. Wenn wir zusammenarbeiten, haben
wir den Vogel in der Falle.«
»Seid keine Idioten«, warnte Mark die anderen Männer.
»Laßt mich reden«, fuhr Johnson dazwischen. »Er
erzählt uns, was er tun will. Warum sagen wir's nicht ihm!
Sind wir starker als er oder nicht? Und er will uns drohen,
keine Vorstellungen zu geben! Mal sehen, was er sagt,
wenn ich ihm ein paar Holzsplitter unter seine Zehennägel
treibe oder seine Fingerspitzen ein wenig mit einer Feile
bearbeite. Ich möchte wissen, warum wir nicht an jedem
Abend in der Woche unsere Vorstellung haben sollen?«
»Hört nicht auf ihn!« sagte Mark. »Er ist verrückt. Ihr
könnt ihm nicht trauen. Wißt ihr, was er tun wird? Er wird
euch alle in Sicherheit wiegen und euch dann, einen nach
dem anderen, umbringen. Ja, alle wird er euch töten, damit
er zum Schluß ganz allein ist – allein mit mir! Das ist sein
Ziel.«
Die lauschenden Männer blinzelten Mark, dann Johnson
an.
»In dieser Sache«, bemerkte Mark, »kann keiner von
euch dem anderen trauen. Unsere ganze Beratung ist
sinnlos. Im gleichen Augenblick, in dem ihr ihm den
Rücken kehrt, wird einer der anderen euch ermorden.
Bevor noch diese Woche zu Ende ist, werdet ihr alle tot
sein oder im Sterben liegen!«
Ein kalter Wind blies in das Mahagonizimmer. Die
Wände begannen sich aufzulösen, und die Höhle trat
wieder hervor. Mark war seines Scherzes überdrüssig
geworden. Die marmorne Tafel fiel in sich zusammen und
verschwand.
Mit funkelnden Augen, wie verängstigte Tiere,
musterten die Männer einander argwöhnisch. Was sie
gehört hatten, entsprach der Wahrheit. Sie sahen einander,
wie sie sich in den kommenden Tagen gegenseitig
beschlichen und töteten – bis nur ein Glücklicher übrig
blieb, der diesen geistigen Schatz, der da in ihrer Mitte saß,
ausbeuten konnte.
»Und was die Lage noch schlimmer macht«, sagte Mark
endlich, »einer von euch hat eine Pistole. Alle anderen
besitzen nur Messer. Aber einer von euch, das weiß ich, hat
eine Pistole.«
Alle sprangen auf. »Sucht!« rief Mark. »Findet den
Mann mit der Pistole, oder ihr seid alle verloren!«
Das genügte. Die Männer sprangen wild durcheinander,
ohne zu wissen, wen sie zuerst durchsuchen sollten. Sie
rangen miteinander, stießen sinnlose Verwünschungen aus,
und Mark beobachtete sie voller Verachtung.
Johnson trat zurück und griff in seine Jacke. »Na
schön«, sagte er. »Wir können die Sache auch sofort
erledigen! Das ist für dich, Smith!«
Er schoß Smith durch die Brust. Smith fiel. Die anderen
Männer schrien auf und sprangen auseinander. Johnson
zielte und feuerte noch zweimal.
»Aufhören!« schrie Mark.
New York schoß um sie herum aus dem Boden, die
Höhle verschwand. Sonnenlicht funkelte auf hohen
Türmen. Die Hochbahnen donnerten; die Schlepper im
Hafen ließen ihre Sirenen erschallen; die grüne Lady mit
der Fackel in der Hand blickte über die Bucht.
»Schaut, ihr Narren!« sagte Mark. Ein Meer von
Frühlingsblüten brach auf im Central Park. Der Wind warf
den Duft frisch gemähten Rasens wie eine Woge über sie.
Und mitten durch New York stolperten die verwirrten
Männer. Johnson feuerte noch dreimal seine Pistole ab.
Saul sprang vorwärts.
Er prallte mit Johnson zusammen, riß ihn zu Boden und
entwand ihm die Pistole. Ein letzter Schuß löste sich.
Die Männer hörten auf umherzulaufen.
Sie standen wie angewurzelt. Saul lag quer über
Johnson.
Ein unheimliches Schweigen legte sich über alle. Die
Männer standen und starrten. New York versank im Meer.
Zischend burbelnd, seufzend, mit dem Kreischen reißenden
Metalls und dem Aufstöhnen vergangener Zeit, neigten
sich die gewaltigen Gebäude, zerknitterten, zerflossen,
fielen zusammen.
Mark stand zwischen den Häusern. Plötzlich, wie die
Gebäude sackte er wortlos zusammen, ein kleines rundes,
rotes Loch in der Brust.
Saul lag immer noch und starrte die Männer, dann den
Leichnam an.
Mit der Pistole in der Hand richtete er sich auf.
Johnson regte sich nicht – hatte Angst, sich zu bewegen.
Sie schlossen die Augen und öffneten sie wieder, als
könnten sie, wie nach einem bösen Traum, den Mann am
Boden wieder zum Leben erwecken.
Es war kalt in der Höhle.
Saul stand vollends auf und blickte geistesabwesend auf
die Pistole in seiner Hand. Dann hob er den Arm und warf
die Waffe weit hinaus ins Tal, ohne ihr nachzusehen.
Sie blickten auf den Leichnam zu ihren Füßen, als
trauten sie ihren Augen nicht. Saul kniete nieder und ergriff
die schlappe Hand. »Leonard!« sagte er leise. »Leonard?«
Er schüttelte die Hand. »Leonard!«
Leonard Mark regte sich nicht. Seine Augen waren
geschlossen, seine Brust hob und senkte sich nicht mehr.
Saul stand auf. »Wir haben ihn getötet«, sagte er, ohne
die anderen anzusehen. »Den einzigen, den wir nicht
umbringen wollten, haben wir getötet.« Er legte sich seine
zitternde Hand über die Augen. Die anderen Männer
standen abwartend da.
»Holt einen Spaten«, sagte Saul. »Beerdigt ihn.« Er
drehte sich um. »Ich will nichts mehr mit euch zu tun
haben.«

Saul fühlte sich so schwach, daß er sich nicht bewegen


konnte. Seine Füße waren wie am Erdboden
festgewachsen, mit Wurzeln, die tief in Einsamkeit, Furcht
und Kälte reichten. Das Feuer war fast erloschen, und nur
noch das Licht der beiden Monde ritt auf den blauen
Bergen.
Er hörte, wie jemand den Boden mit einem Spaten
aufwarf.
»Wir brauchen ihn sowieso nicht dazu«, sagte einer viel
zu laut.
Das Geräusch des Grabens dauerte an. Saul entfernte
sich langsam und ließ sich am Stamm eines dunklen
Baumes herabgleiten, bis er den Boden erreichte. Wie
betäubt saß er im Sand, die leeren Hände im Schoß
ausgebreitet.
Schlaf, dachte er. Wir werden alle schlafen gehen.
Wenigstens den kann man uns nicht rauben. Schlafen und
träumen, von New York und all dem andern.
Er schloß erschöpft die Augen, während sich das Blut in
seiner Nase, in seinem Mund und unter seinen zitternden
Augenlidern sammelte.
»Wie hat er das nur gemacht?« fragte er mit müder
Stimme. Sein Kopf fiel auf die Brust. »Wie hat er New
York hier heraufgebracht und uns darin umhergehen
lassen? Versuch es. Es kann nicht zu schwer sein. Denke!
Denk an New York«, flüsterte er, während er umsank und
der Schlaf ihn langsam einzuhüllen begann. »New York mit
dem Central Park, Illinois im Frühling, Apfelblüten und
grünes Gras ...«
Es gelang nicht. Es war nicht dasselbe. New York war
verschwunden, und nichts, was er versuchte, konnte es
zurückbringen.

Zementmixer

Er lauschte auf die Stimmen der alten Hexen, die wie


trockenes Gras unter seinem offenen Fenster raschelten.
»Ettil, der Feigling! Ettil, der Weichling! Ettil, der sich
weigert in den glorreichen Krieg des Mars gegen die Erde
zu ziehen!«
»Sprecht weiter, Hexen!« rief er.
»Ettil, der Vater eines Sohnes, der im Schatten dieses
abscheulichen Wissens aufwachsen muß!« flüsterten die
alten, vertrockneten Weiber. Sie stießen sacht die Köpfe
mit den verschlagenen Augen aneinander. »Schande,
Schande!«
Am anderen Ende des Zimmers weinte seine Frau.
Zahlreich und kühl wie Regentropfen fielen ihre Tränen auf
die Fliesen. »Oh, Ettil, wie kannst du nur so denken?«
Ettil legte sein metallenes Buch beiseite, das ihm auf
seinen Wink den ganzen Vormittag lang eine Geschichte
aus dem mit dünnen Golddrähten durchsponnenen Rahmen
vorgesungen hatte.
»Ich habe versucht, es dir zu erklären«, sagte er. »Es ist
die reinste Torheit, daß wir vom Mars eine Invasion der
Erde versuchen wollen. Wir werden restlos vernichtet
werden.«
Draußen ein Lärmen und Tosen, Metallgerassel,
Trompeten und Trommeln, Marschtritte und Geschrei,
Lieder und Fahnengeknatter. Die Armee stampfte über die
gepflasterten Straßen die Gewehre geschultert. Kinder
rannten hinterher. Alte Weiber schwangen schmutzige
Wimpel.
»Ich werde auf dem Mars bleiben und ein Buch lesen«,
sagte Ettil.
Jemand klopfte hart gegen die Tür. Tylla öffnete. Ihr
Vater stürmte herein. »Was höre ich da über meinen
Schwiegersohn? Ein Verräter?«
»Ja, Vater.«
»Du willst nicht in der Marsarmee kämpfen?«
»Nein, Vater.«
»Ihr Götter!« Der alte Vater lief dunkelrot an. »Verflucht
sei dein Name! Man wird dich erschießen.«
»Erschieß mich gleich, und die Sache ist abgetan.«
»Wer hat je von einem Marsmenschen gehört, der nicht
auf Invasionsfahrt gegangen ist? Wer!«
»Niemand. Ich gebe zu, daß mein Fall völlig unglaublich
ist.«
»Vater, kannst du ihm nicht Vernunft beibringen?« bat
Tylla.
»Einem Feigling Vernunft beibringen!« schrie ihr Vater
mit zornfunkelnden Augen. Er trat näher und blickte auf
Ettil herab. »Militärkapellen spielen, ein herrlicher Tag,
Mütter weinen, Kinder hüpfen, tapfer marschierende
Männer, alles ist in Ordnung, und du sitzt hier! Oh, diese
Schande!«
»Schande«, schluchzten ferne Stimmen in den Hecken.
»Geh zum Teufel mit deinem kindischen Geschwätz und
mach, daß du aus meinem Haus kommst!« explodierte
Ettil. »Nimm deine Orden und Trommeln und lauf mit!«
Er schob den Schwiegervater an seiner heulenden Frau
vorbei, als im gleichen Augenblick die Tür weit
aufgerissen wurde und eine uniformierte Wachabteilung
hereinmarschierte.
Eine Stimme rief laut: »Ettil Vrye!«
»Ja!«
»Du bist verhaftet!«
»Leb wohl, mein teures Weib. Ich muß mit diesen
Narren in den Krieg ziehen!« schrie Ettil, während die
Männer in bronzenen Kettenhemden ihn durch die Tür
zerrten.

Die Zelle war hübsch und sauber. Ohne ein Buch war Ettil
nervös. Er umklammerte die Gitterstäbe und beobachtete,
wie die Feuerwerksraketen in den Nachthimmel schossen.
Unzählige kalte Sterne blinkten; sie schienen
auseinanderzuweichen, wenn eine Rakete nach der anderen
zwischen ihnen zerplatzte.
»Narren«, flüsterte Ettil. »Narren!«
Die Zellentür öffnete sich. Ein Mann schob ein fahrbares
Gestell herein das ganz mit Büchern gefüllt war; Bücher
hier, dort, überall – sie quollen förmlich aus den Borden
des Gestelles. Dahinter wurde drohend die Gestalt des
Militärbefehlshabers sichtbar.
»Ettil Vrye, wir verlangen Aufklärung, warum du diese
illegalen Bücher von der Erde in deinem Hause gehabt
hast. Diese vielen Exemplare Wonder Stories, Scientific
Tales, Fantastic Stories. Erkläre!« Der Mann ergriff Ettils
Handgelenk.
Ettil schüttelte sich frei. »Wenn ihr mich erschießen
wollt, laßt euch nicht abhalten. Diese Literatur von der
Erde ist der eigentliche Grund, warum ich mich nicht an
der Invasion beteiligen will. Es ist der Grund, warum eure
Invasion fehlschlagen muß.«
»Wieso?« Der Befehlshaber machte ein finsteres Gesicht
und wandte sich den vergilbten Magazinen zu.
»Nimm irgendein Exemplar«, sagte Ettil, »irgendein
beliebiges. Neun von zehn Erdgeschichten aus den Jahren
1929, 1930 bis 1950, Erdzeitrechnung, lassen jede
Marsinvasion erfolgreich die Erde bezwingen.«
»Ah!« Der Befehlshaber nickte lächelnd.
»Und dann«, sagte Ettil, »– fehlgeschlagen.«
»Nenne es Verrat! Solche Schriften zu besitzen!«
»Nenne es, wie du willst. Aber erlaube mir, daraus ein
paar Schlußfolgerungen zu ziehen. Jede Invasion wird
unweigerlich von einem jungen Mann vereitelt;
gewöhnlich ist es ein Ire von drahtiger Gestalt, namens
Mick oder Rick oder Jick oder Bannon, der ganz auf sich
allein gestellt, die Marsmenschen vernichtet.«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«
»Nein, ich glaube nicht, daß die Erdmenschen das
wirklich bewerkstelligen können – nein. Aber sie besitzen
eine Vergangenheit, verstehst du, Befehlshaber, eine
Vergangenheit von Generationen von Kindern, die diese
Geschichten förmlich verschlungen haben. Sie verfügen
über eine regelrechte Literatur von erfolgreich
zurückgeschlagenen Invasionen. Kannst du dasselbe von
der Marsliteratur behaupten?«
»Also ...«
»Nein.«
»Ich glaube nicht.«
»Du weißt, daß das nicht der Fall ist. Wir haben nie so
phantastische Geschichten geschrieben. Jetzt rebellieren
wir gegen unsere Vergangenheit, wir schreiten zum
Angriff, und wir werden sterben.«
»Ich kann keinen Sinn in deinen Schlußfolgerungen
erkennen. Wo steckt der Zusammenhang mit diesen
Magazingeschichten?«
»In der Moral. Das ist eine große Sache. Die
Erdmenschen wissen, daß sie nicht versagen können.
Dieses Wissen steckt ihnen im Blut, das durch ihre Adern
rinnt. Sie können einfach nicht versagen. Sie werden jede
Invasion zurückschlagen, ganz gleich, wie gut sie
organisiert sein mag. Diese Geschichten, die sie in ihrer
Jugend lasen, haben ihnen ein Selbstvertrauen gegeben,
dem wir nichts Gleichwertiges entgegensetzen können. –
Wir Marsmenschen? Wir sind unsicher; denn wir wissen,
daß wir versagen können. Unsere Moral ist schwach, trotz
Trommelschlag und Trompetengeschmetter.«
»Von diesem Verrat will ich nichts wissen«, schrie der
Befehlshaber. »Dies Geschreibsel wird in den nächsten
zehn Minuten verbrannt werden, genau wie du, Ettil Vrye!
Du hast die Wahl: entweder reihst du dich in unser
Kriegsheer ein, oder du wirst verbrannt.«
»Es ist die Wahl zwischen zwei Todesarten. Ich wähle
den Flammentod.«
»Wache!«
Er wurde in den Hof gestoßen. Er sah, wie sein sorgsam
gehorteter Lesestoff ein Raub der Flammen wurde. Man
hatte eine anderthalb Meter tiefe, mit Öl gefüllte Grube
angelegt. Tosend loderte das Öl auf, als die Fackel
hineingeworfen wurde. In einer Minute würde man ihn
hineinstoßen.
Am anderen Ende des Hofes erkannte er im Schatten die
traurige Gestalt seines Sohnes; einsam und verlassen stand
er in einer Ecke, seine großen gelben Augen leuchteten vor
Kummer und Furcht.
Ettil blickte in die lodernde Grube. Er fühlte, wie rohe
Hände ihn ergriffen, ihm die Kleider vom Leibe rissen und
ihn dem sengenden Todeskreis entgegenschoben. Erst jetzt,
im letzten Augenblick, besann Ettil sich und schrie:
»Wartet!«
Das Gesicht des Befehlshabers, überstrahlt von der
orangefarbenen Glut, schob sich durch die bebende Luft.
»Was gibt es?«
»Ich will dem Kriegsheer beitreten«, erwiderte Ettil.
»Gut! Laßt ihn frei!«
Die Hände lösten sich von ihm.
Als er sich umwandte, begegneten seine Augen dem
Blick seines Sohnes am anderen Ende des Hofes. Er
lächelte nicht, er wartete nur. Am Himmel sprang ein
ehernes Raumschiff flammenspeiend von Stern zu Stern ...
»Und jetzt wünschen wir diesen kühnen Kriegern
Lebewohl«, sagte der Militärbefehlshaber. Die Kapelle
schmetterte, und der Wind blies einen feinen, süßen
Tränenregen sanft über die schwitzende Armee. Die Kinder
tollten herum. In dem Durcheinander sah Ettil seine Frau
vor Stolz weinen, während sein Sohn gefaßt und
schweigend an ihrer Seite stand.
Lachend marschierten die Männer in die Raumschiffe.
Sie banden sich in ihren Hängematten fest, die wie ein
riesiges Spinnennetz das Raumschiff durchzogen. Bald
waren alle Hängematten mit faul sich räkelnden Männern
gefüllt. Sie kauten an Bissen ihrer Verpflegung und
warteten. Ein großes Schott schlug zu. Ein Ventil zischte.
»Auf zur Erde und zur Vernichtung«, flüsterte Ettil.
»Was?« fragte jemand.
»Auf zum glorreichen Sieg«, sagte Ettil und schnitt eine
Grimasse.
Das Raumschiff machte einen Satz.
Hinein ins Leere, dachte Ettil. Da sausen wir nun wie in
einem Kupferkessel durch die Tintenschwärze des
Weltraumes, vorbei an rosigen Lichtpunkten; ein gefeiertes
Geschoß, abgesandt, die Augen der Erdmenschen mit
brennender Furcht zu erfüllen, wenn sie zum Himmel
aufsehen. Was ist das nur für ein Gefühl, hier und jetzt zu
sein, weit, weit weg von zu Hause, von Weib und Kind?
Er versuchte sein Zittern zu analysieren. Es war, als habe
man seine verborgensten, innersten Organe fest auf dem
Mars verankert und dann einen gewaltigen Sprung
gemacht, Millionen Meilen weit ins Nichts. Das glühende
Herz schlug immer noch auf dem Mars. Das Gehirn lag
immer noch auf dem Mars, wie eine weggeworfene Fackel,
fein gebunden und weiter denkend. Der Magen lag immer
noch auf dem Mars, faul und bemüht, das letzte Mahl zu
verdauen. Und die Lungen atmeten noch die kühle blaue,
weinige Luft des Mars, ein weich gefalteter Blasebalg, der
nach ihm schrie, ein Teil von ihm, der nach dem Rest
verlangte.
Und du befindest dich hier, ein getriebeloser, räderloser
Automat, ein Leichnam, an dem die Staatsfunktionäre eine
Obduktion vorgenommen und alles von dir, was zählte,
dortbehalten und über das öde Meer und die dunklen Hügel
gestreut haben. Hier bist du nun, ein leeres Gefäß, kalt und
ausgebrannt, hast nur noch deine Hände, um den
Erdmenschen den Tod zu bringen.
Hier liegst du nun in diesem furchtbaren Spinngewebe.
Andere sind um dich herum, doch sie sind unversehrt –
haben Herz und Körper beisammen. Aber alles von dir, das
lebt, hast du zurückgelassen. Das hier, diese kalte
Lehmpuppe, ist bereits tot.
»Klar zum Gefecht, klar zum Gefecht!«
»Fertigmachen!«
»Aus den Hängematten, schnell!«
Ettil bewegte sich. Irgendwo vor ihm regten sich seine
zwei kalten Hände.
Wie rasch das alles gekommen ist, dachte er. Vor einem
Jahr ist ein Raumschiff von der Erde auf dem Mars
gelandet. Unsere Wissenschaftler haben es mit ihrem
unglaublichen telepathischen Können kopiert; unsere
Arbeiter haben es in unseren unglaublichen Fabriken
hundertfach nachgebaut. Kein weiteres Raumschiff von der
Erde hat seitdem den Mars erreicht, und doch beherrschen
wir alle vollkommen ihre Sprache. Wir kennen ihre Kultur
und ihre Logik. Und jetzt werden wir den Preis für unsere
Intelligenz zahlen müssen ...
»Geschütze fertig machen!«
»Richten!«
»Entfernung?«
»Zehntausend Meilen!«
»Klar zum Angriff!«
Eine summende Stille. Ein Schwirren wie von Insekten
erfüllte das Raumschiff. Das Surren winziger Rollen,
Räder und Hebel.
»Bereithalten! Abwarten!«
Ettil klammerte sich mit seinen Fingernägeln an seinem
Verstand fest, eine scheinbare Unendlichkeit lang.
Stille, Stille, Stille. Warten.
Tiiii-i-ii!
»Was ist das?«
»Erdfunk!«
»Stellt genau ein!«
»Sie versuchen uns zu erreichen, uns anzurufen. Stellt
genau ein!«
Iii-i-ii!
»Wir haben sie! Hört!«
»Wir rufen die Invasionsflotte vom Mars!«
Angespannte Stille, alles horchte, selbst das Surren der
Maschinen schien zu verstummen, um die knarrende
Stimme von der Erde in die Ohren der wartenden Männer
dringen zu lassen.
»Hier spricht die Erde. Hier spricht William Sommers,
Präsident der Vereinigung amerikanischer Produzenten!«
Ettil hielt sich an seinem Gefechtsstand fest,
vornübergebeugt, die Augen geschlossen.
»Willkommen auf der Erde!«
»Was?« schrien die Männer im Raumschiff. »Was hat er
gesagt?«
»Ja, willkommen auf der Erde.«
»Das ist eine Falle!«
Ettil überlief ein Schauer; er öffnete die Augen und
starrte verwirrt nach der Quelle der unsichtbaren Stimme,
dem Lautsprecher unter der Decke.
»Willkommen auf der Erde! Willkommen auf der
grünen, industriell erschlossenen Erde!« erklärte die
freundliche Stimme. »Mit offenen Armen heißen wir euch
willkommen, um eine blutige Invasion in eine Freundschaft
zu verwandeln, die alle Zeiten überdauern wird.«
»Eine Falle!«
»Pst, hört zu!«
»Vor vielen Jahren haben wir auf der Erde den Krieg
geächtet und unsere Atombomben zerstört. Ungerüstet, wie
wir jetzt sind, können wir euch nur willkommen heißen.
Der Planet gehört euch. Wir erbitten lediglich Gnade von
euch gütigen und barmherzigen Invasoren.«
»Das kann nicht wahr sein!« sagte jemand im Flüsterton.
»Es muß eine Falle sein!«
»Landet und seid allesamt willkommen«, sagte Mr.
Sommers von der Erde. »Landet, wo ihr wollt. Die Erde
gehört euch. Wir sind alle Brüder!«
Ettil begann zu lachen. Alle im Raum drehten sich um
und sahen ihn an. Sie schüttelten die Köpfe. »Er ist
wahnsinnig geworden!«

