Die 7. These: Ostfriesland-Krimi zum Reformationsjahr 2017
Von Enno de Vries
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Die 7. These - Enno de Vries
1
Sonntag, 29. Oktober 2011
Herta Schweismüller aus Siegen stapft durch den Sand des Nordstrandes von Spiekeroog. Erst musste sie von ihrer Pension einmal quer durchs Dorf laufen, an sich eine nette Strecke, denn der Ort ist nicht besonders groß und zudem ohnehin der malerischste der ostfriesischen Inseldörfer, aber jeden Tag diese Strecke, nur um zum Strand zu gelangen, ist eigentlich eine kleine Zumutung. Warum die Spiekerooger nicht wie alle anderen Inselgemeinden auch Fahrräder für die Urlaubsgäste vermieten? So viel Ruhe müsste Hertas Meinung nach nun auch wieder nicht sein. Gerade heute, an ihrem letzten Urlaubstag tut es ihr um jede Minute leid, die sie nicht am Wasser sein kann, egal ob nachher im Hafenrestaurant beim Frühstück oder eben jetzt beim Morgenspaziergang.
Endlich hat sie die Dünenkette erreicht, geht weit ausschreitend die Holzbohlen zum Strand hinauf und hinunter und schirmt mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab – heute zeigt sich der Oktober von seiner sonnigsten Seite. Die letzten Tage waren eher windig und ein bisschen regnerisch, eher herbstlich eben, was man natürlich erwarten muss, wenn man in dieser Jahreszeit nach Ostfriesland fährt, aber heute erweist es sich, dass es eben doch auch anders geht. Immerhin ein schöner Abschiedstag.
Der Strand ist um diese Zeit noch fast menschenleer, verschiedene Vögel – Möwen, Austernfischer und Rotschenkel – picken im Schlick am Rande des Strandes. Herta legt einen Schritt zu, um ihren Kreislauf nun noch einmal richtig in Gang zu bringen. Ein Zwischending von Gehen und Joggen, das ist das Tempo, das ihr am besten gefällt und das ihr am meisten Entspannung bringt: Sport, aber ohne Stress.
Heute Nachmittag wird sie schon in der Bahn sitzen, auf dem Weg nach Siegen, zwei entspannte Wochen gehen zu Ende. Morgen sitzt sie dann um diese Uhrzeit schon wieder bei ihrer Arbeit, in einer großen Brauerei in Kreuztal, wird dann von acht bis halb fünf im Büro Bestellungen aufgeben und Rechnungen schreiben, und danach geht’s wieder zurück per Bahn nach Siegen.
Die Vorstellung ist nicht verlockend. Hier ist die Luft so frisch und gesund, und die Einheimischen sind so nett und zurückhaltend, manche nennen sie auch stur, aber Herta nicht, die findet das angenehm unaufdringlich. Nicht immer sofort einen Schnack auf den Lippen, kein Aufplustern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ja, im Alter könnte Herta sich durchaus vorstellen, sich hier niederzulassen. Aber ob dafür das Geld reichen wird?
Ach Mensch, sieh mal an: Das hatte sie gar nicht zu wünschen gewagt, da liegt sogar ein Seehund am Strand, noch ist er nur schemenhaft zu erkennen, aber sie wird sich langsam anpirschen, um ihn nicht zu verscheuchen. Der Wind steht günstig, so dass er nicht ihre Witterung aufnehmen kann. Schade, dass sie ihre Taschenkamera nicht dabei hat, kann ja auch keiner ahnen, dass ausgerechnet hier und heute …, also den Zweistundenausflug zu den Seehundsbänken mit der ‘Spiekeroog III’ hatte sie sich ja nun ausdrücklich gespart, das ist nicht dasselbe, als wenn man selbst am Ende der Insel oder eben hier am Strand...
