Andacht im Altenheim: Blickfelder, Beispiele, Gottesdienste
Von Bärbel Nagel
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Buchvorschau
Andacht im Altenheim - Bärbel Nagel
Der Blick vorab
In Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 11 000 Pflegeeinrichtungen im Bereich der Altenhilfe mit mehr als 700 000 betreuten Menschen, Tendenz seit 1999 steigend (Angaben des Statistischen Bundesamtes). Auf Grund der demografischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass diese Zahlen in den nächsten Jahren weiter steigen werden.
Viel wird über das Alter, über alte Menschen und ihre speziellen Bedürfnisse diskutiert und geschrieben. So etwa über Wohnformen im Alter, wo die Palette von der »Alten-WG« über das »Mehrgenerationenhaus« bis hin zum »Beginenhof« reicht. Höchste Zeit, dass auch über Formen des Gottesdienstes für alte Menschen nachgedacht wird!
Wenn in Einrichtungen der Altenhilfe gottesdienstliche Angebote gemacht werden, so handelt es sich allein schon auf Grund der Zahlen nicht um Nischenangebote, sondern es geht um eine große Zahl von Menschen, die hier erreicht werden können. Hat die Kirche also Zukunft ohne die »Alten«?
Zudem gehören neben den Bewohnerinnen und Bewohnern auch Angehörige sowie Mitarbeitende zur Gottesdienstgemeinde.
Gottesdienste und Andachten sind für Menschen in Einrichtungen der Altenhilfe etwas Besonderes.
Sie unterbrechen die oft täglich gleichen Abläufe und bauen Brücken von »drinnen« nach »draußen« und von »draußen« nach »drinnen«. Manchmal führen diese Brücken auch zum »früheren« Leben der Bewohnerinnen und Bewohner. Mit dem Pfarrer / der Pfarrerin begegnet ihnen ein Mensch von »außen«, der in ihre Lebenswelt kommt, der nicht zu denen gehört, mit denen sie es sonst zu tun haben. Die alten Menschen freuen sich auf diese Begegnung, viele kleiden sich dem Anlass entsprechend mit ihren »Sonntagskleidern«, auch wenn der Gottesdienst gar nicht an einem Sonntag stattfindet. Erinnerungen werden geweckt, sei es durch die Atmosphäre oder durch bekannte Texte und Lieder.
Es ist wichtig, diese Gottesdienste und Andachten für alte Menschen gut vorzubereiten und sie den Besucherinnen und Besuchern entsprechend zu gestalten. Eine liturgisch und vom Predigtumfang her abgespeckte Version des Sonntagsgottesdienstes ist hier nicht angebracht.
Es gilt eigene Formen zu entwickeln und zu praktizieren.
Als Pastorin bin ich relativ regelmäßig in verschiedenen Altenheimen der unterschiedlichsten Träger und halte dort vertretungsweise Gottesdienste bzw. Andachten. Als Tochter eines Vaters mit Demenz, der die letzten drei Jahre seines Lebens in einem Altenheim lebte, habe ich aus der Perspektive der Angehörigen Gottesdienste erlebt. Beides bringt mich dazu, Anregungen und Tipps aus meiner Erfahrung heraus aufzuschreiben. Vieles mag auf den ersten Blick selbstverständlich und klar sein. Doch sind es oft gerade diese Selbstverständlichkeiten, die nicht bedacht und beachtet werden. Es kommt zu Unbehagen, und keiner weiß so wirklich, warum das so ist.
Dieses Buch richtet sich an Pastorinnen und Pastoren in der Altenheimseelsorge genauso wie an Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer, die nur gelegentlich in Altenheimen sind. Als dritte Gruppe habe ich auch ehrenamtlich tätige Menschen im Blick. Da Funktionsstellen von Seiten der Landeskirchen derzeit immer mehr gekürzt oder gestrichen werden, ist es gut möglich, in Zukunft bei der Gottesdienstarbeit verstärkt auf Laien zurückzugreifen, wenn denn diese Arbeit in den Einrichtungen weiterhin kontinuierlich gemacht werden soll.
Es gilt, verschiedene Themen im Blick zu haben, verschiedene »Blickfelder« zu beleuchten. Erst alle Blickfelder zusammen ergeben das Ganze. Dabei kommt die Frage des Raumes genauso zur Sprache wie die Frage nach dem Ablauf, der Musik, der Verkündigung, der Gottesdienstgemeinde und anderes mehr. Die gewählte Reihenfolge beinhaltet keine Wertigkeit, ebenso wenig der unterschiedliche Umfang. Alle »Blickfelder« sind in gleichem Maß ernst zu nehmen. Ich beginne mit dem Prediger / der Predigerin, denn er / sie betrachtet die weiteren Bereiche aus der jeweils eigenen Perspektive.