Der kleine fette Mann im Zentrum der heißen


Raumschiffpiste von Green Town, California, zerrte nervös
ein weißes Taschentuch aus seiner Jacke und betupfte seine
nasse Stirn. Er blinzelte geblendet von der neu errichteten
hölzernen Plattform zu den fünfzigtausend Leuten hinüber,
die von einer Kette Polizisten mit ineinandergehakten
Armen zurückgehalten wurden. Alle starrten in den
Himmel.
»Da kommen sie!«
Ein lauter Atemzug.
»Nein, es sind nur ein paar Seemöwen!«
Ein enttäuschtes Murren.
»Ich beginne zu glauben, es wäre besser gewesen, wir
hätten ihnen den Krieg erklärt«, flüsterte der
Bürgermeister. »Dann hätten wir alle zu Hause bleiben
können.«
»Pst, pst!« flüsterte seine Frau zurück.
»Dort!« schrie die Menge.
Aus der Sonne schossen die Raumschiffe der Marsflotte.
»Alles bereit?« Der Bürgermeister blickte nervös in die
Runde.
»Ja«, antwortete Miß California 1965.
»Ja«, sagte auch Miß Amerika 1940, die in letzter
Minute als Ersatz für Miß Amerika 1966 angerauscht war.
»Die Kapelle, fertig?«
Die Männer setzten ihre Blasinstrumente an wie
schußbereite Gewehre.
»Fertig!«
Die Raumschiffe landeten. »Los!«
Die Kapelle spielte ›Kalifornier, strömt zusammen‹.
Von zwölf bis ein Uhr mittags hielt der Bürgermeister
eine Ansprache und gestikulierte mit den Händen in
Richtung auf die schweigend daliegenden Raumschiffe.
Um ein Uhr fünfzehn öffneten sich die Schleusentore der
Raumschiffe.
Ettil und fünfzig andere Marsmenschen sprangen mit
schußbereiten Waffen heraus.
Der Bürgermeister lief ihnen mit dem Schlüssel zur Erde
in den ausgestreckten Händen entgegen.
Die Kapelle spielte ›Der Weihnachtsmann kommt in die
Stadt‹ und ein Chor von Sängern, die man aus Long Beach
herbeigeschafft hatte, sang zu dieser Melodie einen Text
mit etwa den Worten ›Marsmenschen kommen in die
Stadt‹.
Da sie keine Waffen sahen, entspannten sich die
Marsmenschen etwas, hielten ihre Gewehre jedoch
weiterhin bereit.
Von ein Uhr dreißig bis zwei Uhr fünfzehn hielt der
Bürgermeister noch einmal seine Ansprache.
Um zwei Uhr dreißig meldete Miß Amerika 1910 sich
freiwillig dazu, alle Marsmenschen zu küssen, wenn sie
sich, bitte, in Reihe aufstellen wollten.
Um zwei Uhr dreißig und zehn Sekunden spielte die
Kapelle ›Grüß euch Gott, alle miteinander‹, um die
Verlegenheit zu vertuschen, die durch Miß Amerikas
Vorschlag entstanden war.
Um zwei Uhr fünfunddreißig ließ Mr. Biggest Grapefruit
einen Zwei-Tonnen-Laster mit Grapefruits als Geschenk
für die Marsmenschen vorfahren.
Um zwei Uhr siebenunddreißig überreichte der
Bürgermeister allen Dauerfreikarten für das Elite- und das
Majestic-Theater und verband diese Geste mit einer
neuerlichen Ansprache, die bis nach drei Uhr dauerte.
Die Kapelle spielte, und fünfzigtausend Leute sangen
›Denn sie sind prächtige Burschen‹.
Um vier Uhr war alles zu Ende.
Ettil ließ sich mit zwei Kameraden im Schatten des
Raumschiffes nieder. »Das ist also die Erde!«
»Ich sage, tötet die stinkenden Ratten!« sagte einer der
beiden anderen. »Ich traue ihnen nicht. Sie sind falsch. Was
haben sie für einen Grund, uns so zu behandeln?« Er hielt
eine Schachtel hoch, in der es raschelte. »Was ist das für
ein Zeug, das sie mir gegeben haben? Ein Muster, sagten
sie.« Er las die Aufschrift: BLIX, die neuen Seifenflocken.
Die Menge hatte sich über den Platz verstreut und
mischte sich unter die Marsmenschen.
Ettil fröstelte. Sein Zittern hatte sich jetzt sogar noch
verstärkt. »Fühlt ihr es denn nicht?« flüsterte er. »Die
Angespanntheit, die Verdorbenheit, die über allem liegt?
Irgend etwas wird uns zustoßen. Sie verfolgen einen Plan.
Einen heimlichen, schrecklichen Plan. Sie werden uns
irgend etwas antun – ich weiß es.«
»Ich kann nur sagen, bringt sie alle um!«
»Wie kann man Leute umbringen, die einen mit
›Kumpel‹ und ›mein Lieber‹ anreden?« fragte ein anderer
Marsmensch.
Ettil schüttelte den Kopf. »Sie meinen es ehrlich. Und
doch komme ich mir vor, als säßen wir in einem großen
Säurebottich und lösten uns langsam auf. Ich habe Angst.«
Er sandte seine Gedanken aus und prüfte die Stimmung der
Menge. »Ja, sie sind uns wirklich freundlich gesinnt. Und
doch – und doch ...«
Die Kapelle spielte ›Rollt herbei die Fässer!‹ Freibier
wurde ausgeschenkt, eine kleine Aufmerksamkeit der
Firma Hagenback, Bierbrauerei, Fresno, Kalifornien.
Die große Übelkeit folgte.
Wahre Fontänen quollen den Männern aus den Mündern.
Ettil saß würgend unter einem Maulbeerbaum.
»Eine Verschwörung, eine Verschwörung«, ächzte er,
»eine fürchterliche Verschwörung!« Er hielt sich den
Magen.
»Was hast du gegessen?« Der Befehlshaber stand vor
ihm.
»Etwas, das sie Popcorn nannten«, stöhnte Ettil.
»Und?«
»So ein langes, rundes Stück Fleisch auf einem
Brötchen, eine gelbe, dicke Flüssigkeit in einem geeisten
Glas, irgendeinen Fisch und etwas, das sie Pastrami
nannten«, seufzte Ettil.
Von überall her ertönte das Stöhnen der Invasoren vom
Mars.
»Tötet die verräterischen Schlangen!« schrie jemand.
»Reißt euch zusammen«, sagte der Befehlshaber. »Es ist
nur Gastfreundschaft. Sie haben es ein wenig übertrieben.
Auf die Beine jetzt, Männer. Auf, in die Stadt. Wir müssen
ein paar kleine Garnisonen errichten, um sicher zu gehen,
daß alles ruhig bleibt. Weitere Schiffe landen in anderen
Städten. Wir haben hier unsere Pflicht zu erfüllen.«
Die Männer rappelten sich auf und starrten benommen
in die Gegend.
»Vorwärts, marsch!«

Die weißen Sonnenblenden der kleinen Stadt lagen


verträumt unter der flimmernden Hitze.
Der Tritt von Marsstiefeln dröhnte auf dem Asphalt.
»Seid vorsichtig, Männer!« flüsterte der Befehlshaber.
Sie gingen an einem Schönheitssalon vorbei.
Ein verstohlenes Kichern drang heraus.
»Seht!«
Ein kupferroter Kopf tauchte im Fenster auf und
verschwand wieder. Ein blaues Auge blitzte lockend durch
ein Schlüsselloch.
»Es ist eine Verschwörung«, flüsterte Ettil. »Eine
Verschwörung, sage ich euch!«
Parfümdüfte mischten sich mit der Sommerluft, von
wirbelnden Ventilatoren aus den Grotten herausgefächelt,
in denen die Frauen sich verbargen, unter elektrischen
Kegelhauben, die ihr Haar zu wilden Wellen und Türmen
aufbauschten, mit listigen Augen, animalisch und
verschlagen, mit neonrot gemalten Lippen.
»Um Gottes willen!« schrie Ettil, der seine Nerven
plötzlich nicht länger im Zaum halten konnte. »Laßt uns in
unsere Raumschiffe fliehen – nach Hause! Sie werden uns
überrumpeln – diese furchtbaren Geschöpfe da drin!«
»Ruhig!«
Seht nur, wie sie da sitzen, dachte er, wie sie ihre Kleider
gleich kühlen grünen Netzen über ihren schlanken Beinen
raffen. Er schrie.
»Jemand soll seinen Mund halten!«
»Sie werden sich auf uns stürzen, mit Schokolade und
dem Kinsey-Report bewaffnet, uns in Hollywood-Filme
schleppen und uns mit ihren roten schmierigen Mündern
taub reden! Seht nur wie sie auf ihren elektrischen Stühlen
sitzen, hört ihre monoton singenden und summenden
Stimmen! Würdet ihr wagen, da hineinzugehen?«
»Warum nicht?« fragte ein Marsmensch.
»Sie werden dich rösten, bleichen, dein Innerstes nach
außen kehren! Dich zerbrechen, schichtweise aufspalten,
bis du nichts anderes mehr bist als ein Ehemann, ein
Arbeitssklave. Glaubst du, daß du ihnen gewachsen sein
würdest?«
»Ja, bei den Göttern!«
Wie von fern klang eine Stimme zu ihnen herüber, eine
hohe, schrille Frauenstimme: »Ist der in der Mitte dort
nicht einfach süß?«
»Wirklich, die Marsmänner sind gar nicht so übel. Hätte
nicht gedacht, daß sie auch nur Menschen sind«, hörten sie
eine andere Stimme gedämpft aus dem Schönheitssalon
herüberdringen.
»Heda, Holla! Marsmänner! Ahoi!«
Schreiend rannte Ettil davon ...
Zitternd saß er in einem Park. Er mußte immer daran
denken was er gesehen hatte. Während er zu dem dunklen
Nachthimmel blickte, fühlte er sich sehr einsam und
verlassen.
»Hallo.«
Zu Tode erschrocken warf er den Kopf herum.
Eine Frau setzte sich neben ihm auf die Bank,
phlegmatisch auf ihrem Gummi kauend. »Reiß nicht gleich
aus; ich beiße nicht«, sagte sie.
»Oh«, erwiderte er.
»Woll'n wir ins Kino gehn?« fragte sie.
»Nein.«
»Na komm schon«, sagte sie. »Alle andern sind auch
gegangen.«
»Nein«, antwortete er. »Habt ihr gar nichts anderes auf
eurer Erde zu tun?«
»Ist das nicht genug?« Ihre blauen Augen weiteten sich
argwöhnisch. »Was verlangst du denn sonst von mir – zu
Hause sitzen, ein Buch lesen? Haha! Du bist großartig!«
Ettil starrte sie einen Moment lang an, bevor er etwas
darauf entgegnete.
»Was tust du sonst noch?« fragte er.
»Autofahren. Hast du ein Auto? Du solltest dir ein
großes neues Podler-6-Kabriolett anschaffen. Mensch, sind
die Klasse! Ein Mann mit 'nem Podler-6 kann mit jedem
Mädchen ausgehen, da halte ich jede Wette!« sagte sie und
zwinkerte ihm zu. »Ich wette, du hast jede Menge Moneten
– wo du doch vom Mars kommst und so. Ich wette, wenn
du wirklich willst, kannst du dir auch 'nen Podler-6 kaufen
und überall hinfahren.«
»Zum Kino vielleicht?«
»Was hast du dagegen?«
»Nichts – nichts.«
»Weißt du eigentlich, wie du daherredest, mein Lieber?«
sagte sie. »Wie ein Kommunist! Jawohl, das ist genau die
Art, die hier niemand vertragen kann. Bei Gott! Stimmt
doch alles mit unserm hübschen alten System. Haben wir
euch Marsleute etwa nicht freundlich aufgenommen, ohne
euch auch nur das kleinste Härchen zu krümmen, wie?«
»Das ist es ja, was ich zu verstehen versuche«,
antwortete Ettil. »Warum habt ihr uns hereingelassen?«
»Weil wir weitherzig sind, mein Lieber; das ist der
Grund! Vergiß das nicht – weitherzig!« Sie ging fort, um
sich nach einem anderen umzusehen.
Ettil nahm seinen ganzen Mut zusammen und begann,
einen. Brief an Tylla zu schreiben.
›Liebe Tylla –‹
Doch wieder wurde er gestört. Ein kleines altes Weib mit
einer Gestalt wie ein Mädchen und einem runden, faltigen
Gesicht schüttelte ein Tamburin unter seiner Nase, so daß
er sich gezwungen sah, aufzublicken.
»Bruder«, schrie sie mit glänzenden Augen, »bist du
schon gerettet?«
»Bin ich in Gefahr?«
Ettil ließ seinen Federhalter fallen und sprang auf. »In
furchtbarer Gefahr!« jammerte sie, ihr Tamburin
schwingend und zum Himmel hochblickend. »Du brauchst
die Rettung, Bruder, dringender als alles andere auf der
Welt!«
»Ich glaube fast, du hast recht«, bemerkte er zitternd.
»Wir haben heute schon Unzählige gerettet. Ich allein
habe drei von euch Marsleuten gerettet. Ist das nicht fein?«
Sie grinste ihn an.
»Ich glaube schon.«
Sie wurde äußerst argwöhnisch. Flüsternd beugte sie
sich vor: »Bruder«, wollte sie wissen, »bist du schon
getauft?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er zurück.
»Du weißt es nicht?« schrie sie, ihre Hände mit dem
Tamburin zum Himmel reckend.
»Ist das wie erschossen werden?« fragte er zurück.
»Bruder«, sagte sie, »du bist sündig und verdorben.
Schuld daran ist wahrscheinlich, daß du in Unwissenheit
erzogen worden bist. Bruder, du mußt dich taufen lassen,
wenn du glücklich werden willst.«
»Werde ich dadurch selbst auf dieser Welt hier glücklich
werden?« fragte er.
»Verlange nicht einen mit allem gedeckten Tisch«,
erwiderte sie. »Sei mit einem trockenen Stück Brot
zufrieden, denn es gibt noch eine andere Welt, in die wir
alle kommen werden, viel besser als diese.«
»Ich kenne diese Welt«, sagte er.
»In ihr herrscht Frieden«, sagte sie.
»Ja.«
»Sie verheißt uns Ruhe.«
»Ja.«
»Und Milch und Honig fließen dort.«
»Oh, ja!« sagte er.
»Und alle sind fröhlich.«
»Jetzt sehe ich sie vor mir.«
»Eine bessere Welt«, sagte sie.
»Viel besser«, stimmte er zu. »Ja, der Mars ist ein
herrlicher Planet.«
»Bursche«, sagte sie, herumwirbelnd und ihm fast das
Tamburin ins Gesicht schlagend, »willst du mich
verspotten?«
»Aber nein.« Er war bestürzt und verlegen. »Ich dachte,
du sprächest von ...«
»Nicht von deinem sündigen, verdorbenen alten Mars!
Ich will dir mal was sagen: du gehörst zu den Typen, die im
Fegfeuer schmoren müssen, die sich in Qualen winden
werden und deren Haut unter der Folter zu schwärenden
Wunden aufbrechen wird ...«
»Ich muß zugeben, die Erde ist nicht besonders schön.
Du hast sie sehr treffend beschrieben.«
»Nun treibst du schon wieder deinen Spott mit mir!«
schrie sie.
»Nein, nein – bitte. Ich bin nur unwissend.«
»Na schön«, sagte sie, »du bist ein Heide, und Heiden
haben kein Benehmen. Hier hast du eine Karte. Komm
morgen abend zu dieser Adresse und laß dich taufen und
glücklich machen. Willst du?«
»Ich will's versuchen«, erwiderte er zögernd.
Tamburinschlagend und in höchsten Tönen singend:
»Glücklich bin ich, ich bin immer glücklich«, zog sie die
Straße hinunter. Verwirrt wandte Ettil sich wieder seinem
Brief zu.