Als sie sich auf dreißig Meter genähert hat, kann sie, ohne von der Sonne geblendet zu werden, genauer hingucken, um zu erkennen, ob es ein erwachsenes Tier ist oder ein Heuler, um den man sich vielleicht kümmern müsste.
So genau kennt sich nämlich Herta in der Zoologie nicht aus, um zu wissen, dass es um diese Zeit keine gefährdeten Jungtiere mehr gibt. Und so menschenleer ist der Strand, dass keiner Hertas gellenden Schrei hören kann, als sie genauer erkennt, was da von den Wellen hin- und hergeschaukelt wird.
2
Donnerstag, 12. Oktober 2011
Die Stiftskirche von Surwold ist dunkel und kalt, nur im Chor der Klosterkirche brennen ein paar Kerzen. Jeder Sitz des alten Chorgestühls in der Apsis wird nur wenig beleuchtet von einer Kerze, die jeweils links an der Seitenwand in einem Halter steckt. Es zieht ständig, und so flackern die Lichter und lassen den Kirchenraum mystischer wirken, als wenn der große Pendelleuchter angeschaltet würde, geschweige denn der Scheinwerfer, der eigentlich nur für die Reinigung des Chors oder zum Fotografieren des Altars dient. Die Schönheit des gotischen Schnitzaltars mit der Kreuzigungsszene lässt sich in dieser fahlen Beleuchtung kaum erkennen.
„In nomine Patri et Filii et Spiritu sancti." –
„Amen."
Die Oberin beendet die Hora. Jeden Abend um sechs werden für ein Viertelstündchen biblische Texte gelesen und ein paar liturgische Gesänge angestimmt; öffentlich sind diese kleinen Andachten, aber meist kommen nur wenige Dorfbewohner und nur gelegentlich bleiben ein paar Touristen, wenn die Besichtigungszeit der Kirche endet und sie von den Ordensschwestern auf die anschließende Hora hingewiesen werden. So bietet der Chorraum mit dem alten, schlicht geschnitzten Chorgestühl links und rechts des Altars immer genügend Platz für die Teilnehmer.
Und wenn auch sonst nur wenige Besucher an der kleinen Andacht teilnehmen, waren heute gar keine Gäste zugelassen; nur die Ordensschwestern waren zugegen. Schwester Felicitas löscht die Lichter der Kerzen, knickst noch einmal vor dem Altar, bevor sie als letzte die Apsis verlässt, den langen Gang durch die Sitzreihen der Kirche abschreitet und schließlich den Haupteingang erreicht. Sie schließt die große Eingangspforte von innen ab und geht schnellen Schrittes die Wände entlang, vorbei an den Seitenaltären, erreicht das Tor zum Kreuzgang, über den sie das Wohngebäude der Ordensschwestern ansteuern will. Doch im Kreuzgang wird sie von der Oberin erwartet. Sie erschrickt, weil sich zunächst nur schemenhaft erkennen lässt, wer hier steht und weil sie ohnehin unter einer enormen Anspannung steht.
„Die lungern immer noch vor dem Haupttor herum, beginnt die Klosterleiterin, „obwohl wir bekannt gegeben haben, dass das Kloster geschlossen ist und wir nicht für eine Stellungnahme zur Verfügung stehen. Überall Kameraleute und Reporter. Schwester Veronika hat schon einen in den Obstbäumen gesehen, der versuchte, über die Klostermauer zu klettern!
Schwester Felicitas zuckt mit den Schultern, äußerlich schuldbewusst, doch innerlich unsicher, was sie dagegen tun könnte.
„Die Zeitungen sind auch voll davon, fährt die Oberin halb vorwurfs-, halb mitleidsvoll fort. „Ich habe sie Ihnen unter der Tür zu Ihrer Zelle durchgeschoben. Warum lassen die Ihre Familie nicht in Ruhe?
Felicitas zuckt erneut mit den Schultern, räuspert sich und begibt sich zur Essenstafel.