Blickfeld 1: Prediger / Predigerin
Auch bis in euer Alter
bin ich derselbe,
und ich will euch tragen,
bis ihr grau werdet.
Jesaja 46,4
Wenn das Predigen im Altenheim nur eine von vielen Aufgaben des Pfarrers oder der Pfarrerin ist, wenn er oder sie ansonsten also nicht schwerpunktmäßig mit alten Menschen zu tun hat, dann bestehen möglicherweise Unsicherheiten mit dem Kasus Altenheim. Für den einen oder die andere mag der Gang in ein Altenheim aus unterschiedlichen Gründen ein »Angang« sein.
VOREINSTELLUNGEN PRÜFEN
Ich muss mir schon im Vorfeld über die eigenen Gefühle klar werden und wie ich damit umgehe. Wie erlebe ich ein Haus, in dem ausschließlich alte Menschen leben, Menschen in der letzten Lebensphase? – Welchen Eindruck habe ich von diesem »Haus«? – Wie erlebe ich die alten Menschen? – Wie erlebe ich Gebrechlichkeit und Eigenarten? – Wie reagiere ich auf Menschen mit einer Demenzerkrankung? – Wie gehe ich mit »Gerüchen« um? – Was fällt mir schwer? Diese erste Selbstreflexion kann helfen, sich auf die Situation und die Menschen einzustellen.
DIE ROLLE ANNEHMEN
Ein Gottesdienst oder eine Andacht im Altenheim sollte auf jeden Fall im Talar gehalten werden, auch wenn es ansonsten durchaus gute Gründe für Gottesdienste ohne Talar geben mag. Hier im Altenheim macht der Talar deutlich, mit wem es die alten Menschen zu tun haben. Der Talar weckt Erinnerungen und lässt erkennen, dass diese Person der Pfarrer/die Pfarrerin ist.
Meiner Erfahrung nach ist es gut, frühzeitig vor Ort zu sein, um die Menschen persönlich am Eingang zu begrüßen. Auch eine persönliche Verabschiedung nach dem Gottesdienst ist wichtig und sinnvoll. Es ist gut, Zeit für Small Talk zu haben, aus dem sich gerade nach dem Gottesdienst intensivere Gespräche ergeben können.
DIE BESONDERE SITUATION ERNST NEHMEN
Der Pfarrer / die Pfarrerin muss im Altenheim mehr denn je auf angemessene Lautstärke und angemessenes Sprechtempo achten. Eine oft festzustellende »Störung« während des Gottesdienstes rührt daher, dass die Menschen den Prediger nicht richtig verstehen können und dies mit den Rufen »Bitte lauter« oder »Wir können Sie nicht verstehen« kundtun.
Die Nähe zu den Menschen muss durch Mimik und Gestik deutlich werden. Dazu ist es ganz wichtig, Blickkontakt zu halten, d. h. ein möglichst freies Predigen ist wünschenswert. Eine gewisse Flexibilität sollte vorhanden sein, die es ermöglicht auf – unerwartete – Äußerungen der Gottesdienstgemeinde einzugehen und sie in den Duktus aufzunehmen.
Auch wenn wir als Theologinnen und Theologen Meister des Wortes sind, so gilt im Altenheim ganz besonders die Devise: weniger ist oft mehr! Es kommt nicht darauf an, wie lange der Gottesdienst dauert, sondern ob es mir gelingt, die Menschen in ihrer Situation anzusprechen und »ihrer Seele Gutes zu tun«. Mehr als eine gute halbe Stunde sollte dazu nicht nötig sein.
Blickfeld 2: Einrichtung
Der Gottesdienst darf kein isoliertes Handeln im Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner sein, sondern soll als ein Mosaikstein ins Gesamtbild der Angebote in der Einrichtung passen. Da kommt nicht einmal pro Woche einer oder eine von außen »eingeflogen«, hält seinen Gottesdienst und ist dann wieder weg. Vielmehr soll das gottesdienstliche Geschehen einen Platz im Gesamtkonzept der Einrichtung haben. Das bedeutet enge Kooperation und gute Kommunikation zwischen Pastor / Pastorin von außen und den Menschen vor Ort. Wichtig ist, dass gottesdienstliche Angebote vom Haus gewollt sind und auch Unterstützung erfahren. Wie diese konkret aussehen kann, ist jeweils vor Ort abzuklären.