›Liebe Tylla,
unvorstellbar, daß ich mir in meiner Naivität einbilden
konnte, die Erdmenschen würden mit Bomben und
Geschützen zu einem Gegenangriff starten! Nein, nein.
Ich habe mich geirrt. Hier gibt es keinen Rick oder Mick
oder Bannon – diese Kraftprotze, die Welten vor dem
Untergang retten. Nein.
Wir sind hier blonden Robotern mit rosa
Plastikkörpern begegnet, lebendig, aber trotzdem
irgendwie unwirklich, automatisch in all ihren
Reaktionen, die ihr ganzes Leben in Höhlen verbringen.
Ihre Hinterteile haben einen unglaublichen Umfang. Ihre
Augen blicken starr und bewegungslos vom endlosen
Anschauen weißer Wände mit bewegten Bildern. Ihre
einzigen Muskeln scheinen in ihren Kinnbacken zu
liegen, da sie damit ununterbrochen Kaugummi mahlen.
Und nicht nur dies ist schlimm, liebe Tylla, sondern
diese ganze Zivilisation, in die man uns geworfen hat
wie eine Schaufel Sandkörnchen in einen Zementmixer.
Nichts wird von uns übrig bleiben. Wir werden
vernichtet werden, nicht von ihren Geschützen, sondern
von ihrer Leutseligkeit ...‹

Jemand schrie auf. Ein Krachen, ein Bersten – Stille.


Ettil sprang auf und ließ seinen Brief. Auf der Straße vor
dem Park waren zwei Autos zusammengestoßen. Eins
voller Marsleute, das andere voller Erdmenschen. Ettil
schrieb weiter:

›Und nun, liebe, liebe Tylla, ein paar Statistiken, wenn


du gestattest. Fünfundvierzigtausend Leute werden jedes
Jahr auf diesem Kontinent Amerika getötet, gleich wie in
einer Dose zu Fleischextrakt verarbeitet – in ihren
Automobilen. Rote Blutsoße, in der weiße Markknochen
schwimmen wie schreckliche Gedanken, für immer in
dieser Masse festgehalten. Die Autos rollen heran wie
hübsche, vollgepackte Sardinenbüchsen – alles Soße,
alles still.
Man blickt aus dem Fenster und sieht zwei Leute in
freundlicher Umarmung übereinander liegen, die sich
vor einem Augenblick noch nie in ihrem Leben gesehen
hatten – tot. Ich sehe unsere Armee schon zerquetscht,
von Krankheit geschlagen, von Hexen und Kaugummi in
Kinos gefangengehalten. Irgendwann in den nächsten
Tagen werde ich versuchen, zurück zum Mars zu fliehen,
bevor es zu spät ist.
Irgendwo auf der Erde, liebe Tylla, ist heute abend ein
Mann, der die Erde retten kann, wenn er einen Hebel
herumlegt. Dieser Mann ist jetzt arbeitslos. Sein Schalter
verstaubt.
Die Frauen dieses verdorbenen Planeten ertränkten
uns in einer Flut banaler Sentimentalität, irregeleiteter
Romantik und einem letzten Sichaustoben, bevor die
Hersteller von Glyzerin sie auskochen und einem
nützlichen Zweck zuführen. Gute Nacht, Tylla. Wünsche
mir alles Gute, denn wahrscheinlich werde ich bei
meinem Fluchtversuch sterben. Umarme unser Kind für
mich.‹

Still weinend faltete er den Brief zusammen und ermahnte


sich, nicht zu vergessen, ihn nachher bei der
Raumschiffpost einzuwerfen.
Er verließ den Park. Was sollte er tun? Fliehen. Aber
wie? Spät in der Nacht zum Landeplatz zurückkehren,
eines der Raumschiffe stehlen und allein damit zum Mars
zurückkehren? Wäre das möglich? Er schüttelte den Kopf.
Er war zu verwirrt, um einen klaren Gedanken zu fassen.

»Hallo, Sie da!«


Ein Auto hupte. Ein großer, langer Kasten wie ein
Leichenwagen, schwarz und unheildrohend, hielt am
Straßenrand. Ein Mann lehnte sich heraus.
»Sind Sie ein Marsmensch?«
»Ja.«
»Dann sind Sie mein Mann. Rasch hereingehüpft – die
Chance Ihres Lebens. Herein mit Ihnen. Wir brausen erst
mal zu einer wirklich schnieken kleinen Bude, wo man sich
unterhalten kann. Na los schon – stehn Sie nicht herum!«
Wie hypnotisiert öffnete Ettil die Tür des Wagens und
stieg ein.
Sie brausten ab.

»Was darf's sein, E.V.? Wie wär's mit einem Manhattan?


Zwei Manhattans, Kellner. Okay, E.V. Geht auf meine
Rechnung. Auf meine und die der Grockfilm-AG! Suchen
Sie gar nicht erst nach Ihrer Brieftasche. Freue mich, Sie
kennenzulernen, E.V. Mein Name ist R.R. Van Plank.
Vielleicht schon von mir gehört? Nein? Macht nichts,
können mir trotzdem die Hand schütteln.«
Ettil fühlte seine Hand massiert und fallengelassen. Sie
befanden sich in einem trüben Loch mit Musik und lautlos
umhergleitenden Kellnern. Zwei Drinks wurden vor sie
hingestellt. Alles war furchtbar schnell gegangen. Van
Plank, die Arme über der Brust verschränkt, musterte seine
Marseroberung.
»Sie wollen sicher wissen, wozu ich Sie brauche, E.V.
Es ist die größte aller großen Ideen, die ich je in meinem
Leben gehabt habe. Wie ich heute abend so gemütlich zu
Hause saß, dachte ich auf einmal, mein Gott, was würde
das für einen Film geben! Die Invasion der
Marsmenschen! Was mußte ich also tun! Einen Berater für
meinen Film finden. Ich kletterte also in meinen Wagen,
fand Sie, und hier sind wir. Trinken Sie aus! Auf Ihre
Gesundheit und Ihre Zukunft! Skoal!«
»Aber ...«, begann Ettil.
»Aber ja, ich weiß, Sie brauchen Geld. Nun, davon
haben wir genug. Und außerdem habe ich da noch ein
kleines schwarzes Büchlein mit lauter süßen Früchten, das
ich Ihnen mal leihen kann.«
»Leider mag ich das meiste Obst von Ihrer Erde nicht,
und ...«
»Sie sind wirklich 'ne komische Nummer, Mann! Aber
zur Sache: so ungefähr habe ich mir meinen Film im Geist
vorgestellt – hören Sie zu.« Er beugte sich eifrig über den
Tisch. »Wir blenden auf mit einer großen
Kriegsbeschwörung der Marsleute, Trommeln, Fackeln,
Lärm und Feuern. Im Hintergrund ragen gewaltige silberne
Städte auf ...«
»Aber die Städte auf dem Mars sind ganz anders ...«
»Wir brauchen Farbe, Söhnchen. Farbe. Laß das nur
deinen Pappi machen. Also, die Marsleute tanzen alle um
ein großes Feuer herum ...«
»Wir tanzen aber nicht um Feuer ...«
»In diesem Film macht ihr jedenfalls Feuer und tanzt«,
erklärte Van Plank, die Augen geschlossen und stolz auf
seine absolute Sicherheit. Er nickte träumerisch, genußvoll
mit der Zunge schnalzend. »Und dann haben wir da eine
wunderschöne Marsfrau, groß, schlank und blond.«
»Marsfrauen sind dunkelhaarig ...«
»Ich glaube kaum, daß wir auf diese Weise miteinander
glücklich werden, E.V. Übrigens, Söhnchen, Sie müssen
Ihren Namen ändern. Wie war er doch gleich?«
»Ettil.«
»Das ist ein Frauenname. Ich hab' einen bess'ren für Sie.
Von jetzt ab heißen Sie Joe. Okay, Joe. Wie ich schon
sagte, unsere Marsfrauen sind blond, klar, einfach blond.
Pappi wäre sonst sehr unglücklich. Haben Sie sonst noch
Vorschläge?«
»Ich dachte, daß ...«
»Und vor allem müssen wir noch eine Szene einblenden,
die auf die Tränendrüsen drückt: die Marsfrau rettet ein
ganzes Raumschiff voller Marsmänner vor dem sicheren
Tode, als ein Meteor oder irgend so'n Ding in das Schiff
einschlägt. Eine Bombenszene, kann ich Ihnen flüstern! Sie
glauben gar nicht, wie froh ich bin, daß ich Sie gefunden
habe, Joe. Sie werden ein Bombengeschäft mit uns
machen, sage ich Ihnen.«
Ettil langte über den Tisch und umklammerte das
Handgelenk des Mannes. »Einen Augenblick nur. Ich muß
Sie unbedingt etwas fragen.«
»Aber klar, Joe, schießen Sie los.«
»Warum seid ihr alle so nett zu uns? Wir überfallen
euren Planeten, und ihr heißt uns mit offenen Armen
willkommen – wie lange verloren geglaubte Kinder.
Warum?«
»Ihr seid noch schön grün auf dem Mars, wie? Sie
jedenfalls sind ein ganz unbeschriebenes Blatt – das kann
man schon von weitem sehen. Schauen Sie, Mac: wir sind
doch alle kleine Leute, nicht wahr?« Er wedelte mit einer
kleinen braunen, smaragdfunkelnden Hand.
»Wir sind alle klein und unscheinbar wie Straßenstaub,
nicht wahr? Wir hier auf der Erde sind stolz auf unsere
Einfachheit. Dies ist das Jahrhundert des kleinen Mannes,
Bill, und wir sind stolz, daß wir so unbedeutend sind. Billy,
Sie befinden sich hier auf einem Planeten voller
Menschenfreunde. Jawohl, wir sind eine große Familie
wohlwollender Menschenfreunde – seit nett zueinander, ist
unsere Devise. Wir verstehen euch Marsleute, Joe, und wir
wissen, warum ihr auf die Erde gekommen seid. Wir
wissen, wie einsam ihr euch auf eurem kleinen kalten
Planeten gefühlt habt, wie ihr uns um unsere Städte
beneidet ...«
»Unsere Zivilisation ist viel älter als eure ...«
»Bitte, Joe, Sie betrüben mich, wenn Sie mich dauernd
unterbrechen. Lassen Sie mich meine Theorie zu Ende
führen, und dann können Sie alles sagen, was Sie auf dem
Herzen haben. Wie ich schon sagte, ihr fühltet euch einsam
dort oben, und deshalb seid ihr heruntergekommen um
unsere Städte und unsere Frauen zu sehen und, na, eben all
den anderen Kram, und wir haben euch willkommen
geheißen, weil ihr unsere Brüder seid, einfache Menschen,
wie wir alle.
Und nebenbei, Johnny, schaut auch ein hübscher kleiner
Profit bei dieser Invasion für uns heraus. Nehmen Sie zum
Beispiel diesen Film, den ich machen werde; wetten, daß er
uns, netto, eine runde Milliarde Dollar einbringt? Und ab
nächster Woche werfen wir eine Marssuppe für dreißig
Dollar das Stück auf den Markt Sonderqualität. Denken Sie
an die Millionen in diesem Geschäft! Außerdem habe ich
schon einen Vertrag für die Herstellung eines Marsspieles à
fünf Dollar das Stück abgeschlossen. Und es gibt noch eine
Unmenge anderer Möglichkeiten.«
»Ich verstehe«, sagte Ettil, sich zurücklehnend.
»Dazu kommt natürlich noch der ganze, herrliche neue
Markt auf dem Mars. Denken Sie nur an die
Enthaarungsmittel, Kaugummis, Schuhcrèmes, die wir
euch verkaufen können.«
»Moment mal. Noch eine Frage.«
»Schießen Sie los.«
»Wie heißen Sie mit Vornamen? Was bedeuten die
beiden R?«
»Richard Robert.«
Ettil blickte zur Decke hoch. »Nennt man Sie vielleicht
manchmal, ab und zu, gelegentlich, meine ich – Rick?«
»Wie haben Sie das nun wieder erraten, Mac? Aber
gewiß doch, Rick.«
Ettil seufzte auf und begann dann zu lachen. Er konnte
gar nicht wieder aufhören zu lachen. Prustend streckte er
die Hand aus. »Sie sind also Rick? Rick! Also Sie sind der
Rick!«
»Raus mit dem Witz, Spaßvogel! Pappi möchte auch
lachen!«
»Sie würden's wohl nicht verstehen – mir ist nur eben
etwas eingefallen. Ha, ha!« Tränen rannen ihm über die
Wangen und in den offenen Mund. Wieder und wieder
schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. »Also Sie
sind dieser Rick! Oh, wie komisch, wie anders habe ich Sie
mir vorgestellt. Keine quellenden Muskeln, kein eckiges
Kinn, keine Pistole. Nur eine Brieftasche voll Geld, einen
Smaragdring an der Hand und einen gewaltigen Umfang!«
»He, hüten Sie Ihre Zunge, Mann! Ich bin wohl kein
Apollo, aber ...«
»Geben Sie mir die Hand, Rick! Gerade Sie habe ich
treffen wollen. Sie sind der Mann, der den Mars besiegen
wird, mit Cocktailshakern, Plattfußeinlagen, Pokerchips,
Reitpeitschen, Lederstiefeln, karierten Kappen und
Sodawasser mit Rum und Zitrone.«
»Ich bin nur ein kleiner, ehrlicher Kaufmann«, sagte Van
Plank mit verlegen niedergeschlagenen Augen. »Ich tue nur
meine Arbeit und schneide mir meine kleine Scheibe von
dem großen Kuchen ab. Doch wie ich schon sagte, Mort,
der Mars ist bestimmt auch ein guter Markt für Onkel-
Wiggely-Spiele und Dick-Tracy-Comics; alles neu. Ein
riesiges neues Gebiet, das noch nie etwas von Cartoons
gehört hat, stimmt's? Stimmt! Wir öffnen einfach unser
großes Netz und lassen den Marsleuten unsere Sachen auf
die Köpfe purzeln. Sie werden sich darum raufen,
Söhnchen, raufen! Wer täte das auch nicht, für Parfüms und
Pariser Kleider und Oshkosh Overalls, he? Und hübsche
neue Halbschuhe ...«
»Wir tragen keine Halbschuhe.«
»Was läuft uns denn da über den Weg?« fragte R.R. die
Decke des Lokals. »Ein ganzer Planet voller
Hinterwäldler? Passen Sie auf, Joe, die Sache nehmen wir
beide in die Hand. Zuerst bringen wir alle so weit, daß sie
sich schämen, keine Halbschuhe zu tragen – und dann
verkaufen wir Ihnen die Schuhcreme!«
»Oh.«
Er schlug Ettil auf den Arm. »Abgemacht? Wollen Sie
technischer Berater für meinen Film werden? Zweihundert
die Woche für den Anfang, fünfhundert, wenn Sie
eingearbeitet sind. Was sagten Sie?«
»Mir ist schlecht«, sagte Ettil. Er hatte den Manhattan
ausgetrunken und lief langsam blau an.
»Oh, das tut mir leid. Ich wußte nicht, daß das Zeug bei
Ihnen eine solche Wirkung hat. Lassen Sie uns an die
frische Luft gehen.«
Draußen fühlte Ettil sich besser. Er schwankte etwas.
»Deshalb hat die Erde uns also aufgenommen?«
»Gewiß doch, Söhnchen. Wenn ein Erdmensch einen
ehrlichen Dollar verdienen kann, macht er kein langes
Federlesen. Und der Kunde hat immer recht. Nichts für
ungut, Joe. Hier ist meine Karte. Seien Sie morgen früh um
neun Uhr im Studio in Hollywood. Man wird Ihnen Ihr
Büro zeigen. Ich komme um elf, und dann sehen wir
weiter. Aber seien Sie pünktlich um neun Uhr da. Das ist
eine strikte Regel.«
»Warum?«
»Gallagher, Sie sind eine komische Nummer, aber ich
habe Sie in mein Herz geschlossen. Gute Nacht. Glückliche
Invasion!«
Das Auto fuhr fort.
Ungläubig blickte Ettil ihm nach. Er rieb sich mit der
flachen Hand die Stirn und ging langsam die Straße
entlang, dem Raumhafen entgegen.
»Und was nun?« fragte er sich selbst laut.
Die Raumschiffe lagen schimmernd und schweigend im
Mondlicht.
Ettil trat aus dem Schatten und ging eine breite Allee
entlang die zu den Schiffen führte. Von weitem sah er
bereits die Wachen betrunken am Boden liegen. Er
lauschte. Aus der großen Stadt drang schwach der
Verkehrslärm, vermischt mit verwehter Musik. Und noch
andere Geräusche hörte er in seiner Einbildung: das
heimtückische Mahlen der Malzbottiche, deren Inhalt die
Krieger mästen und faul und vergeßlich machen sollte; und
die narkotisierenden Stimmen aus den Kinos, den
Seufzerhöhlen, die die Marsleute rasch, sehr rasch
einlullten und in eine tiefe Betäubung versenkten, so daß
sie den Rest ihres Lebensweges nur noch wie
Schlafwandler zurücklegen würden.
Wie viele Marsleute würden wohl in einem Jahr der
Leberschrumpfung, Nierenvergiftung, zu hohem Blutdruck
oder Selbstmord zum Opfer gefallen sein?
Er stand in der Mitte der leeren Allee. Zwei
Häuserblocks weiter raste ein Auto auf ihn zu.
Er hatte die Wahl: Hierbleiben, den Job im Filmstudio
annehmen und jeden Morgen als Berater pünktlich zur
Arbeit erscheinen – mit der Zeit würde er sich sogar zu der
Ansicht des Produzenten bekehren, ja, auf dem Mars gibt
es Massaker; ja, die Frauen dort sind groß und blond, ja,
die Marsleute führen Stammestänze auf und opfern ihren
Göttern; ja, ja, ja. Oder er konnte dort hinüber gehen, ein
Raumschiff besteigen und allein zum Mars zurückkehren.
»Aber was wird im nächsten Jahr sein?« fragte er sich.
Der Nachtklub ›Zum Blauen Engel‹ würde auf den Mars
verpflanzt sein. Das Spielkasino ›Zur Antiken Stadt‹, an
Ort und Stelle aufgebaut. Neonreklamen, jagende
Automobile in den Straßen der alten Städte und Picknick-
Parties in den ehrwürdigen Friedhöfen der Ahnen – alles,
alles.
Doch noch war es nicht so weit. In wenigen Tagen
konnte er zu Hause sein. Tylla wartete mit dem Sohn auf
ihn, und die letzten paar Jahre, solange das geruhsame
Leben noch dauerte, konnte er mit seiner Frau am Rande
des Kanals sitzen, das herrliche Wetter und seine guten
Bücher genießen, einen köstlichen, leichten Wein
schlürfen, sich mit Tylla unterhalten und die kurze Zeit
auskosten, bis das sinnverwirrende Neondurcheinander
vom Himmel fiel.
Und dann konnten er und Tylla vielleicht in die blauen
Berge ziehen und sich dort weitere ein oder zwei Jahre
verbergen, bis die Touristen auch dort aufkreuzten, mit
ihren Photoapparaten klickten und sich gegenseitig
versicherten, wie wunderlich es doch hier sei.
Er wußte genau, was er Tylla erzählen würde: ›Krieg ist
eine schlimme Sache – aber Frieden kann ein Schrecken
ohne Ende sein.‹
Er stand in der Mitte der breiten Allee.
Als er sich umdrehte, überraschte es ihn nicht, daß ein
Auto auf ihn zuraste, ein ganzer Wagen voller schreiender
Halbwüchsiger. Die Jungen und Mädchen, keines der
Kinder älter als sechzehn, brausten wild kurvend und
schleudernd mit ihren offenen Wagen die Allee hinunter. Er
sah, wie sie auf ihn zeigten und schrien. Er hörte den
Motor aufheulen. Das Auto sauste mit neunzig
Stundenkilometern auf ihn zu.
Er begann zu rennen.
Ach ja, dachte er müde, als der Wagen über ihm war, wie
sonderbar, wie traurig; es klingt so sehr wie ... ein
Zementmixer.