3
Hannas Bericht
Ich habe auch einmal mit Mike seine Tante im Kloster Surwold besucht. Damals, im Sommersemester 1994. Natürlich durften wir nicht gemeinsam in einem der Gästezimmer schlafen, wir waren ja nicht verheiratet, – das ging gar nicht. Aber immerhin hatte sie nicht grundsätzlich was gegen unsere Freundschaft oder dagegen, dass wir zusammen verreisten.
Sie war mir sofort sympathisch, eine Frau, die zu dem steht, was sie tut. Ihr Gang ins Kloster war wohl in der Familie nicht ganz unumstritten gewesen, aber sie hatte darin die einzige Chance gesehen, nicht in einer unglücklichen Ehe oder als frustrierte Chefsekretärin zu enden. Felicitas ist die Schwester von Mikes Vater. Die stammten aus kleinen Verhältnissen, Mikes Vater hatte studieren dürfen, seine Schwester sollte nach der Mittelschule nicht weiter zur Schule, wollte aber lernen, war auf der Suche, wollte nicht irgendeine xbeliebige Arbeit anfangen, also ging sie wohl zunächst nur zum Ausprobieren hierher ins Emsland als Novizin in den Benediktinerinnenorden, ins Kloster Surwold. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Orden hier relativ liberal, Mikes Tante konnte sogar zu Familienfesten und Feiertagen zu ihrer Familie und musste nicht auf Teufel komm ‘raus – ach, schlechtes Bild –, also nicht um jeden Preis mit ihren Ordensschwestern Weihnachten oder Ostern begehen, obwohl die ja immer mit Nachwuchsproblemen und so zu kämpfen haben. Naja, ohne diese gewissen Freiheiten hätte sie auch einige Dinge nicht getan, die einigen Stress gemacht haben, und letztlich wäre sie nicht in die ganze Chose hineingeraten, um die es hier geht.
4
Hannas Bericht
Also, angefangen hat das Ganze mit dieser Theatergruppe. Mein damaliger Freund Michael, – er selbst nennt sich ja immer nur Mike –, der hatte mit mir in Oldenburg Germanistik studiert. Ich bin dann nach dem Studium ans Theater gegangen, Mike blieb an der Uni – erst als Assistent, dann machte er seine Doktorarbeit, kriegte dann eine feste Stelle als Dozent, inzwischen ist er Professor dort. Aber so richtig ausgelastet hat er sich mit seiner Wissenschaft in der Provinz nie gefühlt. Oldenburg als Lebensmittelpunkt hat er geliebt, aber er hatte eben auch seine künstlerischen Pläne, und die gingen viel, viel weiter.
Er hat sich damals Gleichgesinnte gesucht und auch gefunden: ein abgebrochenes Germanisten-Pärchen, eine arbeitslose drittklassige Schauspielerin und eine Sprecherzieherin. Und mit denen hat er Theater gemacht. In Oldenburg, – aber natürlich immer die große deutsche Kulturszene im Blick.
Das Germanistische Institut unserer Uni, also der Karl-Jaspers-Universität in Oldenburg, die hatte einige Jahre vor unserem Studienbeginn Räume in einer ehemaligen Klinik bekommen, das war ein großes Gebäude, damals frisch renoviert, und da war in dem früheren Operationssaal ein Theaterraum eingerichtet worden, für studentische Theatergruppen. Jedenfalls, mein Freund Mike, der hatte die Idee, dort könne doch auch eine, sagen wir mal, semiprofessionelle Schauspielertruppe proben und aufführen. Und weil der Theaterraum „Theater im OP, also abgekürzt: „TOp
hieß, nannten die sich „LiLiTOp, das stand für „Literatur-Liebhaber im TOp
.
Ich sagte ja schon, dass Mike durchaus über Kontakte in der deutschen Kulturszene verfügte, weil natürlich auch unsere früheren Kommilitonen bei diversen Kulturträgern arbeiteten, was man