MIT DER EINRICHTUNG KOOPERIEREN
Sinnvoll ist es, die Einrichtung vor dem ersten Gottesdienst und auch sonst immer einmal wieder zu besuchen, den Raum anzuschauen, wenn möglich mit Bewohnerinnen und Bewohnern zu sprechen, mit den Verantwortlichen zu klären, was zu beachten ist und inwieweit hier Unterstützung beim Gottesdienst selber gewährt wird.
In meiner Arbeit habe ich festgestellt, dass auch – in manchen Fällen sogar gerade – in Häusern in nicht-kirchlich-diakonischer Trägerschaft ein großes Interesse an regelmäßigen gottesdienstlichen Veranstaltungen besteht und große Bereitschaft zur Kooperation vorhanden ist.
RESSOURCENORIENTIERT GESTALTEN
Was sind das für Menschen, die mich erwarten? Ich muss mich darauf einstellen, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr können, wie etwa kleine Schriften lesen. Viel wichtiger aber ist es, der Frage nachzugehen, was sie (noch) können, um an und mit diesen Ressourcen orientiert arbeiten zu können.
EINEN GUTEN TERMIN MACHEN
Wichtig sind gute Hinweise auf den Gottesdienst durch Aushänge, Durchsagen und persönliche Ansprache. Wann und wo der Gottesdienst stattfindet, kann gar nicht deutlich genug gesagt werden. Das gilt auch dann, wenn eine Regelmäßigkeit der Gottesdienste vorliegt. Welcher Termin sich für Gottesdienste bzw. Andachten als günstig erweist, sollte sich nicht nur am Terminkalender des Pfarrers / der Pfarrerin orientieren. Ob samstags, sonntags oder zu Beginn der Woche, ob am Vormittag oder nachmittags – das ist die Frage, wie sich der Gottesdienst am besten in den Tagesablauf der Bewohnerinnen und Bewohner integrieren lässt.
Blickfeld 3: Mitarbeitende
Mitarbeitende der Einrichtung werden wohl eher selten an den Gottesdiensten teilnehmen können. Dennoch ist es aus mehreren Gründen wichtig, sie mit einzubeziehen.
Zum einen muss vorab geklärt werden, welche Erwartungen jeweils aneinander vorhanden sind und welche davon realisierbar sind und welche nicht. Das reicht von der Frage der Raumgestaltung bis hin zur Frage nach dem Altarschmuck, von der Frage, wer dafür zuständig ist, dass gehbehinderte Menschen gebracht und wieder abgeholt werden, bis hin zum Hinweis darauf, dass es nicht unbedingt passend ist, jemanden aus dem Gottesdienst zu holen, weil nun plötzlich Besuch gekommen ist oder Ähnliches.
DEN RAHMEN ABSTECKEN
Ich selber habe es erlebt, dass eine alte Dame während des Gottesdienstes von einer Mitarbeiterin abgeholt wurde mit dem Hinweis darauf, dass die alte Dame wohl ihren Friseurtermin vergessen habe. Auf Grund der Schwerhörigkeit der alten Dame war dies ein sehr lauter und mehrere Minuten dauernder Vorgang, der für alle Beteiligten und auch für die Gottesdienstgemeinde recht unangenehm war. Die Mitarbeiterin, die ich im Nachhinein darauf ansprach, hatte sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass ihr Verhalten von anderen als unpassend und störend empfunden werden könnte. In einem solchen Fall ist es wichtig, diese Unstimmigkeiten direkt in einem sachlichen und freundlichen Gespräch zu klären.
SEELSORGLICH WIRKEN
Aus einem weiteren Grund ist der Kontakt zu den Mitarbeitenden wichtig. Die Arbeit in einem Alten- und Pflegeheim ist eine sehr anstrengende und auch belastende Arbeit. Durch den gewaltigen wirtschaftlichen Druck arbeiten viele Mitarbeitende in der Pflege am Limit. Ihnen tut es gut, wenn sie von »außen« Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren, und sei es nur durch ein kurzes Gespräch oder eine kleine symbolische Geste.
Auch aus diesem Grund empfiehlt es sich, für einen Gottesdienst im Altenheim genügend Zeit einzuplanen, über den eigentlichen Gottesdienst hinaus. Aus dem Kontakt mit den Mitarbeitenden können sich darüber hinaus weitere Themen und / oder Gedanken für Andachten oder Gottesdienste ergeben. Auch wenn es über die Thematik »Gottesdienste« hinausgeht, so ist doch anzuregen, von Theologenseite Fortbildungsangebote für Mitarbeitende zu ethischen Fragestellungen anzubieten, etwa zu Themen wie: künstliche Ernährung (PEG-Sonde), Patientenverfügung und Umgang damit in der