Marionetten, e. V.
Gegen zehn Uhr abends schlenderten sie die Straße
hinunter und plauderten miteinander. Sie waren beide
ungefähr fünfunddreißig Jahre alt und beide
bemerkenswert nüchtern.
»Aber warum nur so früh?« fragte Smith.
»Ich kann nicht anders«, erwiderte Braling.
»Seit Jahren ist es das erste Mal, daß du ausgehst, und
dann willst du um zehn Uhr nach Hause!«
»Ich hab' keine Ruhe mehr«, meinte Braling.
»Ich wundere mich nur, wie du es überhaupt
fertiggebracht hast. Seit zehn Jahren versuche ich nun, zu
einem ruhigen kleinen Umtrunk zu entwischen. Und heute,
wo wir es beide zum erstenmal geschafft haben, willst du
unbedingt früh nach Hause.«
»Darf mein Glück nicht in Versuchung führen«, sagte
Braling.
»Wie hast du's gemacht, deiner Frau Schlafpulver in den
Kaffee getan?«
»Nein, das wäre unmoralisch. Du wirst's schon früh
genug sehn.«
Sie gingen um eine Ecke. »Ehrlich, Braling, ich sag's
nicht gern, aber du hast wirklich viel Geduld mit ihr
gehabt. Du brauchst es mir nicht zu bestätigen, aber die
Ehe ist für dich bisher schrecklich gewesen, nicht wahr?«
»So würde ich es eigentlich nicht ausdrücken.«
»Jedenfalls hat es sich da und dort herumgesprochen,
wie sie dich zur Heirat gezwungen hat. Damals 1979, als
du nach Rio fahren wolltest ...«
»Ach ja, Rio! So viele Pläne, und doch bin ich nie
hingekommen.«
»Und wie sie ihre Kleider zerrissen, sich die Haare
gerauft und gedroht hat, die Polizei zu rufen, wenn du sie
nicht heiratest.«
»Sie war immer sehr sensibel, Smith, verstehst du.«
»Es war mehr als unfair. Du liebtest sie nicht. Und du
hast es ihr auch gesagt, stimmt's nicht?«
»Ich erinnere mich, daß ich in dieser Sache ziemlich
deutlich gewesen bin.«
»Aber du hast sie trotzdem geheiratet.«
»Ich mußte an meine Firma denken, ebenso an meine
Mutter und meinen Vater. Ein solcher Skandal hätte sie
getötet.«
»Und so geht das nun seit zehn Jahren.«
»Ja«, sagte Braling, dessen graue Augen starr geradeaus
blickten. »Doch vielleicht ändert sich die Lage jetzt. Sieh
her.«
Er zog ein langes blaues Billet aus der Tasche.
»Ach, das ist ja ein Flugschein nach Rio mit der
Donnerstags-Rakete!«
»Ja, endlich habe ich es geschafft.«
»Aber das ist ja großartig! Du hast es wirklich verdient!
Doch wird sie auch keine Einwände erheben?
Schwierigkeiten machen?«
Braling lächelte nervös. »Sie wird gar nicht merken, daß
ich fort bin.«
Smith seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mit dir
Siegen.«
»Armer Smith, deine Ehe ist auch nicht gerade rosig?«
»Nicht besonders, wenn man mit einer Frau verheiratet
ist, die zuviel des Guten tut. Weißt du, wenn man zehn
Jahre verheiratet ist, erwartet man schließlich nicht mehr,
daß die Frau einem Abend für Abend zwei Stunden lang
auf dem Schoß sitzt, einen zwölfmal am Tag im Büro
anruft und verliebten Unsinn schwatzt. Manchmal überlege
ich mir, ob sie nicht vielleicht etwas zu naiv ist.«
»Ah, Smith, immer der alte – nur niemand zu nahe
treten. Doch wir sind bei meinem Haus angelangt. Na,
möchtest du gern mein Geheimnis kennenlernen? Wie ich's
angestellt habe, heute abend zu entwischen?«
»Willst du's mir wirklich verraten?«
»Schau hoch, dort!« sagte Braling.
Sie starrten beide durch die Dunkelheit nach oben.
Am Fenster über ihnen im ersten Stock öffnete sich ein
Laden. Ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, mit
leicht angegrauten Schläfen, traurigen grauen Augen und
einem schmalen, schütteren Schnurrbart sah zu ihnen
herab.
»Himmel, das bist ja du!« rief Smith.
»Sch-sch, nicht so laut!« Braling winkte nach oben. Der
Mann am Fenster winkte bedeutungsvoll zurück und
verschwand.
»Ich muß verrückt sein«, sagte Smith.
»Gedulde dich einen Augenblick.«
Sie warteten.
Die Haustür öffnete sich, und der große hagere Mann
mit dem Schnurrbart und den kummervollen Augen trat
heraus und gesellte sich zu ihnen.
»Hallo, Braling«, sagte er.
»Hallo, Braling«, erwiderte Braling.
Die beiden waren identisch.
Smith staunte mit weitaufgerissenen Augen. »Ist das
dein Zwillingsbruder? Ich habe nie gewußt ...«
»Nein, nein«, sagte Braling ruhig. »Tritt näher. Lege
dein Ohr an die Brust von Braling Zwei.«
Smith zögerte, beugte sich dann aber vor und legte
seinen Kopf gegen die Rippen des anderen.
Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick.
»Oh, nein! Das kann nicht sein!«
»Es ist so.«
»Laß mich nochmal hören.«
Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick.
Smith richtete sich schwankend auf und klappte entsetzt
mit den Augenlidern. Er streckte den Arm aus und berührte
die warmen Hände und Wangen des Dings.
»Woher hast du es?«
»Ist er nicht fabelhaft nach Maß gearbeitet?«
»Unglaublich. Woher?«
»Gib dem Herrn deine Karte, Braling Zwei.«
Braling Zwei produzierte eine weiße Karte:

MARIONETTEN, E. V.

Verdoppeln Sie sich selbst oder Ihre Freunde. Neue


Humanoid-Plastiken, 1990er-Modelle, garantiert haltbar,
keine physischen Abnützungs- oder
Ermüdungserscheinungen. Von $ 7600 bis zu unserem $
15 000 De-luxe-Modell.

»Nein«, sagte Smith.


»Doch«, sagte Braling.
»Wie lange geht das schon so?«
»Ich habe ihn jetzt seit einem Monat. Wenn ich zu Hause
bin halte ich ihn im Keller in einer Werkzeugkiste. Meine
Frau geht niemals hinunter, und ich habe das einzige
Schloß und den einzigen Schlüssel zu dieser Kiste. Heute
abend sagte ich zu ihr, ich wollte nur mal einen kleinen
Spaziergang machen und mir eine Zigarre kaufen. Ich ging
in den Keller, holte Braling Zwei aus seiner Kiste und
schickte ihn nach oben, während ich weiterging um meine
Verabredung mit dir einzuhalten, Smith.«
»Wunderbar! Er riecht sogar wie du: Bond Street und
Melachrinos!«
»Es mag Haarspalterei sein, aber ich halte dies für
höchst moralisch. Schließlich bin ich es doch, nach dem
meine Frau sich am meisten verzehrt. Diese Marionette ist
ich, bis zum letzten Härchen. Ich bin den ganzen Abend zu
Hause gewesen. Ich werde den ganzen nächsten Monat bei
ihr bleiben. Inzwischen wird ein anderer Braling in Rio
sein, nachdem er zehn Jahre darauf gewartet hat. Wenn ich
von Rio nach Hause komme, wird Braling Zwei hier in
seine Kiste zurückgehen.«
Smith dachte ein paar Augenblicke darüber nach. »Wird
er einen ganzen Monat lang ohne jede Wartung
umhergehen können?« fragte er schließlich.
»Sechs Monate, wenn notwendig. Und er ist so
konstruiert, daß er alles tut wie wir – essen, schlafen,
schwitzen – alles so natürlich, wie es die Natur vorsieht. –
Du wirst gut für meine Frau sorgen, nicht wahr, Braling
Zwei?«
»Deine Frau ist ganz nett«, sagte Braling Zwei. »Ich
habe sie ziemlich lieb gewonnen.«
Smith begann zu zittern. »Wie lange arbeitet
›Marionetten e. V.‹ schon?«
»Seit zwei Jahren, heimlich.«
»Könnte ich – ich meine, gibt es eine Möglichkeit ...«
Ernsthaft faßte Smith seinen Freund beim Ellbogen.
»Kannst du mir nicht sagen, wo ich so eine Marionette für
mich selbst bekommen kann? Du gibst mir doch die
Adresse, nicht wahr?«
»Bitte schön.«
Smith nahm die Karte. »Vielen Dank«, sagte er. »Du
weißt nicht, was das für mich bedeutet. Nur eine kleine
Verschnaufpause. Einen Abend oder so, einmal im Monat
vielleicht. Meine Frau liebt mich so sehr, daß sie es nicht
ertragen kann, wenn ich nur eine Stunde fort bin.«
»Du hast wenigstens noch das Glück, daß deine Frau
dich liebt. Haß ist mein Problem. Nicht so einfach.«
»Oh, Nettie liebt mich rasend. Meine Aufgabe wird es
sein, ihre Leidenschaft ein wenig zu zügeln.«
»Viel Glück, Smith. Schau ab und zu mal rein, wenn ich
in Rio bin. Es würde meiner Frau sonderbar vorkommen,
wenn du plötzlich deine Besuche einstellen wolltest. Du
kannst Braling Zwei hier genauso wie mich behandeln.«
»In Ordnung. Auf Wiedersehn. Und vielen Dank.«
Smith ging lächelnd die Straße hinunter. Braling und
Braling Zwei drehten sich um und traten in den Hausflur.
Im Omnibus pfiff Smith leise vor sich hin und drehte die
weiße Karte in seiner Hand:

Unsere Klienten sind zur Geheimhaltung verpflichtet,


denn solange das Gesetz zur Legalisierung von
›Marionetten, e. V.‹ vom Kongreß noch nicht
verabschiedet ist, gilt es als Staatsverbrechen, eine
unserer Marionetten zu benutzen.
»Sei's drum«, sagte Smith.

Klienten müssen einen Abguß ihres Körpers machen


lassen, sowie einen Farbindex-Test ihrer Augen, Lippen,
Haare, Haut etc. Sie müssen mit einer zweimonatigen
Wartezeit rechnen, bis ihr Modell fertiggestellt ist.

Nicht so lange, dachte Smith. In zwei Monaten werden


meine gequetschten Rippen Gelegenheit bekommen,
wieder zurechtzuwachsen. In zwei Monaten von heute an
wird meine Hand vom dauernden Gehaltenwerden heilen
können. In zwei Monaten von heute an wird meine
geschwollene Unterlippe wieder ihre normale Form
anzunehmen beginnen. Ich möchte bestimmt nicht
undankbar scheinen ... Er wendete die Karte:

›Marionetten, e. V.‹ ist zwei Jahre alt und hat einen


Stamm renommierter, zufriedener Kunden hinter sich.
Unser Motto lautet: ›Keinerlei Bindungen mehr‹.
Adresse: 43, South Wesley Drive.

Der Bus bremste; er kletterte hinaus, und während er


summend die Treppen hinaufstieg, dachte er, Nettie und ich
haben fünfzehntausend auf unserem gemeinsamen
Bankkonto. Ich werde einfach achttausend abheben, für ein
Spekulationsgeschäft, könnte man sagen. Die Marionette
wird mir mein Geld wieder einbringen, mit Zinsen, auf
manche Weise. Nettie braucht es nicht zu wissen. Einen
Augenblick später stand er im Schlafzimmer.
›Gute Nettie.‹ Reue überwältigte ihn fast, als er ihr
unschuldiges Gesicht im Halbdunkel sah. ›Wärest du wach,
du würdest mich mit Küssen erdrücken und Liebesschwüre
in mein Ohr flüstern. Wirklich, vor dir komme ich mir wie
ein Verbrecher vor. Du bist mir so eine gute, liebevolle
Frau gewesen. Manchmal kann ich es immer noch nicht
glauben, daß du mich geheiratet hast anstelle von diesem
Bud Chapman, den du einmal so gern hattest. Ich meine
fast, daß du mich im letzten Monat noch ungestümer
geliebt hast als je zuvor.‹
Tränen traten in seine Augen. Plötzlich wünschte er sie
zu küssen, ihr seine Liebe einzugestehen, die Karte zu
zerreißen, die ganze Sache zu vergessen. Aber als er sich
über sie beugen wollte, knackten seine Rippen, und seine
Hand schmerzte. Mit einem wehen Ausdruck in seinen
Augen hielt er inne und drehte sich um. Er ging in die
Diele hinaus und durch die dunklen Zimmer. Vor sich hin
summend, öffnete er den nierenförmigen Schreibtisch im
Bibliothekszimmer und entnahm ihm das Sparbuch. »Ich
nehme mir einfach achttausend Dollar, und damit hat
sich's«, sagte er. »Nicht mehr.« Er stutzte. »Was ist denn
das?«
Fieberhaft blätterte er das ganze Sparbuch durch. »Na
warte!« schrie er. »Zehntausend Dollar fehlen!« Er sprang
auf. »Nur fünftausend sind noch übrig! Was hat sie getan?
Was hat Nettie bloß damit gemacht? Noch mehr Hüte, noch
mehr Kleider, noch mehr Parfüm! Oder – halt – ich weiß
es! Sie hat das kleine Haus am Hudson gekauft, von dem
sie schon seit Monaten redet – und das, ohne wenigstens
der Form halber ›mit deiner Erlaubnis‹ zu sagen!«
Er stürmte ins Schlafzimmer, aufgebracht und seiner
Sache sicher. Was bildete sie sich ein, so einfach über ihr
gemeinsames Geld zu verfügen! Er beugte sich über sie.
»Nettie!« rief er laut. »Nettie, wach auf!«
Sie rührte sich nicht. »Was hast du mit dem Geld getan!«
schrie er.
Etwas an ihr kam ihm sonderbar vor. Sein Herz begann
wild zu klopfen. Sein Mund wurde trocken. Ein Schauder
überrann ihn. Seine Knie wurden plötzlich weich. Er brach
zusammen. »Nettie, Nettie!« schrie er. »Was hast du mit
meinem Geld getan!«
Und ohne es zu wollen, beugte er sich weiter und weiter
vor, bis sein fiebergerötetes Ohr fest auf ihrem runden
Busen ruhte.
»Nettie!« schrie er auf.
Tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick-tick.

Während Smith die Avenue hinunterschritt und in der


Nacht verschwand, traten Braling und Braling Zwei in den
Hausflur. »Ich freue mich, daß auch er glücklich werden
wird«, sagte Braling.
»Ja«, meinte Braling Zwei zerstreut.
»Und nun in den Keller und in die Kiste mit dir, B.
Zwei.« Braling führte das Geschöpf am Ellbogen hinunter
in den Keller.
»Darüber wollte ich mich gerade mit dir unterhalten«,
sagte Braling Zwei, als sie unten angelangt waren und über
den Zementboden schritten. Ȇber den Keller. Ich mag ihn
nicht. Mir gefällt die Werkzeugkiste nicht.«
»Ich werde versuchen, dir etwas Bequemeres
zurechtzumachen.«
»Marionetten sind dazu gemacht, daß sie sich bewegen.
Wie würde es dir gefallen, wenn du die meiste Zeit in einer
Kiste liegen müßtest?«
»Nun ja ...«
»Es würde dir überhaupt nicht gefallen. Ich funktioniere
weiter. Es gibt keine Möglichkeit, mich abzustellen. Ich bin
regelrecht lebendig, und ich besitze Gefühl.«
»Es dauert nur noch ein paar Tage. Dann verschwinde
ich nach Rio, und du brauchst nicht länger in der Kiste zu
liegen. Du kannst oben in der Wohnung leben.«
Braling Zwei gestikulierte leicht gereizt. »Und wenn du
zurückkommst und dein Vergnügen genossen hast, ist mein
Platz wieder die Kiste.«
»In der Marionettenfabrik hat man mir nichts davon
erzählt«, sagte Braling ruhig.
»Es gibt eine ganze Menge, was sie nicht über uns
wissen«, erwiderte Braling Zwei. »Wir sind noch ziemlich
neu. Und wir sind sensibel. Ich hasse den Gedanken, daß
du jetzt abreisen willst und dir ins Fäustchen lachst und in
Rio in der Sonne liegst, während wir hier in der Kälte
sitzen bleiben müssen.«
»Mein ganzes Leben lang habe ich diese Reise
herbeigesehnt«, sagte Braling ruhig.
Er kniff die Augen zusammen und konnte das Meer und
die Berge und den gelben Sand sehen. Es tat gut, im Geiste
das Rauschen der Wellen zu hören!
»Ich werde nie nach Rio kommen«, sagte der andere.
»Hast du daran gedacht?«
»Nein, ich ...«
»Und noch etwas. Deine Frau.«
»Was ist mit ihr?« fragte Braling und begann, sich
vorsichtig in Richtung auf die Tür zurückzuziehen.
»Ich habe sie inzwischen ziemlich lieb gewonnen.«
»Es freut mich, daß deine Beschäftigung dir gefällt.«
Braling leckte sich nervös die Lippen.
»Ich fürchte, du verstehst mich nicht. Ich glaube – ich
liebe sie.«
Braling machte einen weiteren Schritt und erstarrte. »Du
– was?«
»Und ich habe darüber nachgedacht«, sagte Braling
Zwei, »wie nett es in Rio sein würde. Und auch über deine
Frau habe ich nachgedacht, und – ich glaube, wir könnten
sehr glücklich sein.«
»D-das ist fein.« So unauffällig wie möglich schlenderte
Braling zur Kellertür hin. »Es macht dir doch nichts aus,
wenn ich dich einen Augenblick warten lasse, nicht wahr?
Ich muß nur rasch einmal telephonieren.«
»Wen willst du anrufen?« fragte Braling Zwei mit
gerunzelter Stirn.
»Ach, das ist unwichtig.«
»Marionetten, e. V.? Sagen, daß sie kommen und mich
abholen sollen?«
»Nein – nein, nichts dergleichen!« Er versuchte, aus der
Tür zu rennen.
Ein metallharter Griff schloß sich um sein Handgelenk.
»Lauf nicht davon!«
»Laß mich sofort los!«
»Nein.«
»Hat meine Frau dich aufgehetzt?«
»Nein.«
»Hat sie etwas gemerkt? Hat sie mit dir darüber geredet?
Weiß sie? Ist es deswegen?« Er schrie. Eine Hand
verschloß seinen Mund.
»Du wirst es nie erfahren, oder?« Braling Zwei lächelte
fein. »Du wirst es nie erfahren.«
Braling wand sich verzweifelt. »Sie muß es gemerkt
haben; sie muß dich angestiftet haben!«
Braling Zwei sagte: »Ich werde dich jetzt in die
Werkzeugkiste stecken, abschließen und den Schlüssel
verlieren. Und dann werde ich einen zweiten Flugschein
nach Rio für deine Frau kaufen.«
»Halt, halt, wart einen Moment. Handle nicht
unüberlegt. Laß uns noch einmal darüber reden!«
»Adieu, Braling.«
Braling erstarrte. »Was meinst du damit – ›adieu‹?«

Zehn Minuten später erwachte Mrs. Braling. Sie strich sich


mit der Hand über die Wange. Jemand hatte sie gerade
geküßt. Sie erschauerte ein wenig und sah hoch. »Nanu –
das hast du seit Jahren nicht mehr getan«, murmelte sie.
»Wir wollen sehen, ob sich das nicht ändern läßt«,
antwortete jemand.

