Wenn sich die Welt auftut: Auf Flügeln des Gesanges
Von Ulrike Brenning
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Über dieses E-Book
Die Interpretationen des Mädchenchor Hannover gelten inzwischen als Referenz für andere Mädchenchöre – mit dem Resultat, dass bedeutende Komponistinnen und Komponisten Werke für den Chor geschrieben haben. So hat der Mädchenchor Hannover mittlerweile ein Renommee erlangt, das dem der berühmten Knabenchöre, den Dresdner Kruzianern und den Leipziger Thomanern, in nichts nachsteht.
Zu seinem 70-jährigen Bestehen gibt dieses Buch Einblick in Geschichte und Eigenart des Mädchenchor Hannover. Dazu werden die aktuellen wie ehemaligen Chorleiter porträtiert und ihre Vision für den Chor dargestellt. Außerdem kommen ehemalige Chorsängerinnen zu Wort und erzählen, wie der MCH den Grundstein für ihre späteren Karrieren gelegt hat. Pianisten und Stimmbildnerinnen berichten über ihre Arbeit mit den Sängerinnen. Schließlich wird in einem historischen Abriss die Geschichte des Frauengesangs sowie die Entwicklung des MCH hin zu einem professionellen Chor dargestellt, dessen Chorleiterstelle an eine Professur an der HMTM gekoppelt ist.
Ulrike Brenning
Ulrike Brenning ist promovierte Musikwissenschaftlerin, Kulturjournalistin sowie Professorin für Fernsehjournalismus mit dem Schwerpunkt Kultur an der Hochschule Hannover.
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Buchvorschau
Wenn sich die Welt auftut - Ulrike Brenning
1
Konzert zum zehnjährigen Bestehen des Mädchenchors 1962 in der Aula der Tellkampfschule.
© Archiv Mädchenchor Hannover
Der Konzertchor des Mädchenchor Hannover im Oktober 2021.
© Anke Schröfel
Wer wir sind
Über Tradition, Gegenwart und Zukunft des Mädchenchor Hannover
Der Mädchenchor Hannover ist offizieller Botschafter der UNESCO City of Music.
© Archiv Mädchenchor Hannover
Was ist ein Mädchenchor?
»Mädchen des süßen Gesangs«.
Historische Streiflichter
Susanne Rode-Breymann
Interview mit Andrea Jantzen
Der Mädchenchor Hannover als musikalischer Botschafter
© Stefan Knaak
»Wenn sich die Welt auftut«
Das ist der Titel dieses Buchs über den Mädchenchor Hannover. Im Jahr 2000 sang der Chor die Uraufführung des gleichnamigen Werks, komponiert von Einojuhani Rautavaara. Der finnische Komponist hatte den Auftrag für das EXPO-Jahr 2000 von Chorleiterin Gudrun Schröfel erhalten. »Wenn sich die Welt auftut«: Mit diesem Titel verbinden sich Gedanken an Zukunft, an Offenheit, an Aufbruch und an Harmonie – Assoziationen, die auch auf den Mädchenchor Hannover zutreffen.
Was ist ein Mädchenchor?
»Es gibt gemischte Chöre, Männerchöre, Frauenchöre, Knabenchöre mit und ohne Männerstimmen. Sie alle haben ihre Traditionen, ihren musikalischen Rang und ihre Literatur. Ein Mädchenchor hat das zunächst nicht, er muss alles selbst in Gang setzen«, schrieb der Musikwissenschaftler und Herausgeber Peter Schnaus im Einleitungskapitel des Buchs »Die Stimme der Mädchen«, das 2002 anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Mädchenchor Hannover erschien. Inzwischen sind 20 Jahre vergangen – und der Chor hat viel in Gang gesetzt: Auftragskompositionen, ein eigenes Chorhaus, ein professionelles Management, eine tragfähige Zukunftsperspektive und beeindruckende musikalische Erfolge, die die kontinuierlich hohe Qualität des Mädchenchors belegen.
»Wenn sich die Welt auftut« – sie hat sich für den Mädchenchor Hannover aufgetan, weil er konsequent seine Chancen nutzt, diese Besetzung im Musikleben weiter zu verankern: national wie international, auf Konzertreisen, bei Wettbewerben, mit CD- und Hörfunkaufnahmen und regelmäßigen Auftritten vor Publikum in Hannover und der Welt.