Die Stadt

Die Stadt wartete seit zwanzigtausend Jahren.


Die Stadt wartete mit all ihren Fenstern, den schwarzen
Wänden aus Obsidian, ihren himmelanstrebenden Türmen
mit unbewimpelten Zinnen, ihren unbetretenen Straßen und
unberührten Türgriffen, die kein Fetzen Papier, kein
Fingerabdruck befleckte. Die Stadt wartete, während der
Planet seine Kreisbahn durch den Raum und um eine
bläulich weiße Sonne zog, während die Jahreszeiten von
Eis zu feuriger Glut, wieder zurück zu Eis und weiter zu
grünen Wiesen und goldgelben Sommerfeldern wechselten.
An einem Sommernachmittag um die Mitte des
zwanzigtausendsten Jahres geschah es, daß das Warten ein
Ende hatte.
Ein Raumschiff erschien am Himmel.
Das Raumschiff glitt über die Stadt hinweg, schlug einen
Bogen, kam zurück und landete auf der flachen Wiese,
fünfzig Meter vor den lavaschwarzen Wanden.
Stiefel raschelten durch das dünne Gras, und Stimmen
drangen aus dem Raumschiff und mischten sich mit den
Stimmen der Männer, die bereits davor standen.
»Fertig?«
»Also los, Leute. Aber vorsichtig! In die Stadt. Jensen,
Sie und Hutchinson gehen voraus. Achten Sie genau auf
alles Verdächtige!«
Verborgene Nüstern öffneten sich in den schwarzen
Wänden der Stadt, und ein tief in den Eingeweiden der
Stadt sich drehender Ventilator saugte einen mächtigen
Luftstrom durch ein System von Rohrleitungen, Staubund
Geruchfiltern, über ein feines, bebendes und silbrig
schimmerndes Netz von Fäden, Spulen und Rädchen.
›Feuerdunst, der Geruch eines abgestürzten Meteors,
heißes Metall. Ein Raumschiff ist von einer anderen Welt
gekommen. Messinggeruch, Pulverqualm, schwefliger
Dunst nach verbranntem Raketentreibstoff.‹
Auf Bänder gestanzt, glitten diese Informationen durch
Schlitze und wurden von gelben Zahnrädern und Walzen
zur Auswertung in Maschinen geleitet.
Eine Rechenmaschine arbeitete mit dem gleichmäßigen
Schlag eines Metronoms. Fünf, sechs, sieben, acht, neun.
Neun Männer!
Blitzschnell hämmerten Tasten, schrieben diese
Nachricht auf ein Band, das sich in Bewegung setzte und
verschwand.
Klicketi-klick-klack-klack.
Die Stadt wartete auf den weichen Tritt ihrer
gummibesohlten Stiefel.
Die großen Nüstern der Stadt weiteten sich erneut.
Ein Hauch nur, ausströmend von den Körpern der
heranpirschenden Männer, wurde von der großen Nase
sogleich aufgespalten, weckte Erinnerungen an Milch,
Käse, Butter – Ausdünstungen einer auf Milchwirtschaft
aufgebauten Ernährung.
Klick-klick.
»Vorsichtig, Männer!«
»Jones, nehmen Sie Ihre Pistole in die Hand. Seien Sie
nicht leichtsinnig!«
»Die Stadt ist ausgestorben; wozu also?«
»Man kann nie wissen.«
Als die schroffen Stimmen die Stille zerrissen,
erwachten die Ohren der Stadt. Nach Jahrhunderten des
Horchens auf leise verebbende Winde und von den
Bäumen fallende Blätter, auf das langsame Wachsen des
Grases und das Tropfen schmelzenden Schnees ölten die
Ohren sich, automatisch gesteuert, strafften sich gewaltige
Trommelfelle, auf denen der Herzschlag der Eindringlinge
leise vibrierte wie das Schwirren von Mückenschwingen.
Die Ohren lauschten, und die Nase füllte riesige Kammern
mit eingeatmetem Duft.
Schweißgeruch stieg auf von verängstigten Männern.
Feuchte Inseln bildeten sich unter ihren Armen, und
Feuchtigkeit sammelte sich in ihren Händen, mit denen sie
ihre Pistolen umklammerten.
Die Nase siebte und prüfte diese Luft wie ein Kenner,
der einen alten Weinjahrgang begutachtet.
Tschick-tschick-tschack-klick.
Informationen rollten auf parallel laufenden
Kontrollbändern in die Tiefe; Chloride, soundso viel
Prozent; Sulfate, soundso viel Harnsäure, soundso viel;
Ammoniak, soundso viel. Milchsäure Kreatinin, Zucker.
Auswertung.
Glocken schlugen an. Ziffern wurden zu Summen
addiert.
Die Nase stieß wispernd die getestete Luft aus. Die
großen Ohren horchten:
»Ich meine, wir sollten lieber zum Raumschiff
zurückkehren, Kapitän.«
»Ich gebe die Befehle, Mr. Smith!«
»Jawohl, Sir!«
»Ihr da vorn, Patrouille! Seht ihr etwas?«
»Nichts, Sir. Sieht aus, als sei die Stadt schon seit
langem ausgestorben.«
»Haben Sie gehört, Smith? Nichts zu befürchten.«
»Mir gefällt's hier nicht. Ich weiß nicht, warum. Kennen
Sie das Gefühl, einen Ort schon einmal gesehen zu haben?
Nun, diese Stadt kommt mir zu bekannt vor.«
»Unsinn. Dieses Planetensystem befindet sich viele
Milliarden Meilen von der Erde entfernt; wir können
unmöglich schon hier gewesen sein. Unser Raumschiff ist
das erste mit Lichtgeschwindigkeit.«
»Jedenfalls habe ich dieses Gefühl, Sir. Ich glaube, wir
sollten schleunigst umkehren.«
Der Klang der Schritte erstarb. Nur noch das
Atemgeräusch der Eindringlinge tönte leise durch die stille
Luft.
Das unsichtbare Ohr verstärkte die aufgefangenen Laute.
Rotoren setzten sich in Bewegung, Flüssigkeiten glitzerten
in Rinnen, liefen durch Röhren, wurden durch Spritzdüsen
gepreßt. Formeln fielen in Schlitze – fertig. Augenblicke
später, als Antwort auf die von Nase und Ohr übermittelten
Ergebnisse, wehte ein frischer Duft aus riesigen Poren in
den Wänden der Stadt über die Eindringlinge.
»Riechen Sie das, Smith? Ahh! Frisches, grünes Gras.
Gibt es einen herrlicheren Geruch? Am liebsten möchte ich
ewig hier stehenbleiben und diesen Duft einatmen.«
Unsichtbares Chlorophyll schwebte in feinster
Verteilung zwischen den wie angewurzelt stehenden
Männern.
»Ahh!«
Die Schritte tappten weiter.
»Na, Smith, kommt Ihnen das auch komisch vor?
Vorwärts, Leute!«
Nase und Ohr entspannten sich für den millionstel
Bruchteil einer Sekunde. Der Gegenzug hatte Erfolg
gezeitigt. Die Männer drangen tiefer in die Stadt.
Und jetzt öffneten sich die ruhenden Augen der Stadt,
schüttelten den Staub der Jahrhunderte ab.
»Käpt'n, die Fenster!«
»Was ist?«
»Die Fenster dort! Ich sah, wie sie sich bewegten!«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Sie haben sich verschoben. Die Farbe gewechselt. Von
Dunkel zu Hell!«
»Ich kann nichts Ungewöhnliches an diesen Fenstern
finden.«
Auf verschwommene Objekte konzentrierte sich der
Brennpunkt. In den maschinenstarrenden Tiefen der Stadt
fielen frisch geölte Hebel herum, tauchten Ausgleichsräder
in grünschimmernde Ölbecken. Die Fensterrahmen paßten
sich an. Die Scheiben blitzten auf.
Unten auf der Straße gingen zwei Wesen, eine Patrouille,
in sicherem Abstand gefolgt von sieben weiteren. Ihre
Uniformen waren weiß, ihre Gesichter rosig, ihre Augen
blau. Sie gingen aufrecht auf zwei Beinen und trugen
Waffen aus Metall. Ihre Füße steckten in Stiefeln. Sie
waren Menschen, männlichen Geschlechts, mit Augen,
Ohren, Mündern und Nasen.
Die Fenster bebten. Die Scheiben wurden dünner. Sie
weiteten sich unmerklich, wie die Pupillen zahlloser
Augen.
»Ich sage Ihnen, Käpt'n, die Fenster bewegen sich!«
»Los, weiter!«
»Ich kehre um, Sir.«
»Was?«
»Ich gehe zum Raumschiff zurück.«
»Mr. Smith!«
»Ich lasse mich nicht in eine Falle locken!«
»Angst vor einer leeren Stadt?«
Die anderen lachten, doch es klang nicht sehr
überzeugend.
»Lacht nur weiter!«
Die Straße war mit Steinen gepflastert, deren jeder eine
Oberfläche von acht mal sechzehn Zentimetern aufwies.
Mit einer unmerklich sachten Bewegung senkte sich die
Straße. Die Eindringlinge wurden gewogen.
In einem Keller wies ein roter Zeiger auf eine Zahl: 161
Pfund ... 190, 142, 183, 176 – jeder Mann wurde gewogen,
sein Gewicht registriert, und das Ergebnis lief auf Bändern
weiter hinab in die Dunkelheit.
Plötzlich war die Stadt hellwach!
Die Ventilatoren saugten und prüften die Luft:
Tabakdunst aus den Mündern der Eindringlinge,
Seifengeruch von ihren Händen. Sogar ihre Augäpfel
strömten einen kaum merklichen Geruch aus. Die Stadt
registrierte alles, und die Summen der Einzelinformationen
gruppierten sich unter frühere Summen, wurden zu neuen
Ergebnissen addiert. Die kristallenen Fenster glitzerten das
Trommelfell spannte sich straff und straffer – alle Sinne
der Stadt summten wie ein unsichtbarer Bienenschwarm,
unhörbar für die Männer, zählten ihre Atemzüge und ihre
Herzschläge, lauschten, beobachteten, prüften und
schmeckten.
Denn die Straßen waren wie Zungen, und wo die
Männer über sie hinweggeschritten waren, sickerte der
Geschmack ihrer Sohlen und Absätze durch die Poren der
Steine und wurde auf Reagenzpapier getestet. Das Ergebnis
dieser chemischen Untersuchung, auf so subtile Weise
erlangt, wurde zu den bisherigen Ergebnissen addiert, die
in wachsender Anzahl sich sammelten und auf die
Endkalkulation zwischen sausenden Rädern und
schwirrenden Speichen warteten.
Rasche Schritte. Laufen.
»Kommen Sie zurück! Smith!«
»Nein, zum Teufel!«
»Holt ihn zurück, Leute!«
Das Durcheinander vieler Schritte, die hinterher setzten.
Der Abschlußtest. Nachdem die Stadt gehorcht,
beobachtet, gerochen, geprüft, geschmeckt und gewogen
hatte, mußte sie sich endgültig vergewissern.
Eine Falltür in der Straße stürzte ein. Ungesehen von
den anderen, verschwand der Kapitän.
An den Füßen hängend, durchschnitt eine
rasiermesserscharfe Klinge die Kehle des Kapitäns, eine
andere öffnete seine Brust; auf einem Operationstisch in
einem verborgenen Raum unter der Straßendecke starb der
Kapitän. Maschinelle Hände leerten in Bruchteilen von
Sekunden Organe und Eingeweide aus seiner toten Hülle,
Elektronenmikroskope prüften rote, zuckende Muskelfäden
– seelenlose Finger tasteten das noch pulsende Herz ab.
Klammern befestigten die beiseite geklappten Hautlappen
der großen Einschnitte am Tisch, während die Hände
Organteile seines Körpers rasch und wißbegierig wie weiße
und rote Schachfiguren hin und her schoben.
Oben auf der Straße rannten die Männer. Smith lief, die
Männer riefen. Smith rief, und unter ihnen, in diesem
merkwürdigen Raum, floß Blut in Reagenzgläser, wurde
geschüttelt, zentrifugiert, auf Objektträgern unter
Mikroskope geschoben, wurden Blutkörperchen
ausgezählt, Temperaturen gemessen, das Herz in siebzehn
Sektionen geteilt, Leber und Nieren fachmännisch halbiert.
Der Schädel wurde angebohrt, das Gehirn aus der Schale
gelöst, Nerven wie stromlos gewordene Drähte einer
Schalttafel entfernt, Muskeln auf ihre Elastizität geprüft,
während in den summenden Tiefen der Stadt das
Riesenhirn seine letzte, größte Berechnung auswarf und die
gesamte Maschinerie für einen Augenblick knirschend zum
Stillstand kam.
Die Endsumme.
Dies sind Menschen. Menschen aus einer fernen Welt,
von einem bestimmten Planeten; sie haben genau
bestimmte Augen, bestimmte Ohren, gehen auf eine nur
ihrer Art eigentümliche Weise, tragen Waffen und denken
und kämpfen, besitzen Herzen und alle die Organe, die in
grauer Vorzeit registriert wurden.
Oben rannten die Männer zum Raumschiff hin.
Smith rannte voraus.
Die Endsumme.
Dies sind unsere Feinde. Sie sind es, auf die wir seit
zwanzigtausend Jahren gewartet haben. Dies sind die
Menschen, auf deren Besuch wir zur Rache gewartet
haben. Alle Berechnungen stimmen. Dies sind die
Menschen eines Planeten namens Erde, der vor
zwanzigtausend Jahren dem Planeten Taollan den Krieg
erklärte, der seine Bürger versklavte, zugrunde richtete und
mit einer Seuche vernichtete. Dann zogen sie fort, um in
einem anderen Sternensystem weiterzuleben und der
Seuche zu entfliehen, die sie uns nach der Ausplünderung
unseres Planeten hinterlassen hatten. Sie haben jenen Krieg
und jene Zeit vergessen, und sie haben uns vergessen. Wir
aber haben nichts vergessen. Sie sind unsere Feinde. Es ist
absolut sicher und erwiesen. Unser Warten ist beendet.
»Smith, komm zurück!«
Rasch! Über dem blutgeröteten Tisch mit der
ausgebreiteten geleerten Hülle des Kapitäns begannen
andere Hände sich fieberhaft zu regen. In die feuchte
Leibeshöhle wurden neue Organe aus Kupfer, Messing,
Silber, Aluminium, Gummi und Seide versenkt. Maschinen
spannen ein goldenes Gewebe, das unter die Haut gepflanzt
wurde; ein neues Herz rückte an seinen Platz, und ein
Platingehirn wurde in den Schädel gebaut, ein Gehirn, das
summend kleine blaue Funken sprühte und von dem sich
Drähte durch den ganzen Körper verzweigten, bis hinab in
die Finger- und Zehenspitzen. Innerhalb eines
Augenblickes war der Körper wieder zugenäht, die
Einschnitte wuchsen zusammen, heilten, am Nacken, an
Brust, Kehle und Kopf – alles vollkommen, frisch, neu.
Der Kapitän richtete sich auf, dehnte und beugte seine
Arme.
»Halt!«
Der Kapitän tauchte auf der Straße auf, hob seine Pistole
und feuerte. Smith fiel, eine Kugel im Herzen.
Die anderen Männer drehten sich um.
Der Kapitän lief zu ihnen hin.
»Dieser Narr! Hat Angst vor einer Stadt!«
Sie blickten auf den Leichnam von Smith zu ihren
Füßen.
Sie blickten ihren Kapitän an, und ihre Augen weiteten
und verengten sich.
»Hört zu«, redete der Kapitän sie an. »Ich habe euch
etwas Wichtiges zu erzählen.«
Die Stadt, die sie gewogen, geprüft, gerochen und
geschmeckt hatte, die alle ihre Fähigkeiten bis auf eine
angewendet hatte schickte sich jetzt an, auch diese letzte zu
beweisen – die Fähigkeit zu sprechen. Sie sprach nicht
durch die von Wut und Feindseligkeit erfüllten Wände und
Türme, nicht durch die Masse ihrer gepflasterten Straßen
und nicht durch ihr Maschinenarsenal. Sie sprach mit der
ruhigen Stimme eines einzelnen Mannes.
»Ich bin nicht mehr euer Kapitän«, sagte er, »auch bin
ich kein Mensch.«
Die Männer traten zurück.
»Ich bin die Stadt«, sagte er lächelnd.
»Ich habe zwanzigtausend Jahre gewartet«, fuhr er fort.
»Ich habe auf die Rückkehr der Nachkommen der Urenkel
der Enkel der Söhne gewartet.«
»Kapitän, Sir!«
»Unterbrecht mich nicht. Wer hat mich gebaut? Die
Stadt. Die Männer, die hier gestorben sind. Die alte Rasse,
die hier einst lebte. Das Volk, das von den Erdmenschen
einer furchtbaren Seuche ausgeliefert wurde, einer Abart
der Lepra, gegen die es kein Heilmittel gab. Und die
Männer jenes alten Volkes, die von dem Tag träumten, an
dem die Erdmenschen zurückkommen würden, bauten
diese Stadt auf dem Planeten der Finsternis, nahe dem
Gestade des Meeres der Jahrhunderte, vor dem Gebirge des
Todes: ihr Name war und ist Rache – das klingt alles sehr
poetisch. Diese ganze Stadt ist eine große Waagschale, eine
Retorte, ein Fühler, der sämtliche Raumreisende der
Vergangenheit getestet hat. In zwanzigtausend Jahren sind
nur zwei andere Raumschiffe hier gelandet. Eines aus
einem fernen Milchstraßensystem namens Ennt, und die
Insassen dieses Schiffes wurden geprüft, gewogen, als
unzutreffend befunden und unversehrt aus der Stadt
entlassen. Dasselbe geschah mit den Besuchern aus dem
zweiten Raumschiff. Doch heute, endlich, seid ihr
gekommen! Die Rache wird bis auf die letzte, kleinste
Einzelheit vollendet werden. Die Menschen hier sind seit
zwanzigtausend Jahren tot, aber sie haben diese Stadt
hinterlassen, euch zum Willkommensgruß!«
»Kapitän, Sir, Sie fühlen sich nicht wohl. Vielleicht wäre
es besser, wenn Sie mit uns zum Schiff zurückkehrten.«
Die Stadt erbebte.
Die Straße öffnete sich, und die Männer stürzten
schreiend in die Tiefe.
Noch im Fallen sahen sie die blitzenden Klingen, die
ihnen entgegenstarrten!
Kurze Zeit verstrich.
»Smith?«
»Hier!«
»Jensen?«
»Hier!«
»Jones, Hutchinson, Springer?«
»Hier, hier, hier!«
Sie standen vor der Schleuse ihres Raumschiffes.
»Wir kehren sofort zur Erde zurück.«
»Jawohl, Sir!«
Die Einschnitte an ihren Nacken waren unsichtbar wie
ihre erzenen Herzen, ihre silbernen Organe und die feinen
goldenen Drähte ihres Nervensystems. Ein kaum
vernehmbares elektrisches Summen drang aus ihren
Köpfen.
»Beeilung!«
Neun Mann rollten rasch die goldglänzenden
Bakterienbomben in das Innere des Schiffes.
»Diese Bomben werden über der Erde abgeworfen.«
»Zu Befehl, Sir!«
Das Schleusentor des Raumschiffes schlug zu. Das
Schiff stieg steil in den Himmel.
Als das Donnern der Rückstoßdüsen verklang, lag die
Stadt friedlich inmitten der sommerlichen Wiesen. Ihre
gläsernen Augen trübten sich. Das Trommelfell entspannte
sich, die großen Nüstern hörten auf zu atmen, die Straßen
gaben ihre Funktion als Waagen auf, und der verborgene
Maschinenpark kam mit all seinen funkelnden, geölten
Rädern zum Stillstand.
Im Himmel entschwand das Raumschiff.
Langsam, genußvoll, gab sich die Stadt der Wonne des
Sterbens hin.

Stunde Null

Oh, es war so lustig! Was für ein herrliches Spiel! So etwas


Aufregendes hatte es seit Jahren nicht gegeben! Die Kinder
flitzten wie mit dem Katapult geschleudert hierhin und
dorthin über den grünen Rasen, schrien durcheinander,
faßten sich bei den Händen, tanzten im Kreis, kletterten auf
die Bäume und lachten. Hoch über ihren Köpfen zogen
Passagierraketen durch den Himmel, und auf den Straßen
summten die Atomautos vorbei, doch die Kinder spielten
ungestört weiter.
Verstaubt und schwitzend kam Mink ins Haus gerannt.
Für ein Mädchen von sieben Jahren war sie sehr
selbstbewußt, kräftig und zielstrebig. Sie sauste an ihrer
Mutter vorbei in die Küche, riß Schubladen und
Schranktüren auf und begann, Pfannen und Töpfe und
Werkzeuge rasselnd in einem großen Sack verschwinden
zu lassen.
»Um Himmels willen, Mink, was willst du denn damit?«
fragte Mrs. Morris.
»Für unser Spiel, das tollste, das wir je gespielt haben!«
japste Mink mit glühenden Bäckchen.
»Du bist ja ganz außer Atem. Bleib und ruh dich erst
einmal aus«, entgegnete die Mutter.
»Nein, ich bin nicht müde«, keuchte Mink. »Darf ich
diese Sachen mitnehmen, Mammi?«
»Na, schön – aber verbeul sie nicht«, erlaubte Mrs.
Morris.
»Danke, Mammi, danke!« schrie Mink, während sie
bereits wie ein Wirbelwind aus der Küche fegte.
»Wie heißt denn euer neues Spiel?« rief Mrs. Morris
ihrem davonsausenden Liebling nach.
»Invasion!« schrie Mink über die Schulter. Mit einem
Knall schlug sie die Tür zu.
Auf allen Höfen und Spielplätzen der Straße trugen die
Kinder Messer und Gabeln, Schürhaken, alte Ofenrohre
und Dosenöffner zusammen.
Interessanterweise hatte diese eifrige Geschäftigkeit nur
die kleineren Kinder ergriffen. Die älteren, etwa vom
zehnten Lebensfahr ab, hielten dieses Spiel für albern und
zogen mit spöttischen Bemerkungen ihrer Wege.
Eltern kamen und fuhren in chromblitzenden
Atomstraßenkreuzern davon. Handwerker reparierten
Vakuum-Aufzüge in den Häusern, setzten neue Röhren in
flimmernde Fernsehgeräte und hämmerten an
widerspenstigen Lebensmittel-Verteilerröhren herum. Die
vorbeikommenden Erwachsenen beneideten insgeheim die
geschäftig umhersausenden Knirpse um ihren Eifer und
ihre Energie, lächelten nachsichtig über ihre Kindereien
und wünschten wohl im stillen, auch noch einmal so jung
und unbeschwert zu sein.
»Das und das und dieses hier«, wies Mink die anderen
Kinder an, die mit Löffeln und Schraubenschlüsseln um sie
herumstanden. »Du machst das, und du bringst dies
dorthin. Nein! Hierher Dummkopf! Richtig. Und jetzt tretet
zurück, damit ich das hier aufbauen kann.« Die Zunge
zwischen den Zähnen, die Stirn nachdenkend in Falten
gelegt, beschäftigte sie sich mit diversen Küchengeräten
und Handwerkszeugen. »So ist's richtig. Habt ihr's alle
kapiert?«
»Jaaaaa!« schrien die Gören.
Der zwölf Jahre alte Joseph Connors kam hinzugelaufen.
»Geh weg!« fuhr Mink ihn an.
»Ich will mitspielen«, sagte Joseph.
»Geht nicht!« erwiderte Mink.
»Warum nicht?«
»Du würdest uns bloß auslachen.«
»Bestimmt nicht, Ehrenwort!«
»Nein. Wir kennen dich. Hau ab, oder wir treten dir an
die Schienbeine!«
Ein anderer zwölfjähriger Junge zischte auf seinen
Motorrollschuhen heran. »He, Joe! Komm mit! Laß die
dummen kleinen Mädchen doch allein spielen!«
Joseph verzog schmollend das Gesicht. »Ich will aber
mitspielen!« sagte er.
»Du bist zu alt«, entschied Mink.
»So alt bin ich auch wieder nicht«, entgegnete Joseph
beleidigt.
»Du würdest bloß lachen und unsere Invasion
verderben.«
Der Junge auf den Motorrollschuhen prustete höhnisch.
»Komm, Joe! Die und ihre Ammenmärchen! Verrückt!«
Zögernd ging Joseph fort. Noch bis zum nächsten
Häuserblock sah er sich immer wieder nach den Kindern
um.
Mink hatte ihre Beschäftigung schon wieder
aufgenommen. Aus ihren gesammelten Gegenständen
baute sie einen sonderbaren Apparat. Ein anderes kleines
Mädchen, das mit Bleistift und Schreibblock bewaffnet
daneben saß, bemühte sich unbeholfen, Minks
Anweisungen zu notieren. Ihre eifrigen Stimmen stiegen in
die warme, sonnige Luft.
Um sie herum summte das Leben der Stadt. Die Straßen,
von saftigem Grün und schattigen Bäumen gesäumt, boten
ein Bild des Friedens. In tausend anderen Städten zeigte
sich das gleiche Bild, spielten Kinder wie hier, gingen
Geschäftsleute ihrer Arbeit nach, diktierten in stillen Büros
auf Tonbänder oder führten Fernsehgespräche. Silbrig
glänzende Raketenschiffe zogen wie Libellen durch den
blauen Himmel. Über allem aber lag die weltweite, ruhige
Selbstgefälligkeit und Zufriedenheit einer Menschheit, die
den Frieden für selbstverständlich hielt und ganz sicher
war, daß er nie wieder gestört werden würde. Alle Staaten
der Erde hatten sich zu einem einzigen Bündnis
zusammengefunden, und die vollkommenen Waffen
wurden von allen Nationen gemeinsam verwaltet. Ein
unglaublich stabiles Gleichgewicht der Kräfte war erreicht
worden und es gab keine Verräter, keine Unglücklichen
oder Unzufriedenen mehr: die Welt ruhte unerschütterlich
in ihren Angeln.
Minks Mutter blickte aus einem Fenster im Obergeschoß
auf den Hof hinunter.
Diese Kinder! Sie schüttelte leicht den Kopf, während
sie ihnen zusah. Nun, nach dem Spiel würden sie jedenfalls
mit Appetit essen und gut schlafen – am Montag rief
ohnehin wieder die Schule. Man mußte Gott dankbar sein,
daß sie so kräftig und gesund waren! Sie lauschte.
Mink redete gerade ernsthaft mit jemandem in der Nähe
des Rosenstrauches – doch da war niemand zu sehen.
Eine Phantasie haben die Kinder! Und was macht das
kleine Mädchen dort – wie hieß sie doch gleich – Anna?
Richtig! Anna saß am Boden und machte Notizen auf
einem Schreibblock. Zuerst stellte Mink dem Rosenstrauch
eine Frage, dann rief sie Anna die Antwort zu.
»Triangel«, sagte Mink.
»Was ist ein Tri... ein Triangel?« fragte Anna verwirrt.
»Ist doch jetzt unwichtig. Keine Zeit«, erwiderte Mink.
»Wie buchstabiert man das?« fragte Anna.
»T-r-i –«, buchstabierte Mink langsam, rief dann aber
ärgerlich: »Oh, buchstabier's dir doch selbst!«
Sie lauschte weiter und rief Anna rasch ein neues Wort
zu: »Strahl.«
»Ich hab' aber erst Tri- aufgeschrieben!« protestierte
Anna.
»Beeil dich doch! Los! Los!« schrie Mink.
Minks Mutter lehnte sich aus dem Fenster. »A-n-g-e-l«,
buchstabierte sie zu Anna hinunter.
»Oh, vielen Dank, Mrs. Morris«, rief Anna nach oben.
»Keine Ursache«, sagte Minks Mutter und verschwand
rasch vom Fenster; lachend stellte sie das
Elektromagnetfeld ein, das den Staub in der Diele
verschwinden ließ.
Die Stimmen der Kinder wurden durch die Luft zu ihr
hinaufgetragen. »Strahl«, sagte Anna.
»Vier – neun – sieben A und B und X«, hörte sie Mink,
weit weg, ernsthaft diktieren. »Und eine Gabel und eine
Schnur und ein – Hex – Hex – ago – Hexagon!«
Beim Mittagessen stürzte Mink ihre Milch mit einem
Zug hinunter und flitzte gleich wieder zur Tür. Ihre Mutter
schlug mit der Hand auf den Tisch.
»Sofort kommst du zurück und setzt dich hier hin!«
kommandierte Mrs. Morris. »In einer Minute gibt's heiße
Suppe.« Sie drückte auf einen roten Knopf, und zehn
Sekunden später plumpste aus einer Öffnung ihres
Küchenautomaten ein Behälter in die Gummifangschale.
Mrs. Morris nahm ihn heraus, öffnete mit einem Ruck den
Verschluß und goß heiße Suppe in die Teller.
Mink rutschte unterdessen unruhig hin und her. »Mach
schnell, Mammi! Es geht um Leben und Tod!«
»Als ich in deinem Alter war, ging's für mich auch
immer um Leben und Tod. Ich kenne das.«
Mink löffelte hastig ihre Suppe hinunter.
»Iß langsam!« mahnte die Mutter.
»Kann nicht«, keuchte Mink. »Drill wartet auf mich.«
»Was für ein komischer Name. Wer ist Drill?« fragte die
Mutter.
»Du kennst ihn nicht«, antwortete Mink ausweichend.
»Ist es ein neuer Junge hier in der Nachbarschaft?«
»Ja, er ist neu«, antwortete Mink mürrisch, während sie
sich über ihren zweiten Teller Suppe hermachte.
»Und welcher ist es?« fragte die Mutter weiter.
»Er ist ... er ist«, begann Mink. »Ach, du wirst mich
auch auslachen. Alle machen sich bloß über uns lustig. Und
wie, verflixt noch mal!«
»Ist Drill schüchtern?«
»Ja ... nein ... ein bißchen. Um Himmels willen, Mammi,
ich muß laufen, wenn die Invasion noch klappen soll!«
»Wer will bei wem eine Invasion machen?«
»Die Marsleute, bei uns. Das heißt, vielleicht sind sie
auch nicht vom Mars. Sie kommen von ... ich weiß nicht.
Von da oben!« Sie deutete mit dem Löffel zur
Küchendecke.
»Und von da drinnen«, sagte die Mutter und berührte
Minks glühende Stirn mit dem Finger.
Mink wich empört zurück. »Ich hab's ja gesagt! Jetzt
lachst du mich aus! Du wirst Drill und die andern alle
töten.«
»So hab' ich's nicht gemeint«, beruhigte sie die Mutter.
»Ist Drill ein Marsmensch?«
»Nein. Er ist ... nun ja ... vielleicht kommt er vom
Jupiter oder vom Saturn oder von der Venus. Jedenfalls hat
er es sehr schwer gehabt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Mrs. Morris und
hielt sich die Hand vor den Mund.
»Sie konnten lange keine Möglichkeit finden, wie sie die
Erde angreifen sollten.«
»Unser Schutzschild ist eben undurchdringbar«, sagte
die Mutter mit gespielter Ernsthaftigkeit.
»Genau das hat Drill auch gesagt! Ein
undurchdringbarer Schutzschild, Mutter!«
»Nun, dieser Drill scheint ja für sein Alter ein sehr helles
Köpfchen zu haben!«
»Sie fanden keine Möglichkeit, die Erde anzugreifen,
Mammi. Drill sagt ... er sagt, wenn man Erfolg haben will,
muß man eine ganz neue Art erfinden, den Gegner zu
überraschen. Nur so kann man siegen. Und er sagt auch,
man muß sich Hilfe aus den Reihen seiner Feinde sichern.«
»Eine fünfte Kolonne, meinst du sicher«, half die
Mutter.
»Ja. So hat Drill es auch genannt. Und sie konnten
einfach nicht daraufkommen, wie sie die Erde überraschen
oder Hilfe bekommen könnten.«
»Kein Wunder. Wir sind ja auch ganz schön stark«,
meinte Mrs. Morris lachend, während sie den Tisch
abräumte. Mink blieb sitzen und starrte vor sich hin, als
sähe sie vor sich, wovon sie sprach.
»Bis sie dann eines Tages«, flüsterte Mink dramatisch,
»an die Kinder dachten!«
»Und dann?« fragte Mrs. Morris lächelnd.
»Und dann dachten sie, daß die Erwachsenen immer so
beschäftigt sind, daß sie nie Zeit haben, unter
Rosensträucher oder auf den Rasen zu schauen.«
»Nur nach Schnecken und Pilzen.«
»Und dann sagte er etwas über Dim... Dim...«
»Dimensionen?«
»Ja. Und er sagt, es gibt vier davon, und nur Kinder
unter neun Jahren hätten genug Phantasie, um sie alle zu
sehen. Es macht richtig Spaß, Drill reden zu hören.«
Mrs. Morris wurde des Spiels überdrüssig. »Nun, das
kann ich mir vorstellen. Aber du darfst Drill jetzt nicht
länger warten lassen. Es wird schon spät, und wenn du
deine Invasion noch vor dem Abendessen beenden willst,
solltest du dich lieber beeilen; denn vorher mußt du noch in
die Badewanne.«
»Muß ich baden?« murrte Mink.
»Du mußt. Warum hassen Kinder nur das Wasser? Na ja,
früher wollten wir uns auch nie die Ohren waschen lassen,
und das wird wohl bei Kindern immer so bleiben!«
»Drill sagt, ich brauche nachher nicht mehr zu baden.«
»So – das meint er also?«
»Allen Kindern hat er das gesagt. Wir brauchen nie mehr
zu baden. Und wir dürfen immer bis zehn Uhr aufbleiben,
und sonnabends dürfen wir zweimal ins Fernsehkino gehen
anstatt nur einmal!«
»Dein Herr Drill sollte ganz gehörig achtgeben, was er
sagt! Sonst rufe ich mal seine Mutter an und werde sie über
ihr ...«
»Mit Pete Britz und Dale Jerrick haben wir den gleichen
Ärger wie mit dir«, rief Mink von der Tür her. »Sie werden
langsam zu alt und machen sich über uns lustig. Ja, sie sind
schlimmer als die Erwachsenen. Sie glauben einfach nicht
an Drill. Ich hasse sie am meisten. Wir werden sie zuerst
töten!«
»Und Vater und mich zuletzt?«
»Drill sagt, ihr seid gefährlich. Weißt du, warum? Weil
ihr nicht an Marsmenschen glaubt! Sie wollen uns die Welt
regieren lassen. Das heißt, natürlich nicht nur uns allein,
sondern auch die Kinder vom nächsten Häuserblock. Ich
werde vielleicht Königin.«
Sie machte die Tür auf.
»Mammi?«
»Ja?«
»Was ist Loo-kick?«
»Logik? Nun, mein Liebling, Logik ist die Fähigkeit,
richtig zu denken, zu erkennen, was wahr ist und was
nicht.«
»Davon hat er auch gesprochen«, sagte Mink. »Und was
bedeutet be-ein-druck-bar?« Ihre Zunge hakte ein wenig
bei dem schwierigen Wort.
»Nun, das bedeutet –«, ihre Mutter blickte sie zärtlich
lächelnd an. »Das bedeutet – ein Kind zu sein, mein
Liebling.«
»Danke fürs Essen!« Mink rannte hinaus, steckte aber
noch einmal den Kopf durch die Tür. »Mammi, ich werde
aufpassen daß sie dir nicht sehr weh tun, bestimmt!«
»Vielen Dank!« sagte Mrs. Morris.
Krach – schlug die Tür zu.
Um vier Uhr summte das Fernsehtelefon. Mrs. Morris
drückte auf die Taste. »Hallo, Helen«, grüßte sie in den
Bildschirm hinein.
»Hallo, Mary. Wie sieht's in New York aus?«
»Danke, gut. Und bei euch in Scranton? Du siehst müde
aus.«
»Du aber auch. Ach ja, die Kinder. Sie lassen einen nie
zur Ruhe kommen«, sagte Helen.
Mrs. Morris seufzte. »Meine Mink ist genauso. Jetzt ist's
die große Invasion.«
Helen lachte. »Spielen die Kinder bei euch auch dieses
Spiel?«
»Himmel, ja. Morgen sind dann wieder Schwarzer Peter
und motorisiertes Himmel-und-Hölle-Hüpfen dran. Waren
wir als Kinder auch so schlimm, damals, um 1948?«
»Schlimmer. Wir haben Japs und Nazis gespielt. Ich
weiß nicht, wie meine Eltern mit mir fertig geworden sind.
Wir waren mindestens genauso wild.«
»Eltern lernen es, wegzuhören.«
Sie schwiegen beide.
»Stimmt etwas nicht, Mary?« fragte Helen nach einer
Weile.
Mrs. Morris hatte die Augen halb geschlossen; langsam
und nachdenklich fuhr sie sich mit der Zunge über die
Oberlippe. »Wie?« Sie zuckte zusammen. »Oh, es ist
nichts. Ich dachte nur gerade darüber nach – über das
Weghören und Ohrenverschließen. Entschuldige. Wovon
sprachen wir?«
»Mein Tim ist ganz vernarrt in einen Burschen namens –
Drill, glaube ich, heißt er.«
»Muß so etwas wie eine Parole sein. Mink ist auch ganz
wild auf diesen Drill.«
»Hätte nicht gedacht, daß es schon bis nach New York
gedrungen ist. Muß wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund
gegangen sein. Ich habe gerade mit Josephine in Boston
gesprochen, und sie sagt, daß ihre Kinder auch ganz
versessen auf dieses neue Spiel sind.«
In diesem Augenblick kam Mink in die Küche gelaufen,
um ein Glas Wasser hinunterzustürzen. Mrs. Morris drehte
sich um. »Na, wie weit seid ihr denn?«
»Fast fertig«, antwortete Mink.
»Großartig!« sagte Mrs. Morris. »Aber was hast du denn
da?«
»Ein Jo-Jo«, sagte Mink. »Paß auf!«
Sie ließ das Jo-Jo die Schnur hinabrollen. Als es das
Ende erreicht hatte ... verschwand es.
»Hast du's gesehen?« fragte Mink. »Schwupp!« Mit den
Fingern schnippend, ließ sie das Jo-Jo wieder erscheinen
und die Schnur hinauflaufen.
»Mach das noch mal«, sagte ihre Mutter.
»Kann nicht. Um fünf Uhr ist Stunde Null!
Wiedersehn.« Ihr Jo-Jo auf und nieder tanzen lassend, ging
Mink hinaus.
Helen lachte aus dem Bildschirm. »Tim hat heute
morgen auch so ein Jo-Jo nach Hause gebracht – aber als
ich neugierig wurde, wollte er es mir nicht zeigen.
Schließlich hab' ich's dann auch einmal versucht, aber da
wollte es nicht klappen.«
»Du hast eben nicht genug Phantasie«, sagte Mrs.
Morris.
»Was meinst du damit?«
»Ach, es ist nicht wichtig. Mir fiel nur eben etwas ein.
Womit kann ich dir helfen?«
»Ach ja, eigentlich habe ich nur angerufen, weil ich gern
das Rezept für deinen wundervollen Marmorkuchen haben
wollte ...«

Träge verstrich die Stunde. Der Tag ging zur Neige.