Zum 70-jährigen Bestehen kann man sagen, anders als noch vor 20 Jahren, dass der Mädchenchor Hannover gleichwertig neben der Riege berühmter Knabenchöre steht. Der ehemalige Leiter des renommierten Dresdner Kreuzchors, Roderich Kreile, hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es eine Aufgabe sei, die Gleichwertigkeit ins Bewusstsein zu bringen – vorausgesetzt, die Qualität stimmt. In einem Hörfunkinterview (Deutschlandradio Kultur) äußerte sich Kreile: »Genauso gibt es hervorragende Mädchenchöre, vielleicht nicht in der Zahl, aber wenn ich an den Mädchenchor Hannover denke, aus dessen Reihen ja sehr viele bekannte Sängerinnen und Musikerinnen hervorgegangen sind …« – so stellt er eine faktische Gleichrangigkeit her.
Der Mädchenchor Hannover ist heute weltweit einer der führenden Chöre seiner Gattung: Er genießt in der internationalen Chorwelt ein hohes Ansehen und wurde zu Konzerttourneen in fast alle europäischen Länder, in die USA, nach Israel, Brasilien, Chile, Russland, Japan und China eingeladen. Der Chor gewann erste und zweite Preise bei nationalen und internationalen Chorwettbewerben, u. a. viermal den Deutschen Chorwettbewerb, den Johannes Brahms Wettbewerb Hamburg, den BBC Award London »Let the Peoples Sing«, die internationalen Kammerchorwettbewerbe Marktoberdorf, »Guido d’Arezzo«, Varna, und in Tolosa gab es einen dritten Preis. Der Mädchenchor Hannover produziert Aufnahmen für zahlreiche Rundfunkanstalten in Deutschland und im europäischen Ausland, und er ist auf mehr als 20 CDs zu hören. Das Repertoire reicht von der Renaissance bis zur Musik des 21. Jahrhunderts. Gudrun Schröfel hat es um mehr als 30 Auftragskompositionen erweitert, deren Uraufführungen sie dirigierte.
Der Konzertchor des Mädchenchor Hannover hat 85 aktive Sängerinnen im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren. Im Gegensatz zu vielen Knabenchören, wie beispielsweise den Leipziger Thomanern oder den Dresdner Kruzianern, ist der Mädchenchor Hannover nicht an ein Internat gekoppelt, sondern bezieht seine Leistungsstärke aus einem vierstufigen Bildungssystem, das die Mädchen nicht aus ihren familiären und schulischen Zusammenhängen reißt.
»Ich finde es sehr wichtig, dass die Mädchen in ihrem familiären und schulischen Umfeld bleiben. So ist es möglich, dass sie auch andere junge Menschen treffen, die wiederum andere Interessen haben. Die Mädchen sollen sich einen Weitblick erwerben, und dafür ist ein vielfältiges Bildungsniveau eine wichtige Voraussetzung. Ich finde es sehr anregend, wenn sie aus ihrem individuellen familiären und schulischen Umfeld im Chor zusammenkommen – wobei ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung sagen kann: Die Chorfreundschaften zählen oft viel mehr als die Schulfreundschaften.«
In den 1980er Jahren gründete Gudrun Schröfel einen Chorrat, eine Initiative, die das soziale Miteinander und die Selbstverwaltung dieses kleinen kulturellen Zentrums, das der Mädchenchor Hannover darstellt, stärkt. Das System »Chormutter/Chorkind«, das bedeutet, dass eine ältere Chorsängerin ein jüngeres Chormitglied betreut, trägt in hohem Maße dazu bei, dass die Kinder und Jugendlichen in dieser besonderen Zusammensetzung verschiedener Altersstufen im Mädchenchor lernen, intensive Erlebnisse miteinander zu teilen.
Gudrun Schröfel in einem Interview auf hr2 (7. Dezember 2012)
© Joachim Giesel
Erste Fernsehaufnahme bei der BBC, Bristol 1963.
© Archiv Ruth
Der Mädchenchor Hannover singt 1968 im Neuen Rathaus Hannover anlässlich der Verleihung der Stadtplakette an den Chor.