Langsam sank die Sonne im friedlich blauen Himmel. Die
Schatten auf dem grünen Rasen wurden länger. Das
aufgeregte Lärmen und Lachen der Kinder aber ging
weiter. Ein kleines Mädchen lief weinend davon. Mrs.
Morris ging hinaus.
»Mink, war das nicht Peggy Ann, die da eben geweint
hat?«
Mink stand gebückt in der Nähe des Rosenstrauches.
»Ja. Sie ist ein Angsthase. Wir lassen sie nicht mehr
mitspielen. Sie ist zu alt für unser Spiel. Ich glaube, sie ist
auf einmal erwachsen geworden.«
»Und deshalb hat sie geweint. Unsinn. Gib mir eine
vernünftige Antwort, mein Fräulein, oder du kommst auf
der Stelle herein!«
Bestürzt und gereizt wirbelte Mink herum. »Ich kann
jetzt nicht aufhören! Es ist fast soweit. Entschuldige, ich
bin ja ganz artig.«
»Hast du Peggy Ann geschlagen?«
»Nein, Ehrenwort. Frag sie doch.«
Der Ring der Kinder schloß sich dichter um Mink, die
ärgerlich auf ihr Werk blickte, einen sonderbaren
quadratischen Aufbau aus Löffeln, Hämmern und
Ofenrohren. »Hier klemmt's noch und da«, murmelte sie
dabei.
»Stimmt etwas nicht?« rief Mrs. Morris.
»Drill ist auf halbem Wege steckengeblieben. Wenn wir
ihn nur ganz hindurchbekämen, hätten wir's geschafft.
Dann könnten die andern alle leicht hinterherkommen.«
»Kann ich helfen?«
»Nein, Mammi, danke. Ich schaff's schon.«
»Na schön. Aber in einer halben Stunde rufe ich dich
zum Baden.«
Sie ging wieder hinein und setzte sich in den
automatischen Schaukelstuhl. Während sie einen Schluck
Bier aus dem halbleeren Glas trank, massierte die
Stuhllehne ihr den Rücken. Kinder, dachte sie, sind doch
rätselhafte Geschöpfe. Werden wir Erwachsenen sie je
ganz verstehen? Wie dicht beieinander liegen doch Liebe
und Haß in einem Kinderherzen.
Die Zeit verrann. Eine merkwürdige, erwartungsvolle
Stille senkte sich über die Straße, wurde immer tiefer.
Fünf Uhr. Irgendwo im Haus begann eine Uhr mit
gleichmäßiger, melodischer Stimme zu singen: »Fünf Uhr
– fünf Uhr. Nütze die Zeit, sie verrinnt so rasch. Fünf Uhr.«
Leise verklang die Melodie.
Stunde Null.
Mrs. Morris unterdrückte ein Lächeln. Stunde Null.
Ein Atomauto summte in die Einfahrt. Mr. Morris kam
nach Hause.
Mrs. Morris lächelte.
Mr. Morris stieg aus dem Wagen, schloß ihn ab und rief
Mink die völlig in ihre Arbeit vertieft war, einen Gruß
hinüber. Mink beachtete ihn nicht. Er lachte, blieb einen
Augenblick stehen und sah den Kindern zu. Dann stieg er
die Stufen zum Eingang hinauf.
»Hallo, Liebling.«
»Hallo, Henry.«
Sie rutschte in ihrem Sessel nach vorn und beugte sich
lauschend vor. Die Kinder waren still. Zu still.
Er klopfte seine Pfeife aus und füllte sie wieder. »Ein
herrlicher Tag. Da freut man sich so richtig, daß man lebt.«
Ein tiefes Summen.
»Was ist das?« fragte Henry.
»Ich weiß nicht.« Sie stand hastig auf, ihre Augen
weiteten sich. Sie wollte etwas sagen, unterließ es aber.
Lächerlich. Die Nerven gingen mit ihr durch.
»Die Kinder haben doch nichts Gefährliches da
draußen?« fragte sie statt dessen.
»Ich habe nur Hämmer und Ofenrohre gesehen.
Warum?«
»Nichts Elektrisches?«
»Verflixt, nein«, antwortete Henry. »Ich habe genau
hingesehen.«
Sie gingen zur Küche. Das Summen hörte nicht auf.
»Vielleicht gehst du doch lieber hinaus und sagst ihnen,
sie sollen Schluß machen. Es ist schon nach fünf. Sag
ihnen ...« Ihre Augen zuckten hin und her. »Sag ihnen, sie
sollen ihre Invasion auf morgen verschieben.« Sie lachte
nervös.
Das Summen wurde lauter.
»Was stellen sie jetzt bloß wieder an? Ich will doch
lieber mal nachsehen gehn.«
Ein dumpfer Knall!
Die Explosion ließ das Haus erzittern. Von anderen
Höfen, aus anderen Straßen, klangen weitere Explosionen
herüber.
Unwillkürlich schrie Mrs. Morris auf. »Hier hinauf!«
kreischte sie, ohne zu überlegen, ohne zu wissen, warum.
Vielleicht glaubte sie, aus den Augenwinkeln heraus etwas
zu sehen; vielleicht meinte sie, etwas Seltsames zu hören,
einen neuen Geruch wahrzunehmen. Es war keine Zeit
mehr, Henry zu überzeugen zu versuchen. Sollte er
glauben, daß sie verrückt geworden war! Kreischend rannte
sie die Treppe hinauf. Er lief ihr nach, um zu sehen, was sie
eigentlich wollte.
»In der Bodenkammer!« schrie sie. »Da ist es!« Es war
nur eine Ausrede, um ihn rechtzeitig in die Bodenkammer
zu bekommen.
Draußen krachte es noch einmal. Die Kinder jauchzten
vor Freude, als beobachteten sie ein phantastisches
Feuerwerk.
»Es ist nicht in der Dachkammer!« rief Henry. »Es ist
draußen!«
»Nein, nein!« Schluchzend und keuchend fummelte sie
an der Tür zur Bodenkammer herum. »Ich zeig dir's.
Schnell! Ich zeig dir's.«
Sie stolperten in die Bodenkammer. Sie schloß die Tür
von innen ab, zog den Schlüssel heraus und warf ihn in die
entfernteste Ecke.
Sie begann sinnloses Zeug zu stammeln. All die
Befürchtungen und Ängste, die sich den ganzen
Nachmittag lang in ihrem Unterbewußtsein gesammelt und
verdichtet hatten, brachen aus ihr heraus.
Wild schluchzend lehnte sie sich gegen die Tür. »Bis
heute abend sind wir hier sicher. Vielleicht können wir uns
dann aus dem Haus schleichen. Vielleicht können wir noch
entkommen.«
Jetzt verlor auch Henry die Fassung, aber aus einem
anderen Grund. »Bist du denn völlig verrückt geworden?
Warum hast du den Schlüssel fortgeworfen? Verdammt
noch mal!«
»Ja, ja, ich bin verrückt, wenn uns das nur hilft, aber
bleib bei mir!«
»Selbst wenn ich wollte, könnte ich ja jetzt hier nicht
raus!«
»Still! Sonst hören sie uns. Oh, mein Gott, wenn sie uns
nur nicht finden ...«
Unten ertönte Minks Stimme. Mr. Morris zuckte
zusammen. Von überall her summte und zischte es, schrien
und lachten Kinder durcheinander. In der Wohnung unter
ihnen läutete das Fernsehtelefon, läutete anhaltend, laut
und alarmierend. Ist das Helen? dachte Mr. Morris. Und
ruft sie aus demselben Grund an, weswegen wir hier in der
Bodenkammer stecken?
Schritte erklangen im Haus. Schwere Schritte.
»Wer dringt da in mein Haus?« rief Henry ärgerlich.
»Wer trampelt dort unten herum?«
Schwere Füße. Zwanzig, dreißig, vierzig, vielleicht
fünfzig Leute mußten in das Haus eingedrungen sein.
Summen. Kindergelächter.
»Hier hinauf!« rief Mink unten.
»Wer ist in meinem Haus?« brüllte Henry los. »Wer ist
da!«
»Psssst! Oh, neineineineineinein!« wimmerte seine Frau
leise. Sie umklammerte seinen Arm. »Bitte, sei still!
Vielleicht gehen sie wieder weg.«
»Mammi?« rief Mink. »Pappi?« Eine Pause. »Wo seid
ihr?«
Schwere Schritte, schwere, sehr schwere Schritte kamen
die Treppe herauf. Minks Getrippel klang voran.
»Mammi?« Ein Zögern. »Pappi?« Abwartende Stille.
Das Summen wurde lauter. Die Schritte näherten sich
der Bodenkammer. Mink trippelte voran.
Schweigend und zitternd standen Mr. und Mrs. Morris in
der Bodenkammer. Das elektrische Summen, das seltsame,
kalte Licht, das plötzlich durch den Spalt unter der Tür fiel,
der merkwürdige Geruch, der zu ihnen hereindrang, und
der fremde, kalte Eifer im Klang von Minks Stimme hatten
schließlich auch in Henry Morris eine Ahnung des
unheimlichen Geschehens erweckt. Erschauernd standen
beide, dicht aneinandergedrängt, im schweigenden Dunkel.
»Mammi! Pappi!«
Schritte. Ein zischendes Geräusch. Das Schloß der
Bodenkammer zerschmolz. Die Tür ging auf, Mink
blinzelte herein. Große, blaue Schattengestalten standen
hinter ihr.
»Kuckuck«, sagte Mink.

Das Raumschiff

So manche Nacht wachte Fiorello Bodoni auf und hörte die


Raumschiffe, ferne rauschend, durch den dunklen Himmel
ziehen. Auf Zehenspitzen schlich er dann aus dem
Schlafzimmer, überzeugt, daß seine Frau friedlich träumte,
und trat hinaus in die kühle Nachtluft. Einen stillen
Augenblick lang sandte er dann sein Herz in den Weltraum,
den silberglänzenden Schiffen nach.
Auch in dieser Nacht stand Fiorello halbnackt in der
Dunkelheit, sah die Feuerschweife sprühen und lauschte
auf das Wispern in der Luft. Die Raumschiffe, auf ihrer
langen, wilden Reise zum Mars, zum Saturn und zur
Venus!
»Heda, Bodoni.«
Fiorello zuckte leicht zusammen.
Auf einer umgestürzten Kiste, am Ufer des stillen
Flusses, saß ein alter Mann, der ebenfalls im
mitternächtlichen Schweigen den Raumschiffen nachsah.
»Oh, du bist es, Bramante!«
»Kommst du jede Nacht heraus, Bodoni?«
»Nur zum Luftschnappen.«
»So? Ich komme wegen der Raumschiffe«, sagte der
Alte. »Ich war noch ein kleiner Junge, als es damit losging.
Achtzig Jahre ist das nun her, und ich bin noch nie mit
einem geflogen.«
»Eines Tages werde ich mit einem aufsteigen«, sagte
Fiorello.
»Narr!« rief Bramante erregt. »Das wird dir nie
gelingen. Diese Welt ist nur für die Reichen geschaffen.«
Er schüttelte seinen grauen Kopf. »Als ich jung war,
schrieben sie mit feurigen Lettern: ›DIE WELT VON
MORGEN! Wissen, Wohlstand und Luxus für alle!‹ Ha!
Achtzig Jahre sind seitdem vergangen. Heute ist Morgen!
Sitzen wir in den Raumschiffen? Fliegen wir zum Mars,
Saturn und Jupiter? Nein! Wir wohnen weiter in elenden
Hütten wie schon unsere Väter und Großväter.«
»Vielleicht werden meine Söhne einmal ...«
»Nein, und auch nicht deren Söhne!« schrie der alte
Mann. »Nur die Reichen fliegen in Raumschiffen!«
Fiorello zögerte unentschlossen. »Alterchen«, sagte er
dann, »ich habe dreitausend Dollar gespart. Sechs Jahre
habe ich daran gespart. Für mein Geschäft, um neue
Maschinen zu kaufen. Aber seit einem Monat liege ich jetzt
jede Nacht wach und höre die Raumschiffe. Ich denke und
denke. Und heute nacht habe ich mich entschlossen: einer
aus meiner Familie soll zum Mars fliegen!« Seine dunklen
Augen glänzten.
»Idiot!« fuhr Bramante ihn an. »Wen willst du wählen?
Wer soll fliegen? Wenn du gehst, wird deine Frau dich
hassen, weil du Gott dort oben ein kleines Stückchen
nähergerückt bist. Wenn sie sich später an deine
phantastischen Reiseberichte erinnert, wird sie dann nicht
im Laufe der Jahre verbittert werden?«
»Nein, nein!«
»Ja! Und deine Kinder? Werden sie damit zufrieden sein,
ihr ganzes Leben lang von der Erinnerung an einen
Marsflug zehren zu dürfen, den ihr Papa unternahm,
während sie zu Hause bleiben mußten? Welch ein sinnloses
Ziel willst du damit den Wünschen deiner Söhne setzen!
Sie werden nachts wachliegen. Sie werden krank sein vor
Sehnsucht, genau wie du jetzt. Sie werden lieber sterben
wollen, als nicht fliegen dürfen. Ihr Leben lang werden sie
nur an das Raumschiff denken. Ich warne dich!«
»Aber ...«
»Angenommen, deine Frau fliegt? Wie würde dir
zumute sein, wenn du mit dem Wissen umherliefest, daß
sie gesehen hat, was du dir mit ganzer Seele wünschtest?
Sie würde unberührbar für dich sein. Du würdest mit dem
Gedanken spielen, sie in den Fluß zu stoßen. Nein, Bodoni,
kauf die neue Schrottpresse, die du so nötig brauchst, und
zertrümmere damit deine Träume.«
Der alte Mann schwieg und blickte über den Fluß, in
dessen leise zitternder Oberfläche die feuerspeienden
Spiegelbilder der Himmelsschiffe ertranken.
»Gute Nacht«, sagte Bodoni.
»Schlaf gut«, antwortete der Alte.

Als die Toastscheibe aus dem chromblitzenden Röster


sprang, hätte Bodoni fast vor Schreck aufgeschrien. Er
hatte die ganze Nacht über nicht schlafen können. Während
des Frühstücks inmitten seiner unruhigen Kinder, neben
seiner wie ein Fels in der Brandung thronenden und ihn
überragenden Frau war Bodoni nur nervös hin und her
gerutscht und hatte ins Leere gestarrt. Bramante hatte recht.
Es war besser, wenn er das Geld investierte. Wozu es
sparen, wenn doch nur einer aus der Familie mit dem
Raumschiff fliegen konnte, während die anderen vor
Enttäuschung vergingen?
»Fiorello, iß deinen Toast«, sagte Maria, seine Frau.
»Meine Kehle ist wie ausgetrocknet«, entgegnete
Fiorello.
Die Kinder stürmten herein, drei Jungen, die sich
gegenseitig ein Spielzeugraumschiff zu entreißen
versuchten, und zwei Mädchen, die Arme voller Puppen,
phantastischer Nachbildungen der Bewohner von Mars,
Venus und Neptun, grüne Mannequins mit drei gelben
Augen und zwölf Fingern.
»Ich hab' die Venusrakete gesehen!« schrie Paolo.
»Die rauschte ab, hsch«, zischte Antonello.
»Kinder!« schrie Bodoni und preßte die Hände über
seine Ohren.
Verblüfft starrten sie ihn an. Er schrie selten.
Bodoni stand auf. »Hört alle mal her«, sagte er. »Ich
habe genug Geld, daß einer von uns mit dem Raumschiff
zum Mars fliegen kann.«
Alle schrien begeistert durcheinander.
»Habt ihr mich auch richtig verstanden?« fragte er. »Nur
einer von uns. Wer?«
»Ich, ich, ich!« schrien die Kinder.
»Du«, sagte Maria.
»Du«, entgegnete Fiorello.
Auf einmal verstummten alle.
Die Kinder begannen zu überlegen. »Laß Lorenzo
fliegen – er ist der Älteste.«
»Nein, Miriamne – sie ist ein Mädchen!«
»Denk nur, was du zu sehen bekommen wirst«, sagte
Maria zu ihrem Mann. Doch ihre Augen blickten fremd,
und ihre Stimme zitterte. »Die Meteore, wie blitzende
Fische. Das Weltall. Den Mond. Es müßte jemand fliegen,
der uns nach seiner Rückkehr alles gut beschreiben kann.
Du kannst so gut mit Worten umgehen.«
»Unsinn. Du doch auch«, widersprach er.
Alle zitterten vor Aufregung.
»Schaut her«, sagte Fiorello unglücklich. Aus einem
Strohbesen brach er Halme von verschiedener Länge. »Wer
den kürzesten zieht, hat gewonnen.« Er hielt ihnen das
Bündel entgegen. »Zieht!«
Mit ernsten Gesichtern wählten sie der Reihe nach.
»Lang.«
»Lang.«
»Der Nächste.«
»Lang.«
Die Kinder waren fertig. Stille senkte sich über das
Zimmer.
Zwei Halme hatte Fiorello noch in seiner Hand. Er
fühlte einen Stich in seinem Herzen. »Maria«, flüsterte er,
»du bist dran.«
Sie zog.
»Der kurze Strohhalm!« sagte sie.
»Ah«, seufzte Lorenzo, halb glücklich, halb traurig.
»Mama fliegt zum Mars.«
Fiorello versuchte zu lächeln. »Gratuliere. Ich kaufe dir
heut' noch deine Fahrkarte.«
»Warte, Fiorello ...«
»Nächste Woche kannst du starten«, murmelte er.
Sie sah die traurigen Augen ihrer Kinder auf sich
gerichtet, das Lächeln unter ihren hübschen, geraden
Nasen. Langsam reichte sie ihrem Mann den Halm zurück.
»Ich kann nicht zum Mars fliegen.«
»Aber warum denn nicht?«
»Ich muß mich auf unser nächstes Kind vorbereiten.«
»Wie?«
Sie schlug die Augen nieder. »Es ist bestimmt nicht gut
für mich, in diesem Zustand zu reisen.«
Er packte ihren Ellbogen. »Ist das wahr?«
»Zieht noch einmal. Fangt neu an.«
»Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?« fragte er.
»Ich dachte nicht daran.«
»Maria, Maria«, flüsterte er und streichelte ihr Gesicht.
Dann wandte er sich wieder den Kindern zu. »Zieht noch
einmal!«
Paolo zog als erster und erwischte gleich den kurzen
Halm.
»Ich fliege zum Mars! Ich fliege zum Mars«, rief er, vor
Freude hüpfend. »Danke, Vater, danke!«
Die Geschwister traten zurück. »Fein für dich, Paolo.«
Paolo hörte unvermittelt auf zu lächeln und musterte
seine Eltern und Geschwister. »Ich darf doch fliegen, nicht
wahr?« fragte er unsicher.
»Aber ja.«
»Und ihr werdet mich auch noch genauso liebhaben,
wenn ich zurück bin?«
»Natürlich, Paolo.«
Paolo betrachtete den kostbaren Strohhalm in seiner
zitternden Hand. Dann schüttelte er den Kopf und warf ihn
fort. »Ich hatte vergessen – die Schule beginnt bald. Ich
kann nicht weg. Zieht noch einmal.«
Aber niemand wollte mehr ziehen. Traurig senkten alle
die Köpfe.
»Keiner von uns wird fliegen«, sagte Lorenzo.
»Es ist besser so«, meinte Maria.
»Bramante hatte doch recht«, sagte Fiorello.

Während ihm das Frühstück noch schwer im Magen lag,


arbeitete Fiorello Bodoni verbissen auf seinem
Schrottplatz, riß Bleche und Eisen auseinander, schmolz
das Metall ein und goß es in Barrenformen. Ausrüstung
und Maschinen waren schon recht brüchig und veraltet, der
scharfe Wettbewerb hatte ihn zwanzig Jahre lang immer
am Rande der Armut gehalten. Es war ein sehr schlechter
Vormittag.
Am Nachmittag betrat ein Mann den Schrottplatz und
rief zu Bodoni hinauf, der auf seinem fahrbaren
Schrotthammer saß: »He, Bodoni, ich habe eine Partie
Metall für Sie!«
»Was ist es, Mr. Matthews?« fragte Fiorello lustlos.
»Ein Raumschiff. Was machen Sie denn für ein Gesicht?
Wollen Sie's etwa nicht?«
»Doch, doch!« Er sprang von seiner Maschine und
packte den Mann am Arm, beinahe sprachlos vor
Verblüffung.
»Aber natürlich«, sagte Matthews, »ist es nur ein
Modell. Sie wissen ja, wenn ein neues Raumschiff geplant
wird, baut man erst ein naturgetreues Modell aus
Aluminium. Sie können einen kleinen Profit machen, wenn
Sie es einschmelzen. Für zweitausend laß' ich's Ihnen.«
Fiorello ließ die Hand fallen. »Ich hab' das Geld nicht.«
»Schade. Dachte, ich könnte Ihnen helfen. Als wir uns
neulich unterhielten, erzählten Sie mir, daß die andern Sie
immer beim Schrottkauf überbieten. Daher wollte ich
Ihnen den ganzen Posten unter der Hand zuschanzen. Nun
ja ...«
»Ich brauche neue Maschinen. Dafür habe ich gespart.«
»Ich kann's verstehen.«
»Wenn ich Ihr Raumschiff kaufte, könnt' ich's noch nicht
einmal einschmelzen. Mein Aluminiumofen ist letzte
Woche in die Brüche gegangen ...«
»Ach so.«
»Ich könnte nichts mit dem Raumschiff anfangen, wenn
ich es Ihnen abkaufte.«
»Ich verstehe.«
Fiorello blinzelte und schloß einen Moment lang die
Augen. Als er sie wieder öffnete, blickte er Mr. Matthews
entschlossen an. »Aber ich bin ein großer Narr. Ich will
trotzdem mein Geld von der Bank holen und Ihnen geben.«
»Wenn Sie das Schiff aber doch nicht einschmelzen
können ...?«
»Liefern Sie's an!« sagte Fiorello.
»Na schön, wenn Sie wollen. Heute abend?«
»Heute abend würde mir's gut passen«, sagte Bodoni.
»Ja, heute abend möchte ich ein Raumschiff besitzen.«

Der Mond schien hell. Groß und silbern lag das


Raumschiff auf dem Schrottplatz. Das Weiß des Mondes
und das bläuliche Licht der Sterne spiegelten sich in ihm.
Bodoni schaute es sich von allen Seiten an und schloß es in
sein Herz.
Wie gebannt starrte er zu dem schimmernden Rumpf
auf. »Du gehörst jetzt mir«, sagte er. »Selbst wenn du dich
nie bewegst oder Feuer spuckst, wenn du fünfzig Jahre
lang bloß hier liegst und langsam verrottest – du gehörst
mir!«
Das Raumschiff roch förmlich nach Zeit und
Unendlichkeit. Als er hineinkletterte, meinte er, in ein
Uhrwerk zu steigen. Es war mit größter Präzision
gearbeitet. »Ich könnte sogar hier drin schlafen«, flüsterte
Fiorello aufgeregt.
Er setzte sich in den Pilotensitz.
Er legte einen Hebel herum.
Mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten
Lippen begann es zu summen.
Das Summen wurde lauter, gewaltiger, höher, schriller,
wilder, fremdartiger, immer erregender, ließ ihn erbeben,
drückte ihn nach vorn und riß ihn mitsamt dem Schiff in
eine brausende Stille. Metall kreischte, während seine
Fäuste über die Armaturen flogen und seine geschlossenen
Augenlider flatterten, und das Summen wurde stärker und
stärker, wurde zu einem Feuer, einer machtvollen Kraft,
einem Beben und Stoßen, das ihn zu zerreißen drohte.
»Start!« schrie er. Das donnernde Einsetzen der
Rückstoßdüsen? Die Beschleunigung? »Der Mond!« schrie
er mit blinden, geschlossenen Augen. »Die Meteore!«
Lautloses Dahinsausen in überirdischem Licht? »Der
Mars! Oh, mein Gott, der Mars!«
Erschöpft und keuchend ließ er sich zurücksinken. Seine
zitternden Hände glitten vom Armaturenbrett, und sein
Kopf fiel mit einem Ruck zurück.
Langsam, zögernd, öffnete er die Augen.
Der Schrottplatz war noch da.
Reglos saß er da und blickte eine Minute lang
unverwandt auf die Altmetallhaufen. Plötzlich sprang er
auf, zerrte an den Hebeln hämmerte auf die Knöpfe ein.
»Starten, du verfluchtes Ding Willst du wohl starten!«
Das Raumschiff rührte sich nicht, blieb stumm.
»Ich werd's dir zeigen!« schrie er wild.
Er sprang hinaus in die Nacht, stolperte zu seinem
Schrotthammer. Der Motor brüllte auf, die furchtbare
Maschine näherte sich dem Raumschiff. Rasselnd fuhren
die mächtigen Gewichte hoch dem mondhellen Himmel
entgegen. Mit flatternden Händen ergriff er die Hebel, um
die Gewichte hinabsausen zu lassen, diesen falschen,
überheblichen Traum zu zertrümmern, dieses dumme Ding
zu zerfetzen, für das er sein gutes Geld hingegeben hatte –
das sich nicht bewegen, seinen Befehlen nicht gehorchen
wollte.
»Ich will dich lehren!« schrie er.
Doch seine Hände rührten sich nicht.
Das Raumschiff schimmerte silbrig im Mondlicht. Und
dahinter, in einiger Entfernung, blinkten die Fenster seines
Hauses in warmem, gelben Schein. Leise wehte
Radiomusik herüber.
Eine halbe Stunde lang saß er so da, sah abwechselnd
auf das Raumschiff und zu den erleuchteten Fenstern
hinüber, und seine Augen verengten sich und wurden
wieder weit. Er kletterte von seiner Maschine und ging auf
die erleuchteten Fenster zu. Als er vor der Hintertür seines
Hauses angelangt war, holte er tief Atem, öffnete und rief:
»Maria, Maria! Pack unsere Sachen zusammen! Wir
fliegen zum Mars!«
»Oh!«
»Ah!«
»Das kann ich nicht glauben!«
»Wart's nur ab, wart's nur ab!«

Die Kinder standen auf dem windigen Platz, drängten sich


um das schimmernde Raumschiff, reckten sich auf
Zehenspitzen und wagten nicht, das glitzernde Metall zu
berühren. Sie begannen zu weinen.
Maria sah ihren Mann an. »Was hast du getan?« fragte
sie. »Unser Geld für dieses Ding hingegeben? Es wird
niemals fliegen!«
»Und wie es fliegen wird«, entgegnete er, stolz sein
Schiff betrachtend.
»Raumschiffe kosten Millionen. Hast du Millionen?«
»Es wird fliegen«, antwortete er fest. »Und jetzt geht ins
Haus, alle. Ich muß telephonieren, habe zu arbeiten.
Morgen starten wir! Ihr dürft es aber niemandem erzählen,
verstanden? Es bleibt ein Geheimnis.«
Die Kinder traten zurück und stolperten mit glühenden
Gesichtern davon. In den erleuchteten Fenstern sah er ihre
kleinen Köpfe aufgeregt hin und her tanzen.
Maria hatte sich nicht von der Stelle gerührt. »Du hast
uns ruiniert«, sagte sie. »Unser gutes Geld verschleudert –
für dieses – dieses Ding da! Dabei war es für neue
Maschinen bestimmt.«
»Du wirst schon sehen«, entgegnete er nur.

Um Mitternacht kamen die Lastwagen, Kisten und Pakete


wurden angeliefert, und lächelnd erschöpfte Bodoni sein
Bankkonto. Mit Schweißbrenner und Lötkolben rückte er
dem Raumschiff zu Leibe, fügte hier etwas hinzu, nahm
dort etwas weg, zauberte und hexte mit funkensprühendem
Stab. In den leeren Maschinenraum nietete er neun alte
Automotoren, verlegte Zündkabel und schweißte
anschließend die Tür zu, damit niemand sein heimliches
Werk sehen konnte.
Als der Morgen dämmerte, trat er in die Küche.
»Maria«, sagte er, »ich möchte gern frühstücken.«
Sie sprach kein einziges Wort mit ihm.

Als die Sonne sank, rief er die Kinder. »Wir sind


startbereit! Kommt!« Nichts rührte sich im Haus.
»Ich habe sie im Badezimmer eingeschlossen«, sagte
Maria.
»Was soll das heißen?« fragte er.
»Ihr werdet alle in diesem Raumschiff umkommen«,
erwiderte sie. »Was für ein Raumschiff kannst du schon
mit zweitausend Dollar kaufen? Nur ein Wrack!«
»So nimm doch Vernunft an, Maria.«
»Es wird explodieren. Und außerdem bist du kein Pilot.«
»Dieses Schiff kann ich jedenfalls fliegen. Ich habe es
entsprechend eingerichtet.«
»Du bist verrückt geworden.«
»Wo ist der Schlüssel zum Badezimmer?«
»Ich habe ihn bei mir.«
Er streckte die Hand aus. »Gib ihn mir.«
Sie reichte ihm den Schlüssel. »Du wirst die Kinder
töten.«
»Nein, nein.«
»Doch, das wirst du. Ich weiß es.«
Er trat vor sie hin. »Willst du nicht mitkommen?«
»Ich bleibe hier«, antwortete sie.
»Du wirst schon verstehen, wenn du uns abfliegen
siehst«, sagte er lächelnd.
Er schloß das Badezimmer auf. »Kommt, Kinder! Folgt
eurem Vater.«
»Auf Wiedersehen, Mama, auf Wiedersehen!«
Sie stand am Küchenfenster und blickte ihnen nach,
kerzengerade und mit zusammengekniffenen Lippen.
Vor der Luftschleuse des Raumschiffes sagte der Vater:
»Kinder, wir werden nur eine Woche fortbleiben. Ihr müßt
dann wieder in die Schule und ich an meine Arbeit.« Er
faßte alle nacheinander bei der Hand. »Hört gut zu. Dies
Raumschiff ist schon sehr alt und kann nur noch eine Reise
machen. Es wird nie wieder fliegen. Ihr habt den einzigen
Raumflug eures Lebens vor euch Haltet eure Augen gut
offen!«
»Ja, Papa.«
»Hort zu, spitzt eure Ohren, damit euch nichts entgeht.
Atmet tief den Geruch des Raumschiffes ein. Nehmt alle
Gefühle, alle Wahrnehmungen tief in euch auf, damit ihr
euch nach unserer Rückkehr euer Leben lang daran
erinnern und davon erzählen könnt.«
»Ja, Papa.«
Das Raumschiff lag stumm wie eine abgelaufene Uhr.
Sie stiegen ein. Die Luftschleuse zischte hinter ihnen zu.
Fiorello schnallte seine Kinder an. Wie kleine Mumien
lagen sie in ihren Gummiliegestühlen.
»Fertig?« rief er.
»Fertig!« antworteten sie im Chor.
»Start frei!« Er warf zehn Schalter herum. Das
Raumschiff donnerte und bebte. Jauchzend zappelten die
Kinder in ihren Liegestühlen.
»Da ist der Mond!«
Wie im Traum schwebte der Mond vorbei. Meteore
zerstäubten wie Feuerwerk. Die Zeit verrann. Die Kinder
schrien aufgeregt durcheinander. Stunden später, als sie aus
ihren Liegesitzen befreit waren, lugten sie aus den
Bullaugen. »Dort ist die Erde!« – »Und dort der Mars!«
Wie Blütenstaub versank der Feuerschweif des
Raumschiffes, während die Stundenzeiger um die
Zifferblätter flogen. Die Augen der Kinder fielen zu. Wie
schlafende Schmetterlinge in ihren Kokons hingen sie
schließlich in ihren Liegesitzen.
»Gut«, flüsterte Fiorello zärtlich.
Auf Zehenspitzen schlich er aus dem Kontrollraum zur
Tür der Luftschleuse, wo er eine ganze Weile, besorgt
lauschend, stehenblieb.
Er drückte auf einen Knopf. Die Tür schwang weit auf.
Er trat hinaus. Ins Nichts? In nachtschwarze Flut, in
Meteorstaub und glühende Gase? In die Unendlichkeit,
schwebend in rasender Geschwindigkeit?
Nein. Fiorello lächelte.
Rings um das zitternde, bebende Raumschiff erstreckte
sich der Schrottplatz.
Rostend und unverändert stand dort das eiserne Tor mit
dem Vorhängeschloß, leuchteten drüben die Küchenfenster
seines Hauses am Ufer des stillen Flusses, der immer noch
demselben Meer entgegenströmte. Und in der Mitte des
Schrottplatzes, magische Träume erzeugend, lag das
bebende, brummende Raumschiff. Rüttelnd und fauchend,
die wieder angeschnallten Kinder wie Fliegen in einem
Spinnennetz schaukelnd.
Maria stand am Küchenfenster.
Er konnte nicht erkennen, ob sie zurückwinkte. Ein
kurzes Winken, vielleicht. Ein leichtes Lächeln.
Die Sonne stieg über den Horizont.
Fiorello kletterte hastig ins Raumschiff zurück. Stille.
Alle schliefen noch. Er atmete auf. Er schnallte sich
ebenfalls fest und schloß die Augen. Im stillen betete er: O
Gott, laß ihnen noch sechs Tage diese Illusion. Laß den
ganzen Weltraum vor ihren Augen kommen und gehen, den
roten Mars unter unserem Schiff aufsteigen, mitsamt seinen
Monden – laß den Farbfilm nicht reißen. Laß keinen
Kurzschluß die Steuerung der verborgenen Spiegel und
Linsen zusammenbrechen, die diese wunderbare Illusion
bewirken. Laß nichts ihr Glück zerstören.
Er erwachte.
Der rote Mars schwebte unter dem Raumschiff.
»Papa!« Die Kinder zappelten, wollten losgeschnallt
werden.
Fiorello schaute hinaus und betrachtete den roten Mars,
und er war unglaublich schön, und kein Fleckchen oder
Farbfehler trübte ihn. Fiorello war sehr glücklich.
Am Abend des siebenten Tages hörte das Raumschiff auf
zu rütteln.
»Wir sind zu Hause«, sagte Fiorello.
Sie taumelten aus dem Raumschiff und gingen über den
Schrottplatz; das Blut in ihren Adern sang, ihre Gesichter
glühten.
»Ich habe Spiegeleier mit Schinken für euch alle«,
begrüßte Maria sie an der Küchentür.
»Mama, Mama, du hättest mitkommen müssen! Wir
haben den Mars gesehen und die Meteore, Mama, und die
Sterne und alles!«
»Ach, Mama, es war wunderbar!«
»Ja«, sagte sie, »ich glaub's euch, es war wunderbar!«
Vor dem Zubettgehen umringten die Kinder ihren Vater.
»Wir möchten dir danken, Papa.«
»Nicht der Rede wert.«
»Wir werden unser ganzes Leben daran denken, Papa.
Wir werden es nie vergessen.«

Mitten in der Nacht erwachte Bodoni und öffnete die


Augen. Er spürte, daß seine Frau ihn beobachtete. Lange
Zeit regte sie sich nicht, doch plötzlich beugte sie sich über
ihn und küßte ihm Wangen und Stirn.
»Was ist das?« rief er, Überraschung heuchelnd.
»Du bist der beste Vater auf der ganzen Welt«, flüsterte
sie.
»Warum?«
»Weil ich jetzt alles verstehe«, antwortete sie.
Sie legte sich zurück und schloß die Augen hielt seine
Hand fest. »Ist die Reise wirklich so schön?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte er.
»Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht kannst du mich eines
Nachts mitnehmen nur ein kleines Stückchen?«
»Ein kleines Stückchen«, meinte er, »das wird sich
vielleicht machen lassen.«
Epilog

Es war fast Mitternacht. Der Mond stand hoch am


Himmel. Der illustrierte Mann lag regungslos. Ich hatte
gesehen, was zu sehen war. Die Geschichten waren
erzählt; sie waren vorbei und verweht.
Nur die leere Stelle auf dem Rücken des illustrierten
Mannes, jenes wirre Durcheinander von Farben und
Formen, hatte sich mir noch nicht offenbart.
Jetzt, während ich hinausschaute, begannen die
verschwommenen Striche sich zu ordnen, sich aufzulösen,
zu verschmelzen, neue Formen anzunehmen. Und
schließlich bildete sich ein Gesicht, ein Gesicht, das mir
entgegenstarrte, ein Gesicht mit vertrauten Zügen,
vertrauten Augen.
Das Bild war sehr verschwommen. Doch ich erkannte
genug um entsetzt aufzuspringen. Zitternd stand ich im
Mondlicht, voller Furcht, daß der Wind oder die Sterne ein
Geräusch machen könnten, das die unheimliche Galerie zu
meinen Füßen zum Leben erweckte. Doch er schlief ruhig
weiter.
Das Bild auf seinem Rücken zeigte den illustrierten
Mann, wie er seine Hände um meinen Hals schloß und
mich erwürgte. Ich wartete nicht, bis das Bild klar, scharf
und deutlich hervortrat.
Ich rannte die mondhelle Landstraße hinunter, ohne
mich noch einmal umzublicken. Vor mir, dunkel und
schlafend, lag eine kleine Stadt. Ich wußte, daß ich sie
lange vor Tagesanbruch erreichen konnte ...

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