© Wilhelm Hauschild
»Wenn sich die Welt auftut« – für die Mädchen tut sich die Welt auf, denn in diesem jugendlichen Alter steht natürlich die Gegenwart im Mittelpunkt und noch mehr die Zukunft. 2022, das Jahr, in dem der Mädchenchor Hannover sein 70-jähriges Bestehen feiert, möge verschont bleiben von pandemiebedingten Konzertabsagen wie 2020 und 2021. Diesen Wunsch haben nicht nur die Sängerinnen des Chors, sondern auch alle, die sich ihm verbunden fühlen. Manche haben sogar noch die Anfangsjahre erlebt: 70 Jahre erfüllte und erfüllende Chorgeschichte.
Noch immer beginnt die Laufbahn im Mädchenchor Hannover mit einer Aufnahmeprüfung. Für die Mädchen, die je nach ihrem Leistungsstand in die verschiedenen Stufen der Chorschule aufgenommen werden, bedeutet es oft eine Weichenstellung für ihr Leben.
Eines der Mädchen ist Rosemarie Onnasch. Sie berichtet von ihrer Aufnahmeprüfung 1952:
»Meine Gedanken gehen jetzt weit zurück – bis ins Jahr 1952 –, als mich meine Mutter auf eine Zeitungsnotiz aufmerksam machte:
›Da werden für einen Chor Mädchen gesucht, die gerne singen. Im Haus der Jugend gibt es einen Termin für eine Aufnahmeprüfung.‹
Ich wählte ›Bunt sind schon die Wälder‹.
Mir ist bis heute gegenwärtig, wie sehr mir die Klavierbegleitung gefiel.
Meiner Mutter konnte ich verkünden:
›Ich darf mitsingen!‹
Die Tatsache, dass ich mit einer kurzen Auszeit, die ich im Rahmen eines Schüleraustauschs in Frankreich verbrachte, bis zu meinem 24. Geburtstag mit Begeisterung und großer Freude im Mädchenchor sang, spricht für sich.
Es entwickelte sich zu Herrn Rutt und seiner Frau eine ganz besondere Verbindung, die all die Jahre überdauerte.«
Choreographierte Musik: Der Mädchenchor interpretiert Cy Colemans »Witchcraft«. Galerie Herrenhausen, Juni 2016.
© Anke Schröfel
Ludwig Rutt war der erste Chorleiter des Mädchenchor Hannover; 1978 kam Gudrun Schröfel als weitere Chorleiterin hinzu. Beide zusammen bildeten eine künstlerische und musikpädagogische Doppelspitze, bis Gudrun Schröfel 1999 die alleinige Leitung übernahm. Sie hat den Chor zu seiner heutigen Leistungsstärke geführt. Über die vielen Jahre hat Gudrun Schröfel die Entwicklung des Klangkörpers Mädchenchor, d. h. den mehrstimmigen Frauenchor, nachhaltig geprägt und sich unermüdlich für die Eigenständigkeit dieser Besetzung engagiert.
»Wir haben überhaupt keine Nachwuchssorgen. Wir machen einmal im Jahr Aufnahmeprüfungen, und da kommen um die 100 Leute. Wir können 30 bis 40 Mädchen aufnehmen, und es ist auch nicht so, dass wir besonders talentierte Mädchen aussuchen, sondern wir suchen diejenigen aus, die eine gesunde, funktionsfähige Stimme haben und die bei uns lernen und sich weiterentwickeln.«
Gudrun Schröfel in der Sendung »Profil« im Deutschlandradio Kultur (26. September 2008)
Musikgeschichtlich betrachtet reicht die Tradition der Mädchenchöre weit zurück, denn insgesamt ist die Geschichte des Mädchen- und Frauengesangs sehr viel älter als beispielsweise 70 Jahre. Es gibt historische Vorbilder, die teilweise mit ähnlichen Lernphasen und Organisationsformen arbeiteten wie der Mädchenchor Hannover. Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann, Musikwissenschaftlerin und Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, ist der Frage nachgegangen, wo diese Vorbilder zu finden sind. Ihr folgender Text vermittelt einige faszinierende Einblicke in die Geschichte des Mädchengesangs.
Drei singende Frauen in der Rolle dreier Nymphen (Balthasar Küchler: »Repraesentatio«, 1611).
© Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel <https://diglib.hab.de/inkunabeln/14-astron/start.htm>
»Mädchen des süßen Gesangs«
Historische Streiflichter
Ein Mädchenchor – das scheint auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches zu sein, eben ein Chor mit einer besonderen Besetzung. Obgleich er vielleicht etwas seltener anzutreffen ist als gemischte Chöre, hat er im Chorwesen seinen festen Platz. Wie so oft trügt auch hier der erste Blick, denn klangästhetisch und historisch handelt es sich bei den »Mädchen des süßen Gesangs« um ein besonderes und keinesfalls in allen Zeiten anzutreffendes Phänomen. Das ästhetische Empfinden für die Schönheit von Stimmen war stets starken Schwankungen unterworfen. Die für uns vollkommen fremde Klangwelt der Kastraten etwa, die vor 300 Jahren alle Bewunderung der Menschen auf sich zog, weckte erst im 20. Jahrhundert erneut Interesse, sodass man in Filmen und Romanen versuchte, diesen Stimmzauber wieder lebendig werden zu lassen.
Tatsächlich sind die Klangunterschiede zwischen Kastraten-, Mädchen- und Frauenstimmen sowie Knaben- und Männerstimmen erheblich. Es ist also wenig überraschend, dass zu verschiedenen Zeiten der eine oder der andere Klang zum Ideal erhoben wurde und dabei die Klangmöglichkeiten des ›Instruments weibliche Stimme‹ auf verschiedene Weise musikalische Wirkungskraft entfalten konnten.
Eine besondere Ausstrahlung wurde den hohen Stimmen gleichwohl fast immer zugestanden. »Der Discantus«, so schrieb Johann Andreas Herbst 1643 in Musica Poetica, sei »eine liebliche Stimm / welche billich mit Jungfrawen Kehlen sollte gesungen werden«, denn »gemeinglich« sei »diese Stimm zierlicher / als die andern«. Wurden die hohen Stimmen in der weltlichen Musik des 17. Jahrhunderts mit Jugendlichkeit und Anmut assoziiert und die Sopranstimmen in der Oper dieser Zeit für die musikalische Darstellung von Göttinnen und Nymphen eingesetzt, so nutzte man auch in der geistlichen Musik eine bestimmte Symbolik von Stimmlagen, innerhalb derer zum Beispiel der Sopran für die gläubige Seele stand.
Margherita Gonzaga, eine große Liebhaberin von Musik und Tanz (Porträt nach Frans Pourbus d. J. um 1612).
© Wikipedia
Sucht man nach Momenten in der Musikgeschichte, in denen der Frauenstimme besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, ja, in denen ganz besondere Frauenstimmen den ästhetischen Umbruch im Hinblick auf das Klangideal sogar beförderten, wenn nicht sogar initiierten, so muss man einen Blick in das Ferrara des späten 16. Jahrhunderts werfen: Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatte in Italien ein Geschmackswandel eingesetzt. Man bevorzugte ein neues Klangideal und Sänger mit einem anderen Timbre, als es die aus dem franko-flämischen Raum nach Italien gekommenen Sängerkomponisten favorisiert hatten. Die Falsettisten wurden nun von den Kastraten verdrängt.
Nicht weniger Aufsehen als die Kastraten erregte das »Concerto delle donne« in Ferrara, ein Sängerinnenensemble, welches das Stimmideal der Folgezeit prägte. Initiatorin dieses Frauenensembles – so überraschend das bei einer Herzogin dieses Alters anmuten mag – war die 15-jährige Margherita Gonzaga, eine große Liebhaberin von Musik und Tanz. Als sie 1579 Alfonso II., Herzog von Ferrara, heiratete, holte sie die gleichaltrige Livia d’Arco und die erfahrene Sängerin Laura Peverara als Hofdamen zu sich. Ihr Gatte ließ dem um Anna Guarini und später Tarquinia Molza ergänzten Frauenensemble alle nur erdenkliche Förderung zuteilwerden, sodass die Frauen ihre vor allem dem Madrigal gewidmeten Gesangskünste binnen kurzer Zeit zu großer Perfektion entfalten konnten. Schon 1583 (Livia d’Arco hatte inzwischen das Alter von 19 Jahren erreicht) wurde das Frauenensemble weithin gerühmt.
Das »Concerto delle donne« des Herzogs von Ferrara, das gegen Ende des Jahrhunderts wohl beinahe täglich zu hören gewesen ist, dominierte nicht nur das Musikleben von Ferrara, sondern fand überregionale Beachtung und Nachahmung. Die Medici gelangten durch Alessandro Striggio, der 1584 in Ferrara war, in Kenntnis dieser wunderbaren Stimmen. Orlando di Lasso trug, tief beeindruckt von den Frauenstimmen, die Kunde